Autor
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Bewertung
Statistik
| Sätze: | 129 | |
| Wörter: | 1.137 | |
| Zeichen: | 7.554 |
| Erzähler | Jonas lebte in einer Welt, die er selbst sorgfältig verschlossen hatte. Nicht nur die großen Unbekannten, nein – selbst die kleinsten Abweichungen von seinem Fahrplan konnten ihn ins Wanken bringen. Sein Alltag war ein stilles, angstfreies Perpetuum Mobile aus Wiederholungen und Vorhersehbarkeit. Seit Jahren war sein Schreibtisch derselbe, sein Blick auf die müde flackernden Neonlichter derselbe. Und montags? Montags gab es Erbsensuppe. Immer. |
| Jonas | Wo ist das Salz? Ah, da. |
| Erzähler | Er nannte es Sicherheit.
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| Weihnachtszeit |
| Erzähler | Der Dezember umhüllte die Stadt mit einem Duft von Versprechen. Überall leuchteten Fenster, die Straßenatmosphäre war von Mandeln, warmer Schokolade und einer Vorfreude erfüllt, die Jonas fremd war. Er sah die Geschichten in den Blicken der Menschen, die Erinnerungen an frühere Weihnachten – und spürte die Leere in seinem eigenen Leben umso schärfer. In seinem Wohnzimmer stand der künstliche Weihnachtsbaum. Ein Relikt, dessen Staubschicht älter war als manche seiner Kollegen. Der Stern an der Spitze, schief. Kein Tannenduft. Keine Wärme. Nur ein kaltes, leeres Symbol. An diesem zweiten Adventsabend kochte er sich einen Tee, als plötzlich ein Geräusch die Stille zerriss: |
| Jonas | Was…? |
| Erzähler | Er öffnet leise die Kette, ein tiefes Klicken des Schlosses. Jonas öffnet die Tür nur einen Spalt breit. |
| Jonas | Frau Lehmann? |
| Frau Lehmann | Ach, Herr Jonas. Ich störe Sie doch nicht? Ich habe heute Abend einfach zu viele Plätzchen gebacken. Die muss ich loswerden, sonst esse ich sie alle selbst. |
| Jonas | Das ist sehr freundlich, aber... |
| Erzähler | Er wollte höflich, aber bestimmt ablehnen. Er wollte die Tür schließen, die Ordnung wiederherstellen. Aber da sah er die feinen Schneeflocken auf ihrem grauen Haar und hörte die gedämpfte Melodie, die aus ihrer Wohnung herüberwehte. Ein winziges, ungeahntes Stückchen Mut regte sich in seiner Brust. |
| Jonas | Wissen Sie was? Kommen Sie doch herein. |
| Frau Lehmann | Oh, das ist aber schön. |
| Erzähler | Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken. Die Geräusche aus der Küche werden deutlicher: Es wurde ein langer Abend. Die Zeit dehnte sich aus wie ein warmer Teig. Der kleine Küchentisch, an dem Jonas sonst allein aß, wurde zum Zentrum eines unerwarteten Austauschs. |
| Frau Lehmann
| Und da, auf dem Tanzabend, da wusste ich: Das muss ich jetzt machen. Auch wenn es dumm war und mich mein ganzes Erspartes kostete. Ich bin einfach in den Zug gestiegen, ohne zu wissen, wo ich aussteigen werde. |
| Jonas | Und Sie haben das nie bereut? |
| Frau Lehmann | Bereuen? Nein. Angst ist keine schlechte Sache, lieber Herr Jonas. Sie ist ein Kompass. Sie zeigt Ihnen, wo die größte Herausforderung ist und damit auch, wo die größte Belohnung wartet. |
| Erzähler | Jonas schluckte. Er dachte an seine Erbsensuppe. |
| Jonas | Ich... ich habe einen Bruder. Wir haben uns entfremdet. |
| Frau Lehmann | Manchmal ist der größte Berg im Leben das Telefon in der Hand. Große Konflikte entstehen selten, aber die kleinen Momente des Schweigens... die wachsen zu Mauern. Ein 'Hallo' reicht für den Anfang völlig aus, Herr Jonas. Es muss kein großes Gespräch sein. |
| Erzähler | Die Kerze beginnt leise zu knistern, es tritt eine kleine Pause ein. |
| Frau Lehmann | Wissen Sie, Herr Jonas, das Leben ist wie Weihnachten: Wenn man zu lange wartet, bis man glaubt, wirklich perfekt bereit dafür zu sein, ist der Zauber oft schon vorbei. |
| Erzähler | Der Abend neigt sich seinem Ende. Frau Lehmann steht auf. Sie verabschiedet sich leise, die Tür schließt sich. Nur das leise Knistern der Kerze bleibt. Jonas blieb sitzen. Das Zimmer roch nach Zimt, nach Wald, nach einem Hauch von Kindheit. Etwas hatte sich in seiner stillen Welt verschoben. Nicht laut oder dramatisch. Aber eindeutig. |
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| Der nächste Morgen |
| Erzähler | Der nächste Tag bricht an: Wir hören lebhaftes, aber gedämpftes Stimmengewirr auf einem Weihnachtsmarkt. Ein Mann ruft etwas. Geruch von Tannenzweigen und frischer Luft. Jonas kaufte sich einen Baum. Einen echten. Nicht den alten Kunststoff-Tannenbaum, der ihn nur an seine eigene Stagnation erinnerte. Dieser neue echte Baum roch nach kaltem Wald, nach etwas Lebendigem, nach einem Neubeginn. Er richtete ihn zuhause auf und spürte, wie er nicht nur seine Wohnung, sondern auch sich selbst neu erlebte. |
| Erzähler | Jonas hat das Telefon in seiner Hand, er wählt eine Telefonnummer, die er schon ewig nicht mehr gewählt hat. Ein Freizeichen ist zu hören, das zweimal läutet. Jonas’ Stimme ist noch unsicher, aber mit einer Spur Entschlossenheit. |
| Jonas | Simon, ich bin's, |
| Erzähler | Gedämpftes Lachen auf der anderen Seite. Jonas' Lachen ist erst zögerlich und ungeübt, dann wird es warm. Es gab Pausen. Unbeholfenheit. Aber auch ein Lachen, ein Lachen, das klang, als wäre es seit Jahren nicht benutzt worden. |
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| Heiligabend |
| Erzähler | Am Heiligabend meldete Jonas sich zum Eislaufen an. |
| Jonas | Okay, das war... |
| Erzähler | Wieder zuhause ist die Stille des Heiligabends zu spüren. Draußen fällt langsam sanfter Schnee. Ein warmes, leises Knistern des echten Tannenbaums in Jonas’ Zimmer ist zu vernehmen. Jonas stand am Fenster. Die Lichter der Stadt glitzerten, als würden sie ihm zuzwinkern. Er dachte an die Jahre, die er sich hinter seiner Angst versteckt hatte. Und er dachte an all das, was nun möglich war: |
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| Und so zündete Jonas die zweite Kerze am Adventskranz an. Mitten am Heiligabend. Flüsternd, fast andächtig sagte er: |
| Jonas | Für mich beginnt es gerade erst. |
| Erzähler | Und während der Schein sie beide – ihn und die Kerze – in warmes Licht tauchte, wusste Jonas, dass er nie wieder Angst haben würde, etwas Neues zu versuchen. Denn manchmal beginnt das Leben genau in dem Moment, in dem man sich endlich traut, die Tür zu öffnen. |
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