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Ein Leben auf dem Land, ist für diejenigen meiner Leser, die ländlich leben, etwas Selbstverständliches. Für uns ist das Leben auf dem Land nach über 70 Jahren Großstadterfahrung aber eine aufregende Sache. Besonders dann, wenn wir nach Linxe fahren. Da ist immer etwas mitzubringen und muss somit vor der Reise besorgt werden. Aber davon will ich nicht berichten, sondern ich will einfach einmal den Ort aus der Sicht eines zugereisten beschreiben.
Linxe (Gascognisch Linça) ist eins der typischen Dörfer in der zu Aquitanien zählenden Gascogne und liegt im Departement Landes (Gascognisch las Lanas). Übersetzt ins Deutsche steht Lande für den geografischen Begriff Heide, in der Mehrzahl Landes. Das Dorf hat ungefähr 1200 Einwohner und liegt auf einer großen Lichtung mitten im Küstenwald. Der Wald scheint unendlich zu sein und der einzige schnelle Ausweg aus dem Wald ist eine Fahrt mit dem Auto an einen der Strände des Atlantischen Ozeans. Alle anderen Fahrtrichtungen zwingen einen zu einer mehrstündigen Fahrt durch die Monokultur des weitgehend aus Pinien bestehenden Waldes. Die Ausmaße des Waldes sind für europäische Verhältnisse wirklich beeindruckend. In Nordsüdrichtung dehnt sich das Waldgebiet von Le Verdon im Norden der Halbinsel Medoc bis etwa nach Bayonne im Baskenland. Das sind so an die 230 Kilometer Luftlinie. In Ostwestrichtung dürfte die größte Ausdehnung so um die 70 bis 80 Kilometer betragen.
Das Dorf Linxe ist ein typisches Straßendorf, das sich erst in den letzten 50 Jahren durch ein paar Neubaugebiete etwas weiter links und rechts einer alten Landstraße ausgebreitet hat. Es scheint ein ziemlich alter Ort zu sein, liegt er doch an einem Zweig des Jakobsweges, der unter dem Namen Küstenweg bekannt ist. Bauwerke aus geschichtlicher Zeit existieren jedoch nicht. So fehlt es an Anhaltspunkten für das Alter des Dorfes.
Der eigentliche Ortskern besteht aus der schrecklich hässlichen Kirche Saint-Martin de Linxe, dem schmucken Bürgermeisteramt, zwei in die Jahre gekommenen Hotelrestaurants und dem Postamt, dessen Öffnungszeiten für uns bis heute geheimnisvoll sind. Auf jeden Fall ist dieser Teil des Ortes, der Teil, in dem man schon einmal auf den einen oder anderen Fußgänger trifft. Es ist aber auch der einzige Teil des Ortes, in dem entlang der Hauptstraße Bürgersteige angelegt wurden. Außerhalb des Ortskerns ist es also sicherer, mit dem Auto zu fahren, liegt Linxe doch an einer viel befahrenen Landstraße.
In den letzten 20 Jahren hat der Ortskern für die täglichen Einkäufe an Bedeutung verloren, da es, wie überall in Europa, die Kunden eher in die großen Supermärkte zieht, selbst wenn sie dafür kilometerweit fahren müssen. Vor rund 20 Jahren gab es im Ort einen kleinen Lebensmittelladen mit Gemüseabteilung, zwei Bäckereien und einen Metzger. Vor über 15 Jahren schloss die Metzgerei, dort zog ein Immobilienmakler ein. Das Aus für den Lebensmittelladen war der Supermarkt, der im Gewerbegebiet am nördlichen Ortsausgang eröffnete. Geblieben sind die beiden Bäckereien, was wohl daran liegt, dass Franzosen morgens ihr Baguette brauchen. Gehalten hat sich auch der Wochenmarkt, dienstags und freitags. Der ist für uns ungeeignet. Wenn dort geschlossen wird, sitzen wir Langschläfer noch beim Frühstück.
Von Düsseldorf her gewohnt, alle Geschäfte zur Deckung des täglichen Bedarfs zu Fuß erreichen zu können, ist Einkaufen in Linxe eine Herausforderung und will gut geplant sein. Der Supermarkt am Ortsausgang bietet außer etwas Gemüse keinerlei brauchbare Frischwaren. So machen wir uns dann ein- oder zweimal in der Woche auf die Reise. Zum Fischladen sind es satte 36 Kilometer. Zur Metzgerei locker 25 Kilometer und wenn wir extra frischen Fisch möchten, geht es zum Fischereihafen von Capbreton. Das sind dann fast 60 Kilometer. Riesige Supermärkte, in Frankreich Hypermarché genannt, gibt es an den genannten Strecken reichlich. Da haben wir sozusagen die freie Auswahl.
Die Neubaugebiete rechts und links der Hauptstraße sind während der meisten Zeit des Jahres ziemlich unbewohnt, da Franzosen eine Schwäche für ein Haus auf dem Land haben, während sie in der Stadt wohnen und arbeiten. Die Siedlung, in der wir wohnen, besteht aus vier Straßen. Rue des Alouettes (Lerchenstraße), Rue des Mésanges (Meisenstraße), Rue des Tourterelles (Turteltaubenstraße) und Rue des Coudeytes (Bedeutung unbekannt), wir wohnen in der Rue des Alouettes. Diese Siedlung bietet gegenüber den anderen Ortsteilen, einen für uns unschätzbaren Vorteil. Wir können bequem und gefahrlos, innerhalb von fünf Minuten, zu Fuß den Supermarkt erreichen. Sooft wir durch die Siedlung in Richtung Wald oder Supermarkt gehen, schätzen wir wie viele Häuser gerade bewohnt sind. Das ist jahreszeitlich sehr unterschiedlich, etwa die Hälfte der Häuser steht eigentlich immer gerade leer. So haben wir unsere Nachbarn rechts seit 10 Jahren nicht mehr gesehen. Wir wissen nur, sie wohnen in Paris. Die Nachbarn links wohnen seit etwa drei Jahren ständig in Linxe. Vorher lebten sie dort nur in den Sommermonaten und wohnten in der übrigen Zeit im Elsass. Während der Sommerferien ist dann jedes Haus bewohnt, aber das erleben wir wiederum nicht, da wir diese Zeit lieber in Düsseldorf verbringen und Linxe meiden.
Wer in diesem Dorf wohnt, benötigt ein Auto, sonst ist er arm dran. Nicht einmal bis zum neuen Supermarkt reichen die Bürgersteige. Es gibt kein einziges öffentliches Verkehrsmittel, mit dem Linxe erreichbar ist, einmal abgesehen von den Schulbussen. Das war einmal alles ganz anders. Die Gegend verfügte seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz, mit dessen Hilfe eigentlich jede Gemeinde in der Nachbarschaft erreicht werden konnte. Die Personenbeförderung wurde 1939 eingestellt, der Frachtverkehr (vor allem für das Holz aus den Wäldern) kam 1979 zum Erliegen. Geblieben sind die kleinen Bahnhöfe und die Bahntrassen, die im Laufe der Jahre zu Radwegen umgebaut wurden. Natürlich wurde als Ersatz für die Eisenbahn damals ein Busverkehr errichtet. Wann dieser eingestellt wurde, konnte ich bisher nicht feststellen.
Von wirtschaftlicher Bedeutung und wohl größte Arbeitgeber am Ort sind eine Spanplattenfabrik, zwei Sägewerke (stimmt nicht mehr. Ein Sägewerk wurde vom Eigentümer aus Altersgründen geschlossen) und der neue Supermarkt. Die Arbeitslosigkeit außerhalb der Sommersaison ist hoch. Man schlägt sich so durch, mit Tauschhandel und Gelegenheitsarbeiten. Irgendwann in der Gründerzeit scheint das Dorf eine heute nicht mehr vorstellbare Glanzzeit gehabt zu haben. Rund um das Dorf gruppieren sich etliche schlossähnliche Gründerzeitvillen mit den dazugehörigen Stallungen. Diese Villen befinden sich jeweils auf mehrere Hektar großen Grundstücken, die wohl früher einmal als Parkanlagen gestalteten waren. Gebäude und Grundstücke machen heute zum großen Teil einen trostlosen, um nicht zu sagen heruntergekommenen Eindruck. Die Gemeinde hat an eine kleine Landstraße, an der sich einige dieser Villen reihen, in Route Belle Époque umbenannt. Wohl im Gedenken an die große Vergangenheit.
Die Geschichte, die sich hinter den Villen versteckt, ist unerforscht. Auch das Internet gibt keine Hinweise darauf, wer sich in diesem abgelegen Landstrich solch protzige Behausungen geleistet hat. Vielleicht waren es Kaufleute aus Bordeaux; oder Direktoren der Bergbaubetriebe, die früher im weiteren Umland Braunkohle und Erz abbauten.
Welchen Reiz hat also Linxe für uns, abgesehen von den familiären Bindungen, der Nähe zum Atlantik und den diversen Seen im Hinterland des Ozeans? Als wir jünger waren, haben uns die stillen Seitenstraßen beim Radfahren begeistert. Heute haben wir das Radeln durch Wandern ersetzt. Aber das braucht ja alles nicht in Linxe zu geschehen, da gibt es bessere Orte. Was aber für uns wirklich interessant ist, sind die diversen Ausflugsmöglichkeiten. Mal eben nach Spanien, San Sebastian oder Bilbao eignen sich für einen Tagesausflug. Die Pyrenäen liegen fast in Sichtweite. Schnell einmal nach Bordeaux oder Bayonne ist kein Problem und manchmal sind diese Fahrten sogar erforderlich. Liegt doch im 75 Kilometer entfernten Bayonne der nächste gut sortierte Baumarkt und nicht zu vergessen, die von baskischen Spezialitäten überquellende Markthalle.
Wir können es aber drehen und wenden, wie wir wollen. Irgendwie ist und bleibt Linxe für uns ein Ort der Sehnsucht. Kaum sind wir zurück in Düsseldorf, stellt sich bald darauf ein erst verhaltenes, mit der Zeit schnell stärker werdendes Sehnen ein, das dann unversehens in eine konkrete Reiseplanung mündet.
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