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Kapitel: | 4 | |
Sätze: | 365 | |
Wörter: | 6.856 | |
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Zu Familienfeiern werde ich - vermutlich auf Betreiben meiner Exgattin Reneé - gewöhnlich nicht eingeladen, und das ist mir auch ganz recht so. Aber wie zur Verlobung gehörte es sich zur Hochzeit wohl einfach, daß auch der Vater des Bräutigams anwesend ist, und so wurde ich zwar nicht gefragt, ob ich Interesse daran hatte, zu Felix' standesamtlicher Trauung zu kommen, aber immerhin danach, ob der Termin - Dienstag der 2. Januar - paßte; und die Trauung sei auf einem Schiff.
Ich hätte zu dieser wenig herzlichen Aufforderung Reneés vermutlich nein gesagt, wenn Felix mich nicht schon vorher sehr gebeten hätte. Auch wenn ich noch immer nicht verstand, wieso mein Sohn nur den gleichen Fehler machen wollte wie ich und ausgerechnet eine angehende Juristin heiratete. Hatte er aus der unerfreulichen Ehe seiner Eltern denn nichts gelernt? Bei Felix Verlobung vor inzwischen zwanzig Monaten hatten Reneé und ich einander doch wieder nichts zu sagen gehabt. Aber vielleicht lag es ja gar nicht an Reneés Ausbildung, sondern ich war einfach nur mit der phantasielosesten Frau dieses Planeten verheiratet gewesen.
Familie Gerdes war so großzügig, allen Gästen der Hochzeit ihrer Tochter das Zimmer im Hotel zu bezahlen, also stieg ich am Neujahrstag mit einem durch zwei Alka-Selzer nur mäßig gedämpften Kater meiner einsamen Silvesterfeier in den Zug und fuhr mit anderen Schnapsleichen und einigen ausfliegenden Familien gen Norden, mit einem Hochzeitsgeschenk im Jackett und dem Ordner für mein neues Projekt im Gepäck, aber unrasiert und in dem schwarzen Anzug, den ich zuletzt zur Beerdigung meiner Schwester vor sieben Jahren getragen hatte.
Durch die Zugfenster betrachtete ich die vorbeiziehende Winterlandschaft, in der immer weniger Schnee lag und der Himmel immer grauer wurde, je weiter wir nach Norden kamen. Meine Stimmung passte sich dem trüben Wetter an und so warf ich auf der ganzen vierstündigen Fahrt nicht einen Blick in meine Notizen. Am Ziel der Reise angekommen erwartete mich noch eine halbstündige Taxifahrt, bis ich im Foyer des Hotels 'Hafenblick' stand. Und aus meinem Zimmerfenster sah man wirklich den Fluß mit dem Binnenhafen, in dem ein ausgewachsener Dreimaster ohne Segel lag. Auf diesem Schiff also wollten mein Sohn und seine Auserwählte sich das Ja-Wort geben.
Am bleifarbenen Wasser des Flusses war es erstaunlich warm und ich nutzte das noch verbleibende Tageslicht, um mir die Gegend anzusehen. Ich betrachtet das eindrucksvolle Schiff vom Ufer aus, kickte einige der durchweichten Papprollen von am Vorabend gezündeten Böllern und Raketen ins Wasser und sah den sich darum geräuschvoll streitenden, riesigen Möwen eine Weile zu. Mit der einbrechenden Dunkelheit kehrte ich dem nun von Laternen beleuchteten Fluß den Rücken und schlenderte vorbei an den kleinen Häusern und geschlossenen Geschäften verschiedenster Art, bis ich überraschend vor einer Bude stand, in der Glühwein ausgeschenkt wurde. Ich genehmigte mir drei, auch wenn die Temperaturen das kaum rechtfertigten, und eine gute Weile später strebte ich dann zurück zum Hotel, um viele pittoreske Eindrücke von Stadt und Leuten reicher und um einige Mark ärmer. Wenn ich während meines Aufenthaltes hier noch irgend etwas für das neue Projekt schreiben wollte, so war genau dies der Abend dafür. Am kommenden Abend würde sicher lange gefeiert und getrunken werden, und am Tag danach saß ich wieder im Zug nach Hause, zurück in meine Einsiedelei.
Eigentlich hätte mir das Zeitproblem auch vorher klar sein können, und ohne den Ordner hätte ich die Hälfte an Gewicht eingespart. Für spontane Einfälle reichte gewöhnlich auch ein Blatt Papier und ein Stift. Aber da ich ihn nun einmal auf die Reise mitgenommen hatte, nahm ich ihn auch mit in das Hotelrestaurant, aß ein halbwegs italienisch anmutendes Nudelgericht, und da es eine gut sortierte Bar gab machte ich dann da weiter, wo ich am Glühweinstand aufgehört hatte, da das dort ausgeschenkte Getränk in Massen doch zu süß war. Das frisch vom Faß gezapfte Bier sagte mir zu, und um mir selbst wenigstens den Anschein des Fleißes zu geben, schlug ich den Ordner auf und blätterte ziellos durch die bereits eingehefteten Seiten. Irgendwann begann ich mit dem mitgebrachten Stift kleine Kringel an den Rand der Seiten zu malen und den Blick durch den schummrigen Raum schweifen zu lassen. Ich war allein, bis auf eine farbenfrohe Person ein paar Tische weiter, die zu einem Rosenmontagsabend viel besser gepaßt hätte, als zu einem Neujahrsabend.
Es war eine junge, dunkelhaarige Frau, die zu einem glänzenden blauen Kleid auf ihrem Rücken ausladende, weiß bezogene Libellenflügel trug. Ob sie die Flügel selbst aus Draht gebogen hatte? Und ich ließ meine Gedanken spielen. Das durchscheinende Strickgewebe, das über den Draht gezogen worden war, schien eine auseinandergeschnittene Feinstrumpfhose zu sein. Damit oder mit dem Draht der Flügel würde man sie wunderbar strangulieren können. Das Kleid schien ein kunststoffbeschichteter Stoff zu sein, der war sicher so luftundurchlässig, daß man sie damit ersticken konnte. Und mit den spitzen Absätzen ihrer hochhackigen, blauen Schuhe würde es keine Mühe bereiten, ihr eines ihrer großen, dunklen Augen auszustechen. Vielleicht kam man damit sogar durch eine Schädeldecke. Ich notierte mir, mich bei einem Schuhhersteller zu erkundigen, welche Belastungen ein solcher Schuh wohl aushielt.
"Sie haben mich so intensiv gemustert", sagte da plötzlich eine etwas rauhe Frauenstimme. "Woran haben sie gerade gedacht?"
Ich schloß meinen Ordner und sah hinauf in warme, braune Augen in einem hübschen, ovalen Gesicht. Die Krähenfüße neben ihren Augenwinkeln zeigten, daß sie doch nicht mehr ganz so jung war, wie ich im ersten Augenblick vermutet hatte, auch wenn sie sicherlich erheblich jünger war, als ich.
"Ich habe gerade überlegt, wie man sie mit ihren Flügeln, ihrem Kleid und ihren Schuhen ermorden könnte", gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort.
Gewöhnlich wirkte solche Offenheit eher abschreckend auf unvorbereitete, hübsche Frauen, aber diese zuckte nicht mal mit den Wimpern, sondern sah mich sehr interessiert an. "Wie kommen sie auf diese Idee?" fragte sie.
Sollte sie sich meine Antwort erst einmal verdienen. "Wie kommen sie denn zu diesem Aufzug?" fragte ich also zurück.
"Ich habe mir das Kostüm genäht", gab sie mit einem Lächeln zur Antwort, in dem die Hintergedanken fast greifbar waren.
Eine Frau die auf Wortspiele stand, das gefiel mir. "Ich meinte eigentlich, warum sie das... äh... Libellenkostüm tragen", präzisierte ich also.
Entspannt lehnte sie die blau glänzenden Oberschenkel an meinen Tisch. "Genau genommen stelle ich eine Azurjungfer dar", erklärte sie. Ihre wohlgeformten wenn auch nicht sehr üppigen, blau verhüllten Brüste hatte ich nun direkt vor Augen. Trug sie überhaupt etwas unter dem Kleid? Der dünne Stoff schmiegte sich so sehr an ihren Körper, daß sich doch jedes darunterliegende Kleidungsstück hätte abzeichnen müssen. "Das Kostüm war für ein Happening, zu dem ich mich dummerweise überreden ließ. Aber da habe ich mich abgesetzt, und jetzt werde ich zu B...", sie unterbrach sich und lächelte, "den Abend beenden", verbesserte sie sich.
"Haben sie es immer so eilig?" fragte ich, hob den Blick jetzt bewußt und ließ ihn dann langsam von ihren Augen über die rot geschminkten Lippen, hinunter zum Halsausschnitt des Kleides zurück zu ihren Brüsten wandern, an denen sich jetzt die Brustwarzen abzeichneten. Ihr sanft gewölbter Bauch, der zusammen mit ihren Oberschenkeln ein stoffüberspanntes Dreieck bildete, hinter dem ihr Schoß lag... nackt hätte sie kaum aufreizender wirken können.
Anscheinend hatte ich sie irritiert. "Was meinen sie mit 'eilig'?"
"Nun, sie hatten es so eilig von dem Happening fortzukommen, daß sie sich nicht einmal die Zeit genommen haben, die Flügel abzulegen. Und nun nehmen sie sich für das Gespräch mit mir nicht einmal die Zeit, sich für ein paar Minuten, vielleicht auf ein Glas Bier, zu mir zu setzen."
Sie lachte leise, zuerst nur mit ihrer etwas rauhen Stimme, aber plötzlich aus vollem Herzen und ließ sich auf der Bank mir gegenüber nieder. "Die Flügel sind am Kleid angenäht, die kann ich nicht einfach so ablegen. Aber ich habe noch ein bißchen Zeit - auf ein Glas also. Würden sie mir denn auch etwas anderes als Bier bestellen?" Ihrer Wirkung anscheinend sehr bewußt stützte sie einen blauglänzenden Arm auf den Tisch und legte ihr Kinn auf die Finger - kurze Fingernägel, Schwielenbildung, diese Frau arbeitete mit ihren Händen.
"Was darf ich ihnen denn bestellen?" fragte ich höflich, während ich den Kellner heranwinkte.
Sie nahm "noch einen Cuba Libre" und ich ein weiteres Bier. Da wir inzwischen anscheinend wirklich die einzigen Gäste waren, bekamen wir unsere Getränke sehr schnell, und mit dem Glas in beiden Händen lehnte sie sich zurück, so daß ein Teil des blauglitzernden Stoffes plötzlich wie ein Wasservorhang zwischen ihren Brüsten hing. "Was haben sie da in ihrem Ordner?" fragte sie neugierig.
"Ideen für meinen nächsten Mord", erklärte ich ihr.
Ihr Lächeln machte sie sehr anziehend. "Sind sie Drehbuchautor oder morden sie selbst?" fragte sie und nippte an ihrer Cola mit Rum.
Ihre Anziehungskraft war phänomenal. Ohne es gemerkt zu haben hatte ich mich weit über den Tisch zu ihr gebeugt. "Ich schreibe Bücher", gab ich zu Protokoll. Lag es an ihrem Blick, der meine Augen nicht loslassen wollte, daß mir in ihrer Gegenwart so heiß wurde? Ob ich diese hübsche Jungfer noch in mein Zimmer locken konnte, bevor sie ins eigene Bett flatterte?
Sie stützte ihre Arme wieder auf den Tisch, noch immer das Glas in den Händen, dann stellte sie es weg, näherte ihr Gesicht dem meinen. "Wie weit sind sie denn mit ihrem nächsten Mord?"
Nicht bloß braun, in ihren Augen sah ich grüne und goldene Flecken, ein dunkelgrauer Rand, der die Iris umgab, mein Gesicht, das sich in ihren Augen spiegelte. Ich griff sehr vorsichtig nach den Fingern ihrer Rechten. "Noch nicht sehr weit. Aber vielleicht könnten sie mich inspirieren."
Sie ließ mich gewähren, und so ruhten nun ihre warmen Finger in meiner offenen Hand. "Meinen sie, ich tauge als Muse?" fragte sie neckend.
"Unbedingt, schon allein der Flügel wegen." Darauf lachte sie wieder, ein so wunderbar lebendiges Geräusch, wie das Plätschern eines schnellen Bergbaches, oder das Lied einer Lerche.
*
"Was wären denn meine Aufgaben?" fragte meine schöne Jungfer.
"Bisher hatte ich mit meinen Musen nicht viel Glück. Folgen sie einfach ihrer Eingebung, ich werde ihnen sicher keine Vorschriften machen." Nein, Reneé hatte weder vor noch während unserer Ehe als Muse getaugt. Und die Talente von Chantal aus dem 'Château Rouge', die eigentlich Sabine hieß und gelegentlich meine Glieder wärmte, lagen definitiv nicht auf intellektuellem Gebiet. Nach Lesungen gab es manchmal Krimi-Groopies, die mit mir ins Bett gingen, aber die hatten nicht nur bei Autogrammen eine Trophäensammlermentalität und waren wenig an Konversation interessiert. Einzig meine Verlegerin zeigte telefonisch wirklich Engagement, wenn ich mich Schreibproblemen gegenübersah, aber wahrscheinlich auch nur, weil sie um ihre Investition fürchtete.
Überraschend legte mir meine Jungfer die Lippen auf die Wange. "Laufen sie nicht weg", bat sie flüsternd dicht neben meinem Ohr. Dann entzog sie mir ihre Hand, erhob sich, und verschwand in Richtung Toiletten.
"Die Dame hat ihre Handtasche und ihr Buch am anderen Tisch liegen gelassen", sagte der Kellner plötzlich und legte ein blauledernes Unterarmtäschchen und ein etwas zerknautschtes Taschenbuch, das mit Mühe wohl in das Täschchen paßte, auf ihre verlassene Seite des Tisches. Dieses Buch kannte ich: Justus M. Wintermann, 'Bollwicks letzte Reise', Gärtner Taschenbuch. Saß ich also einem Fan gegenüber? Hatte sie mich bei einer Lesung gesehen und daher erkannt? Auf meinen Wunsch verzichtete Frau Gärtner darauf, das Autorenportrait auf der hinteren Umschlagseite mit einem aktuellen Foto abzudrucken. Wir hatten uns für ein Bild aus dem ersten - und einzigen - glücklichen Jahr mit Reneé entschieden, mein Haar war damals noch nicht grau gewesen, und auf dem Bild trug ich meine Brille nicht.
Neugierig, ob sie sich vielleicht ein Autogramm hatte geben lassen, nahm ich das Buch zur Hand. Ein zerfleddertes Lesezeichen, Werbung für einen anderen Verlag, steckte im hinteren Drittel des Bandes. Und vorne, auf der Titelseite, auf die ich Widmungen zu schreiben pflegte, stand oben in der linken Ecke nur 'Liane Paulsen', in nicht besonders ordentlicher Schrift, mit blauem Kugelschreiber. War das also ihr Name? Oder hatte sie sich das Buch vielleicht ausgeliehen?
"Oh, sie haben meine Tasche geholt? Herzlichen Dank, ich hätte sie vermutlich vergessen", rief meine Jungfer in dem Moment aus.
Zögernd legte ich das Buch zur Tasche und schüttelte den Kopf. "Das Lob gebührt nicht mir. Der Kellner war so aufmerksam, Tasche und Buch hierher zu bringen. Sie heißen Liane Paulsen, richtig?" fragte ich dann vorsichtig.
Liane nickte nur und rutschte wieder auf die Bank. "Der Krimi ist wirklich allererste Klasse", schwärmte sie dann. "Sie müssen unbedingt...", doch dann hielt sie inne, errötete plötzlich, griff hastig nach dem Buch und stopfte es so heftig in die Tasche, daß es mir beim Zusehen fast wehtat.
Den Vertreter Bollwick hatte seine letzte Reise in sein Lieblingsbordell geführt, für das ich einige Anleihen beim 'Château Rouge' gemacht hatte. Außerdem hatte ich den Handlungsort genutzt, die Aufklärung des Mordes mit erotischen Szenen zu garnieren. Hatte sie eben an die grafisch beschriebenen, expliziten Szenen des Buches gedacht, daß sie so erröten mußte? "Lesen sie viele Kriminalromane?" fragte ich, damit sie mich wieder aus ihren schönen, großen Augen ansah.
Und Liane schaute wirklich auf, ihr Blick traf wieder meinen. "Ja, fast ausschließlich Whodunit's. Ich liebe es, selbst die Spuren zu verfolgen, um vor dem Detektiv auf die Lösung zu kommen. Aber Wintermann macht es einem nicht leicht." Sie lachte glücklich.
Hatte sie mich wirklich nicht erkannt, oder wollte sie mir schmeicheln? "Was würden sie machen, wenn Wintermann jetzt in dieser Bar sitzen würde?" fragte ich dreist.
Sie schien tatsächlich nachzudenken. "Wahrscheinlich würde ich ihn um ein Autogramm bitten, auch wenn ich eigentlich keine Autogramme sammele. Ein Krimiautor, der noch eine Muse sucht interessiert mich viel mehr", sagte sie dann mit verträumtem Blick und einem verheißungsvollen Lächeln. "Wie heißen sie denn eigentlich?"
"Wie wäre es mit dem du?" schlug ich vor. Und um weiterhin ihres Interesses teilhaftig zu werden entsann ich mich meines selten benutzten, zweiten Vornamens: "Ich heiße Michael."
Sie legte ihren auf die Hand gestützten Kopf schräg. "Michael ist ein so schöner Name", seufzte sie.
"Liane finde ich auch sehr schön", beeilte ich mich zu erwidern. Ob ich wagen konnte, sie einfach zu küssen? Ihr Gesicht war so dicht vor meinem, daß ich mich ihr nur noch ein winziges Stück entgegenneigen mußte. Und sie hatte mich doch eben selbst fast geküßt.
Erwartungsvoll sah sie mich unter den langen Augenwimpern hervor an. Was ging ihr wohl gerade durch den Kopf? Aber es war doch müßig, sich dazu Gedanken zu machen. Ich folgte einfach dem Impuls und legte meine Lippen auf ihre, die den Kuß sanft erwiderten, einen Moment auf den meinen liegenblieben, sich dann langsam lösten. "Wohnst du eigentlich hier im Hotel, Michael?" fragte Liane leise.
"Ja", bestätigte ich, stand auf und reichte Liane die Hand, um ihr aus der Bank zu helfen. Mit der freien Hand griff ich nach meinem Ordner.
Liane nahm zwar meine Hand, bewegte sich aber zunächst nicht. "Denk nicht, daß ich mit jedem...", begann sie leise, verstummte dann, senkte, wieder errötend, den Blick. Dann erhob sie sich doch. "Ich glaub, ich bin betrunken", flüsterte sie, kicherte, griff fahrig nach ihrem Handtäschchen.
"Ich sollte dich lieber nach Hause bringen", sagte der Kavalier in mir, während der Lüstling mich dafür ohrfeigen wollte. Aber ich konnte doch Lianes Enthemmung durch den Alkohol nicht einfach schamlos ausnutzen!
Liane hakte sich unter, schmiegte sich an mich und legte ihren Kopf an meine Schulter, so daß mich ihre langen Haare an der Wange kitzelten. "Ich wohne auch im Hotel", eröffnete sie mir. "Zimmer 204."
"Dann bringe ich dich jetzt mal ins Bett", entschied ich, und ließ Liane darüber kichern.
Unsere fast vollen Gläser blieben stehen und wir wankten gemeinsam zum Fahrstuhl, fuhren in den zweiten Stock, fanden die Tür von Zimmer 204 und den Schlüssel in Lianes Handtäschchen. Das Aufschließen gelang ihr noch selbst, aber anstatt die Tür aufzudrücken, ließ sie sich nach hinten gegen meine Brust fallen. "Bitte, hilf mir mit dem Kleid, ich glaube das bekomme ich nicht mehr selbst auf."
Auch wenn sie es nicht sah, nickte ich, griff an ihr vorbei, um die Tür doch endlich zu öffnen und stützte meine beschwipste Jungfer, bis sie sich schwer auf ihr Bett plumpsen lassen konnte. Und die Tür klickte ins Schloß, anscheinend hatte ich ihr ganz automatisch nach dem Durchschreiten einen Tritt gegeben.
Liane hob den Arm und zeigte mir einen verborgenen Reißverschluß der an ihrer Seite von der Achsel bis zur Hüfte reichte. Mit zitternden Fingern griff ich nach der kleinen, blauen Metallasche und zog den Reißverschluß vorsichtig auf. Als der Stoff auseinanderklaffte war darunter nur nacktes Fleisch zu sehen, schönes, duftendes Frauenfleisch, das mir die Sinne zu umnebeln schien. Lange würde der Kavalier den Platz nicht mehr behaupten.
Liane hatte schon begonnen, sich aus den Ärmeln zu winden und das Libellenkleid wie eine zu enge Haut abzustreifen. Bis auf ihre Feinstrumpfhose, die sie von der Taille bis zu den Zehenspitzen schwarzschimmernd umhüllte, war sie nun nackt. Liane war keine Zwanzig mehr, sicher nicht, aber ihre Brüste, um die man den Kulturstreifen eines Bikinis erkennen konnte, waren noch immer sehr schön.
"Ich sollte jetzt gehen", sagte ich.
Liane schienen schon die Augen zuzufallen. "Ja, solltest du, aber bitte, bleib einfach hier." Sie streifte die Strumpfhose ebenfalls ab, ließ sie zu dem achtlos auf den Boden liegenden Kleid fallen und kuschelte sich nackt unter die Decke. Ihre Augenlider flatterten, als sie versuchte, meinen Blick zu erhaschen. "Bleib, Michael, bitte. Komm zu mir." Und sie hob die Ecke der Decke an, so daß ich eine ihrer Brüste sah, erkannte, daß ihre Beine leicht gespreizt waren, als erwarte sie noch etwas von mir.
Der Anblick erregte mich sehr, aber auch ich hatte anscheinend schon zu viel getrunken, denn ich merkte, daß ich in dieser Nacht wohl nicht mehr zu Ausschweifungen sexueller Art fähig war. Trotzdem nahm ich Lianes Einladung an, entkleidete mich ebenfalls ganz und rutschte zu ihr unter die Decke. Sofort kuschelte sie sich an mich und ich mußte einen Arm um ihre schmalen Schultern legen, damit ich halbwegs bequem liegen konnte. Ich fühlte ihr Schamhaar an meiner Hüfte, ihre Beine an meinen, dann ihre Hand ganz sanft auf meiner Brust. "Michael, versprich mir, daß du dich morgen früh nich einfach heimlich ausm Staub machst", nuschelte sie neben meinem Ohr.
"Ich habe mittags eine Verabredung", erinnerte ich mich an die bevorstehende Trauung meines Sohnes auf dem eindrucksvollen Dreimaster, der nur etwa hundert Meter von dem Hotel entfernt im Wasser lag.
"Versprich es mir", insistierte Liane. "Bitte."
"Ich verspreche dir, morgen früh nicht ohne Verabschiedung zu gehen", flüsterte ich ihr ins Ohr. Und meine letzten wachen Gedanken galten ihrer zart streichelnden Hand, die sich langsam über mein Brusthaar und meinen Bauch in Richtung meiner Scham vorarbeitete.
* * *
Es war stockdunkel, als unbändiger Harndrang mich aufweckte. Neben mir schnarchte es leise - Liane, ja, das war der Name gewesen. Und anders als in jüngeren Jahren, als ich mich trotz viel größerer Mengen Alkohol auf meine Manneskraft verlassen konnte, war ich gestern abend in ihrem Bett einfach eingeschlafen. Ich stand auf und tastete mich durch den finsteren Raum, bis ich die nur angelehnte Tür der Naßzelle fand und einen Lichtschalter. Es mußte noch mitten in der Nacht sein, und ich könnte mich einfach anziehen und in mein Zimmer verschwinden. Schließlich hatte ich ihr nur versprochen, morgens nicht ohne Verabschiedung zu gehen, von der Nacht war nie die Rede gewesen. Aber daß sie mich in ihrem Bett hatte schlafen lassen, zeugte doch von erheblichem Vertrauen mir gegenüber. Schon deswegen sollte ich das Versprechen vielleicht eher dem Sinn als den Worten nach verstehen, und so ließ ich das Licht an und schlüpfte wieder unter die Decke, neben Liane. Meine Jungfer hatte sich in meine Richtung gedreht und sah aus, wie ein schlafender Engel. Ihr dunkles Haar lag in wie gemalt wirkenden Wellen rund um ihren Kopf auf dem Kissen und nun war der Alkoholspiegel in meinem Blut niedrig genug, um mein Begehren nach dieser hübschen Frau nicht mehr zu behindern. Und doch betrachtete ich sie nur, die sanft geschwungenen Augenbrauen, die langen, schwarzen Augenwimpern, die ein bißchen breite Nase, die eine Idee zu dünnen Lippen, auf denen noch der rote Lippenstift haftete, der zarte Hals, die leicht vorspringenden Schlüsselbeine, die glatte, makellose Haut. Ihre Brüste waren von der Decke verhüllt, ebenso ihr Schoß, der mir schon vor Stunden offengestanden hätte. Das Blut pochte erwartungsvoll in meinem Genital und ich erinnerte mich der Kondome, die ich gewöhnlich in der Hosentasche mit mir trug, in meiner Jeans zumindest, doch ich hatte für die Reise den Anzug gewählt, weil Felix auf angemessene Kleidung bestanden hatte. Hausschlüssel und Brieftasche hatte ich umgepackt, aber nicht den Haufen Notizzettel, der sich in den rückwärtigen Taschen regelmäßig ansammelte, und auch nicht die zwei Kondome, die ich in der Uhrentasche mit mir herumtrug.
Liane schlug die schönen, dunklen Augen auf. "Ah", sagte sie und strahlte, "du bist ja wirklich noch hier." Und so plötzlich, daß ich kaum wußte, wie mir geschah, hatte sie mich unerwartet umarmt und küßte mich lang und innig. Es heizte mich noch zusätzlich an, als sie ihren warmen Körper an mir rieb. Wie ich mich danach sehnte, meiner Jungfer zu Diensten zu sein! Seufzend löste ich den Kuß.
Erschrocken öffnete Liane ihre genießerisch geschlossenen Augen. "Was ist los, Michael?" fragte sie mit verhaltener Panik in der Stimme.
"Ich habe sonst immer Kondome bei mir, aber gerade heute..."
"Ach", lachte Liane befreit, "wenn das alles ist, was dir Sorgen macht! Ich habe welche." Sie warf die Decke beiseite und drehte sich, um nach ihrem Handtäschchen zu greifen, das neben meiner Brille auf dem Nachttisch lag. Sie rupfte das Buch heraus, wühlte in der Tasche und zog dann ein kleines, rechteckiges Plastikpäckchen aus der Tasche. "Siehst du!" rief sie triumphierend, "alles in Ordnung." Und sie lachte wieder so zauberhaft, ließ ihren Blick so zufrieden über meinen nackten, erregten Körper wandern. "Soll ich es dir überziehen?" fragte sie mit einem schelmischen Lächeln.
Ich lehnte mich zurück. "Was immer dir beliebt", lud ich sie ein.
Liane setzte sich auf die Bettkante und öffnete vorsichtig die Verpackung, entnahm das aufgerollte Kondom und prüfte, wie herum es sich entrollen ließ, bevor sie es federleicht auf die Spitze meines schon sehr festen Schwanzes legte. Langsam verhüllte sie mein bestes Stück mit der dünnen, rötlichen Latexschicht. Dann erhob sie sich, kniete sich über meine Beine und lehnte sich so weit vor, daß sie mich küssen konnte und mein Blut noch mehr in Wallung brachte.
Ich griff um ihre schmale Taille, zog sie noch näher, spürte ihre Brüste, ihre hart gewordenen Brustwarzen an meiner Brust, ihren Schoß an meinem Schwanz. "Jetzt", entschied sie, und senkte sich auf mich, bis ich ganz in sie eingedrungen war und Liane zufrieden seufzte. Wir begannen es langsam, genossen die Nähe des anderen. Irgendwann flüsterte sie: "Hilf mir mit der Decke, mein Rücken wird kalt", und kichernd wie Halbwüchsige legten wir mit einigen Schwierigkeiten die Hotelbettdecke um uns. Doch bald vergaß Liane, daß ihr kalt war und die Decke rutschte immer weiter nach unten. Ich kam vor ihr, heftig, traumhaft, senkte mein Gesicht an Lianes duftenden Busen, wurde von ihrem Haar umschmeichelt. Kein süßliches Parfum, wie Chantal es benutzte, auch nicht eines der viel teureren, ebenfalls penetrant riechenden Parfums, wie Reneé sie liebte, es war Lianes Lust die ich roch, ihre warme Haut, der dezente Geruch ihres Haarshampoos.
Ich entzog mich ihr, ließ das Kondom neben das Bett fallen, dann warf ich Liane in einer plötzlichen Eingebung auf das Bett, legte mich halb über sie, küßte wie wieder und begann, ihr mit der Hand das letzte Stück Weges zu bereiten. Sie seufzte so wunderbar in meinem Arm, sah mich so glücklich an, und schrie endlich vor Erfüllung, daß ich einen Moment fürchtete, gleich müßten andere Hotelgäste kommen, sich zu beschweren.
"Wie wunderbar", seufzte sie, kuschelte sich an mich, während ich für uns nach der Decke angelte, die halb vom Bett gerutscht war.
"Ja, es war wunderbar", bestätigte ich leise und versuchte, von dem Gefühl ihres warmen, schlanken Körpers neben mir so viel in mich aufzusaugen, daß die Erinnerung daran noch möglichst lange zuverlässig abrufbar war.
"Worum geht es bei deinem nächsten Mord denn?" fragte sie nach einer Weile, als ich angesichts ihres ruhigen Atems schon vermutet hatte, sie würde schlafen.
Nahm sie ihre Beschäftigung als Muse tatsächlich ernst? "Ich dachte an einen zufälligen Mord, wobei es aber genügend Verdächtige gibt, die einen Grund hätten."
"Du willst also die Leser in die Irre führen", stellte Liane fest. "Das gefällt mir. Aber wie stellst du sicher, daß dein Detektiv trotzdem alles aufklären kann? Durch Spuren oder ein Geständnis?"
"Tja", sagte ich nur, denn das war gerade der problematische Teil des Projektes. Wenn ich die Spuren zu offensichtlich gestaltete, war die Spannung dahin, ein Geständnis hatte aber auch viel zu häufig den ebenfalls unbefriedigenden Charakter eines 'deus ex machina'. Und ich versuchte, Liane mein Problem zu erläutern.
Ich sah sie im Lichtschein der Naßzelle weise nicken. "Tja, das wird problematisch", stimmte sie mir zu. "Was wäre denn mit mehreren Geständnissen, vielleicht aus religiösen Gründen, weil einer sich an dem Mord schuldig fühlt, weil er ihn sich wünschte, auch wenn er ihn nicht selbst beging? Dazu noch jemand, der so verwirrt ist, daß er wirklich glaubt, den Mord begangen zu haben oder sich nur wichtig machen will - so daß du am Ende ein Nadelkissen voller Geständnisse hast, in dem du deine Geständnisnadel des wahren Mörders verstecken kannst."
"Das klingt gut", stimmte ich ihr zu. "Vielleicht... ach, ich könnte aber verstehen wenn du...", stotterte ich.
"Was ist, Michael? Bis eben warst du um Worte doch nicht verlegen." Sie stützte sich auf einen Ellbogen und sah auf mich hinunter, strich mir ein paar Haare aus der Stirn. "Wolltest du mich fragen, ob wir uns noch einmal wiedersehen können, nach dieser Nacht?" fragte sie dann hellseherisch.
"Ja, das meine ich. Es hat mir so gut gefallen, mit dir...", 'Sex' war kein angemessenes Wort dafür, nein, "... mit dir Liebe zu machen", vervollständigte ich meinen Satz also. "Außerdem hast du vielleicht noch mehr so gute Ideen für meine Story, bei deren Planung ich mir zur Zeit selbst im Weg zu stehen scheine. Ich würde am liebsten noch den ganzen Tag mit dir verbringen, aber ich hab... ich hab meinem Sohn versprochen, diesen Tag ganz für ihn dazusein."
Und Liane nickte wieder, beugte sich dann zu mir, um mir einen Kuß auf die Stirn zu geben, einen weiteren auf die Lippen, den sie in höchst anregender Weise intensivierte, aber dann doch beendete. "Ich würde auch gerne viel länger mit dir zusammenbleiben, aber ab neun Uhr habe ich mehrere wichtige Termine, die mich vermutlich bis heute abend beschäftigen. Wie lange bist du noch hier?"
"Morgen früh wollte ich mich wieder auf den Weg nach Hause machen", gestand ich ihr, auch wenn ich zu überlegen begann, was denn überhaupt dagegen sprach, meinen Aufenthalt noch ein bißchen zu verlängern.
"Vielleicht könnten wir uns ja im Laufe des Abends noch mal treffen oder wenigstens morgen zusammen frühstücken?" fragte Liane fast zaghaft.
"Ich könnte auch noch ein paar Tage länger bleiben", ließ ich sie wissen.
Und Liane ließ plötzlich die Mundwinkel hängen. "Aber ich leider nicht. Ich habe nur bis morgen Urlaub. Laß uns auf jeden Fall Adressen und Telefonnummern austauschen", bat sie dann.
"Aber jetzt laß uns doch noch ein bißchen kuscheln", bettelte ich und zog sie wieder in meine Arme. Und so lagen wir noch ein paar Minuten in den Armen des anderen, bis plötzlich ein Wecker klingelte.
"Es ist acht", erklärte Liane seufzend und streckte sich, bis sie den Wecker auf dem Nachttisch erreichte und ausschalten konnte. Dann sprang sie aus dem Bett, grub eine kleine Karte aus ihrem Handtäschchen und steckte sie in die Brusttasche meiner Anzugjacke. "Ich muß mich beeilen", erklärte sie dabei. "Hast Du auch eine Visitenkarte?" Als ich den Kopf schüttelte, deutete sie auf einen kleinen Tisch an der Wand. "Schreib mir doch deine Adresse auf. Da liegen ein paar Blatt vom Hotel-Briefpapier." Meine nackte Jungfer verschwand in der Naßzelle und ich hörte, wie sie zunächst die Toilette und dann die Dusche benutzte. Ich erhob mich also, setzte meine Brille auf und holte meinen Stift aus dem Jackett. Ich griff nach einem Bogen Briefpapier, als mein Blick auf 'Bollwicks letzte Reise' auf dem Fußboden fiel. Ich hob das schon recht ramponiert aussehende Taschenbuch auf, dann schrieb ich auf das Titelblatt: "Meiner schönen Azurjungfer und Muse Liane zur ewigen Erinnerung an Ihren Michael." Den Briefbogen, auf den ich meinen vollen Namen, die Adresse und Telefonnummer schrieb, legte ich in das Buch, und das Ganze dann neben ihr Handtäschchen, so daß sie es gleich finden mußte.
Liane war noch unter der Dusche, als ich mich angezogen hatte. Ich stellte mich in die Tür, sah das Wasser innen vom halbdurchsichtigen Duschvorhang perlen, Lianes schlanke Gestalt dahinter in Bewegung. "Ich hoffe, wir sehen uns heute abend", verabschiedete ich mich mit erhobener Stimme, um das Wasserrauschen zu übertönen.
"Ja, das hoffe ich auch", antwortete Liane, "bis dann."
Mit meinem Ordner unter dem Arm erreichte ich mein eigenes Zimmer ein Stockwerk höher. Draußen begann es nun langsam zu dämmern, aber nach Frühstück war mir noch nicht, also zog ich den Anzug wieder aus und setzte mich auf mein bisher noch unbenutztes Bett. Ich freute mich schon auf den Abend mit Liane, aber jetzt, wo die quirlige Jungfer sich nicht mehr an mich schmiegte, griff die Müdigkeit nach mir. Also rief ich die Rezeption an und bat um einen Weckruf. Mit der Aussicht auf ein abendliches Treffen mit Liane würde ich sogar eine Schiffstrauung nebst Essen und Feier mit Reneé aushalten. So legte ich mich entspannt hin und schloß die Augen.
* * *
Frisch geduscht und halbwegs rasiert ging ich einige Minuten nach dem Weckruf hinunter in das Restaurant. Frühstück gab es so spät nicht mehr, aber an der Bar hatte ich schon die Möglichkeit, ein gepflegtes Bier zu erhalten. Neugierig zog ich endlich Lianes Visitenkarte aus der Brusttasche des Jacketts. "Liane Paulsen, Bildhauerin", und die schöne Liane wohnte praktisch bei mir um die Ecke, in einer Nachbarstadt. Wieso hatte sie eigentlich Urlaubszeiten einzuhalten, wenn sie Bildhauerin war? Vermutlich war sie nicht freiberuflich tätig. Ich nahm mir vor, sie am Abend danach zu fragen, wo sie denn als Bildhauerin arbeitete.
Auf die Begegnung mit Reneé nahm ich noch ein zweites Bier und ging dann langsam zum Schiff hinüber. Es war zwar noch reichlich Zeit, aber wie ich meine Gattin und meinen Sohn kannte, waren sie bestimmt schon da und warteten bereits ungeduldig. Wenn ich mich doch nur einfach hätte absetzen und an Lianes Fersen heften können!
Dieser Tag war erfreulicherweise sehr viel sonniger, als der vorherige, wenn es auch nicht so lau war, daß man es für den kurzen Weg ohne Mantel über dem Anzug ausgehalten hätte. Neben einer Planke mit zwei Handläufen, die auf das Schiff führte, standen schon Felix und Reneé, das Ehepaar Gerdes und zwei dunkelhaarige Mädchen. Eine der jungen Damen war Katja, in einem frühlingshaft anmutenden, hellgelben Mantel und mit einem gelb-rosa Blumenbouquet, das andere Mädchen erinnerte mit ihren großen, braunen Augen ein wenig an Liane. Felix lief mir entgegen, umarmte mich überraschenderweise und gab mir sogar einen Kuß auf die Wange. "Ganz herzlichen Dank, daß du gekommen bist, Papa", flüsterte er mir zu. "Du ahnst gar nicht, was mir das bedeutet." Dann nahm er mich an der Hand, zog mich zu den anderen.
Frau Gerdes, Ingeborg, wie ich mich von der Verlobung zu erinnern glaubte, unterhielt sich angeregt mit Reneé, und da meine Exfrau nun auffällig schnell den Blick von mir abwandte, hatte sie wohl gerade über mich gesprochen. "Meine Schwester ist auch einfach unmöglich", gab Ingeborg Gerdes auf die letzten Worte Reneés zurück. "Ich bin offengestanden ganz froh, daß auf dem Schiff zu wenig Platz ist, alle zur Trauung einzuladen."
"Hallo,... Justus", erinnerte Katja sich daran, daß ich ihr bei der Verlobung mit meinem Sohn das 'Du' angeboten hatte. Auch sie umarmte mich kurz, allen anderen schüttelte ich artig die Hand. Das junge Mädchen wurde mir als Katjas Schwester Marlies vorgestellt und dem Ehepaar Gerdes dankte ich für die großzügige Unterbringung und die gute Wahl des Hotels.
"Jetzt warten wir nur noch auf unsere Trauzeugen und den Standesbeamten", bemerkte Katja dann, doch Augenblicke später hielt schon ein Auto auf dem Parkplatz nahe der Planke, dem zwei junge Leute im Alter des Brautpaares entstiegen und Katja und Felix herzlich begrüßten.
Wenige Minuten später wurden wir von einer Art Steward auf das Schiff und in einen Empfangsraum gebeten, in dem wir unsere Mäntel ablegen und uns von dem bereitgestellten Sekt und Orangensaft bedienen durften. Dann wurde eine Schiffsglocke geschlagen und Hans Gerdes erklärte: "Acht Glasen, zwölf Uhr, die Trauung beginnt."
Die Trauung fand in der Kapitänskajüte statt, die von einem großen, ovalen Tisch fast völlig ausgefüllt wurde. Der Standesbeamte saß an der einen langen Seite, die Brautleute und ihre Trauzeugen an der anderen, für uns restlichen fünf standen zwei Bänke an den Seiten des Raumes zur Verfügung, die jeweils für zwei Personen gedacht waren. Und so quetschte ich mich neben dem recht korpulenten Hans auf die eine, während sich die Damen und Marlies auf der anderen eng aneinanderdrückten. Die Ansprache des Standesbeamten unterschied sich inhaltlich kaum von dem, was man Reneé und mir vor Jahren vorgetragen hatte. Aber ich hoffte für die beiden Kinder, daß ihre Ehe länger dauern und glücklicher sein würde, als unsere. Marlies machte ein paar Fotos von der Zeremonie und dem ersten ehelichen Kuß, und nach einer knappen halben Stunde war dieser Teil des Tages überstanden.
Als wir das Schiff wieder verlassen hatten, hakte Ingeborg sich bei mir unter, während Hans Reneé geleitete. Außer Felix' Trauzeugen, der das Auto wohl zum 'Hafenblick' fuhr, gingen wir alle zu Fuß zum Hotel, in dem das Essen und die Feier anläßlich der Vermählung stattfinden sollte. "Wir haben noch ein bißchen Zeit", flötete die Brautmutter, "der Empfang beginnt erst um eins. Wenn du dich noch einmal frisch machen möchtest..."
Wahrscheinlich meinte sie es nicht so wie es klang, also danke ich für den Hinweis, aber anstatt mich in mein Zimmer zu verfügen, ging ich geradewegs in die Bar und bestellte noch ein Bier, diesmal mit einem Korn. Die Zeit reichte für ein zweites Bier und einen zweiten Korn, dann fühlte ich mich gewappnet, den Wegweisern in den Gesellschaftsraum zu folgen, in dem die Hochzeit Gerdes/Wintermann stattfinden sollte.
Der Saal begann sich bereits zu füllen, allenthalben standen Grüppchen sich angeregt unterhaltender, fröhlicher Menschen. Felix wurde von einer ganzen Schar junger Männer und Frauen umringt und beglückwünscht, und Katja stand mit Schwester und Trauzeugin in einer Gruppe jüngerer und älterer Frauen. Für die Überreichung des Hochzeitsgeschenkes, das ich seit mehr als einem Tag in meiner Jackettasche herumtrug, würde ich einen Moment abpassen, der auch ein paar persönliche Worte erlaubte, denn ich wollte den schlichten Umschlag mit den Gutscheinen für das Krimiwochenende in London nicht zu den vor allem aufwendig verpackten Geldgeschenken auf dem Gabentisch legen.
Ich nickte denen, die ich eben noch auf dem Schiff gesehen hatte, freundlich zu, dann schlenderte ich von Tisch zu Tisch, um mich mit der Sitzordnung vertraut zu machen. Natürlich sollte ich mit den anderen Brauteltern an dem großen runden Tisch sitzen, der auch für das Brautpaar vorgesehen war. Wahrscheinlich wurde von mir auch irgendeine Ansprache erwartet und Felix war es wichtig, daß ich diesen Erwartungen entsprach, also würde ich mein Möglichstes tun. Ich sah mir einige der anderen Platzkarten an: zu meiner Rechten würde Ingeborg sitzen, links von mir hatte die Braut ihren Platz. Außer dem Brautpaar würden fünf weitere Paare, also zwölf Personen an diesem Tisch sitzen, natürlich Reneé neben Felix und an ihrer Seite Katjas Vater. Vermutlich wurde auch Katjas Schwester mit Herrn und die Trauzeugen mit ihrer Begleitung hier sitzen.
Dann sah ich, daß Hotelbedienstete Tabletts mit Aperitifs für die Hochzeitsgäste herumtrugen. Ich kehrte also wieder zu den anderen Gästen in die am späteren Tag wohl als Tanzfläche gedachte freie Mitte des Saales zurück, um mir auch den einen oder anderen Aperitif zu genehmigen, und glaubte plötzlich, meinen Augen oder meinem Glück nicht trauen zu dürfen. Gerade ließ Liane sich eines der Gläser mit dunkelrotem Likör reichen. Aber natürlich! Wer außer den Hochzeitsgästen würde zur Zeit wohl im Hotel wohnen? Und wie außer durch Verwandtschaft war die Ähnlichkeit zwischen Katjas Schwester und Liane zu erklären? Vielleicht war meine Jungfer eine Cousine von Katja und Marlies.
Ich eilte mit großen Schritten zu ihr, nahm mir auch ein Glas vom Tablett der Servierkraft und hielt es Liane zum Anstoßen hin: "Auf dein Wohl, schöne Jungfer", sagte ich leise.
Liane zuckte regelrecht zusammen, sah zu mir hoch. "Michael! Hast du mich erschreckt", dann lächelte sie glücklich. "Wenigstens ein ehrlicher Mensch unter all den..."
"Nein", warf ich ein, "nicht ganz ehrlich, fürchte ich", gestand ich, bevor sie weiterreden konnte. "Hast du denn noch nicht den Adresszettel gelesen, den ich dir in das Buch gelegt hatte?"
Beruhigend lächelte sie und nickte. "Doch, ich habe ihn gelesen. Ich weiß, daß du der Schwiegervater meiner Nichte und zugleich der Kriminalautor Justus Michael Wintermann bist. Ich meinte nicht das Verschweigen unbedeutender Details, sondern daß mir einfach die Falschheit zuwider ist, mit der viele Leute ihre wahren Interessen hinter irgendwelchen Masken so gut verbergen, daß sie sie selbst vergessen und anderen dann ein schlechtes Gewissen machen wollen, wenn sie es nicht ebenso halten." Dann glättete sich ihre mit den kritischen Worten in Falten geworfene Stirn wieder und lächelte mich an. "Aber du lebst deine Interessen, das gefällt mir sehr."
Das Kompliment hätte ich ganzen Herzens zurückgeben können, aber ich schloß aus dem Gesagten nur: "Das heißt also, du bist die Schwester von Ingeborg Gerdes."
"Ja, ich bin die unmögliche kleine Schwester von Ingeborg, die sich die Hochzeit am liebsten geschenkt hätte. Aber Katja hatte mich so gebeten zu kommen, daß ich es nicht über das Herz brachte, sie hängen zu lassen. Nur gestern die Probe für das Hochzeitshappening, das war doch zu viel. Es ist definitiv nichts für mich, als Azurjungfer durch die Gegend zu hopsen."
"Du sahst aber sehr neckisch aus", gab ich zu bedenken.
Liane strahlte mich wieder an. "Ach, ich glaube, ich könnte mich in dich verlieben, Michael." Und sie sah aus, als meinte sie es wirklich ernst.
"Mein Herz hast du schon gefangen", gestand ich ihr, nahm ihre freie Hand und hauchte einen Kuß auf den Handrücken.
Liane errötete, senkte den Blick zu Boden, aber sah mich dann doch wieder an und gab mir den Kuß zurück, mitten auf den Mund. Der Aperitif war uninteressant geworden.
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