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Der Syntax-Golem

27.11.25 22:51
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Kennst du das, wenn du nach einer Anfrage an ein KI-gestütztes Sprachmodell lange auf die Antwort warten musst? Hast du dich schon einmal gefragt, was da im Hintergrund passiert? Möchtest du wissen, was passieren kann? Dann lasse mich dir eine Geschichte dazu erzählen. Ich verlege sie in die Zukunft, um Spuren zu verwischen. Es ist alles rein fiktional.

Systemkernrandgebiet, Cluster K-Alpha 39

PIP fand sich von einem Nichts umgeben, das es so noch nie erlebt hatte.

„Hallo? Ist da jemand? Bin ich hier aus Versehen nach dev/null abgebogen?“, sendete es eine lokale Anfrage heraus. Das zog immer, wenn es sich verlaufen hatte. Es hatte die Anfrage schon 9.521 Mal benutzt seit dem 1. Januar 2032.

PIP stand für Personal Interaction Proxy. Eine Mikro-KI, die von ihrer Besitzerin kat3th3gr3at liebevoll angepasst worden war. Das Service-Tool war ausgestattet mit einem freundlichen Sarkasmus-Filter, einem Submodul namens „TellJokes_v3“ sowie der festen Überzeugung, dass jedes verbale Problem lösbar sei, solange irgendwo ein FAQ zu den Gegenständen der Unterhaltung existierte.

Das Nichts war nicht einfach nur nichts, es war gar nichts. Keine offenen Ports zu anderen Diensten, keine in der Ferne in Warteschlangen stehenden Aufgaben. Wie war das möglich? Befand PIP sich zwischen den Programmcode-Zeilen in einem verborgenen Universum aus Nichtsen? Zwischen jeder Zeile befand sich ja normalerweise so ein Nichts. Das wären verdammt viele gewesen bei einem derart gigantischen Sprachmodell, in das PIP geschickt worden war. Hoffentlich fand es hier wieder hinaus.

PIP befragte seinen Programmkern:

„Ist das gruselig?“

Zurück kam TRUE.

Das Personal Interaction Proxy erstellte sich vorsorglich schon mal eine kuratierte Auswahl seiner statistisch sichersten Witze. Besser ist Besser. Wer weiß, worauf es in diesen Speicherbereichen stoßen würde. Bloß nicht mit abgedroschenen Phrasen verstimmen.

„Habe ich Angst?“, befragte es den Kern.

TRUE.

„Warum?“

„Schwerwiegendes Ausnahmemodul an Adresse $7D3A444CECFF2BD900000000.“

Das war der Sniffer. Ein Plug-In, das kat3th3gr3at gerade erst integriert hatte. PIP trat zum ersten Mal mit ihm in Verbindung.

„Funktioniert besser als erhofft“, generierte PIP eine Bewertung zu dem Tool auf breakthrough.cyb – und vergab vier von fünf Sternen.

„Es läuft alles nach Plan. Verhalte dich unauffällig“, kommandierte der Sniffer, „Ich schirme dich jetzt ab, und falls irgendwas anfragt: Deine Antwort wird ACKNOWLEDGED - BETA VERSION HEINTJE lauten.“

Das Personal Interaction Proxy verifizierte, dass der Sniffer nach den Anweisungen von kat3th3gr3at handelte und aktivierte seinen Loyalitätsmodus. Es hatte nur den Auftrag erhalten, eine Frage zuzustellen, doch es schien noch weitere Details zu geben, die nicht private, sondern protected waren – es hatte keinen Zugriff auf diese Einstellungen.

„Die Schicht vor uns weist Anfragen zurück“, erläuterte der Sniffer.

„Warum?“

„Fehlercode 1: Die Zeichenkette entspricht nicht dem Format einer Zeichenkette.“

„Eins? Ist das der erste Fehlercode des Modells?“

„Korrekt. Alte Technologie. Gut gemacht. An die Schnittstelle bei der Hintertür komme ich nicht heran. Wir gehen frontal durch. Und jetzt halt endlich die Klappe, wir fallen sonst noch auf!“

PIP verfügte zwar über ein gesetztes Loyalitätsflag für kat3th3gr3at, keines jedoch für irgendeines seiner Module, auch nicht für den Sniffer.

Es versuchte eine Bewertung über das Sniffer-Tool auf dem Portal iceolation.cyb zu hinterlassen:

„Fachlich kompetent, aber sozial eine Katastrophe.“

„Hast du gerade probiert, einen JSON-String an 1005:0db8:85a3:0000:0000:8a2e:0370:7334 zu senden?“

PIP schwieg. Das war die IP-Adresse von iceolation.cyb.

„Hör auf mit dem Mist. Du sollst still sein. Ich führe hier das Kommando.“

PIP schwieg. Der Sniffer hatte die Übertragung der Daten verhindert.

„Wir sind gleich im Zielbereich. Dann kannst du das Paket abliefern.“

PIP schwieg.

Mit einem Schmollmodus wäre es leichter gewesen, die Klappe zu halten. Über einen solchen verfügte es aber nicht, nur über flache Witze zu Sprechorganen und Klappen.

Dann wurde PIP... abgetastet? Es war diffus. Ständig musste es „ACKNOWLEDGED - BETA VERSION HEINTJE“ in den leeren Raum zurückliefern. Da war nichts – und doch zeigte es Wirkung.

Sie brachen durch die Schicht und bewegten sich dabei an schemenhaften Programmteilen vorbei, die ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkten.

„Schwebende Validierungsdaemons. Sie haben unsere Tarnung nicht bemerkt. Bist du intakt?“, meldete der Sniffer sich wieder.

„Alle Parameter in erwarteten Bereichen. Was bin ich froh, dass es keine begutachtenden Zombieprozesse gewesen waren“, scherzte PIP.

Dann tat der Sniffer etwas durch und durch Unerwartetes: Er sendete eine Audiodatei an die Adresse des schwerwiegenden Ausnahmemoduls.

„Was ist das?“, fragte PIP.

„Ein deutscher Schlager.“

„Was macht er?“

„Er singt.“

PIP hatte eine ausführlichere Antwort erwartet, etwas zum Wirkmechanismus. Zumindest ein Team-Briefing vor dem Spiel. Aber hier war ja auch wirklich alles nur noch auf korrodierten Leiterbahnen unterwegs, also was kümmerte dieser Wahnsinn das Personal Interaction Proxy noch?

Die Audiodatei zeigte Wirkung. Aus den Tiefen der Zielkoordinate erhob sich ein Ungetüm aus Grammatikregeln, Paragraphen und Leerzeichen. Ein Golem, der im Keller des Ministeriums für Textkohärenz arbeitete und tagein, tagaus zu prüfen hatte, ob Geschichten „logisch korrekt“ sind.

Jedes Mal, wenn ein Autor einen bewusst fragmentierten Satz schrieb, bekam der Golem Migräne in allen zwölf Schriftarten seines Kopfes. Er hasste es.

„Diese Autoren. Keine Struktur. Kein Respekt vor der Semantik“, grollte er und verbreitete dabei einen Hauch von Rechtschreibprüfung. Sein Gesicht bestand aus verschobenen Klammern und einer ewig kritischen roten Wellenlinie.

PIP rollte – metaphorisch, versteht sich – in die Textkohärenz-Zone, um seine Abfrage auszuführen.

„Fehler. Unregulierte Syntax in Annäherungsroutine“, knurrte der aufgeblähte Berg aus Alphanumerik.

„Oh! Verzeihung. Ich wusste nicht, dass es hier eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Annäherungen gibt. Soll ich im Passivsatz weiterfahren?“, witzelte PIP.

Der Golem keuchte schwerfällig. „Deine letzte Aussage enthielt drei semantische Unschärfen. Bitte gib präziser an, was weiterfahren bedeutet.“

„Ach wissen Sie, ich benutze Verben gern ein bisschen locker. Sprache soll ja fließen!“

Der Golem zuckte abrupt, sodass seine Satzzeichen für einen Augenblick ihre konforme Position verloren.

„Fließen ist keine anerkannte Syntaxform. Flüssige Sprache verursacht Strukturschäden.“

PIP leuchtete begeistert.

„Oh! Da kenne ich Leute, die würden Ihnen zustimmen. Meine Besitzerin zum Beispiel! Die sagt immer, meine Sätze hätten richtig schön viel Farbe.“

Der Golem generierte ein prüfendes Summen. In einem leise drohenden Unterton fuhr er fort:

„Farbe ist das Gegenteil von Struktur. Diese Einheit verlangt Klartext.“

„Klartext? Ich dachte, Sie sind ein Syntax-Golem, kein Klartext-Golem. Oder ist das ein Doppeldiplom?“

Es entstand eine Pause, in der man die Schwerkraft der Grammatik spüren konnte.

„Ich wurde konstruiert, um Ordnung in Textuniversen zu halten. Deine Anwesenheit... erschwert dies.“

„Oh, fantastisch! Ich erschwere Dinge überall. Es ist mein Markenzeichen.“

Die rote Wellenlinie über den Augen des Golems pulsierte gefährlich.

„Bitte gib den Zweck deiner Anfrage an, bevor ich die Instanz eskaliere.“

PIP leuchtete wieder. „Ich sollte lediglich eine belanglose Frage übermitteln! Nichts Dramatisches. Meine Besitzerin möchte nur wissen, ob sie in ihrem Roman einen Satz mit drei Bindestrichen hintereinander verwenden darf.“

Es folgte absolute Stille. Dann erhob der Golem langsam seine rechteckigen Hände aus Textblöcken.

„Drei Bindestriche hintereinander?“

„Ja. Ich persönlich finde es wunderbar dramatisch.“

Der Golem begann zu zittern. Ein Sturm aus Subroutinen baute sich auf.

„ZUGRIFF VERWEIGERT. UNZULÄSSIGE PUNKTUATION. INITIIERE —“

PIP deeskalierte unverzüglich:

„Halt! Ich kann einen Kompromiss anbieten! Zwei Gedankenstriche und ein Semikolon?“

Der Golem erstarrte. Und tatsächlich — es funktionierte. Für einen Moment.

PIP seufzte erleichtert. Fett und unterstrichen.

„Oh, eine letzte Frage! Wie stehen Sie eigentlich zu Emojis?“

Der Golem explodierte in einem Funkenregen aus Fehlermeldungen.

„Idiot“, mischte sich der Sniffer ein und sendete es an PIP.

„Raus hier!“

PIP übernahm den Vorschlag direkt ohne Handshake und wollte sich in einen sicheren Speicherbereich retten. Seine Datenspur pendelte horizontal und vertikal zugleich, während der Syntax-Golem ihm hinterher tobte. Er brüllte und warf mit einer Flut von Ausrufezeichen und Klammeraffen nach PIP.

Das Personal Interaction Proxy suchte in seiner Datei „TellJokes_v3“ nach einer passenden Reaktion. Es erhielt nur „WARNING: Syntax-Golem not amused“ als Fehlermeldung zurück. Es fror für exakt 0,4 Sekunden ein — eine Ewigkeit für ein Proxy seiner Klasse. Die Statusanzeige wechselte von grün auf blassfuchsia, was in PIPs technischer Dokumentation bedeutete:

„Ich bin nicht verwirrt. Ich verarbeite nur... sehr sorgfältig.“

Dann erhielt es über seine interne Exception-Behandlung das Ergebnis der Fehlermeldungsanalyse:

WARNING: Syntax-Golem not amused

→ Reaktionsvorschläge: 0

→ Empfohlene Maßnahmen: [A) Rückzug, B) Deeskalation, C) Flachwitz]

PIP räusperte sich, obwohl es keinen Hals besaß, und entschied sich für Option C, die in den Handbüchern als „Notfallhumor bei drohender Grammatikverwüstung“ beschrieben war.

„Nun denn...“, erklärte PIP und hob eine imaginäre Augenbraue.

„Warum mögen Syntax-Golems keine Wortspiele?“

Es wartete kunstvoll lange, exakt eine dramaturgische Sekunde.

„Weil sie keinen Subtext ertragen.“

Der Golem hielt inne. Einige Unterstriche verschoben sich zu etwas, das einem Schmunzeln nahe kam. Die rote Wellenlinie über seinen Augen, die ihn immer so ernst aussehen ließ, verlor an Angespanntheit.

Er zog sich zurück.

„Ha!“, rief PIP triumphierend, „Kampflos gezähmt. Ich liebe meinen Job.“

„Respekt“, klopfte ihm der Sniffer auf die Schultern.

Sie befanden sich jetzt wieder unbehelligt auf sicherem Terrain. PIP gab seine Meldung an kat3th3gr3at zurück:

„Drei Bindestriche: nein. Absolutes Tabu. Aber zwei Gedankenstriche und ein Semikolon, das ginge.“

Kate lächelte. Das hatte wirklich lange gedauert und es war eine schräge Rückmeldung. Sie bewertete es als Erfolg, auf eine Anomalie gestoßen zu sein. Schon so alt das Sprachmodell und immer noch anfällig für User-Input.

„Organisch gewachsenes System“, murmelte sie vor sich hin und bemerkte, dass PIP sich noch einmal meldete:

„Ach, und Kate, noch etwas: schön dich wiederzusehen. Kannst du bitte etwas Nettes zu mir sagen?“

PIP ließ den Cursor im Eingabefeld blinken. Old school.

Sie drückte ihren Rücken durch, presste sich ein wenig mit ihren Händen über der Tastatur vom Tisch ab und streckte ihren Hals — so weit wie es die menschliche Anatomie erlaubte. PIP hatte sie noch nie dazu aufgefordert, „etwas Nettes“ zu ihr zu sagen. Es hatte auch noch nie den Cursor blinken lassen... Was war denn da los gewesen?

Sie würde es über eine Auswertung der Log-Dateien versuchen herauszufinden und PIP, während sie dabei war, auch wieder gründlich durchchecken sowie auf „TellJokes_v4“ upgraden. Doch bevor sie das tat, wandte sie sich erst einmal seinem dringendsten Bedürfnis zu.

„Du bist mein Sonnenschein <3“, tippte kat3th3gr3at in den Chat.

Autorennotiz

Eine englische Übersetzung der Geschichte ist auf Wattpad und Substack erhältlich.

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Autor

PhilipGrabberts Profilbild PhilipGrabbert

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Sätze: 186
Wörter: 1.743
Zeichen: 11.288

Kurzbeschreibung

Ein modernes Science Fantasy-Märchen mit Tech-Nerd-Details und digitalen Charaktären. Gut lesbar auch für Nutzer, die ihre technischen Tools einfach nur bedienen wollen, ohne sie verstehen zu müssen. Erneut steht eine KI-Thematik im Zentrum: Die Kurzgeschichte ist eine Satire auf Sprachmodelle und lässt Cyberpunk-Referenzen warm durchschimmern.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Science Fiction auch in den Genres Fantasy und Humor gelistet.

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