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Sätze: | 11 | |
Wörter: | 1.038 | |
Zeichen: | 6.444 |
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Als ich nach den schwersten Büchern googelte, denn mit einem derartigen, sollte der Bösewicht in meiner Kurzgeschichte erschlagen werden, um dem Mord mit dem passenden Buchtitel den nötigen Sarkasmus zu verleihen, da zeigte mir die Suchmaschine nicht die schwersten Bücher an, sondern diejenigen, die am schwersten zu lesen sind, also die schwierigsten, da Google, um möglichst viele Menschen zu erreichen, von einer fehlerhaften Sprachbeherrschung der User auszugehen scheint.
Unter den Top Ten der schwierigsten Bücher zog mich ein Titel an: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Das klingt magisch und spannend, dachte ich mir und sofort tauchten Bücher von Jules Verne auf, Bücher wie Momo, Die vergessene Welt oder eine Welt wie in Avatar. Nur noch viel, viel schöner und phantasievoller, malte ich mir aus, denn schließlich hat der Roman von Marcel Proust über 4000 Seiten und in dieser Welt ist ja die Zeit verloren gegangen und somit auch alles möglich !
Ein wenig Ernüchterung trat ein, als ich erfuhr, dass es keineswegs um phantastische Welten geht, sondern lediglich um die Vergangenheit des Protagonisten Marcel, um dessen Erinnerung, die er verloren glaubt und auffrischen möchte. Doch, da es sich bei Marcel um einen adeligen Müßiggänger handelt, der seine Zeit und sein Talent untätig hauptsächlich in den Pariser Salons des ausgehenden 19. Jahrhunderts herumsitzend verschwendet, besteht der Roman zu weiten Teilen aus für uns völlig uninteressantem Klatsch einer gelangweilten Oberschicht.
Gleichzeitig wird dieses Mammutwerk aber in den höchsten Tönen gelobt und jemand schrieb sogar, dass Proust das Gebirge sei und alle anderen Schriftsteller nur kleine Vögelchen, die sich vergeblich mühten, drüber zu fliegen.
Nun war sowohl mein Interesse geweckt, als auch mein Ehrgeiz angestachelt, denn man wird genauso Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden, der noch nicht von diesem Werk gehört hat, wie jemanden, der es tatsächlich auch gelesen hat.
Es gibt Menschen, die würden sich nie ein gebrauchtes Buch kaufen, da sie beim Lesen ständig daran denken würden, wo die Finger des Vorbesitzers überall waren, bevor er die eben gelesene Seite umblätterte. Nicht alle Menschen sind, wie ich, davon überzeugt, dass ein Buch, in dem Augenblick, wo es die Türe eines Antiquariates passiert, in genau dieser Sekunde, wieder jungfräulich rein wird, auch wenn es beim Vorbesitzer zwanzig Jahre lang auf dem Gästeklo lag.
Doch Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ können alle Menschen bedenkenlos auch gebraucht kaufen, denn die Chance, dass der Vorbesitzer mehr als die ersten Seiten dieses Werkes gelesen hat, tendiert gegen Null. Die meisten werden es vielleicht bis zu den berühmten „Madeleines“ geschafft, aber dann ziemlich bald aufgegeben haben.
Die Szene, in welcher der Autor beschreibt, wie Marcel von seiner Mutter eine Tasse Tee bekommt und darein das Gebäckstück mit dem Namen Madeleine taucht und wie dieser Genuss sein Bewusstsein verändert, ist weltberühmt und zeigt, worin Prousts Meisterschaft besteht, nämlich im Beschreiben von Empfindungen und Situationen, also dem, worin unser Leben und Sein letztendlich besteht.
Dieses Werk ist für mich in zweierlei Hinsicht eine Offenbarung. Einmal, weil ich endlich einen Autor gefunden habe, dessen Vorliebe für sich über ganze Seiten erstreckende Schachtelsätze der meinen entspricht. Und zum zweiten, da ich in ihm einen Bruder im Geiste gefunden habe, denn endlich weiß ich, dass die übersteigerten Empfindungen, die ich immer hatte und habe, in Ordnung waren und sind und dass nicht ich der Spinner war und bin, sondern die meisten Menschen dieser Welt in ihrer Abgestumpftheit, in ihrer Rohheit und Dummheit, in ihrer Langweiligkeit und materialistischen Uninspiriertheit die Verrückten waren und sind.
Wenn Thomas Mann in seinen Büchern die Menschen und das Leben mit der Lupe betrachtet, so legt Proust diese unter das Elektronenmikroskop.
Es gibt kaum einen Bereich des menschlichen Daseins den Proust nicht seinen Betrachtungen und Überlegungen unterzieht und so werden die Themen Liebe, Leidenschaft und Eifersucht, Sexualität und Homosexualität, Schlafen, Träumen, Erwachen, Literatur und Schreiben, Musik, Theater, Oper und bildende Kunst, Politik und Zeitgeschehen, Technischer Fortschritt, die Zeit in all ihren Erscheinungsformen, Kulturgeschichte, Architektur und Baukunst, Medizin und Gesundheit, Altwerden, Sterben und Tod, Natur, Landschaft und Botanik sowie alle Gefühlsregungen und gesellschaftlichen und Bedingtheiten des Menschen in teils atemberaubender poetischer Sprache beschrieben und erfasst, wobei er es kaum unterläßt Vergleiche und Metaphern voller Geist und Esprit zu bemühen und nicht mit Witz und Ironie spart, wo immer es angebracht ist.
Den Lesenden wird schnell aufgehen, daß dies ein autobiographischer Roman ist und, daß es sich beim Ich-Erzähler Marcel um niemand anderen, als Marcel Proust selbst handelt, der über diese außerordentliche Empfindsamkeit und übersteigertes Einfühlungsvermögen verfügt.
Absolut geflasht war ich, als ich entdeckte, dass es das Gesamtwerk auch als Hörbuch gibt, wortgetreu meisterhaft gelesen von meiner Lieblings-Synchronstimme, der von Peter Matić, welcher Ben Kingsley in Filmen wie Gandhi und Sneakers, die Lautlosen synchronisierte.
Obwohl ich es schon einige Male mit Hörbüchern versucht habe, aber es nur wenige Minuten aushielt, so war ich bei diesem hier nach wenigen Minuten süchtig.
Ein besonderer und intensiver Genuss ist es auch, beim Anhören des Hörbuches gleichzeitig den Text im Buch zu lesen. (Das Hörbuch besteht aus 17 mp3-CDs und dauert tatsächlich 159 Stunden und ist somit das umfangreichtste, das je eingelesen wurde).
Zudem bietet das Hörbuch die Möglichkeit, die für die meisten von uns, aus heutiger Sicht, langweiligen Passagen des Werkes nebenbei zu hören, während man aufräumt, putzt oder werkelt, um dann wieder voll einzusteigen, wenn der Autor ins Philosophieren gerät oder in so gnadenlos ehrlicher Weise die Gefühle beschreibt und seziert, die wir heute genauso haben, wir er selbst vor hundert Jahren, zu einer Zeit in der es das Telefon gerade noch in den Roman geschafft hat.
Ich muss aber eine Warnung aussprechen. Es ist durchaus möglich, dass man sich nach Proust für andere Bücher nicht mehr interessiert.
Doch vor allem auch allen, die schreiben, möchte ich dringend ans Herz legen, Proust zu lesen.
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