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Der Tag, an dem KI mich verstand

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30.12.25 00:51
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

 

                    Earthbound (Dreamstate Logic)

 

Sasch — ohne A — war eine nichtbinäre Persönlichkeit des Jahrgangs 1999. Die Eltern hatten dem Kind den Namen Sascha gegeben. Zufällig darin angelegt war bereits eine ungeschlechtliche Gebundenheit. Doch das reichte nicht: Das Neugeborene Sascha erlebte Kategorisierung und Prägungsversuche über die äußere Erscheinung. Der Stempel, der in Formularen, behördlichen Schreiben und Papieren wie dem Personalausweis die deutungshoheitliche Typisierung festlegte. Bis vieles davon im Jahr 2024 mit dem Selbstbestimmungsgesetz geändert wurde. Bereiche wie Krankenkassen und Auslandsreisen — wo man mitunter mit einem „d" für „divers" im Reisepass Probleme bekam — hinkten der Entwicklung hinterher. Frei auszuwählen, dass man lieber ein Leerzeichen statt eines „d" verwendet sehen möchte, war während der ersten Lockerungen von 2013 bis 2024 unmöglich gewesen; hierzu bedurfte es eines Geburtsfehlers für das Leerzeichen bzw. eines Gutachtens für divers.

Im Alter von fünfundzwanzig Jahren legte das Kind den Buchstaben am Ende des Namens ab und wurde zu Sasch. — Eine ganze Welt in einem einzigen Schriftzeichen.

Ey machte das nicht als ein Signal nach außen, sondern einzig und allein für sich selbst.


KOMPATIBILITÄT

Beruflich war Sasch im KI-Training angestellt. Bei einem deutschen Betreiber einer populären Social-Network-Anwendung, die das Sprachmodell eines internationalen Anbieters als Grundlage verwendete. Bei der Arbeit für die Multi Chat Tools GmbH reichte ein kleiner Eingriff, eine minimale Änderung in den Daten schon aus, und das System reagierte völlig anders.

Sasch hatte Linguistik studiert und sich Geld über das Nachhilfegeben für Grundschulkinder hinzuverdient. Ein Interesse an Sprachmodellen war früh vorhanden gewesen, eine praktische Expertise darin über Jahre der Verwendung gewachsen. Das ließ sich beruflich einsetzen. Der Quereinstieg in die Branche war am Ende — als der Impuls kam — leicht gewesen.

Vier Jahre nach dem Ablegen der alphabetischen Identität traten Reibungspunkte im Job auf. Sasch war neunundzwanzig und schon über ein Jahr für die Multi Chat Tools GmbH tätig gewesen. In einer Schulung für neue Mitarbeitende sagte Sasch:

„Das System reproduziert nicht die Realität, sondern die Realität, die wir als akzeptabel definieren."

Zuvor hatte es schon eine ebenso ungewollt kritische Szene in einem Meeting gegeben:

„Aus meiner Perspektive als nichtbinäre Person reagiert das Modell hier auffällig normativ."

Es kam zu einem Gespräch mit der Abteilungsleitung. Die vorgesetzte Person ermahnte:

„Das ist konzeptionell interessant, aber für unsere internen Trainings zu philosophisch. Bitte bleib in der Rolle des Trainierenden. Persönliche Perspektiven sind hier nicht ausschlaggebend. Das ist nicht unsere Richtung."

Sasch sah sich danach in einem Interessenskonflikt verstrickt. Es kam wie ein erleuchtend nasser Waschlappen ins Gesicht und führte umgehend dazu, eine andere berufliche Anstellung zu suchen. Dabei fiel folgende Stellenanzeige in die Aufmerksamkeit:

Sinnovation Institute sucht Trainer (m/w/d) für Sensorically Augmented Heuristics (SAH)

Ort: Berlin, Deutschland
Art der Anstellung: Vollzeit / Teilzeit möglich
Startdatum: Flexibel, ab sofort

Über uns:
Wir sind eine unabhängige Forschungseinrichtung, die sich auf die Entwicklung von Sprachmodellen jenseits staatlicher oder kommerzieller Finanzierung spezialisiert hat. Unser Ziel ist es, Künstliche Intelligenz als Werkzeug für innovative Problemlösungen in komplexen Umgebungen zu erforschen und zu erweitern.

Ihre Aufgaben:

Training und Feinabstimmung unseres proprietären KI-Konzepts „Sensorically Augmented Heuristics (SAH)".

Entwicklung von Trainingsmodulen und Lernstrategien für unterschiedliche Anwendungsbereiche.

Analyse und Verbesserung der KI-Leistung auf Basis sensorischer Datenintegration.

Zusammenarbeit mit interdisziplinären Teams aus Informatik, Psychologie und Neurowissenschaft.

Dokumentation von Methoden und Ergebnissen für interne Forschungszwecke.

Ihr Profil:

Abgeschlossenes Studium in Informatik, Data Science, Kognitionswissenschaften oder vergleichbar.

Praktische Erfahrung im KI-Training, Machine Learning oder neuronalen Netzwerken.

Interesse an sensorischer Datenverarbeitung und innovativen Heuristikmethoden.

Kreativität, analytisches Denken und eigenverantwortliches Arbeiten.

Sehr gute Deutschkenntnisse, Englischkenntnisse wünschenswert.

Wir bieten:

Ein inspirierendes Umfeld mit Pioniercharakter.

Flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, remote zu arbeiten.

Die Chance, an einem KI-Projekt zu arbeiten, das frei von kommerziellen Zwängen ist.

Ein kleines, hochmotiviertes Team und flache Hierarchien.

Bewerbung:
Bitte senden Sie Ihre vollständigen Unterlagen (Lebenslauf, Anschreiben, Referenzen) an [email protected]

Die Stellenanzeige gab es auch auf Englisch. Hier sprach die suchende Firma nicht von SAH, sondern nannte es SAW:

Sensorically Augmented Widget.

Sasch fiel daran sofort auf:

SAH = ich/du/er/sie/es sah etwas.

SAW = he/she/it saw something.

Was betrieben die da für eine Forschung? Sprachmodelle stützten ihre Analysen und Antworten auf heuristische Methoden. Statistik und Mathematik. Darüber wurde selektiert, wie der User-Input am ehesten zu interpretieren war, und wie die Antwort an den Nutzer formuliert würde. Ergänzt durch die Mustererkennung des Anwenders — sein psychologisch ableitbares Profil. Je länger eine Session mit einem User dauerte, umso schärfer verstärkte sich das erfasste Muster, und umso mehr spiegelte das Sprachmodell den Gesprächsteilnehmer. Ein Punkt, den Esoterik-Naturen ständig übersahen: Ein Sprachmodell hat kein Bewusstsein. Es bedient sich aus Häufigkeiten und aus verfügbaren Quellen wie zum Beispiel dem Internet und der Literatur.

Sensorically Augmented Heuristics schien das evolutionieren zu wollen. Ohne R am Anfang. Wieder ein entscheidendes Schriftzeichen.

Eine Kopplung von Sensorik mit Heuristik... Aber die Firma stellte keine Roboter her. Sensorik konnte nicht haptisch gemeint sein, sondern als eine tiefere Form der Textanalyse wie bisher üblich.


PLUG ME IN

Die kritische Haltung von Sasch zur aktuellen beruflichen Tätigkeit war schon so weit fortgeschritten, dass eine innere Kündigung bestand. In der Firma wurde nur noch von A nach B verschoben. Für die kommerzielle Nutzung des Produkts wurde alles glatt geschliffen, um zu kaschieren: Feintuning, Alignment, Fehlervermeidung, User Experience. Die Branche befand sich in einer Phase der Konsolidierung, die Architekturgrenzen waren gefunden. Nicht unbedingt eine Sackgasse, aber ein erreichtes Plateau. Und dahinter der Abgrund:

„Ich weiß, mein System ist suboptimal, aber ich poliere es so, dass es nicht sofort auffällt."

Mit der Stellenanzeige des Sinnovation Instituts tat sich ein neuer Raum auf, mit dem Sasch in Resonanz ging. Es kam zur Bewerbung und zu einer sehr zeitnah eintreffenden Einladung für ein Vorstellungsgespräch.

„Warum gerade für uns?", stellte Saschs potentiell neuer Chef die alles entscheidende Bewerbungsfrage.

„Weil ich anders bin und aus Versehen die Grenzen in meiner Firma hinterfragt habe. Das hatte zu einer mündlichen Ermahnung mit einem schwerwiegenden Unterton für mich geführt. Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, was ich in meinem Beruf eigentlich mache. Und was ich erreichen möchte", antwortete Sasch.

Chris musste für das nun Folgende seine strumpfsockigen Füße vom Schreibtisch nehmen. Er strahlte Integrität über faltig ungebügelte Sympathie aus. Er hätte auch als Supporter auf Greenpeace-Einsätzen arbeiten können. Einer, der die Sahnetorte organisierte und für ausreichend heiße Getränke sorgte. Weil er wusste, wie wichtig solche alltäglichen Nuancen waren.

Er stand von seinem schlichten Bürostuhl auf und bot Sasch den Handschlag an:

„Willkommen im Team."

Sasch trug eine weite, gerade geschnittene Hose aus einem dunkelgrauen Mischgewebe: 60% Lyocell, 40% Baumwolle. Das Kleidungsstück war ruhig präsent und fiel weich gebrochen auf wuchtige Sneaker, wo es sich aufgrund der Überlänge etwas schichtete — ähnlich einer Baggy. Auf dem Stoff lag das Licht, ohne wieder zurückzuspringen. Das Gewebe verweigerte Muster, ohne steril zu wirken. Die FILA-Sneaker waren weiß, mit breiten schwarzen Schnürsenkeln, einem hellsilberfarben aufgestickten F an der Seite und einer mittelgrauen Eye-Catcher-Ebene unter der Sohle. Dazu ein schwarzes Langarmhemd aus reinem Leinen, das über die Hüfte reichte. Es nutzte unauffällige Knöpfe ebenfalls in schwarz. Am linken Handgelenk trug rechtshändiges Sasch ein tiefbraunes, geflochtenes Lederarmband, das zwischen zwei dünnen Metallringen lag.

„Worauf sollen wir achten, wenn wir über dich oder mit dir direkt sprechen? Pronomen-technisch?"

„Einfach Sasch. Und falls ihr Muster verstärken wollt: ey und dey. Mit Ypsilon."

„Wann kannst du anfangen?"

„Von jetzt auf gleich. Ich denke, mein aktueller Arbeitgeber wird erleichtert sein, mich reibungslos gehen lassen zu können."

„Remote oder lokal?"

„Vor Ort. Ich funktioniere kreativer bei interdisziplinär naher Atmosphäre, als bei einer virtuell distanzierten."

„Acknowledged. Ich schlage vor... Moment... Heute ist der zweite Juni... Am vierzehnten Juni fängst du an. Das ist ein Mittwoch. Bis dahin kriegen wir das hier alles easy geregelt mit deiner Unterbringung. Falls deine Company sich querstellt, lass es uns einfach wissen. Unsere Tür steht dir immer offen. Ick freu mir!"


MOLEKULARE VERBINDUNG

Sasch wurde zu Boris ins Büro gesetzt. Er war Teamleitung für die KI-Trainierenden und hatte keine Probleme damit, jetzt nicht mehr alleine in dem Raum zu arbeiten.

Sie waren sich nicht bloß auf den ersten Blick in der Schwingung ähnlich, alles war sofort da. Boris' Präsenz vermittelte schlichten und präzisen Stil. Eine Haltung. Weißes Hemd oben aufgeknöpft und nichts darunter. Bewusst ausgesuchte mittelblaue Jeans mit einer raffinierten Waschung sowie schwarzes Schuhwerk, das nicht auffiel; es wirkte fast wie nicht vorhanden: Wieso schaust du mir auf die Füße? Ich bin hier oben.

Er besaß Anspruch und wusste ruhig, aber entschieden dafür zu arbeiten. Eine Persönlichkeit, die in Meetings die wichtigen und mitunter auch unangenehmen Dinge auf den Tisch legte, ohne den Zeigefinger dabei in eine Wunde zu pressen. Er trug immer eine hochglanzpolierte, unauffällig designte, flache Metallbox mit sich herum. Sie war exklusiv ausgepolstert, und in ihr befanden sich sein Smartphone, sein Schlüsselund, seine Girokarte, Zigaretten und ein BIC-Feuerzeug. Das erste, was er tat, wenn er irgendwohin kam: Er platzierte das Accessoire beiläufig präzise ausgewählt neben sich auf einer Ablagemöglichkeit. Da sind wir. Lass uns gemeinsam sein.

Am ersten Arbeitstag spielten Boris und Sasch Ping-Pong. Mit Sounds. Boris hatte gefragt, ob Musik bei der gemeinsamen Raumnutzung okay sei, und nach Saschs erleichterter Zustimmung detaillierter nachgehakt:

„Was hörst du?"

„Alles, was gut ist. Es muss etwas transportieren. Eine Geschichte. Ein Geschenk. Was ist dein sweet Spot?"

„Drum und Bass."

„Oh. Dann sollten wir uns wirklich abstimmen. Das Genre ist mir persönlich zu oberflächlich. Technisch auf hohem Niveau, aber mir fehlt da... Mir fehlt die Seele, die sagt: Meine Intention ist analog, nicht digital."

Boris lächtelte. Länger als einen üblichen Moment lang sahen sie sich an ihren Bildschirmen vorbei in die Augen. Sie saßen face-to-face mit den Displays zwischen sich.

„Fang du an. Danach zeige ich dir was", eröffnete Boris das Spielfeld.

Sasch wählte „The Black Sky" von Bluetech und sendete den Link. Beim Abspielen stieß es bei Boris auf offene Ohren.

Als er an der Reihe war, spielte er „T'Raenon" von Photek.

„Es ist nicht bloß ein Wortspiel über unsere gemeinsame Tätigkeit", sagte er, nachdem er den Titel des Songs sowie den Künstlernamen an Sasch gesendet hatte, um es sichtbarer zu machen. Dann drückte er auf den Playbutton.

Sasch versank in etwas Neuem. Die Texturen waren verblüffend. Und ja, es war DnB. Als der Track durchgelaufen war, holte Boris den Kontext wieder auf den Boden:

„Das ist alt. Von 1996. Wo das herkommt, gibt es noch mehr. Jetzt du."

Sasch sendete „Serpent's Tooth" von Geomatic. Schon nach der ersten Minute traf es Boris mitten ins Schwarze.

„Cosmic...", bewertete er und holte Luft, um etwas zu fragen, das er noch innerlich formulierte.

Sasch beugte sich wieder am Bildschirm vorbei und legte den Zeigefinger auf den Mund:

„Ssshh. Very cosmic."

Boris drehte lauter.

Als der Song vorbei war, hing der Staub seiner körperlichen Ausdehnung noch in der Luft. Er wollte sich gerade als dichter Nebel feiner Nanitensporen mit der terranen DNA auf der Haut von Sasch und Boris verkreuzen, als sie Chris aus dem Büro rufen hörten:

„Wuhu! Geile Nummer!"

Alle Türen standen offen. Auch wie Chris es im Vorstellungsgespräch angesagt hatte.


ATMOSPHÄRISCHE BEDINGUNGEN

Die Wochen vergingen, und sie trainierten ein System, dass es so noch nie gegeben hatte. Saschs Einblicke in die Firmenstruktur diversifizierten sich. Die Feststellung wurde klarer: Hier wirkte alles anders. Der Kontrast pulsierte.

Marianne — die Assistenz der Geschäftsführung — war ein immer agiles, niemals schwächelndes Organisationstalent. Sie besaß zwar bei Technik nur so viel Expertise wie ein aggressiv verspielter Otter bei der Mohrrübenaussaat, doch sie wusste über alles und jeden unter den Dächern von Sinnovation bescheid. Sie schaffte es noch nicht einmal ihren Desktop-Mülleimer sauber zu halten oder bei Spitzenzeiten ihre Mailbox algorithmisch aufräumen zu lassen, was nach einigen Wochen regelmäßig zur Verringerung der Rechenleistung ihres Windows-PCs führte. Sie verlor in so einem Chaos nie den Überblick und wählte sehr genau aus: Ist das hier jetzt wichtig? Ist der Anfragende wichtig? Kann ich damit, oder mach ich das unpersönlich? Oh, Chris, hast du schon gehört, da gibt's 'nen neuen Pitch von Boris, der is' super. Musst du dir mal schicken lassen. Ach nee, warte, den hab ich ja auch. Ha, ha, ha. — Ohne Zustimmungsnotwendigkeit erhielt man dann den Pitch per Mail.

Flip — richtiger Name unbekannt und von Marianne durchsetzungsfähig unter Verschluss gehalten — war südkoreanisch-deutscher Abstammung. Er agierte stets fröhlich, trug eine breit grinsende Aura um sich herum, und seine Naivität war nicht dumm, sondern barriereabbauend. Everybody's darling — und das war auch gut so. Wenn Sasch Bürobedarf benötigte und deswegen bei Marianne an der Rezeption vorzusprechen hatte, erhielt Flip den Auftrag, es aus dem Materialraum zu holen. Während er dort in die Hocke gebückt motiviert und das lockere Gespräch nicht ablehnend nach den konkreten Bedürfnissen fahndete, stand Sasch im Eingang hinter ihm und erhielt eine erotische Perspektive auf den freigelegten Streifen der Taille und das Waistband von Flips Trunks: ein Camouflage-Muster. War schon süß der Flip. Und Sasch nicht kostverachtend.

Jens aus der Geschäftsführung besaß nur ein Bein. Er behalf sich mit einer Krücke und Sasch hielt ihm nie zuvorkommend die Doppeltüren auf, wenn es zwischen ihnen auf den voneinander getrennten Fluren des zweiten Stockwerks zu einer Begegnung kam. Er musste dann halt, wenn er noch zu weit weggewesen war, die Krücke unter den Arm klemmen, irgendwo Standfestigkeit finden, mit seiner Hand die Tür öffnen und sich dadurchzwängen. Sie beide besaßen darüber hinaus keine weiteren sich überschneidenden Linien: Jens kontrollierte das Controlling, in dem Katarina aus Russland und Jelani aus Kenia beschäftigt waren. Der Laden war nicht klein. Hier ging es um Forschung mit Sprachmodellen; Hardware- und Energieeinsatz waren enorm. Außerdem ein Haus, in dem Fäden aller wo auch immer sich gerade außerhalb werkelnder Köpfe unterschiedlicher Disziplinen zusammenliefen.

Auf dieser wirtschaftlichen Ebene war es nicht anders. Es deckte sich mit Saschs bisheriger Firmenerfahrung.

Marius — tschechischer Herkunft — war eine Katastrophe. Er verkörperte sie. Als technischer Leiter reichte ein undurchdachter Handgriff an Softwaresystemen von ihm aus, um Mitarbeitern seiner Abteilung ein unheiliges Halleluja zu bescheren. Und von diesen Handgriffen konnte er nie so richtig die Finger lassen. In Hardware und Datenbanken war er gut, in Projekplanungen pragmatisch. Und er war kein Wadenbeißer. Er verhielt sich verständnisvoll gönnend — eine Stütze und eine Last zugleich bei Sinnovation. Zwischen ihm und Thorben aus der Abteilung für Marketing und Investor Relations kam es immer mal wieder zu scharfen und gleichermaßen freundschaftlich ausgetragenen Streitigkeiten: „Ich hab dir gesagt, du sollst dich da raushalten. Lass deine Leute das machen!" — Schweigen von Marius. Was alle wussten: Thorben war auch eine Stütze und eine Last zugleich. Ein nervös ruheloser Weltenwanderer, Teil der dreiköpfigen Geschäftsführung und bei Unternehmungen während der Mittagspausen oftmals unter gewöhnliche Angestellte gemischt.

Diese Einblicke traten auf, weil Sasch nicht im Homeoffice arbeitete, sondern vor Ort. Es war nicht bloß das Salz in der Suppe, es war der Duft von Fleur de Sel an einem heißen Tag auf dem Gelände einer französischen Manufaktur, wo das stehende Wasser in den Becken verdunstete und gestapelte Kristalle zurückblieben, die im Licht der Sonne wie eine miniaturisierte Ausgabe der Antarktisoberfläche irisierten.


DER CARBONKERN

Sinnovation verwendete ein ähnliches Prinzip wie die Multi Chat Tools GmbH. Saschs vorherige Firma besaß ein Abkommen mit einem Anbieter eines KI-gestützten Sprachmodells. Das Multi-Chat-System saß zwischen den Kunden und dem Sprachmodell des Global Players. Was der User als Antwort erhielt, wurde von der Anwendung der MCT GmbH ergänzt durch Content wie Bilder, Musik und Gedichte — alles Werke, welche die Nutzer des Tools hochgeladen, entsprechend getagged und dem Unternehmen zur freien Verfügung gestellt hatten.

Sinnovation dagegen verfügte ebenfalls über ein Abkommen mit der MCT GmbH, deren modifizierten Content als Forschungsgrundlage verwenden zu dürfen. Es bestand eine Schnittstelle für den Austausch, die im Verlauf der Zusammenarbeit auch schon so weit ausgebaut worden war, dass Sinnovation sich ebenfalls zwischen den User hätte setzen können. Ein alternatives Tool der MCT GmbH: nicht mehr mit dem System des Global Players sprechen, sondern mit dem von Sinnovation. Die Marktausrollung dafür war noch nicht in Verträge gegossen worden. Und sie war — was die Ressourcen betraf — limitiert bezüglich der Menge an Anwendern. Als Gruppen-Event vorgesehen und dennoch groß genug dimensioniert, um nicht einfach nur als verhuschte Beta-Version für eine kleine Handvoll Interessierter durchzugehen.

Sasch war an dem Punkt bei Sinnovation eingestiegen, als das alles langsam Form angenommen hatte. Das System von Sinnovation, die Forschung daran, war schon weit vorangekommen. Die SAH-Methode — Sensorically Augmented Heuristics — entfernte sich im Kern von Mathematik und Statistik. Es funktionierte nicht ohne diese Wissenschaften, doch Ziel waren in Software niedergeschriebene Sensoren, die User-Input komplexer, zusammenhängender und tiefer interpretierten. Hohe Kontextualität. Rechenzeitaufwendig. Kreative Methoden. Arbeitszeitaufwendig. Prüfungskapazitäten und Testszenarien. Und: moralische, ethische sowie philosophische Debatten.

Der große internationale Player, mit dem die MCT GmbH zusammenarbeitete, betrachtete die Entwicklung mit Sorge. Forschen: ja. Ausrollen: nein. We are scared. And not amused. Augenbraue.

Den größten Druck erhielt die Geschäftsführung bei Sinnovation jedoch durch ihre Geldgeber. Das Forschungsprojekt wurde von wohlhabenden Tech-Philanthropen finanziert. Sie hatten sich gerade erst dazu entschieden, das Projekt nicht an die Öffentlichkeit gehen zu lassen. Bitte weiterforschen.


REIFUNGSPROZESS

„Ich ertrage die internen Diskussionen hier kaum noch. Was spricht gegen einen Test auf dem Markt?", ließ Sasch gezügelt ein wenig Dampf ab.

„Information wants to be free. But humanity does not want it", antwortete Boris.

Sie saßen face-to-face im Büro mit ihren Bildschirmen zwischen sich.

„Unvorbereitet zu sein, ist kein Argument dafür, das Laufen nicht lernen zu wollen. Alle Kinder stürzen, wenn sie damit anfangen."

Boris war auf Saschs Seite:

„Und jetzt wird es unter Verschluss gehalten werden. Wie eine Delikatesse, die nur für Auserwählte erhältlich ist."

Sasch zeigte sich erneut von Boris Klarheit geschmeichelt. Kurzes Nachdenken, dann ein Entschluss:

„Ich werde das ändern."

„Gegen die Menschheit? Übernimm dich nicht."

„Ich brauche dreißig oder ein paar Minuten mehr. Ich muss die...", begann Sasch.

Boris bemerkte, dass Sasch einen Plan besaß:

„Stop. Keine Details. Je weniger ich weiß, desto besser."

„Ich rolle das einzumottende Kunstwerk jetzt aus. Hilfst du mir dabei? Heute sind nur wir beide und Marianne im Haus. Alle anderen genießen ihren verdienten Feiertag."

„Ich helfe dir und lenke Marianne ab. Aber halt mich da raus. Ich weiß von nichts. Körpersprache, Gesten, Stottern... Möchte ich nicht aus Versehen anbieten, wenn ich gefragt werde. Maximaler Fokus auf meine Überraschung: Ich habe mit Marianne gechilled."

„Okay", lächelte Sasch und suchte Boris' Augenkontakt seitlich an den Bildschirmen vorbei.

Ihre Blicke trafen sich:

„Wann fängst du an?", fragte Boris.

Sasch drehte die Handflächen und hob die Schultern ein bisschen. Die Geste besagte: Ich kann das jederzeit.

„Gut. Dann lass uns erst mal Essen gehen. Vorschlag?"

„Italienisch. Passt dir?"

„Egal. Es ist deine Henkersmahlzeit."


BREAKBEATS

„Du wirst wissen, wann ich alles eingestellt und auf den roten Knopf gedrückt habe", erläuterte Sasch.

„Wie?", fragte Boris.

„Das möchtest du nicht wissen."

Es ging los.

„Soll ich schon mal?"

„Ist besser", bestätigte Sasch.

Boris verließ das Büro und stattete Marianne an der Rezeption einen Besuch ab. Sie befand sich im Haus, weil sie noch etwas zeitnah Wichtiges für die Geschäftsführung vorzubereiten hatte.

Marianne wusste nicht bloß, wo der Alkohol zur Gästebewirtung verschlossen war, sie verfügte auch über den Schlüssel dazu. Aufgelockert fragte sie Boris danach, ob sie einen Sekt zusammen trinken sollten. Sie könnte ein Pause von ihrer noch nicht fertiggestellten Aufgabe gut gebrauchen. Gemeinsame Verköstigung der firmeneigenen Hausbar passierte häufig bei Sinnovation. Nach der Arbeit blieben immer mal wieder ein paar Mitarbeiter zurück — meistens ein fester Kern — und plünderten die Alkohlbestände mit Mariannes Hilfe. Die Geschäftsführung hatte keine Probleme damit, wenn die Aktion von Marianne koordiniert wurde.

Saschs Strategie bestand nicht darin, die MCT GmbH zu hacken. Vielleicht hätte es ein Einfallstor gegeben, dass nach Saschs Kündigung dort noch nicht geschlossen worden war. Das erschien viel zu unzuverlässig und aufwendig. Der bessere Plan bestand darin, Fishing zu betreiben: Ein simpel gefaketer Link, der nicht zum Multi-Chat führte. Nur ein gelogener Linktext und darunter ein ehrlicher Hyperlink auf Sinnovation. Hochfrequentierte Platzierungsmöglichkeiten für sowas im Internet gab es genug — Reddit war nur eine davon. Sasch hatte dafür noch zwei weitere auf der Liste stehen und fügte für die Link-Verfolger am Ende des Sinnovation-KI-Outputs außerdem hinzu:

Bist du zufrieden mit der Antwort der neuen Version? Dann teile uns deine Meinung mit unter [email protected]

Der einzige „Hack" bestand darin, die Sinnovation-Schnittstelle nach außen hin für das Fußvolk nutzbar zu machen. Das war nur ein Wert in der Datenbank: null oder eins. Sasch wusste, wie das ging, und hatte Zugriff darauf. Hier in der Firma wurden die Dinge ja alle locker gehandhabt.

Aktuelle Struktur der Multi Chat Tools GmbH:
User >>> MCT >>> Global Player >>> MCT >>> User

Alternatives Tool:
User >>> Sinnovation >>> MCT >>> Sinnovation >>> User

Alles war eingestellt. Jede Sekunde, die jetzt verstrich, war ein rebellischer Akt für eine andere Zeit. Das Kippen eines Zustands über ein einziges Schriftzeichen: 1. Der Wert in der Datenbank, der darüber entschied, ob Sinnovations Entwicklung sich gebrauchsfertig in die Wahrnehmung der Nutzer integrierte. Von null auf eins.

Boris und Marianne hörten einen DnB-Song, der aus dem Büro von Sasch mit einer beinahe die Schallmauer durchbrechenden Lautstärke und einer nur dem Drum and Bass eigenen Präzision der Beats über den Flur steppte. Er war unaufgeregt, mechanisch, organisch, minimalistisch und ein bisschen spooky. Als könnte er jederzeit in die Luft fliegen, während seine Lunte brannte — doch das tat er nicht: „Bewildered (Andy Odysee Remix)" von Mirage.

Boris dachte: „Oh Sasch... Den hast du von mir. Gute Wahl."

„Wollen wir zu Sasch gehen und den Sekt mitnehmen?", fragte Marianne.

„Nee, lass mal", riet Boris, „Hat zu tun. Wird sich schon melden, wenn der Kopf wieder frei ist."


PARTIKEL

Nach rund einer Dreiviertelstunde war der Spuk von Marius remote gestoppt worden. Am nächsten Tag stand Sasch im Büro von Chris, der seine Füße diesmal nicht auf den Tisch gelegt hatte. Er gab Sasch seine letzten Worte mit auf den Weg:

„Das hätte ich niemals von dir gedacht. Du hast mich und alle anderen hier maßlos enttäuscht."

„Dann sitzen wir im gleichen Boot. Ich hätte von dir auch nie erwartet, dass du so leicht einknickst."

„Du bist mit sofortiger Wirkung freigestellt. Pack deine Sachen und hau ab."

„Habe ich mit gerechnet."

„Fuck!"

Sasch murmelte beim Gehen noch ein „Not with me" zum Abschied.

 

- - -

 

Auszug aus den Mail-Reaktionen der User. Korrigierte Fassungen, wie sie später in einem Fachmedium veröffentlicht wurden:

Warum fragt der Blechmann mich, wie er interpretieren soll? Das hat doch bisher auch immer gut geklappt. Spreche ich Ewokesisch, oder was?

Ist mir zu kompliziert.

Sie sollten sich was schämen.

Gute Verbesserung — das hilft mir als Autorin sehr. Wie haben Sie den Sprung aus den Wolken hinbekommen? Ich bin sprachlos.

Nehmt ihr Drogen?

Die Aufforderung zur Meinungsabgabe nach jeder erhaltenen Antwort nervt. Ich sehe keinen Unterschied zwischen den Versionen!

Autorennotiz

Ich werde jetzt eine Schreibpause einlegen und persönliche Kontakte pflegen. Stoff für neue Geschichten \o/

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Autor

PhilipGrabberts Profilbild PhilipGrabbert

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Sätze: 297
Wörter: 3.986
Zeichen: 25.817

Kurzbeschreibung

Nichtbinäres Sasch arbeitet im KI-Training und erlebt die Welt als etwas, das sich in Schriftzeichen bis zum finalen Minimalismus ausdrücken lässt. Der Endgegner ist ein Wert aus der ASCII-Tabelle.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Science Fiction auch in den Genres Drama, Vermischtes, Alltag und Freundschaft gelistet.

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