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Wo er auch war, was er auch tat, wohin er auch ging, immer dachte er daran, wie weit sein Lebensweg gewesen war, wie weit es war, bis er an diesen Punkt seines Lebens gekommen war. Er konnte sich nicht erinnern, wann genau sich dieses Gefühl einstellt hatte, das Gefühl angekommen zu sein. Wie oft hatte er sich verlaufen – verrannt – sich Situationen gebracht, an die er sich nur ungern erinnerte. Aber das gehörte zu seinem Leben und inzwischen hatte er sich nicht nur damit ausgesöhnt, sondern er liebte sein Leben, so wie es war.
Nun, da er sich angekommen fühlte, blickte er milder auf die Menschen, die seinen Weg gekreuzt hatten. Es waren gute Menschen darunter, das war belastend, denn bei Menschen mit Vorbildfunktionen fühlte er sich eher gehemmt als darin beflügelt, diesen Menschen nachzueifern. Ein kleiner Teil der Menschen, die er gekannt hatte, waren Menschen, deren Gesellschaft er nicht gesucht haben würde, wenn er es sich hätte aussuchen können. Diese Menschen belasteten ihn nicht. Zumindest nicht sehr. Was diese Menschen taten und ließen, ihn hatte das immer nur insofern interessiert, wie es nötig war, sofern er ihnen umzugehen musste. Da er Kunden gebraucht hatte, um zu überleben, war er mit ihnen umgegangen, wenn es geschäftlich erforderlich gewesen war. Privat hielt er sich von solchen Menschen fern – damals, wie heute. Der Großteil der Menschen, die ihm begegnet waren, waren ihm ähnlich. Sie hatten Ecken und Kanten, angenehme und unangenehme Seiten, gute und schlechte Eigenschaften. Er hatte immer die Nähe dieser Art Menschen gesucht, fehlerhaft wie er – er tat es heute noch. Er verstand ihre Unarten und ihre Fehler, sie verstanden ihn, obwohl er fehlerhaft war.
Manchmal, zum Glück nur ganz selten, stellte sich ein Gefühl ein, das er als Trauer darüber empfand, dass nur noch ein kurzer Weg vor ihm lag. Nach einem Leben von acht Jahrzehnten liegt nun einmal kein weiter Weg mehr vor einem, das belastete ihn aber nur am Rande. In diesem Zustand der Ausgeglichenheit, könnte es ewig weitergehen, aber es war gut so, wie es war. Jetzt, nachdem er sich mit seinen Gefühlen und Träumen ausgesprochen gut arrangiert hatte, machte es eigentlich nichts mehr aus, ob sein Leben heute oder morgen enden würde. Dieses Gefühl angekommen zu sein, hätte sich gerne früher einstellen können, aber dann dachte er wieder, es ist eben, wie es ist. Wenn er eine Zeitlang über die kurze Zeit sinniert hatte, die ihm noch blieb, verflogen die trüben Gedanken von selbst und er erfreute sich wieder am großen Gefühl angekommen zu sein.
Es gab Situationen, da kokettierte er mit seiner Unvollkommenheit, stapelte bewusst tief und fiel bei Menschen, die ihn kannten und schätzten, prompt auf. Das führte meist zu allgemeiner Erheiterung und doch, eigentlich entsprach tiefstapeln einer seiner Lebensüberzeugungen – nur nicht zu viel daher machen. Lieber unauffällig und stur seine Ziele verfolgen, als viel Tamtam zu machen. So hatte er es immer gehalten und er fand, das sei eine gute Strategie gewesen. Er wusste natürlich, diese Strategie war jetzt Vergangenheit und die Vorteile, die das ihm gebracht hatte, waren Schnee von gestern. Aber sich selbst kleinzureden war mit den Jahrzehnten ein fester Bestandteil seines Wesens geworden und die Erheiterung, die er damit auslösen konnte, erfreute ihn ungemein.
So zogen die Stunden an ihm vorüber. Aus Stunden würden Tage, aus Tagen würden Wochen und aus Wochen würden am Ende Jahre werden. Aus den Jahren wuchsen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Er dachte gerne darüber nach, was der Begriff Zeit bedeutet. Im realen Leben widmete er sich nur noch kurzen Zeiträumen. Sein Maximum war das Nachdenken über den Verlauf von Monaten. Jahre konnte er sich auch noch vorstellen. Ein Jahrzehnt, geschweige denn Jahrzehnte, das lag außerhalb dessen, was ihn bewegte. Nur wenn er über das Glück oder Unglück kommender Generation sinnierte, kam es vor, dass er an eine fernere Zukunft dachte.
Seine Zeit lief ab, er war bereit zu gehen, aber er war nicht bereit einfach darauf zu warten, bis seine Zeit abgelaufen war. Menschen seiner Altersstufe, die sich trauten, etwas Neues anzufangen, bewunderte er. Ein Freund hatte mit über achtzig angefangen, Geschichten zu schreiben, ein anderer restaurierte eine Ente von Citroën. So etwas imponierte ihm und gab ihm Gewissheit, dass sie und er selbst mit ihren Aktivitäten der richtige Weg waren, den Rest des Lebens zu gestalten. Menschen, die nur noch ihre Zeit absaßen, konnte und wollte er nicht verstehen.
Die Beschwerden und Verschleißerscheinungen des Alters, mit denen auch er zu kämpfen hatte, hielten sich noch in Grenzen. Ihm war bewusst, dass eines nicht mehr fernen Tages mit schwereren Beschwerden und Krankheiten zu kämpfen hatte. Dieses Wissen begleitete ihn beständig, aber da es für ihn der Lauf des Lebens war, machte er weiter, als könne er den jetzigen Zustand noch Jahre erhalten. Kam ihm eine Idee, so setzte er diese möglichst bald in die Tat um. Wie lange er sich an seinen Aktivitäten oder Neuanschaffungen erfreuen konnte, interessierte in nicht – sei es nur für einen Abend, eine Stunde oder weniger, er hatte sich daran erfreut und nur das zählte. Die Not der Welt ließ ihn dabei nicht unberührt, so zählte auch seine Freude daran, dass er zumindest einen kleinen Beitrag zur Minderung der Not leisten konnte, zu dem, was er zu seinem Gefühl, angekommen zu sein, zählte.
Der Verfasser dieser Zeilen, ist selbst alter Mensch, der keine Ahnung davon hat, wie das Leben des Protagonisten weitergehen und enden könnte. So ist es logisch und erforderlich, an dieser Stelle zu enden.
In dem Moment, in dem ich die Geschichte zu Ende schreiben könnte, bin ich nicht mehr in der Lage zu schreiben. Mein Lebenskreis hat sich dann geschlossen. Ich weiß nicht wann, wo und auf welche Weise ich aus dem Leben scheiden werde, aber meine Lebenseinstellung entspricht in einem Punkt der meines Protagonisten – ich fühle, ich bin angekommen.
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