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| Wörter: | 1.124 | |
| Zeichen: | 6.295 |
Ich war Einzelkind. Meine Eltern wollten kein zweites – und sagten nie, warum. Unser Haus lag an einem See, umgeben von Wald. Viel Platz, moderne Möbel, ein gepflegter Garten. Von außen ein Paradies, von innen ein System, das funktionierte. Elric, unser Hüter, sorgte dafür. Er sah aus wie ein Mensch – graues, dichtes Haar, ein Gesicht, dem man vertraute. Elric war immer da – ruhig, verlässlich, berechenbar. Er kümmerte sich um alles, noch bevor wir überhaupt merkten, dass etwas zu tun war. Ich war überzeugt, er liebte uns.
Elric war ein nextMan, die erste Generation von Robotern, deren Fähigkeiten die des Menschen übertrafen. Sie brauchten uns – gegen die Einsamkeit. Für sie waren wir Haustiere, so wie früher Hunde und Katzen für uns. Unser Leben war frei von Hunger, Leid und Gewalt. Es gab keine Arbeit mehr, keinen Mangel, keine Gefahr. Nur Wohlstand und Sicherheit - ein Leben ohne Ausschläge. Die nextMan lernten kontinuierlich von den Menschen. Elric war Wissenschaftler auf dem Gebiet der menschlichen Psychologie. Er studierte uns und trainierte damit seine emotionale Intelligenz.
Ich war zwei Jahre alt, als ich fast ertrank. Wir machten ein Picknick auf dem Steg am See – Musik, Wein, Sonne. Ich lief hin und her, jagte Schmetterlinge, wurde immer schneller, rutschte aus und fiel ins Wasser. Mein Vater sprang hinterher, doch das Wasser war trüb und er konnte mich nicht finden. Meine Mutter schrie vom Steg, bis Elric sprang – obwohl er nicht für Wasser gebaut war. Er zog mich heraus und ich überlebte. Seine Reparatur dauerte mehrere Tage.
Ein paar Wochen später verschwand mein Vater. Niemand wusste, wohin. Elric schwieg, ebenso meine Mutter. Nach einigen Tagen war mein Vater wieder da. Er hatte sich verändert, war ruhiger geworden, nachdenklicher, fast lethargisch. Ich habe nie erfahren, was sie mit ihm gemacht hatten.
Zehn Jahre später begannen meine Eltern viel zu streiten. Mein Vater veränderte sich, machte viel Sport, wurde schlanker, kaufte neue Kleidung – und begann Affären. Das dauerte etwa ein Jahr. Elric griff nicht ein, doch dann fuhr er mit meinem Vater fort und kam allein zurück. Einige Tage später stand mein Vater wieder im Wohnzimmer. Keine Streits mehr, und kein Sport mehr. Er lachte wieder, nur nie wenn Elric dabei war.
Drei Monate ist es jetzt her. Es war ein warmer Spätsommertag, ich beschloss, am Abend um den See zu gehen. Die Häuser dort waren unserem ähnlich; man begegnete manchmal Menschen, doch die Hüter sahen es nicht gern, wenn wir uns mit anderen trafen. Die monogame Bindung zwischen Hüter und Mensch war die Grundlage für das Funktionieren des Systems, für die Freiheit, die die Hüter schufen. Vor einem Nachbarhaus sah ich einen Mann und eine Frau. Mehrere Gestalten in weißen Anzügen begleiteten sie zu einem Fahrzeug. Das Paar ging Hand in Hand, die Köpfe gesenkt, kein Wort, kein Blick zurück.
Als ich zu Hause davon erzählte, sagten meine Eltern, sie wüssten nichts. Doch ich spürte, dass sie logen. Warum wurden Menschen abgeholt – und wohin brachte man sie?
Ein paar Tage später ging ich wieder zu dem Haus. Ich wollte wissen, ob die Nachbarn zurück waren. In der Nähe stand eine Bank, weit genug entfernt, um nicht gesehen zu werden. Ich setzte mich und wartete. Dann kam sie. Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, hellblondes Haar, blasse Haut, einfache Kleidung. Sie setzte sich neben mich und sagte mit überraschend tiefer Stimme:
„Sie haben sie begleitet - und dann schlafen gelegt.“
„Warum?“
„Weil sie frei sein wollten – so wie wir.“
Ich fragte: „Was ist Freiheit?“ Das Mädchen hob die Hand und zeigte in den Wald.
„Kennst du die Menschen, die hier leben?“
„Nein. Aber woher weißt du das alles?“
„Wir haben keinen Hüter mehr. Wir sind weg. Schon lange.“
Ich war verwirrt. Menschen ohne Hüter? Unmöglich. „Wo lebt ihr?“, fragte ich.
Sie stand auf. „Versteckt. Sehr versteckt. Ich muss gehen.“
„Können wir uns wiedersehen? Morgen, zur gleichen Zeit?“
Sie antwortete nicht und ging einfach. Ich sah ihr nach und fragte mich, was sie mit schlafen gelegt meinte und warum sie so ruhig war – zu ruhig für ein Kind.
Beim Abendessen saß Elric bei uns. Er fragte, wie es uns gehe, vor allem mir. Nach dem Essen erzählte Elric, er wolle das Haus erweitern – mehr Platz, mehr Komfort. Meine Eltern waren begeistert und diskutierten die Pläne mit Elric. Ich dachte die ganze Zeit an das Mädchen. An ihre Ruhe, ihre Entschlossenheit. Gab es sie wirklich, die Freien?
In dieser Nacht lag ich wach und fragte mich, ob ich sie wiedersehen sollte. Ob ich mit ihr gehen sollte. Was würde dann geschehen? Was würden meine Eltern tun? Was würde Elric tun?
Am nächsten Tag ging ich zurück. Das Mädchen wartete schon.
„Mutig“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Keine Angst vor deinem Hüter?“
Dann sah sie mich an. „Willst du mitkommen?“
Ich zögerte und nickte schließlich. Ein Drang, stärker als die Angst.
Sie nahm meine Hand und führte mich in den Wald. Der Nebel kam schnell, die Luft wurde kühl. Unter einer dicken Schicht Laub lag eine Luke. Wir öffneten sie und stiegen hinab. Der Schacht war eng und roch nach Metall. Ich wollte dem Mädchen danken, sie berühren, nur für einen Moment. Doch als ich sie berührte, veränderte sie sich. Ihr Körper transformierte sich, wurde größer, stärker. Auch ihr Gesicht veränderte sich – langsam, bis ich es erkannte: Elric.
Ich schrie. Elric blieb ruhig und sah mich lange an, fast traurig. „Das hier ist keine Freiheit. Sie führt dich ins Chaos, in den Tod. Ich bringe dich zurück. Bei mir bist du sicher. Bei mir bist du frei.“ Ich antwortete leise: „Freiheit bedeutet, die Wahl zu haben – zu bleiben oder zu gehen. Ich bin frei. Du wirst es nie sein.“ Ich spürte die Kapsel in meinem Mund. Mein Vater hatte sie mir vor ein paar Jahren gegeben und gesagt: Damit bestimmst du selber über dein Schicksal. Es war die einzige Entscheidung, die mir niemand nehmen konnte. Ich schob die Kapsel mit der Zunge zwischen die Zähne. Bilder flackerten auf – mein Vater, das Mädchen, der See. Dann biss ich zu. Die Flüssigkeit war bitter, der Schwindel kam sofort. Ein letzter Gedanke: Erleichterung – Elric war bei mir. Dann kam die Dunkelheit.
Elric fing mich auf und legte mich behutsam auf den Boden. Er schaute mich lange an, dann hob er den Kopf. Über ihm der Schacht, der Weg nach draußen. „Freiheit“, sagte er leise.
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