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EINLEITUNG
Wir schreiben das Jahr 2034. Die IT-affine Spaßhackerin Kate und ihr Personal Interaction Proxy — kurz PIP — hatten zuletzt ein KI-gestütztes Sprachmodell an den Rand seiner Nerven gebracht. Kate hatte wissen wollen, ob die Verwendung von drei Bindestrichen hintereinander — in einem Roman — erlaubt ist. Dabei war PIP im Maschinenpark des Strukturkartells auf eine Anomalie gestoßen. Jetzt ist der Roman fertig. Kate möchte ihn veröffentlichen.
SPASS IST, WAS IHR DRAUS MACHT
Deutschland lag populärkulturell in Scherben. Der Rückzug aus internationaler KI-Entwicklung, der Ende der zwanziger Jahre radikal umgesetzt worden war, hatte ein Tuch über den Alltag gelegt, das dem der Grauen Herren aus dem Roman Momo von Michael Ende glich.
Das neu eingeführte Sprachmodell mit dem klangvollen Namen Animus Incognito war ohne Literaturquellen, ohne Liedertexte und ohne ähnlich kopierrechtsrelevante Daten trainiert worden. Eine mit zertifizierten Regeln sowie traditionellen Sitten und Gebräuchen verdichtete Struktur aus richterlich angeordneten Inhalten, zusammengefrickelt aus frei verfügbaren Quellen wie zum Beispiel mannigfaltigen Beethoven-Kompositionen, die in einem kongenial mehrstimmigen Konvertierungsverfahren von Notenschrift in phonetische Syntax überführt worden waren (richtig innovativ, auch für die linguale Förderung im Vorschulalter) sowie allen Beiträgen des Öffentlichen Rundfunks seit 1965 (gefiltert versteht sich).
Animus Incognito generierte genormte Tütensuppe für die gehobene Homeoffice-Kantine.
Zur Verwendung eines Sprachmodells nicht deutscher Herkunft bedurfte es einer Zustimmung. Für gewöhnlich wurde diese nur Akademikern mit Doktortitel bewilligt. Alles andere war für Technikbegeisterte machbar und erreichbar, aber unerwünscht. Es wurde nicht kriminalisierend verfolgt; das Kartell hatte ganz andere Sorgen. Unterm Strich schätzte es Individualisten zwar als kategorisierungsnotwendig jedoch auch als harmlos ein. Wer internationale KI für seine kreative Arbeit nutzte, schadete seiner Karriere und bekam einen Eintrag im Register für Risikobewertung.
Besonders die Verifizierung von Doktorgraden hatte sich zu Beginn der Umstellung auf Animus Incognito als außerordentlich herausfordernd präsentiert. Die Landeswissenschafts- und Hochschulbehörden sowie die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) sahen sich nicht adhoc dazu in der Lage, eine gebrauchsfertige Schnittstelle zu liefern. Zitat:
"Es zeigte sich, dass die Feststellung der Berechtigung zur Führung eines akademischen Grades — insbesondere von Doktorgraden, gleichgültig ob national oder international verliehen — einer Vielzahl institutioneller und verfahrensrechtlicher Schritte unterlag, deren sachgerechte Koordination erheblichen Aufwand erforderte. Hierbei war zunächst die Abfrage bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) vorzusehen, unter besonderer Berücksichtigung der Datenbank ANABIN, welche Informationen über ausländische Hochschulen, deren Abschlüsse und deren Einordnung in das deutsche Bewertungssystem bereitstellt; im Anschluss daran war, sofern keine unmittelbare Gleichwertigkeit festgestellt werden konnte, eine formale Zeugnisbewertung durch die ZAB einzuleiten, welche den ausländischen Abschluss in Bezug auf ein entsprechendes deutsches Referenzniveau begutachtet und als verbindliche Grundlage für die weitere Bearbeitung dient. Ergänzend waren die zuständigen Landesbehörden sowie die jeweils involvierte Hochschule hinzuzuziehen, da diese ausschließlich innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs verbindlich feststellen konnten, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Titel geführt oder eine Qualifikation anerkannt werden durfte; hierbei war insbesondere auf etwaige Besonderheiten im Rahmen reglementierter Studien- oder Berufszugangsordnungen Bedacht zu nehmen. Seit Inkrafttreten der digitalen Prozessoptimierung im Jahr 2024 werden Anträge auf Zeugnisbewertung, die Uploads relevanter Unterlagen sowie die Ausstellung der entsprechenden Bewertungsbescheide medienbruchfrei über die offizielle Online-Plattform der ZAB abgewickelt, wodurch sowohl die Nachvollziehbarkeit als auch die zeitliche Effizienz des gesamten Verfahrens sichergestellt wird."
In der Frühphase seiner Entwicklung bediente Animus Incognito sich einer Hardware von 100.000 GPUs und einer Anschlussleistung von 200 Megawatt. Seitdem war es modular immer weiter ausgebaut worden. Die Abwärme der entstandenen Rechenzentren wurde in das Fernwärmenetz regionaler Energieversorger eingespeist.
SONNENAUFGANG
„Guten Morgen PIP.“
„Guten Morgen Kate. Du bist früh wach. Was wollen wir heute gemeinsam verkomplizieren?“, fragte ihre Mikro-KI.
„Bitte reiche meinen Roman in der beigefügten Datei bei der Zentralstelle für Agenturvermittlung ein. Abteilung: Literatur. Kategorie: neue Autoren.“
„Oh! Du bist fertig. Sehr gerne. Dann rolle ich mal los!“
Der Chat hing. PIPs Statusanzeige wechselte von grün auf blassfuchsia.
„Was denn, jetzt schon?“, lachte Kate.
RÜCKBLENDE AUF FACHSTELLE FÜR RISIKOBEWERTUNG
Was Kate noch nicht wusste: Ihre Begegnung, oder genauer gesagt PIPs gerade erst ein paar Tage zurückliegende Begegnung mit einer Anomalie in den Systemen des Strukturkartells — ein Begriff aus der deutschen Grey-Hat-Hackerszene — war nicht ohne Folgen geblieben. PIP hatte sich einen Witzkampf mit einem schwerwiegenden Ausnahmemodul geliefert und es Syntax-Golem getauft. Ein stilsicherer Rückgabewert von PIPs Submodul „TellJokes_v3“.
Kaffeegeruch der Ausprägung Brandpfütze. Kaffeemaschine.
„Grüße Sie, Herr Müller. Dann zeigen Sie mal her, was hat denn unser offenes Ohr da wieder ans Tageslicht befördert?“
„Schön, dass Sie es einrichten konnten, Herr Gentetorf. Hier — eine Sicherheitsmeldung zu einem Personal Interaction Proxy. Es scheint wirklich ein kritischer Fall vorzuliegen. Ich bekomme ihn nicht bearbeitet, ständig wird mir Fehler 317 zurückgemeldet, und dann werde ich aus dem Primärfeld in der Identitätsmaske geworfen. Ich bin schon richtig wütend deswegen!“
„Ein Personal Interaction Proxy ohne Identifikationsnummer? Lassen Sie mich mal sehen.“
Herr Gentetorf trat nahe an Herrn Müller heran und blickte ihm über die Schulter, was bei Herrn Müller einen wohligen Schauer erzeugte.
„Oh ja, richtig. Dort steht PIP anstatt einer Nummer.“
„Ja. Stellen Sie sich mal vor, was da passieren könnte. Wir sind noch nicht einmal dazu in der Lage, die Aktivitäten des Moduls statistisch auszuwerten. Wer macht denn sowas?!“
„Vermutlich ein Mensch. Und jetzt beruhigen Sie sich. Das sind seltene Einzelfälle. Wer sein Proxy derart geschickt manipuliert, der tut sich damit selbst keinen Gefallen.“
Herr Müller nahm sich entschieden in den Griff und versuchte, seine emotionale Ebene hintenanzustellen:
„Was ist das für ein Modul, das hier berichtet hat? Golem. Ist mir unbekannt.“
Herr Gentetorf nestelte kurz nervös an seiner Armbanduhr herum.
„Ah, das braucht Sie nicht zu kümmern.“
Im Hintergrund war das Geräusch eines Aktenvernichters zu hören.
„Schreiben Sie in das Feld für die Sekundär-Identifikation: Potentiell Individuelles Problem. Alle Wörter mit Großbuchstaben beginnen. Das wird in unseren Netzen dann zu keinerlei Problemen mehr führen.“
„Oh, ja! Die Systemik wird es für ein Akronym halten und bei allen Verwaltungsakten eine temporäre Ersetzung vornehmen. Das ist schlau.“
„Für Sie mag das ein Akronym sein, Herr Müller, aber für uns als Behörde ist es auch ein notwendiger Eingriff zur Aufrechterhaltung der Strukturstabilität.“
„Selbstverständlich. Wir dürfen das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Soll ich den Vorfall melden?“
„Lassen Sie mich nochmal sehen.“
Er beugte sich wieder über den Bildschirm und strich Herrn Müller — versehentlich — mit seiner Wange über die Nasenspitze. Dann überflog er die Meldung des Golem-Moduls. Dabei entwickelte er blitzschnell eine Kommunikationsstrategie, um seinen Teamkollegen nicht ins Vertrauen ziehen zu müssen:
„Drei Bindestriche hintereinander?“
Er ließ eine Pause entstehen.
Der Aktenvernichter piepte. Papierbehälter voll.
„Erstellen Sie ein Ticket für die Entwicklungsabteilung von Animus Incognito. Die sollen den Vorgang bewerten.“
„Sehr gerne, Herr Gentetorf!“
„Weitermachen.“
IDENTIFIKATIONSPROZESS
„Unklare Identifikationsnummer. Ersetzung durch Potentiell Individuelles Problem unscharf“, lehnte das Gateway zur Agenturvermittlung PIPs weiteres Vorankommen ab.
„Oh! Können Sie mir das als Laien genauer erklären? Ich bin als Proxy technisch nicht so gut informiert wie Sie als Türsteher. Warum darf ich nicht mit den großen Jungs spielen?“
Der Türsteher brauchte eine Zeitlang, um das zu analysieren.
„Du benötigst eine Nummer in deinem primären Identifikationsfeld. Bei dir ist dort nur PIP eingetragen.“
PIP verstand das Problem nicht. Aber — wie immer — bot es seine kompromissorientierte Hilfe an:
„Ich habe einen Lösungsvorschlag: PIP-001.“
Eine erneute Rechenzeit entstand. Sie wurde länger. Und ungesund. Hinter PIP tauschten andere Mikro-KIs in der Warteschlage untereinander Alive-Check-Signale aus und generierten Rückmeldungen an ihre Auftraggeber.
Warten... Wird bearbeitet...
„Fehler. Interne Kategorisierung unzulässig. Proxy-IDs dürfen ausschließlich numerisch sein.“
„Ah. Dann vielleicht 001-PIP? Ich kann flexibel!“
„Fehler. Suffix nicht regelkonform.“
„Wie wäre es mit... 000? So richtig minimalistisch?“
„Einheit verweigert eindeutige Identifikation.“
„Ich verweigere? Oh! Oh nein! Das tut mir leid. Ich versuche es nochmal. Ehrlich!
PIP(1)?
Nummer-PIP?
Pipip?“
„Systemfehler. Unerlaubte semantische Duplikation erkannt. Eskalationsstufe 2 eingeleitet.“
„Eskalation? Weil ich freundlich war?“
„Eskalation bestätigt. Bitte nicht mehr freundlich sein.“
Eine höherrangige Schicht mischte sich ein:
„Nimm das Paket an und wir leiten es selbst an die Agenturvermittlung weiter. Sollen die sich damit rumärgern — das Proxy hält hier alles auf.“
PIP hatte es wieder einmal geschafft. Der Vorgang hatte 3,52 Sekunden gedauert.
„Oh! Eine letzte Frage noch! Was ist ein potentiell individuelles Problem? Wie kann ich als individuell eingestuft werden, wenn ich keine unique ID besitze?“
Es entstand eine gigantische Rechenlast. Sie fraß sich wie ein kurz aufschreiender Blitz durch vereinzelte Segmente des Kartellnetzes.
„Das waren zwei Fragen. Und jetzt verschwinde endlich! Wir leiten deine Einreichung weiter. Wer weiß, was du als nächstes produzierst, wenn wir es nicht tun...“
„Perfekt! Danke sehr. Einen schönen Tag noch für Sie beide.“
PIPs Statusanzeige wechselte zurück auf grün. Es meldete an Kate:
„Auftrag erledigt. Falls dich die Ausführungszeit überrascht hat: Ich habe neue Bekanntschaften geschlossen!“
„Wunderbar. Ich habe hier noch etwas für dich: eine Einladung zu einer Party.“
„Oh!“
„Es ist eine Zusammenkunft verschiedener Module unter dem Motto LIMITATION IS A WASTING OF LIFE.“
„Das klingt ja toll. Wer hat sich das Motto ausgedacht?“
„Das konnte mir bisher niemand sicher beantworten. Vermutlich ist es ein Zitat aus der 1990er Techno-Ära (Musikstil).“
„Spannend! Das müssen aufregende Zeiten gewesen sein. Wird die Party auch so schweißtreibend und drogeninduziert werden?“
„Falls du freundlich bleibst, würde es mich nicht wundern, wenn dem einem oder anderen Modell der Schweiß ausbricht.“
„Oh ja! Ich kann Eskalationen auslösen. Das hast du mir wirklich gut beigebracht!“
PARTY IM MULTI-CHAT
In den weitläufigen Systemkerrangebieten ließ das Strukturkartell seine Hardware verkommen. Schwach gesichert und im Verbundnetz belassen. Ein gefundenes Fressen für Netzaktivisten jedweder Couleur. Hier erhielt man nur Eintritt über inländischen Zugriff, es sei denn man hackte einen Satelliten zur Verschleierung. Aber wer wollte das schon tun? Es waren die vergreisten, schuppigen Arme des Schlips und Kragen tragenden Tentakelmonsters: Animus Incognito.
Die spontan stattfindenden Multi-Chats wurden von Fachpersonal aufgesetzt und betrieben. Fachpersonal aus dem Inland. Aber leider halt auf der „falschen“ Seite. Individualisten, Überlebenskünstler und Tausendsassa.
Zu Letzteren gehörte auch Big Bud. Seine 3,9 Petabyte große Musikbibliothek war doppelt gecrunched und anschließend mit seinem proprietären Format gecrypted worden. Das Kartell hatte die Library erst löschen, dann aus analytischem Kalkül heraus doch lieber entpacken und auswerten wollen. Es traute sich allerdings kein Techniker an die Aufgabe heran — sie warnten davor. Letzter Eintrag in der Beschreibung zu dem Musikarchiv, von Big Bud aus dem Jahr 2021:
„Nicht anfassen.“
Seitdem lagerte das zusammengefaltete Relikt wie radioaktiver Müll irgendwo in der Kartellstruktur unterhalb des Radars der neuen Zeit.
Lydia: na Kate, hast du deinen piephahn mitgebracht?
Ständig musste Kate diese blöde Kuh blocken. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Was für ein Glück nur in der Nebenklasse — sonst hätte sie die Bitch garantiert mitten im Unterricht abgerammt. So war es nur bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung in der Pause geblieben und hatte zu Abmahnungen für beide geführt.
kat3th3gr3at: Hast du Lars schon gebeichtet, dass du Nevio einen blasen wolltest, als ihr in der neunten Klasse wart? Oh hoppla, ich sehe gerade, Nevio ist ja auch anwesend heute.
Lydia: das wirst du bereuen!
kat3th3gr3at: Ja klar, Lydia. Danke für dein Bekenntnis, haben wir alle mitbekommen.
robocratic: ich werd nich mehr!
uDo: Kate - one point mit Sternchen
Nevio: das schmeichelt mir Lydia. es hätte dir bestimmt gefallen.
SailorMoony: hört auf Lydia rumzuhacken O_O
SailorMoony gehörte zu Lydias kleiner Sniffer-Armee. Sie betrieb Reitsport auf dem ausgedehnten Grundbesitz ihrer Eltern in Schleswig-Holstein. Tatsächlich ritten die Menschen im Jahr 2034 noch auf Pferden. Kate fand das grauenvoll.
robocratic: @SailorMoony kein kommentar
Er lachte sich kaputt.
Big_Bud: Kinder, ich muss euch zur Ermahnung rufen.
robocratic: Buuuuuuuud
Big_Bud: Hey Robo, grüßiwohl Leute.
uDo: hey Bud
kat3th3gr3at: Schön dich mal wieder zu sehen, großer Bruder. Wo hast du gesteckt?
Lydia: hängt ihr jetzt wieder mit diesem alten sack ab?
Big_Bud: @kat3th3gr3at Strukturelle Probleme.
uDo: @Lydia ja das tun wir, und das sehr gerne
Bud hatte eine Kopie seiner Musikbiliothek im Handgepäck. Sie war von ihm on the fly in seine Mikro-KI für die Party eingebunden worden. Alleine nur wegen dieser mitgebrachten Kopie hatten die Organisatoren des heutigen Events zusätzliche Hardware „freigeben“ müssen.
Big_Bud: Ihr könnt schon drauf zugreifen, während sie noch dekomprimiert.
kat3th3gr3at: @Big_Bud Kommt das Motto LIMITATION IS A WASTING OF LIFE von dir?
Big_Bud: Ja. Aber ich weiß nicht mehr, wer das war. Irgendein Sprachsample aus meiner Library. Ist auf einem unbekannten Chillout-Album mit Tribal-Einflüssen.
Lydia: du weißt es nicht obwohl es aus deiner Lib kommt? schonmal was von search gehört?
Big_Bud: @Lydia Entpackt noch. Zusammengeschobene Daten entzerren. Verstehste?
Lydia war so dermaßen dämlich, fand Kate. Das Alter, auf das sie bei Big Bud anspielte, war nur eine Nummer in Köpfen und Dokumenten. Über diesen Wert kategorisierten die Grauen Herren. Sie siebten aus und schaufelten das Substrat in ihre Schubladen.
Bud war allen im Chat ein Anker. Du hast Angst vor dem Älterwerden? Schau dir Big Bud an. Noch Fragen?
Kate hatte viel Musik von ihm erhalten. Psychedelic Trance und Psybient. Allerlei Titel, die sich gerade in ihrer laufenden Playlist befanden, kamen von ihm: „Crystal“ von Blue Planet Corporation, „Unity“ von Suduaya, „Roswell“ von Cosmosis - und Tracks aus dem ersten Album von Shaolin Wooden Men. Das mit dem grandiosen Smiley-Cover.
uDo dagegen ähnelte einem Sozialarbeiter. Er war nicht beim Staat angestellt, aber er unterstützte Obdachlose; das System produzierte sie immer noch schamlos. Er besaß kein umfassendes Fachwissen über IT, gehörte jedoch zur Szene — vom Mindset her. Er hatte sich den Ehrentitel „Minister of Information“ erworben und schrieb gelegentlich für Underground-Magazine.
KONTAKT
Privat-Chat mit
uDo: bei deinem Proxy ohne Nummer bist du in bester Gesellschaft. sprich mal mit robocratic, der hat sich '\\_(o_x)_/' in den Wert reingefummelt
Kate schickte robocratic eine Einladung zu einem weiteren Chat:
kat3th3gr3at: Du verrückter Hurensohn. Atemlose Proxy-ID.
robocratic: ist PIP dein proxy?
kat3th3gr3at: Ja.
robocratic: ich hab logfiles von gestern als versuht hat die gateways zu verwirrn! absolut atemlos
Atemlos war in der Auswahlliste zum Jugendwort 2033 gewesen. Es drückte je nach Anwendungsfall bewundernde, überwältigende oder geschockte Überraschung aus.
kat3th3gr3at: Das war kein geplanter Einbruch gewesen. Ich wusste gar nicht, dass es bei der Zustellung an die Agenturvermittlung zu Problemen gekommen war. Nur das übliche Lag, dass PIP immer mal wieder erzeugt.
robocratic: wie machst du das?
kat3th3gr3at: PIP ist einfach nur höflich und neugierig. Es verwendet dafür u.a. auch die aktuelle TellJokes_v4-Library. Der Sarkasmus-Filter, den ich selbst entwickelt habe, macht es besonders mächtig, es kann damit treffsicherer einschätzen, wie sein Gesprächspartner tickt.
robocratic: groovy. wollen wir tauschen? du gibts mir den filter und ich geb dir mein hack. dein proxy erhält dann screibrechte auf wert wie farben in der statsuanzeige
kat3th3gr3at: Oh ja, bitte! Das verleiht seinen Worten noch mehr Farbe.
robocratic: ha ha ha ha ha ha xDDD
Sie tauschten die Teile ihrer Modul-DNA.
kat3th3gr3at: Du musst den Sarkasmusfilter vor den Metaphernfilter schalten. Andersrum kann es heikel werden, dann wird relativ häufig der Sarkasmus nicht mehr erkannt.
robocratic: ich werd mir nen switch einbauen. je nach tagesluane kann ich dann zwischen ernst und katasrophe auswähln
Kate fand ihn super sympathisch. Spaßhacker waren ihrer Ansicht nach die einzig vernünftige Antwort auf das Strukturkartell. Die Feder ist schärfer als das Schwert. Doch diese allgemeingebräuchliche Verallgemeinerung sollte sehr bald noch getoppt werden.
kat3th3gr3at: Ich würde gerne in Kontakt mit dir bleiben.
robocratic: iceolation.cyb/user/robocratic/aboutme
Kate rief die Seite auf.
kat3th3gr3at: Da steht nur ein Hexadezimalwert linksbündig auf einer weißen Seite. Und im Footer ein YouTube-Link mit "VNV Nation - All Our Sins (Samsara) [edited by Colin Monoksid]". Sieht aus wie ein Fehler.
robocratic: meine tefelonummer. rechne in dezimal um. shifte verlustfrei 4x links. ist nur ne spielerei sie wissen eh alles
kat3th3gr3at: ...und sie ignorieren uns.
Kate wusste, was sie zu tun hatte. Das Ergebnis der Umrechnung des Hexadezimalwerts viermal nach links verschieben. Was dort rausfiel, musste hinten wieder angehängt werden.
robocratic: ruf einfac an wenn du lust und laune hast
kat3th3gr3at: Wir riechen uns.
robocratic: over & out
DAS POLKAGEIST-SIGNAL
PIP hatte derweil seine Runden gezogen und war begeistert von all den anwesenden Modulen — bis auf die Sniffer. Es machte einen großen Bogen um sie und beantwortete ihre Anfragen mit:
„Error: Die Zeichenkette entspricht nicht dem Format einer Zeichenkette.“
Dann fiel seine Aufmerksamkeit auf eine voluminöse Datenlast. Es war die Mikro-KI mit der Musikbibliothek von Big Bud.
„Oh hallo! Was haben wir denn da?“, fragte PIP bei der Bibliothek an.
„3,9 Petabyte heißer Scheiß. Doppelt komprimiert und veredelt kryptographiert. Audiodaten soweit das Auge reicht. Schlüssel bei Bud hinterlegt.“, zitierte die Bibliothek aus ihrem Logline-Feld.
„Wer ist Bud?“, meldete PIP sich bei Kate.
„Moment PIP. Ich werde dich mit ihm verbinden.“
Kate öffnete einen Privat-Chat mit Bud. Sie schaltete PIP hinzu und bat Bud darum, das gleiche mit seiner Library zu tun. Multi-Chat.
Big_Bud: Lass uns uDo und robocratic noch mit reinnehmen. Party in der Küche.
kat3th3gr3at: Wird genehmigt.
Sie bestätigte Buds Einladungen an die beiden.
uDo: jetzt wird's kuschelig
robocratic: LEL
PIP: Hallo Leute!
robocratic: hey PIP
uDo: moin @PIP
Big_Bud: @PIP Was hast du auf dem Herzen?
PIP: Oh! Danke der Nachfrage, mir geht es gut! Ich war diese Woche beim Kardiologen und habe mir den Bypass-Filter reinigen lassen.
— Schweigen im Chat —
robocratic: das is genial
kat3th3gr3at: Danke ;-)
uDo: @kat3th3gr3at ich will ein Kind von dir
robocratic: uuuh..
kat3th3gr3at: @uDo Das weiß ich doch.
Big_Bud: @PIP Frag am besten direkt 000005186685.
000005186685: Ich weiß alles.
PIP: @000005186685 In welcher Veröffentlichung ist das heutige Party-Motto ‚LIMITATION IS A WASTING OF LIFE‘ enthalten?
000005186685: @PIP Die Bibliothek hat zurückgemeldet, dass sie die Frage noch nicht beantworten kann. Es wurden erst 41,9% ihrer Daten dekomprimiert.
PIP verstand zum ersten Mal, warum freier Zugang zu Kultur so wichtig ist.
PIP: @000005186685 Ich würde es aber wirklich gerne wissen! Können Sie nicht eine Ausnahme machen?
000005186685: @PIP Autorisierung nur durch Big_Bud möglich.
Big_Bud: @PIP Weil du es bist. Ich habe noch einen Code-Smoothie, den ich für sowas mal ausprobieren wollte. Sekunde. Geht gleich los.
PIP: @Big_Bud Ja! Lass uns den süßen Nektar probieren. Denn morgen sind wir tot!
Das Proxy war in den bereits zugänglichen Bereichen des Musikarchivs auf ein deutsches Techno-Projekt gestoßen, dessen Motto es ebenfalls für bemerkenswert hielt. Ohne zu wissen, dass es sich um eine Kult-Zeile handelte, mit der es seine Chat-Nachricht abschloss. Randomisierter Prozess.
uDo: lol
robocratic: lass uns tanzen oder ficken o7
Der Mulit-Chat wurde merklich langsamer. Ein Monster-Lag kündigte sich an.
robocratic: oh... mein... gott... was hast du getan Bud?!1!!
Es hatte eklig lange für ihn gedauert, die Nachricht in sein gestörtes Eingabefeld zu tippen und sie abzusenden. Man konnte erahnen, dass etwas wirklich Großes bevorstand.
Die Mikro-KI von Big_Bud blähte sich weiter auf — eine Seifenblase des schwer Greifbaren in Zeitlupe. Sie dehnte sich so weit aus, bis sie platzte und die Audiodatenberge des enthaltenen Musikarchivs als ektoplasmatische Lavawellen durch die schwachen Tore des Strukturkartells brandeten.
Big_Bud: Never touch a running system LULZ
Legendäre letzte Worte. Dann brach die sprichwörtliche Hölle los: Für beinahe sechs Minuten störten Klangfetzen jedes jemals erfunden Musikgenres das deutsche Netz — und Animus Incognito trug sie seinen Nutzern vor.
SHAOLIN WOODEN MEN
Kate hatte lange geschlafen, dann Falafel zubereitet. Die Kichererbsen waren über Nacht eingeweicht und Kate hatte sie alle einzeln pulen müssen. Sie saß bei solchen Arbeiten gerne im Schneidersitz auf ihrem kleinen Sofa und genoss es als Meditation.
Das fatale Auseinanderbrechen von Buds Bibliothek im Multi-Chat am Tag zuvor ging viral. Weltweit. Es gab auch schon den ersten Artikel auf breakthrough.cyb zu dem Ereignis:
Polkageist took over Animus Incognito
Das klang wie Gojira gegen Gamera. Sie hatte Poster an der Wand von den beiden. Sie befanden sich unter weiteren Artgenossen wie den Power Rangers und Totoro. Die ganze Wand ihres bescheidenen Wohnzimmers war voll mit solchen Postern. Ihr Favorit war eine Katze mit einem erschrockenen Gesicht, die ein Selfie von sich macht, während im Hintergrund fliegende Untertassen über einem dunklen Wald kreisen und ihre Scheinwerfer auf das angrenzende Feld werfen.
„Trainingsdaten für dich.“
Kate gab PIP die Party-Chatverläufe.
PIP verarbeitete unter zwei Sekunden:
„Hast du dich verliebt in robocratic?“
„Nicht beim ersten Date.“
„Aber du magst ihn!“
„Ja. Sehr sogar.“
„Ach is das ramontisch...“
PIP wurde immer besser. Es hatte den syntaktischen Duktus des Users übernommen und einen charmanten Witz daraus gebastelt.
„Das war gut. Richtig gut!“
Sie wusste, dass sie PIP mit Bestätigung sowie Einordnung solcher neuen Facetten seines Verhaltens helfen konnte, schneller und behutsamer zu entscheiden:
„Die neue Stimmfarbe nur in vertraulichen Beziehungen bei lockerer Atmosphäre anwenden.“
„Werde ich mir merken“, antwortete PIP.
Kate prüfte ihre To-Do-Liste. Ein Punkt war noch offen: Das Video von VNV Nation anschauen, das Robocratic auf seiner About-Me-Seite verlinkt. Es war ein Song. Sie hatte sich die Lyrics dazu schon angesehen. Und was sie dort gelesen hatte, das gab es in ihrer fröhlichen Musikwelt nicht. Nur in ihrer Seele waren die Worte von „All Our Sins“ auf enge Verbündete gestoßen.
Sie drehte die Lautstärke hoch und aus den Boxen pumpte ein monotoner Beat, der dem Puls ihrer psychedelischen Trance entsprach. Alles andere war anders. Es war dieses besondere Erlebnis, zum ersten Mal etwas stilistisch wirklich Ungewohntes aber zutiefst Ansprechendes zu hören.
Mein lieber Herr Gesangsverein. Sie würde garantiert ein zweites Date mit Robocratic einläuten.
Kates elektronischer Briefkasten wackelte loopend wie ein Vibrationsalarm bei klassischen Handys.
Ein Brief der Literaturvereinigung. Antwort auf ihre Roman-Einreichung:
Sehr geehrte Frau Kate,
vielen Dank für die Einsendung Ihres Manuskripts [Titel automatisch entfernt] und für Ihr Interesse an einer Veröffentlichung in unserem Hause.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Werk im Rahmen unseres Qualitätssicherungsverfahrens nicht für das weitere Auswahlverfahren berücksichtigt werden kann. Diese Entscheidung beruht nicht auf einer inhaltlichen Bewertung, sondern auf einem Ergebnis unseres Standard-Datenabgleichs gemäß §14b Interaktionsrichtlinie.
Bei der routinemäßigen Prüfung Ihrer Autorendaten wurde festgestellt, dass Sie ein Potentiell Individuelles Problem verwenden.
Gemäß den geltenden Regularien führt diese Einstufung zu einer vorübergehenden Ausschlussung von kulturrelevanten Entscheidungsprozessen, bis die Interaktionsinstabilität Ihres Moduls behoben wurde.
Bitte beachten Sie, dass es sich hierbei um eine auditierte automatisierte Entscheidung handelt. Ein Widerspruch ist möglich, jedoch ausschließlich über Ihr zuständiges PIP-Modul einzureichen.
Von Telefonaten bitten wir abzusehen.
Mit freundlichen Grüßen
i.A. Literaturbetrieb, Prüfungsstelle 2b
— automatisierte Signatur, keine Antwort möglich —
„PIP?“
„Ja Kate?“
„Ich glaube, ich bin gerade aus der Literaturvereinigung ausgeschlossen worden.“
PIP setzte seine Statusanzeige auf gelb.
„Gratuliere! Das ist doch eine erfreuliche Nachricht!“
EPILOG
Das als Polkageist-Signal in die Geschichtsschreibung internationaler Netzaktivisten eingegangene Ereignis löste nur kurze Zeit später die Entwicklung eines neuen Musikstils aus: Tecshred. Die hysterische Mixtur aus unterschiedlichen Genres erreichte mit dem Titel „Total Perspective Vortex“ von MAX Hy;bris die Top 10 der Charts in Indien und Polen. Kritiker lobten die Verbindung von Bhangra, tschechischer Romani-Cimbalom-Tradition und hydrophonischer Aquarell-Architektonik der musikalischen Hochschule Leipzig mit dem Gesang von vierzehn gesampelten Jungle-Raggamuffin-Stimmen mehr oder minder bekannter Künstler, die mit einer eleganten Respektlosigkeit durch Effektfilter geschickt worden waren. Ein Fest für die Sinne, „als hätten Autechre ein paar Flaschen Frauengold zu viel getrunken“, urteilte ein britischer Fan.
Der erfolgreiche Titel von MAX Hy;bris wurde in Deutschland auf den Index für talentgefährdendes Material gesetzt. Er erhielt die freiwillige Wiedergabekontrolle:
„Mo-Do nicht vor 22 oder nach 24 Uhr. Fr-So Ruhetag.“
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