Siri lächelte. Ihre Stimme war leise. „Ich liebe diese langen Nächte.“
Der Klang der Hufen wurde beinahe komplett vom Schnee geschluckt, der die Landschaft bedeckte, jedoch nicht hoch genug war, um die beiden Pferde zu behindert.
Eir sah zu der wunderschönen Frau, deren blondes Haar wallend auf ihren Schultern lag. Es war glänzend, lang und sah aus, als sei es irgendeiner Pflegewerbung entsprungen. Dagegen sie mit ihrem recht kurz geschnittenen rostbraunen, drahtigem Haar, das gerade einmal ihre Ohren bedeckte, im Moment jedoch gänzlich unter der dicken Kapuze verschwunden war.
Huldra waren wirklich schön. War es nicht auch ihre Aufgabe? Schön zu sein. Immerhin waren sie ja dafür bekannt. Sie waren Verführerinnen, die eigentlich Männer verführten und diese entweder heirateten oder töteten. In manchen Geschichten taten sie auch beides: Erst heirateten sie die Männer, dann töteten sie sie, wenn diese sie schlecht behandelten.
Ein kühler Wind wehte über die verschneite Landschaft. Ja, Huldra liebten lange Nächte, doch für Menschen waren diese langen Nächte vor allem kalt. Man verbrachte sie besser vor einem Lagerfeuer.
„Wie weit ist es noch?“ Eir kam sich vor, wie ein kleines Kind, das „sind wir schon da“ fragte. Doch trotz der fellbesetzten Kapuze, der drei Schals und des dicken Fellmantels, der ihren Umfang optisch um mindestens drei Kleidergrößen wachsen ließ, war die Kälte mittlerweile bis zu ihren Knochen durchgezogen.
„Es ist nicht mehr weit“, erwiderte Siri mit einem Lächeln und tätschelte den Hals Dags, dem kleinen, kräftigen Schimmel, den sie ritt.
„Okay.“ Was sonst sollte Eir erwidern.
Siri – eigentlich Sigrid – war vor genau einer Woche, am letzten Tag des Novembers, vor ihrer Türschwelle erschienen. Nun, nicht ganz ihre Türschwelle. Die Türschwelle ihres Vaters, der im Moment in einem Krankenhaus in Tromse lag, nachdem er sich sein Bein gänzlich gebrochen hatte. Wäre Eir nicht da gewesen, um die Tiere zu füttern, wäre das Haus gänzlich verlassen gewesen, als Siri vor ihrer Tür erschienen war. Ein Ast war aus ihrem Bein geragt, ein Ast aus Mistelzweig.
Natürlich kannte Eir die Legenden um die Mistel, doch auf Fragen hatte Siri nicht geantwortet. Erst war sie nicht fähig gewesen, dann nicht willig.
Eir hatte nicht gewusst, dass sie es mit einem Wesen, das nicht einmal existieren sollte, zu tun hatte, bis sie den Kuhschweif gesehen hatte, der sie an die Geschichten, die ihr einst die Großmutter erzählt hatte, erinnert hatte.
Und jetzt waren sie hier, auf freiem Feld, vielleicht vier oder fünf Kilometer vom Hof ihres Vaters entfernt. Siri, deren Wunden, als sie einmal gereinigt waren, schnell verheilt waren, hatte sie gebeten, sie zu begleiten. Sie hatte ihr etwas zeigen wollen. Doch was? Eir konnte es nicht sagen und mit jeder Minute in der eisigen Kälte, sank ihre Neugierde weiter.
Runar, der braune Hengst, den sie ritt, schnaubte und warf den Kopf zurück.
Eir tätschelte seinen Hals. „Ist ja gut, Großer.“
Der Hengst schnaubte wieder. Er war immer ein wenig störrisch gewesen, war bei ihr jedoch meistens ruhig. Hatte er irgendetwas gehört? Konnten es Wölfe sein?
„Ist ja gut.“ Besorgt sah sie zu Siri. „Hörst du etwas?“
Siri schloss die Augen. Sie hielt Dag an, die Hände an seinen Seiten und lauschte. Zur ihrer Rechten, jenseits des weiten, schneeüberzogenen Feldes, war ein kleines, lichtes Wäldchen. Da könnten sich allerhand Tiere verstecken.
Doch Siri lächelte, als sie die Augen öffnete. „Nur ein paar Feenkinder.“ Sie sah zu Eir und ihre bleiche Haut schien beinahe selbst zu leuchten, auch wenn sie nur das Licht des Mondes reflektierte. „Kein Grund zur Sorge.“
„Wo bringst du mich hin?“, fragte Eir noch einmal.
„Ich will dich überrascht“, erwiderte Siri. „Jetzt war doch ab.“ Sie lächelte und ihr Gesicht erinnerte an das einer Porzelanpuppe: Unbeschreiblich hübsch, aber doch auch etwas unmenschlich, beinahe gruselig.
Ach, Eir wusste nicht, was sie über sie denken sollte.
Es war weit weniger ein Schock für sie gewesen, als man hätte denken sollen – das Wissen, das Huldra und wohl auch Feen, Werwölfe und einige andere Kreaturen aus Mythen und Legenden real waren. Vielleicht war es den Geschichten ihrer Großmutter zu verdanken, doch Eir hatte immer etwas Hoffnung gehabt, dass es doch etwas magisches, etwas wirklich magisches in dieser Welt gab.
Es war kein Schock, viel eher eine freudige Überraschung gewesen. Ach, was hätte sie nicht dafür gegeben, mehr über diese andere, mysteriöse Welt zu erfahren, die sich ganz offenbar direkt unter ihrer Nase versteckt hatte. Doch was machte sie sich vor: Unabhänging davon, ob Siri in dieser Nacht gehen würde, wie sie es angedeutet hatte, oder nicht, musste sie sich um die Pferde kümmern. Denn ihr Leben war ein Ponyhof – nur leider bedeutete das viel Arbeit, um die besagten Ponys zu füttern, die Ställe zu reinigen und dergleichen, während ihr Vater die Stalljungen in den Weihnachtsurlaub geschickt hatte. Und wenn ihr Vater erst einmal zurückkehrte, ging es für sie zurück ins Studium. Was auch sonst?
Sie seufzte.
Ihre Lippen waren rau von der Kälte.
Plötzlich hielt Dag inne und brachte damit Runar dazu, inne zu halten, wie es Pferde so oft taten.
„Was ist?“, fragte sie, als ihr klar wurde, dass Siri das Pferd angehalten hatte.
Sie hatten den Rand des Feldes erreicht oder eher den Rand der Ebene, da sich die Landschaft vor ihnen deutlich anhob.
„Und jetzt?“, fragte Eir. Langsam kam sie sich verarscht vor. Wohin wollte Siri sie überhaupt bringen.
„Komm mir mir“, erwiderte die Huldra.
„Ich will erst wissen, wohin“, erwiderte Eir. Immerhin wusste sie auch, dass Huldras Verführerinnen sein konnten, die Menschen ins Verderben lockten. Meistens Männer, doch es brauchte keinen Mann, um die Schönheit Siris zu erkennen.
Elegant schwang sich Siri von ihrem Pferd. Sie selbst trug nur eine einfache Mütze und einen einfachen Mantel. Die Kälte schien sie nicht zu stören – doch hieß es nicht auch, das Huldra lange Winternächte liebten? Ach, Siri hatte es eben doch selbst gesagt! Sie stellte sich vor Runar und hielt Eir eine Hand entgegen. „Komm.“ Sie lächelte auf jene reine Art und Weise, der man kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Wahrscheinlich war es ein Zauber, doch für zumindest einen Moment dachte Eir nicht drüber nach.
Sie schwang das Bein rückwärts über Runar und ließ sich zu Boden gleiten. Dabei fühlte sie sich ungeschickt, wenn sie sich mit Siris Eleganz von zuvor verglich.
„Du weißt, dass man sagt, dass Huldra Wandersmänner in ihr Verderben führen, oder?“, brachte sie schließlich ihre Sorgen zum Ausdruck. „Sie führen manchmal Leute vom Weg ab, so dass sie dann in Seen fallen, um Sumpf versinken oder, na ja, irgendwelche Felsklippen hinunter fallen oder so.“ Sie runzelte die Stirn.
„Wir haben aber auch so etwas, wie Ehre, meine liebe Eir“, meinte Siri und lächelte sie an. Ihre blasse, bloße Hand legte sich um Eirs Handschuh, zog sie daran.
„Was ist mit den Pferden?“, fragte Eir. Nicht nur, dass ihr Vater sie umbringen würde, wenn sie eins der Pferde verlor, sie würde wahrscheinlich ohne die Tiere hier draußen erfrieren!
„Die werden warten.“ Siri sah zu den beiden Tieren, das eine weiß, das andere so dunkelbraun, dass es in der Nacht ebenso gut hätte schwarz sein können. „Nicht?“
Die beiden Tiere schnaubten, als hätten sie sie verstanden.
Eir sah unsicher zu ihr. Nein, nein, all das war keine gute Idee. All das war eine dumme Idee. Wahrscheinlich war es eine dumme Idee jemand fremden reinzulassen des Nachts. Als Siri vor ihrer Tür erschienen war, war sie eine Fremde gewesen und Eir ganz allein, der nächste Nachbar knapp einen Kilometer entfernt. Sie hätte sie wegschicken sollen und hatte es nicht getan. Nein, sie hätte einen Krankenwagen rufen sollen. Sicher aber, hätte sie sie nicht ins Haus bitten sollen. Eine Fremde, die sich als Huldra herausstellte.
An eine solche Geschichte konnte sie sich gar nicht erinnern.
Wieso bewegten sich ihre Beine, als Siri sie voran zog, auf den Berg hinauf und dann – Eir war sich sicher, einen Moment vorher keinen Eingang gesehen zu haben – in eine Höhle hinein. Hier waren sie zumindest vor dem eisigen Wind geschützt, auch wenn ihr Atem noch immer Wölkchen in der Luft hinterließ.
Wieso konnte sie hier drinnen überhaupt sehen?
Wieso schien ein sanftes, bläuliches, ja, beinahe türkises Dämmerlicht in der Luft zu hängen, wo kam es her?
Eir setzte an zu fragen, doch ein Blick, ein Lächeln von Siri brachte sie zum Schweigen. Es fiel ihr schwer zu atmen und beinahe, ja, beinahe erwartete sie in die Falle der Huldra gefallen zu sein.
Der Boden unter ihren Füßen schien anzusteigen, langsam, aber stetig.
Siris Finger griffen ihren Handschuh fest.
Eir folgte ihr. Hatte sie überhaupt eine Wahl? Sie folgte ihr durch den seltsamen, dunklen und gleichzeitig leuchtenden Tunnel, ohne zu wissen, wohin Siri sie führen würde. Wie lange liefen sie? Wohin gingen sie?
Da drang ein fernes Geräusch an ihre Ohren. Ein Rauschen. Ja, das musste das Rauschen von Wasser sein.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie noch einmal, überrascht, wie atemlos sie klang.
„Zu meinem Zuhause“, meinte Siri und lächelte. „So in etwa. Es ist einer meiner liebsten Orte, zumindest in dieser Welt.“
Oh, worauf hatte sie sich nur eingelassen.
Das Rauschen wurde lauter, schallte von den Seiten des Tunnels wieder. Lauter, immer lauter. Und dann sah sie Schatten und das silbrigblaue Licht des Mondes, das auf eine Art Plateau fiel.
Sie traten aus dem Tunnel heraus, der sich hinter ihnen wie durch Zauberhand schloss.
Eir sah sich um. „Wie komme ich wieder zurück?“
Siri sah sie an. „Ich kann dich jeder Zeit zurückführen.“
Unsicher sah Eir sich um. Erst jetzt sah sie die Quelle des Rauschens: Ein reißender, aber sehr schmaler Wasserfall, vielleicht durch einen Gletscher gespeist, stürzte links des Plateaus in die Tiefe.
„Siri“, flüsterte sie und trat zum Felsen zurück. Es ging eindeutig zu tief runter. Wie waren sie so schnell so hoch gekommen? „Bitte …“
Sorge trat auf das Gesicht der Huldra und das erste Mal an diesem Abend lächelte sie nicht. „Ich will dir doch nichts tun.“ Ihre Augenbrauen schoben sich zusammen, warfen Falten auf ihre ansonsten übernatürlich glatte Haut. Sie ließ ein leises Seufzen hören und machte einen Schritt auf sie zu. „Ich will dich nicht entführen. Da …“ Sie zeigte auf den Felsen und wieder öffnete sich der Tunnel, durch den sie gekommen waren. „Du kannst gehen, wenn du willst.“ Reue zeigte sich in ihrem Gesicht.
Eir zögerte. Sie wollte gehen, sie wollte wirklich. Doch wollte sie die Huldra auch nicht so zurücklassen. „Was …“, begann sie eine Frage, unterbrach sich dann aber selbst: „Warum sind wir hier?“
„Das habe ich doch gesagt. Es ist mein liebster Ort in dieser Welt. Der Ort, wo ich meistens bleibe, wenn ich hier bin.“ Anstrengung klang aus ihrer Stimme. Wieso?
Eirs Blick wanderte zum Tunnel. War es eine Art Zauber. „Wie machst du das?“
„Feenpfad“, erwiderte Siri kurz angebunden. „Die Welt ist hier mit der Anderswelt verbunden und man kann auf den Grenzen laufen.“ Wahrscheinlich machte diese Aussage in ihrer Welt irgendwie Sinn, doch Eir konnte sie nur anstarren.
„Du musst dich anstrengen, um es offen zu halten?“, fragte sie. Wahrscheinlich war die Frage dumm.
„Ja. Für dich schon. Es ist anders, wenn ich selbst gehen.“ Siri sah sie an. „Deswegen wollte ich dich führen. Aber ich will dich hier nicht festhalten. Geh.“
Sollte sie sich schlecht fühlen? Ach, die Frage war umsonst, denn Eir fühlte sich schlecht. Wahrscheinlich hatte Siri ihr nichts gewollt, natürlich hatte sie das nicht. Sie hatte ihr nie etwas getan, obwohl sie wahrscheinlich – jedenfalls wenn Eir nach den Geschichten ihrer Großmutter ging – die Macht gehabt hätte, es zu tun.
Eir seufzte. „Es ist in Ordnung. Ich bleibe hier.“
Verwirrt und vielleicht auch etwas ungläubig sah Siri sie an. Ein Windstoß fuhr durch die Einlassung im Berghang, die das Plateau zu schützen schien, und wehte durch das lange blonde Haar der Huldra, ließ auch die Enden von Eirs Schals um ihren Körper tanzen.
Dann schloss sich der Tunnel und Siri seufzte noch einmal, leise, wehmütig. Sie sah zu Eir, dann zum Himmel. Ohne Furcht trat sie an den Rand des Wasserfalls und streckte ihre Hand danach aus. Die klaffende Tiefe zu ihrer Seite, schien ihr keine Angst zu bereiten.
Eir entspannte sich. Sie zwang sich, sich zu entspannen. Sie sah sich um.
Das Plateau war eigentlich weit genug, um sich vor der Tiefe nicht zu fürchten. Es reichte zwei bis drei Meter vor den Berghang hervor, der sich in einer – wahrscheinlich einst von einem größeren Wasserfall geformt – Hufeisenform um das Plateau bog, es meistens vor Wind schützte, doch ab und an die richtigen Böen zu fangen schien.
Moos und Flechten hatten sich auf dem Boden und an den Wänden gebildet, wahrscheinlich genährt von der Gischt. All das war beschienen vom Licht des Mondes, der im Moment genau auf das Plateau zu scheinen schien.
„Hier“, flüsterte Siri und reichte ihr ein Glas. Ein Glas aus Eis, wie Eir nach einem Moment erkannte.
„Was?“, fragte sie.
„Gletscherwasser“, erklärte Siri. Sie hatte selbst ein so seltsames Glas. „Lecker.“
Eir runzelte die Stirn. Sie trat wieder an die Felswand zurück und ließ sich müde zu Boden sinken. Oh, sie hoffte nur Dag und Runar liefen nicht davon.
Vorsichtig setzte sie das Eisglas an und trank. Es war so kalt, dass es in ihrer Kehle brannte. Sie verzog das Gesicht.
„Was ist?“, fragte Siri besorgt.
Eir seufzte. „Es ist kalt.“
Auch Siri ließ ein weiteres Seufzen hören. Sie ließ sich neben Eir zu Boden sinken. „Du hast Angst“, stellte sie fest.
„Ja“, erwiderte Eir. Sie wollte nicht lügen. Als Siri sie nur besorgt ansah, fuhr sie fort: „Es ist verdammt hoch und wir Menschen sterben, wenn wir so tief fallen, weißt du? Und ich komme hier nicht weg, ohne dich, und wenn irgendetwas passiert, dann …“
„Vertraust du mir?“ Die Worte der Huldra schnitten sie ab. Auf einmal kniete Siri neben ihr, sah sie an.
Eir starrte zurück. Was sollte sie sagen? Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Was konnte sie sagen? Was war die Wahrheit?
Sie vertraute Siri genug, um sie in in den Hof zu lassen, in dem sie allein war. Doch das hatte vielleicht mehr mit Dummheit, als mit Vertrauen zu tun. Sie vertraute ihr jedoch genug, als dass sie ihr hierher gefolgt war, selbst wenn mit Bedenken. Sie wusste nicht, was die Antwort war. Denn Siri war, wenn sie ehrlich war, so andersweltlich, so seltsam, dass sie oft nicht wusste, was sie über sie denken sollte. Sie wusste nicht, was sie fühlte. Sie war froh, ihr geholfen zu haben, und fand sie hübsch, sehr hübsch. Doch wahrscheinlich hätte jeder Mensch jede Huldra hübsch gefunden. Deswegen schluckte sie. Ja, was war die Antwort. Ja? Nein? „Ja. Aber ich habe etwas Angst“, flüsterte sie schließlich und das Rauschen des Wasserfalls schien ihre Worte gänzlich zu schlucken.
„Wieso?“, fragte Siri. Auch ihre Stimme war leise, doch irgendwie konnte Eir sie hören.
„Weil du so anders bist, so fremd“, erwiderte Eir, bevor sie genauer darüber nachdachte. „Und es gibt so viele Geschichten über Huldra. Gute, schlechte. Viele Geschichten.“
„Ich schulde dir viel.“ Siri sah sie mit einem vorsichtigen Lächeln an. „Nie würde ich dir etwas tun.“ Ihre Augen schienen von innen heraus mit einem übernatürlichen Glanz zu leuchten.
„Ja.“ Warum sagte sie das überhaupt? War es nicht unfreundlich? „Es tut mir leid. Ich will dich nicht fürchten, aber …“
Siri rückte näher an sie. Sie ließ sich wieder zu Boden fallen und lehnte sich neben Eir an die Felswand. Ihr Blick glitt zum Himmel hinauf. „Das musst du nicht“, antwortete sie. „Ich meine, das muss dir nicht leid tun, aber du musst mich nicht fürchten.“ Sie seufzte. Auf einmal – Eir wusste nicht ganz, was geschah – lehnte sie sich an sie. „Weißt du, warum das hier mein liebster Ort ist?“
Eir sah zu ihr. Sie war sich nicht sicher, was gerade geschah. „Nein?“
Siri lächelte verträumt und sah zum Himmel.
Unsicher ließ Eir ihren Blick dem der Huldra folgen. In der Ferne war ein grünliches Licht zu sehen, beinahe hinter den Bergen. Ein grünliches Licht, das heller wurde, immer heller. Ein grünliches Licht, das näher kam.
Wie ein Schleier aus grünem, gelben und an einigen Stellen auch rötlichen Licht, breitete sich die Aurora plötzlich über ihnen aus. Still standen die Lichter am Himmel, hüllten sie selbst in ihr Licht, ließen auch das Wasser und Siris helles Haar grünlich schimmern. Wie ein Vorhang, der durch den Wind bewegt wurde, wanderte das Licht über ihnen.
„Ich liebe die langen Nächte im Winter“, flüsterte Siri neben ihr. „Ich liebe es die tanzenden Lichter zu sehen.“
„Das ist die Aurora“, meinte Eir. „Die Sonnenwinde …“
„Ich habe gehört, dass ihr Menschen das so erklärt“, meinte Siri. „Früher haben die Leute geglaubt, es seien Feenlichter oder Lichter aus einer anderen Welt.“ Sie seufzte. „Wusstest du, dass es unter den tanzenden Lichtern einfacher ist in die Anderswelt zu reisen?“
„Nein.“ Eir verstummte und sah auf das Schauspiel über ihnen.
Sie konnte verstehen, dass Siri es liebte. Hier, mit den Blick gen Norden, vor dem Szenario des Wassersfalls und der Berge, wirkte es wirklich – ja, es konnte kein anderes Wort dafür geben – „magisch“.
Sie seufzte. „Danke, dass du mich hergebracht hast“, flüsterte sie leise.
Siri sah sie an. Wieder zeigte sie ihr Lächeln. „Danke, dass du geblieben bist.“ Sie sah sie an.
Wollte sie noch etwas sagen?
Eir runzelte die Stirn. „Was ist?“
Siri zögerte und legte ihre bloße Hand, die aus unerfindlichen Gründen nicht eisig war, auf Eirs Wange. „Vertraust du mir?“, fragte sie wieder.
Wieso schon wieder? Eir hielt inne, dann seufzte sie. „Ja.“
Da beugte Siri sich vor. Langsam. Vorsichtig. Doch Eir verstand. Sie zögerte, doch dann ließ sie es zu, dass die Huldra sie küsste.
Ach, warum hatte ihre Großmutter ihr diese Geschichten erzählt, die nur davor warnten, als einsamer Wanderer dem Charme einer Huldra zu verfallen? Warum hatte sie kein Wort davon verloren, das auch ein einsames Mädchen, das den Hof seines Vaters hütete, der Schönheit einer verirrten Huldra und der tanzenden Lichter des Nordens erliegen konnte? Ja, warum hatte es ihr niemand gesagt?
Siris Lippen lösten sich von den ihren. Das tanzende Licht ließ ihren ganzen Körper strahlen. Sie lächelte.