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Glenn

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15.09.18 13:38
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
In Arbeit

Der Mann hinter dem Schreibtisch sah nicht nur völlig gelangweilt aus, sondern auch genau so, wie ich mir einen Beamten in meinen schlimmsten Alpträumen vorgestellt hatte.
„Was möchten sie anzeigen?“
Ich seufzte. Seit mehr als vier Minuten versuchte ich ihm verständlich zu machen, was genau mein Problem war, aber irgendwie kamen wir nicht weiter.
„Ich möchte keine Anzeige machen, ich möchte melden, dass ich jemandem den Spiegel abgefahren habe!“
Der etwas ungepflegte Mann zog die Augenbraue nach oben und schien noch immer nicht zu verstehen.
„Sie? Und warum sind sie dann hier?“
„Weil ich nicht weiß, wem der Wagen gehört den ich beschädigt habe, und ich leider keine Nachricht hinterlassen konnte.“
Mein Nervenkostüm war definitiv nicht dazu in der Lage dieses Gespräch durchzuhalten und ich musste alle Kraft darin legen, den Mann nicht anzukeifen. Tief durchatmen!
„Haben sie denn versucht, auf den Besitzer des Wagens zu warten?“
Nein, hatte ich nicht. Es gab ja Leute, die arbeiten mussten, und ich hatte an der viel befahrenen Straße auch keinen Parkplatz gefunden. Ich hatte auf dem Gehweg gehalten, mir das Kennzeichen des Wagens aufgeschrieben, und war schon dabei von diversen, missmutig hupenden, anderen Autofahrern geärgert worden.
Der Wagen, den ich auf dem Heimweg beschädigt hatte, war zwar alt, aber ich wollte auch nicht einfach weiter fahren. Nicht, weil ich angst davor hatte, dass mich jemand anderes melden würde, sondern eher, weil ich selbst es mir auch wünschen würde. Wenn mir jemand den Spiegel abgefahren hätte, wäre auch ich froh gewesen, wenn es gemeldet werden würde.
Genau für solche Fälle gab es doch Versicherungen, und ärgerlich waren Unfallfluchten doch am ehesten für den Geschädigten. Selbst wenn der Kratzer oder Schaden nur klein war, man hatte die ganze Rennerei und den Ärger, obwohl das doch so einfach zu Regeln war.
Doch leider stellte sich das Problem jetzt als viel komplizierter da, als ich es mir je gedacht hatte. Nach dem Unfall hatte ich überlegt, was ich als Nächstes tun sollte, und hatte mich dazu entschieden, das Polizeipräsidium aufzusuchen, um das ganze zu melden. Ich hatte mich von der Anmeldung aus durchgefragt, und so stand ich nun vor dem etwas dicklichen Polizeibeamten, der absolut lustlos schien, und mir offensichtlich auch nicht wirklich zuhörte.

„Nein, es war viel Verkehr, und ich wußte ja nicht, wann er wieder zurückkommt.“
„Sie wissen, dass das Strafe kostet?“
Ich schluckte.
„Es kostet Strafe, dass ich mich hier melde?“
„Ja. Wollen sie den Vorfall immer noch melden?“
Ich konnte es nicht fassen. Es kostete Strafe, weil ich mich gemeldet hatte? Wo lag da die Logik? Und bot er mir gerade an, mich einfach aus dem Staub zu machen?
„Ja, sicher. Ich möchte, dass sie den Fahrer informieren, damit wir den Unfall der Versicherung melden können.“
Das leise Schnauben strafte mich erneut ab, und ich zuckte innerlich zusammen. Warum nur hatte ich das hier für eine gute Idee gehalten?
Der Mann schien komplett entnervt, offenbar hatte er überhaupt keine Lust, meine Daten und mein Anliegen aufzunehmen.
Sein Hemd sah schmuddelig aus, ebenso wie das Büro, und auch seine wenigen Haare hatten eindeutig bessere Zeiten gesehen. Vermutlich hatte er viele Jahre in dieser Umgebung verbracht, denn er und der abgenutzte Raum bildeten eine fast homogene Masse. Als seien sie über die Jahre miteinander verschmolzen, und hätten irgendwann beschlossen gemeinsam die Zeit bis zur Rente abzusitzen.
Er saß hinter seinem unaufgeräumten Schreibtisch, in dem ebenso unordentlichen Büro, und verschränkte die Hände vor dem massigen Körper.
Alles in allem hatte ich mir das alles anders vorgestellt, und im Traum hatte ich nicht daran gedacht, dass meine Idee derart schlecht enden würde.
Das Büro war ungemütlich und wenig heimelig, alles war irgendwann in den siebziger Jahren vermutlich mal top modern gewesen, aber diese Zeiten waren definitiv vorbei. Alles sah abgenutzt und runtergekommen aus, selbst der Rechner vor ihm auf dem Tisch, hatte seine besten Zeiten längst hinter sich gelassen. Vermutlich hatte die Behörde einfach kein Geld für moderne Technik.
Der Hörer seines Telefons lag neben dem Gerät, was mich auch nicht wirklich wunderte, und eine Reihe von leeren Kaffeetassen war an der Stirnseite aufgereiht.
„Ihren Führerschein bitte.“
Er griff nach dem Plastikkärtchen und ich fragte mich ernsthaft, warum überhaupt jemand etwas derartiges melden sollte. Das hier war eindeutig kein Statement dafür, dass sich Ehrlichkeit lohnte.
Irgendwie hatte ich geglaubt, man würde mir dafür danken, oder zumindest gutheißen das ich mich freiwillig meldete, aber das Gegenteil war wohl der Fall. Auf derartige Freundlichkeit legte hier anscheinend keiner Wert.
„Das Kennzeichen des anderen Wagens?“
Ich kramte in meiner Tasche und sah zu, wie er mit zwei seiner dicken Finger Buchstaben auf der Tastatur eingab. Erstaunlicherweise tat er dies recht schnell, und noch mehr erstaunte mich, dass kein Staub aufwirbelte. Anscheinend war die Tastatur das Einzige in diesem schrecklichen Raum, was überhaupt regelmäßig benutzt wurde, im Gegensatz zu den leicht eingestaubten Akten auf seinem Tisch.
Er gab mir das Kärtchen zurück, und ich reichte ihm den Kassenbon, auf dem ich das Kennzeichen notiert hatte. Ich bereute bitter, dass ich nicht einfach meine Adresse darauf notiert, und an die Windschutzscheibe des anderen Wagens geklemmt hatte.
Nie vorher hatte ich einen anderen Wagen beschädigt, und auch diesmal fühlte ich mich nicht wirklich schuldig. Ein entgegenkommender Wagen hatte meine Fahrbahnseite geschnitten, und bei dem Versuch ihm auszuweichen, hatte mein Außenspiegel den Spiegel des parkenden Wagens gestreift.
Mein Spiegelglas war gesprungen, in tausend kleinen Splittern auf der Fahrbahn gelandet, der Spiegel des anderen Wagens hing auf halbmast, und mein Tag war gelaufen.
„War der Wagen ein beiger Mercedes?“
„Ja, ein älteres Modell.“
Der Mann sah mich mitleidig an, sah aber nicht mehr ganz so genervt aus.
„Das wird nicht so schlimm werden. Der Wagen ist sehr alt, das ist gut. Bei den neuen ist viel Technik in den Spiegeln.“
Das tröstete mich nicht wirklich. Den Schaden würde vermutlich ohnehin die Versicherung zahlen, den Schaden an meinem Glauben an das Rechtssystem, würde es jedoch nicht reparieren.
„Wir werden den anderen Fahrer informieren, notieren sie bitte hier ihre Telefonnummer.“
Er reichte mir ein Formular, und ich war heilfroh, dass ich endlich würde gehen können. Die Polizei, dein Freund und Helfer ...
Ich fühlte mich definitiv nicht so. Ich kam mir vor wie ein Eindringling, jemand der unnütze Arbeit machte.
„Was ist mit der Strafe?“
Der Polizist nahm mir den Zettel aus der Hand.
„Das lassen wir mal unter den Tisch fallen. Aber erzählen sie es nicht weiter. Wenn wir tatsächlich Strafe dafür nehmen würden, meldet bald keiner mehr einen Schaden.“
Da hatte er wohl recht. Niemand würde Derartiges mehr melden, und vermutlich war die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand anderes tun würde, eher gering. Menschen war es doch meistens egal, was in ihrer Umgebung geschah. Jeder war so sehr mit sich selbst und seinem eigenen Leben beschäftigt, dass kaum jemand sich die Mühe machte, nach rechts oder links zu sehen.
„Das ist sehr freundlich.“
Eigentlich war er alles andere als freundlich, aber immerhin hatte er mir die Zahlung erlassen. Tatsächlich war ich zum ersten Mal in meinen Leben mit der Polizei in Berührung gekommen, mal abgesehen von einfachen Kontrollen vielleicht, und wirklich scharf war ich auf ein zweites Erlebnis dieser Art nun wirklich nicht.
Warum so viele Menschen auf die Polizei schimpften, verstand ich erst jetzt. Ein wenig Freundlichkeit und etwas mehr Kooperationsbereitschaft hätten an dieser Stelle wirklich geholfen.
Wortlos packte meinen Führerschein wieder ein und verabschiedete mich, sollte der Polizist doch endlich wieder seine Ruhe haben. Er und der Raum konnten wieder miteinander verschmelzen, und ich würde endlich dieser tristen Einöde, die wirklich enorm auf meine Stimmung drückte, endlich entfliehen können.
„Schönen Tag noch!“
Der Polizist rutschte auf seinem Stuhl hin und her, eindeutig sehr froh mich loszuwerden.
„Ihnen auch.“ Und mögen ihnen juckende Pusteln am Hintern wachsen, fügte mein Unterbewusstsein hinzu.


Ich ging den langen Gang entlang, und ärgerte mich maßlos. Das ganze hatte mich mehr als eine Stunde gekostet, und ich hatte nicht das Gefühl, dass Richtige getan zu haben.
Eigentlich war ich im Grunde der Meinung richtig gehandelt zu haben, aber so wie die Sache gelaufen war, hatte ich doch arge Zweifel.
Ich war auch nicht sicher, ob ich bei meinem nächsten Unfall auch wieder die Polizei hinzuziehen würde. Vermutlich hätte ich auch einfach eine Stunde neben dem anderen Wagen stehen bleiben können, und der Effekt wäre der gleiche gewesen.
Ich hatte mich gefühlt wie eine Schwerverbrecherin, und die ganze Situation war mehr als unangenehm gewesen.
Auf keinen Fall würde ich noch einmal ein derartiges Erlebnis brauchen, und schon gar nicht noch einmal bei diesem blöden Typen. Vielleicht aber wurde man in diesem Job einfach so. Vielleicht führte kein Weg daran vorbei, ein missmutiger, trauriger Mensch zu werden, wenn man ständig nur mit unschönen Dingen zu tun hatte, in einer Atmosphäre wie dieser, die einem Alptraum entsprungen sein musste.
Eine Gruppe Beamter in Uniform ging an mir vorbei und die Männer lachten über einen Witz. Irgendwie schienen diese Polizisten sehr viel lockerer und freundlicher als der Mann, der mich betreut hatte, und ich sah mich nach ihnen um. Die vier Männer waren jung, vielleicht Mitte zwanzig, und keiner von ihnen machte einen ähnlichen Eindruck wie der Mann in dem Raum. Vermutlich war es einfach nicht mein Glückstag. Wahrscheinlich hatte ich das einzige Arschloch im ganzen Gebäude erwischt, und alle anderen hier hätten meinen Fall in fünf Minuten abgewickelt.
Jeder von ihnen hätte meine Ehrlichkeit vielleicht zu schätzen gewusst, und mir zu meiner guten Tat gratuliert.

Ich sah mich nach dem Fahrstuhl um, entschied mich aber im letzten Moment dafür, die Treppe zu nehmen. Wenigsten würde ich etwas für meine Figur tun und aus dem vierten Stock nach unten gehen. Dann würde der ganze Ausflug wenigstens einen kleinen positiven Effekt haben.
Menschen wie ich, die normalerweise ihre Tage sitzend verbrachten, bewegten sich einfach zu wenig.
Ich stapfte über den grauen Linoleumboden und sah mich um, obwohl es im Grunde so gar nichts zu sehen gab.
In meiner Vorstellung hatte diese Ort anders ausgesehen, weniger traurig und eher modern, und auf keinen Fall wie etwas, was seit Jahren praktisch tot war.
Nichts hier schien zu leben, weder die Wände noch die Räume, und auch das drückte mir auf die Stimmung.
Meine Welt war bunt und lebendig, und Menschen wie ich sollten an diesem Ort nicht sein.
Das Gebäude war so unfassbar farblos und langweilig, dass es kaum zu fassen war. Elend lange Flure und gleiche Türen reihten sich aneinander, nirgendwo hing ein Bild oder irgendein Farbklecks.
Einzig und alleine ein paar Werbeplakate hingen vereinzelt an den Wänden, die Polizei suchte wohl dringend Nachwuchs. Nie und nimmer wäre das hier der Ort für mich, um zu arbeiten, sicher würde ich schon nach wenigen Wochen durchdrehen in dieser Einöde.
Vor manchen der Türen standen abgenutzte Stühle mit ebenso abgenutzten Stoffbezügen, und manchmal stand ein kleiner Tisch mit Zeitungen daneben. Vermutlich eine Sammlung aus den letzten zwanzig Jahren, denn es sah nicht so aus, als würde sich irgendjemand darum kümmern.
Alles machte den Eindruck, als sei seit den frühen Siebzigern nichts verändert worden und als würde genau hier die Zeit komplett stillstehen.
Der fiese gelbliche Farbton der Wände, und die noch fieseren braunen Türen, hätten sowohl zu einer Irrenanstalt als auch zu einem sehr unschönen Schulgebäude gehören können. Irgendwie schien alles etwas zu abgenutzt, zu alt, zu verbraucht.
Mir taten die Menschen leid, die jeden Tag aufs Neue über diese Flure gehen mussten.

Die Glastür zum Treppenhaus war unfassbar schwer, und ich musste einen Fuß zur Hilfe nehmen, um sie überhaupt zu öffnen. Vermutlich konnte man so schlechter flüchten, schnell und einfach ging hier eindeutig gar nichts, nicht mal die Glastür.
Schwer und langsam fiel sie hinter mir ins Schloss, während ich auf noch mehr graue Stufen und beige Wände sah.
Ich hopste die erste Etage nach unten und hörte Schritte, irgendjemand hatte wohl ebenso die Entscheidung getroffen, seine Fitness an diesem Tage mit Treppensteigen zu erhöhen. Sofort hörte ich auf zu hopsen, weil mir das unangebracht schien, und ging stattdessen an der Innenseite der Treppe weite nach unten.
Mein Versuch, die entgegenkommende Person durch das Geländer neben mir zu sehen, scheiterte, denn dort war einfach niemand. Obwohl ich die Schritte hörte, die eindeutig näher kamen, sah ich einfach niemanden. Sie hörten sich schnell an, als wäre die Person sehr in Eile, und ich vermutete, sie nahm mehr als eine Stufe auf einmal.
Bevor ich den Gedanken beenden konnte, fiel mir der junge Mann vor die Füße und eine Wolke aus Papierbögen flog durch die Luft.
Ich erschrak fürchterlich und griff nach seinem Arm, konnte ihn jedoch nicht halten, da er eindeutig mehr Schwung hatte, als ich es aushalten konnte.
Stattdessen landete ich neben ihm auf der Zwischenetage der Treppe und verlor einen meiner Pumps, der vorbei an dem Mann gegen die Wand schlitterte.
Verdammt. Warum passierten immer mir solche Dinge?
Unsicher sah ich mich nach ihm um, aber er schien sich für mein Unglück so gar nicht zu interessieren.
Statt mir zu helfen kramte er fluchend nach den losen, überall auf der Treppe verstreuten Blättern, und machte keinerlei Anstalten mir zu helfen.
Wie unhöflich.
Ich war auf meinem Hintern gelandet, sah vermutlich gerade total bescheuert aus, und meine Versuche auf einem Schuh wieder auf die Beine zu kommen, sahen mit Sicherheit ebenso lächerlich aus, aber er schien nichts davon wahrzunehmen.
„Sie könnten sich wenigstens entschuldigen!“
Ich war stinksauer. Das hatte mir noch gefehlt!
Nach dem wenig rühmlichen Erlebnis mit dem Polizisten gab mir das hier nun den Rest, und auch die nicht vorhandene Hilfsbereitschaft regte mich auf der Stelle auf.
Warum nur waren die Menschen so? Warum halfen sie nicht, entschuldigten sich nicht, und kümmerten sich nur um sich selbst?
Meine Handtasche lag irgendwo in der Ecke, und ich hoffte inständig, mein Handy würde den unsanften Aufprall überlebt haben. Ein kaputtes Display wäre die Krönung meines Alptraums gewesen, und leisten konnte ich mir eine Reparatur auf keinen Fall.
Der junge Mann reagierte nicht, und ich fand ihn ausgesprochen merkwürdig.
Alles an ihm schien falsch, nichts schien zusammenzupassen, und irgendwie wirkte er, als sei auch er aus einem anderen Zeitalter in diesen Flur katapultiert worden.
Er trug ein beiges Hemd und eine schmale Krawatte, dazu ein dunkelbraunes Cord-Jackett. Wer trug heute noch Cord-Jacketts? Und vor allem so einen bescheuerten Schlips?
Anderseits passte er damit perfekt in dieses Gebäude, das musste ich mir eingestehen.
Ich rappelte mich auf und wischte den Dreck von meinen Händen, während der Mann mich noch immer völlig ignorierte.
Seine Haare waren lockig und irgendwie zu lang, und während er noch immer weiße Blätter aufeinanderstapelte, strich er sich eine Strähne hinters Ohr.
„Entschuldigen! Haben sie mich verstanden?!“
Ich konnte nicht fassen, wie jemand so einen derartigen Stock im Hintern haben konnte. Eine Entschuldigung war das Mindeste, aufhelfen wohl auch, und keinesfalls würde ich das hier so einfach hinnehmen.
Die Angestaute Wut über die letzte Stunde entlud sich in dieser Situation, und auch wenn ich dem Polizisten in dem Raum meine Meinung nicht wirklich gesagt hatte, würde ich diesen Fehler sicher kein zweites Mal machen.
Es war falsch, all diese Verhaltensweisen einfach hinzunehmen, man musste sich gegen diese Menschen einfach zur Wehr setzen, sonst würden sie ewig so weiter machen.
Ich strich meine Kleidung glatt und überlegte, ob mir irgendetwas weh tat. Keine größeren Schäden, stellte ich fest, und griff nach meinem Schuh, um ihn wieder anzuziehen.
„Einhundertneunundreißig... wo ist die Einhundertneunundreißig...?“
Er wühlte in den übriggebliebenen Blättern und irgendwie tat er mir leid. Warum auch hatte er die Blätter nicht, wie jeder halbwegs normale Mensch, in einem Ordner abgeheftet?
Ich sammelte ein paar der Blätter auf und suchte nach Seitenzahlen, konnte aber keine finden. Woher wollte er denn dann wissen, welches Blatt dem anderen folgte?
„Hier.“
Ich hielt ihm die wenigen Blätter in meiner Hand entgegen, und er griff panisch danach.
„Einhundertfünfundfünzig... Nein, das ist falsch...“
Seine Augen flogen über die Bögen und ich setzte mich auf die unterste Stufe der Treppe über mir. Das hier würde länger dauern, und mein Gewissen hielt mich davon ab, ihn mit all dem alleine zu lassen.
Der Mann war schlank und nicht sehr groß, größer als ich, aber nicht viel. Ein mehr als merkwürdiger Typ, aber eigentlich mochte ich solche Menschen. Mir waren Außenseiter und Randgruppen immer lieber gewesen, als die breite Masse, und er gehörte dort eindeutig nicht dazu. Ich hatte noch nie jemanden mit so kindlichen Zügen gesehen, es war schwer, sein Alter zu schätzen, aber schien eindeutig zu jung für seinen Aufzug und sein Verhalten. Seine Kleidung sah altbacken aus, aber sein Gesicht sah keinen Tag älter aus als Mitte zwanzig.
Er würde zu dem Mann in dem Zimmer passen, eindeutig, aber auf keinen Fall zu den jungen Polizisten auf dem Flur.
Ich griff ein weiteres Blatt und überflog was darauf stand. Offensichtlich war es eine Fallakte, in bestem Beamtendeutsch wurde eine Straftat beschrieben. Ein Mann hatte scheinbar seinem Nachbarn irgendetwas angetan.
„Woher weiß ich, welche Seite es ist?“
Ich hielt ihm das Blatt entgegen und er hob den Kopf.
„Sie dürfen das nicht lesen!“
Er griff nach dem Blatt und seine Augen rasten über die Seite.
„Ich hab es nicht gelesen! Nur überflogen!“
Der Typ war wirklich merkwürdig. Er war hier in diesem Gebäude eindeutig richtig.
„Einhunderneunundreißig ...“
Er schien zufrieden und legte die Seite auf den kleinen Haufen, den er vor sich auf einer der Stufen aufgestapelt hatte. Woher zum Teufel wusste er, um welche Seite es sich handelte?
„Mein Name ist Rita.“
Ich hoffte, der seltsame Mann würde aus seiner Trance erwachen, wenn ich ihn mit etwas völlig Normalem konfrontierte.
„Rita... Wie Rita Hayworth... US-amerikanische Schauspielerin und Tänzerin, 1918 bis 1987.“
Er sah kurz auf, stapelte aber weiter Blätter auf den Stapel.
Ja, das stimmte. Rita Hayworth war der Grund für meinen Namen. Meine Mutter verehrte sie, und sie hoffte, ich würde genauso schön und erfolgreich werden wie sie. Leider war ich nur halb so schön geworden, und von Erfolg konnte auch keine Rede sein. Ich hatte es lediglich bis zu einem langweiligen Bürojob geschafft, und statt den traumhaften Wellen von Rita Hayworth, hatte ich blonde Spaghetti auf dem Kopf. Immerhin hatte ich eine ganz gute Figur, Meilen von ihr entfernt, aber dennoch zufriedenstellend.
„Und wie ist ihr Name?“
Der junge Mann hob den Kopf nicht mehr, und seine Augen rasten weiter über die wenigen noch übrig gebliebenen Blätter.
„Glenn. Wie Glenn Ford, US-amerikanischer Schauspieler, 1916 geboren, hat mit Rita Hayworth in einigen Filmen gespielt, ihr größter Erfolg war wohl „Gilda“ im Jahre 1946.“
Was war das hier? Wer wird Millionär?
„Sind sie ein Computer oder was?“
Der Mann sah mich an und seine Augen weiteten sich. Hatte ich ihn verletzt? Fast wirkte es so, obwohl ich es selbst nicht als Vorwurf empfunden hatte, und sofort fühlte ich mich schlecht.
„Nein, bin ich nicht.“
Das alles war seltsam. So absurd und surreal, dass ich fast lachen musste. Die gesamte Situation war lächerlich und völlig irrsinnig, aber irgendwie auch sehr amüsant.
„Dann interessieren sie sich für Filme?“
„Nein, nicht wirklich.“
„Woher wissen sie denn dann all das?“
„Ich kann mir Dinge gut merken.“
Ich zog eine Augenbraue nach oben. Gut merken? Ich konnte mir nicht mal den Geburtstag meiner Freunde merken, geschweige denn die Geburtsjahre irgendwelcher längst toter Schauspieler.
„Sind sie ein Genie oder sowas?“
„Laut Duden ist ein Genie ein Mensch mit überragender schöpferischer Begabung und Geisteskraft. Das bin ich nicht. Ich erschaffe nichts.“
Er legte das letzte Blatt auf den Stapel und drückte den Haufen an seine Brust. Irgendwie war er süß, man hatte sofort das Gefühl ihn beschützen zu müssen.
Seine kindliche Art und sein verlorenes, leicht verwirrtes Auftreten, weckten meine Mutterinstinkte, und ich hatte ehrliches Mitleid. Das Gebäude und all das andere schienen ihn zu erdrücken, alles war zu groß und zu kalt für ihn.
Ich hatte das dringende Bedürfnis ihn in eine bunte Decke zu wickeln, und ihm einen Tee zu kochen, damit er weniger einsam sein würde. Einsam, das war meine erste Empfindung im Bezug auf ihn, obwohl ich ihn nicht kannte. Nie vorher hatte ich jemandem getroffen, bei dem ich sofort das Gefühl hatte, er würde einsam sein. So etwas spürte man sonst erst, wenn man jemanden besser kennenlernte, und Einblicke in sein Leben hatte. Nur bei ihm war es anders.
Alles an ihm sah nach Einsamkeit aus, selbst seine merkwürdige Kleidung schrie förmlich danach. Als würde es niemanden geben, für den er sich nett anziehen müsste, als würde es einfach niemanden interessieren. Auch die Art wie er sprach, transportiere Einsamkeit, als würde er wenig oder gar nicht mit Menschen sprechen, und als kostete ihn jeder Satz Überwindung. Was war das für ein Mensch?
„Und wieso wissen sie dann all diese Dinge?“
„Eidetisches Gedächtnis.“
Ah ja. Natürlich.
„Heißt?“
Er trat von einem Fuß auf den anderen, ihm war das ganze offenbar sehr unangenehm, und er sah mir noch immer nicht in die Augen.
„Ich merke mir alles, was ich sehe. Oder lese.“
Wahnsinn. Alles? Jede dumme Nachricht, jedes blöde Buch? Ich zog eine Augenbraue nach oben. Ich hatte gehört, dass es Menschen gab, die dazu in der Lage waren, aber begegnet war ich natürlich nie so jemandem.
„Wie? ALLES?“
„Was auch immer ich sehe oder lese, speichere ich ab, und ich kann es abrufen, wann immer ich es benötige.“
So etwas Absurdes hatte ich noch nie gehört. Sich alles zu merken, schien mir überflüssig und völlig unmöglich. Ich stellte mir das wirklich schrecklich vor. Nie vergessen zu können, war sicher grauenhaft. Man vergaß Dinge, damit sie einen nicht belasteten oder damit sie einen nicht mehr schmerzten. Wie musste ein Leben sein, in dem all diese Dinge immer zu jeder Zeit präsent waren? Vor allem die schmerzlichen oder auch völlig überflüssigen Dinge?
Ich dachte an die vielen Zahlen, mit denen ich es auf meiner Arbeitsstelle zu tun hatten, die hunderte von Telefonnummern die ich täglich wählte, all die Adressen, die ich abglich. Wenn ich mir all das merken würde, würde es mir irgendeinen Vorteil verschaffen? Vermutlich nicht. Absolut unnützes Wissen.
„Ich dachte, so etwas gibt es nur im Film.“
Er drückte weiter sein Bündel an sich und sah noch immer verletzt aus. Er wirkte nicht, als würde er das Gespräch mit mir genießen, und auch nicht, als würde er sich dabei wohl fühlen.
„Nein, der Prozentsatz ist gering, aber wir sind Realität.“
„Tut mir leid, ich wollte sie nicht verletzen.“
Ich schämte mich fürchterlich. Ich hatte den fremden Mann beleidigt ohne es zu wollen. Er sah mich noch immer nicht wirklich an, mehr an mir vorbei, aber seine Haltung zeigte mir, wie unangenehm ihm das alles war.
„Verletzten würde bedeuten, dass es mich berühren würde. Diese Eigenschaft ist mir nicht eigen.“
Der Mann war eindeutig wahnsinnig. Er musste verrückt sein. Was auch immer er mir da gerade weiß machte, konnte so einfach nicht stimmen. Verschaukelte er mich hier gerade? Auch wenn es nicht den Anschein machte, konnte ich diese Vermutung einfach nicht unterdrücken, und irgendwie ärgerte ich mich über ihn.
Warum verschaukelte er mich, wo er mich doch gar nicht kannte?
„Sie haben ein fotografisches Gedächtnis, aber sie fühlen nichts?“
Das war so maximal das Grauenhafteste, was ich mir vorstellen konnte. Außerdem glaubte ich ihm nicht, ich hatte gesehen, dass er verletzt war.
„Gefühle sind zweitrangig. Wissen und Fakten sind vordergründig.“
Er machte Anstalten zu gehen, aber ich saß ihm im Weg, und er war eindeutig nicht daran interessiert, zu nah an mir vorbei zu gehen. Anscheinend war Nähe auch ein Problem für ihn, und ich befürchtete, er würde im nächsten Moment den Rückzug nach unten antreten. Fluchtartig.
„Glenn? Das war doch ihr Name?“
Ich hielt ihm meine Hand entgegen und er griff etwas unsicher danach.
„Ja. Glenn Attwood.“
Ich hielt seine Hand fester, als ich es normal tat, und hoffte, das würde ihm Sicherheit geben.
„Dann sind sie Engländer?“
„Mein Vater ist Amerikaner, meine Mutter Schwedin.“
Ich ließ die Hand los und er umgriff sofort wieder das Bündel vor seiner Brust.
„Ich bin Rita, wie bereits erwähnt. Schön, sie kennenzulernen Glenn.“
„Die anderen warten auf mich. Ich muß gehen.“
Er sah noch immer eher panisch aus, und ich machte etwas Platz auf der Treppe, um ihn vorbei zu lassen. Er hatte eindeutig überhaupt kein Interesse daran mich kennen zu lernen. Vermutlich war mein IQ nicht hoch genug für seinen.
Er quetschte sich nah am Rand des Geländers an mir vorbei, und achtete penibel darauf mich dabei nicht zu berühren.
Dann war er weg. Ein mehr als merkwürdiger Mann, eine mehr als merkwürdige Begegnung.

Ich hatte die merkwürdige Begegnung schon fast wieder vergessen, als ich ihn wiedersah. Ich hatte noch ein paar Mal an ihn und das Erlebnis im Treppenhaus gedacht, aber im Trott meines langweiligen Alltags, hatte das nicht lange angehalten. Alles lief wieder seinen gewohnten Lauf, und ich vergaß ihn irgendwann einfach.
Das Erlebnis mit meinem kaputten Spiegel war gut ausgegangen, mein eigener Schaden war gering, und der des anderen Wagens ebenso. Der Besitzer hatte sich gemeldet und wir hatten das Ganze ohne Versicherung klären können.
Der ältere Herr war vor Freude praktisch außer sich gewesen, und hatte am Ende sogar angeboten, den Schaden selbst zu zahlen, um mich für meine Ehrlichkeit zu belohnen. Zugelassen hatte ich das natürlich nicht, aber es hatte mich auf jeden Fall dafür entschädigt, dass ich meine Tat so sehr bereut hatte.
Am Ende hatte ich richtig gehandelt, so mussten Dinge geklärt werden, und ich hatte mir geschworen, auf jeden Fall immer genau so mit Problemen umzugehen.
Tatsächlich hatte das neue Glas meines Spiegels gerade mal zehn Euro gekostet, und die Reparatur meines Gegners hatte bei dreißig Euro gelegen. Ich war zufrieden, alles war gut ausgegangen, und alle waren glücklich.
Trotzdem hatte ich meinen Freunden von meinem Erlebnis auf dem Präsidium erzählt, und wir alle waren der Meinung, dass es sich wirklich nicht lohnte, ein ehrlicher Bürger zu sein. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich wirklich besser versucht, die ganze Sache auf eigenen Faust zu regeln. Selbst mein Unfallgegner hatte mir ähnliches geraten, nachdem ich ihm von meiner Odyssee erzählt hatte.
Er hatte gelacht und sich bedankt, er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass irgendjemand die Schuld für den kaputten Spiegel auf sich nehmen würde. Der ältere Herr war nett gewesen und hatte mich auf einen Kaffee eingeladen, so viel Freundlichkeit hatte mich völlig überrascht, und ich war mit dem Verlauf meines kleinen Unfalls mehr als zufrieden.
Ich hatte nach dem Erlebnis mit dem Polizisten schon fast mit einem Rechtsstreit gerechnet, und zur Sicherheit bereits meine Versicherung informiert. Allerdings hatte auch die Dame dort erstmal abgewunken, und mir geraten mich erst dann wieder an sie zu wenden, wenn der Unfallgegner sich wirklich melden würde.
Irgendwie schien diese kleine Sachen außer mir niemanden wirklich zu interessieren, und anscheinend hatte außer mir auch niemand ein gesteigertes Interesse daran, die Sache sauber über die Bühne zu bringen. So weit war die Welt schon.

An dem Abend, an dem ich ihn wieder sah, hatte ich mit meinen Freunden beschlossen in die Stadt zu gehen, wir wollten feiern und eine Runde durch die Kneipen der Altstadt drehen.
Wir waren die übrig gebliebenen, eine Clique von vier Leuten, die sich seit der Schulzeit kannten. Lucy, Felix, Pia und ich waren schon ewig befreundet, und wann immer wir Zeit fanden, gingen wir zusammen aus. Unsere Leben hatten sich völlig unterschiedlich entwickelt, Lucy war Rechtsanwältin geworden, Pia Zahnarzthelferin. Trotzdem waren alle diese Dinge nicht wichtig, wenn wir zusammen waren. Keiner von uns neidete dem anderen den Erfolg, und keiner war der Meinung, etwas Besseres zu sein. Ich war glücklich, wann immer wir zusammen waren, und irgendwie waren die drei meine Familie in dieser großen Stadt.
Große Städte konnten sehr einsam machen, im Gegensatz zu der kleinen Stadt, aus der ich eigentlich kam, war die Wahrscheinlichkeit hier ein bekanntes Gesicht auf der Straße zu treffen, eher gering.
Man lernte auch nicht so leicht neue Leute kennen, jedenfalls nicht wenn man so war wie ich. Ich hielt mich zurück, war eher unauffällig, mir fiel es schwer, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.
Also hielt ich mich an die Leute, die ich ohnehin kannte, und eigentlich war ich auch ganz zufrieden damit. Ich hielt nichts davon, eine halbe Millionen Facebook-Freunde zu haben, mir reichten die wenigen realen die ich hatte, vollkommen aus.
Es war schon schwierig genug, mit eben diesen in einem regelmäßigen Kontakt zu bleiben, irgendwie war einem das Leben doch immer im Weg. Arbeiten, putzen, einkaufen, Dinge erledigen. Die wenige Zeit die danach noch blieb, reichte meiner Meinung nach nicht für hundert andere Leute.

Es war kurz vor Weihnachten und die Stadt brechend voll. Anscheinend waren alle möglichen Weihnachtsfeiern am Laufen, und wir hatten Mühe, eine Kneipe zu finden, in der überhaupt noch Platz war.
Wir waren eine Weile durch die Stadt getingelt, aber schlussendlich waren wir doch gelandet, wo wir immer landeten. Seit unserer Jugend war das „Fire“ unsere Stammkneipe, wir kannten hier jedes Loch in der Wand, jeden der Stühle beim Vornamen, und jeder von uns hatte sich auf der Toilette des Ladens bereits mehr als einmal übergeben. Es gab einfach diese Orte, an denen man sich zuhause fühlte, die einem zutiefst vertraut waren.
Orte, an die man immer zurückkehrte, an denen man sein konnte, wer man wirklich war. Für uns war es das „Fire“.
Weder die Einrichtung noch das Publikum hatten sich seit meiner Jugend verändert, und irgendwie machte mich das glücklich. Es war ein wenig wie ein übergroßes Wohnzimmer, und hier kannte ich zumindest einen Großteil der Gesichter.
„Schau mal ob noch Platz an der Theke ist!“
Ich brüllte Felix über die Geräuschkulisse hinweg ins Ohr. Er war größer als wir alle, ein gestandener Dachdecker, mit Arbeiterhänden groß wie Schaufeln.
Gutmütig und ausgeglichen war er der Ruhepol in unserer Runde, und er war es auch, auf den man sich in jeder Situation blind verlassen konnte.
Dass er der einzige Mann in unserer Runde war, machte ihm nichts aus, und er ertrug unsere Frauengespräche mit angeborener Gelassenheit.
Ich kannte niemanden, der so gelassen durchs Leben ging, und regelmäßig nahm ich mir vor, mir eine Scheibe davon abzuschneiden.
Gelassenheit war nicht meine Stärke, so viel stand fest, aber ich arbeitete stetig daran, und beneidete Felix.
Andere hielten ihn für einfältig oder gar dumm, ich jedoch wusste, dass er nur sehr viel mehr zwischen „wichtig“ und „weniger wichtig“ selektierte. Alles was er als „weniger wichtig“ einstufte, belastete ihn überhaupt nicht, und Dinge von denen er wusste, dass er sie nicht ändern konnte, klammerte er völlig aus. Beneidenswert.
„Ja, ich glaube, da ist noch bisschen Platz!“
Er zeigte auf einen kleinen Bereich, der wundersamer Weise noch frei war, und wir schoben uns durch die Menge der Feiernden. Ich roch Alkohol und hörte Leute lachen, eindeutig hatten die meisten hier schon mehr als genug gefeiert.
„Eine Runde Bier!“
Pia brüllte den Barkeeper an und zeigte auf uns, dieser nickte und machte sich sofort an die Arbeit.
Sofort breitete sich wohlige Zufriedenheit in mir aus, den das hier war wie nach Hause kommen. Dieser Laden, diese Menschen, alles war Heimat.
Ich sah, wie Pia sofort begann den Mann neben sich voll zu quatschen, obwohl sie diesen sicher nicht mal kannte. Auch das war sie, sie war einfach so, und lange Zeit in meinem Leben hatte ich sie für diese Eigenschaften beneidet.
Pia war lustig, etwas zu kräftig gebaut, aber mit einem süßen Gesicht. Sie hatte keine Probleme mit Männern, trotz ihrer Figur, und sie lernte schnell neue Leute kennen.
Im Gegensatz zu mir. Ich hielt mich meist im Hintergrund und wartete, ob mich jemand ansprach, was selten geschah.
Ich hatte mich damit abgefunden, es gab einfach Menschen, die besser mit anderen ins Gespräch kamen. Ich tat mich schwer damit, Gespräche wirklich am Leben zu erhalten, erst recht, wenn ich mein Gegenüber nicht kannte, und so hatte ich irgendwann damit aufgehört .
Die Wahrscheinlichkeit mich ansonsten zu blamieren, lag bei praktisch einhundert Prozent, und daher umging ich diese Situationen meist.

Ich nippte an meinem Bier und sah mich in der Menge um. Einige Leute hatten bescheuerte Weihnachtsmützen auf, und die meisten hatten glasige Augen vom Alkohol. Aus irgendwelchen Gründen verloren die Menschen bei diesen Weihnachtsfeiern regelmäßig auch das letzte bisschen Selbstachtung, und in Anbetracht der schon mehr als aufgeheizten Stimmung in dem Raum, ahnte ich schon, dass der eine oder andere heute Nacht vermutlich noch Dinge tun würde, die er am nächsten Morgen bitter bereuen würde. Das alles entsprach nicht unbedingt meiner Vorstellung eines perfekten Abends, aber ich war selig mit meinen Freunden zusammen zu sein, und mir keine Gedanken um morgen machen zu müssen.
Wir unterhielten uns eine Weile über unsere Jobs, als ich ihn in der Ecke des Raums sah. Er stand mit einem Glas in der Hand an der Wand, und passte so überhaupt nicht hierher.
Ich reckte den Kopf, um besser sehen zu können, und sah, dass er sich angeregt mit einem älteren Herren unterhielt. Es sah fast aus als lächelte er, und ich war kurz nicht sicher, ob er es wirklich war. Lächeln passte nicht zu ihm.
Aber er war es, und er wirkte viel lockerer als bei unserer letzten Begegnung. Immer noch nicht wie die anderen hier in diesem Raum, aber auch nicht mehr wie nicht von dieser Welt.
„Ist da jemand, den du kennst?“
Lucy reckte ebenfalls den Kopf und besser sehen zu können, und ich zeigte auf Glenn.
„Den Mann dort.“
„Den?!“
Sie sah mich erschrocken an, als läge diese Tatsache außerhalb ihrer Vorstellungskraft, was ich ihr nicht verübeln konnte.
Er trug, wie auch schon bei unserer letzten Begegnung, völlig unangepasste Kleidung, und ich musste selbst zugeben, dass es irgendwie lächerlich aussah. Alle in diesem Raum trugen lockere Alltagsbekleidung, nur er trug ein weißes Hemd und einen dunklen Pullunder, und sein Schlips hing irgendwie schief.
„Ja.“
Ich wusste nicht, wie ich ihr das Ganze erklären sollte, konnte nicht mal selbst sagen, was ich an ihm fand. Er war wirklich mehr als merkwürdig, und eigentlich war er auch weder mein Typ, noch der irgendeiner anderen Frau. Er hatte ein hübsches Gesicht, sehr jungenhaft aber irgendwie interessant, aber seine merkwürdige Kleidung, und auch die Art wie er sich bewegte, waren irgendwie abschreckend. Man erkannte auf den ersten Blick, dass er anders war, anders als all die anderen in dem Raum.
„Woher kennst du denn den Freak?“
Lucy grinste breit und sah mich mitleidig an. Sie glaubte offenbar, dass ich mich aus lauter Verzweiflung jetzt schon an dieser Art Männer vergriff.
„Ich hab ihn vor ein paar Wochen im Polizeipräsidium kennengelernt. Als das mit dem Spiegel war.“
Ich sah noch immer zu ihm hinüber, und fand ihn auf den zweiten Blick eigentlich gar nicht mehr so daneben. Er unterhielt sich offenbar gut, und soweit ich erkennen konnte, war auch er mit einer Gruppe Leute da. Vielleicht war es auch eine Weihnachtsfeier.
„Dann ist er Polizist?“ Lucy reckte erneut den Kopf.
„Nein, ich glaube nicht. Er hatte keine Uniform an.“
„Ist bestimmt so ein Schreibtisch-Typ.“
Sie hatte eindeutig kein Interesse daran, ihn näher kennen zu lernen, Männer mit Pullundern waren nicht ihr Ding. Jetzt schon klang sie gelangweilt, weil sie vermutlich ebenso wie alle anderen dachte, dass ein Typ wie dieser für gar nichts zu gebrauchen war.
Wer trug überhaupt noch Pullunder? Ich war eigentlich sicher gewesen, dass seit den späten siebzigern Pullunder eindeutig out waren, und konnte mir nicht mal vorstellen, wo er die Dinger her hatte. Auch seine Frisur war völlig absurd, falls man sie überhaupt als eine beschreiben konnte.
Die Haare waren eindeutig zu lang, und die Locken standen in alle Richtungen. Irgendwie tat er mir leid, irgendwie kam er mir vor, wie ich mir selbst vorkam. Er stand im Abseits, selbst in der Anwesenheit seiner Freunde, und ich fühlte mich ihm verbunden. Mir ging es oft genauso. Wir gingen aus, meine Freunde knüpften Kontakte, und ich stand daneben, als gehörte ich einfach nicht dazu.
„Ich geh mal kurz rüber.“
Ich musste einfach. Ich musste zu ihm und rausfinden, was so besonders an ihm war.
Es würde mir sonst keine Ruhe lassen, und ich schlängelte mich durch die Menge zu ihm hin.
Er sah sich nicht um, er schien immer noch vertieft in sein Gespräch mit dem älteren Mann. Ich sah auf das Glas in seiner Hand, vermutlich Whiskey, und hoffte, er hätte genug getrunken, um mich nicht sofort weg zu schicken.
„Hallo Glenn.“
Ich setzte mein breitestes Lächeln auf und er sah zu mir hin. In seinem Blick lag nicht unbedingt Erkennen, was mich sofort verunsicherte, aber ich sah auch keine Ablehnung. Der Mann neben ihm jedoch sah mich erst irritiert an, setzte aber dann ein ebenso breites Lächeln auf.
„Hallo.“
Glenns Stimme klang tonlos, und er machte nicht den Eindruck, als würde er sich über meine Anwesenheit freuen.
Das war eine Scheiß-Idee, motzte mein Unterbewusstsein. Er wollte dich schon beim letzten Mal nicht kennenlernen!
„Hallo!“
Der ältere Herr, ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig, hielt mir seine Hand entgegen, und ich griff unsicher danach. Wenigstens er schien erfreut über meine Bekanntschaft. Er hatte schwarze Haare, an den Seiten leicht angegraut, und ein mehr als freundliches Gesicht.
Sein freundlicher, offener Blick tat mir gut, und ich fühlte mich nicht mehr ganz so sehr wie ein Eindringling. Er war mir sofort sympathisch, ihn würde ich mögen, und er mich auch.
„Ich bin Rita.“
Ich sah den Mann an und seine Augen strahlten. Offenbar irrte ich mich nicht, er fand mich nett, und auch ich fühlte mich sofort mit ihm verbunden. Nur selten traf man solche Menschen, die einem sofort nahe waren, und ich bereute meinen Mut nicht mehr ganz so sehr.
Glenn jedoch sagte nichts, und sah mich auch nicht an.
„Dino. Schön sie kennenzulernen!“
Ich lächelte ihn weiter an, etwas anders blieb mir ja auch nicht, und hoffte, er würde die Dinge schon richten. Er sah aus wie jemand, der das auf jeden Fall konnte.
„Woher kennt ihr euch?“
Er sah Glenn an, der immer noch so aussah, als sei ihm das Ganze fürchterlich unangenehm, er war seit meiner Ankunft wieder in seiner eigenen kleinen Welt verschwunden.
„Flur, zweite Etage, 15.48 Uhr.“ Er sah zu Boden und ich musste grinsen.
„Wir haben uns im Präsidium kennengelernt. Auf dem Flur.“
Irgendwie fand ich meine Erklärung besser als seine, obwohl seine präziser war.
„Möchtest du der jungen Dame nicht etwas zu trinken besorgen, Glenn?“
Der ältere Mann machte eine Handbewegung zur Bar, und ich fand die Situation völlig daneben. Warum sprach er mit ihm, als sei er ein kleines Kind? Er machte allerdings nicht den Eindruck, als wäre irgendetwas daran merkwürdig.
Glenn machte sich unverzüglich auf den Weg, als hätte jemand einen Startknopf gedrückt, und drückte Dino seinen Drink in die Hand.
Zu keinem Zeitpunkt sah er mich dabei an, und ich war nicht sicher, ob er überhaupt wollte, dass ich hier war. War es ihm unangenehm, dass ich einfach so zu ihm gekommen war? Und wenn dem so war, warum sagte er es nicht einfach?
Abfuhren und Körbe hatte ich massenweise erlebt, und würde ganz sicher auch mit einem weiteren klar kommen.
„Was ist sein Problem?“
Ich hoffte, endlich eine Erklärung für all das zu bekommen. Irgendetwas mit dem ich arbeiten konnte.
„Er hat eigentlich keins. Er ist nur anders.“
„Ja, das hab ich gemerkt. Aber irgendwas stimmt doch nicht mit ihm.“
„Asperger-Syndrom. Es ist eine Form von Autismus. Er ist sehr klug, aber er kann nicht so gut mit Menschen.“
„Das hab ich gemerkt.“
Ich hatte keine Ahnung von Autismus, ich stellte mir darunter Menschen vor, die auf einer Stelle hockten und hin und her wippten.
Oder in monotonen Bewegungen ein und dieselbe Handlung bis in die Unendlichkeit ausführten.
Allerdings hatte ich auch keine Erfahrungswerte mit dieser Erkrankung, ich hatte nie jemanden getroffen, der Autist war. Eigentlich hätte ich wohl erschrocken sein sollen, war es aber nicht. Aus mir selbst nicht ganz klaren Gründen, fand ich diese Information weder erschreckend noch besonders beunruhigend.
Zu wissen, dass nicht ich der Grund für sein Verhalten war, tat irgendwie gut. Nicht ich war falsch, er war es auch nicht.
„Ich glaub, er mag sie.“
Es war mir ein Rätsel, wie er auf den schmalen Pfad kam, denn ich fand wirklich nicht, dass er diesen Eindruck machte.
„Wie kommen sie denn da drauf?“
„Er hat mir von ihnen erzählt. Er erzählt nie von anderen Menschen.“
Mir fiel die Kinnlade runter. Er hatte von mir erzählt? In meiner Erinnerung hatte er mich nicht mal richtig angesehen. Ich selbst hatte ja noch ein paar Mal an ihn gedacht, hatte es aber darauf geschoben, dass mein Leben so langweilig war, dass selbst eine so kurze Begegnung mich beschäftigen konnte.
Vielleicht ging es ihm ebenso. Vielleicht war auch sein Alltag so trostlos, dass er unsere Begegnung als besonders empfunden hatte. Ich jedenfalls hatte es so empfunden, auch wenn es nicht lange angehalten hatte.
„Wirklich?“
„Ja, von Ihrer Begegnung auf der Treppe. Außerdem ist es schlimmer bei ihnen. Er ist noch verschlossener als sonst. Das ist ein Zeichen dafür, dass er sie mag.“
Diese Logik erschloss sich mir nicht, aber er musste es ja wissen. Immerhin schien er Glenn weit besser zu kennen als ich, und in seiner Gegenwart hatte er sich, zumindest bis zu meinem Eintreffen, anders verhalten.
„Wenn sie das sagen ...“
„Es wird besser, wenn er sie besser kennt. Er kann nicht gut Emotionen einschätzen. Gefühle sind nicht berechenbar, und das ist ihm unheimlich. Aber er kann damit umgehen.“
Die Sache war weit schlimmer, als ich geahnt hatte. Irgendwie hatte ich die Hoffnung gehabt, dass er einfach nur schüchterner war als alle anderen Männer, die ich kannte, aber das hier war doch sehr viel komplizierter. Ich war doch selbst kompliziert genug, und auf einmal kam mir mein Überfall auf ihn nicht mehr wirklich wie eine gute Idee vor.
Ich eignete mich weder als Therapeutin noch als Krankenschwester, und schon gar nicht zur Betreuerin für jemanden, der so große Defizite hatte.
Die meiste Zeit in meinem Leben war ich froh, wenn ich selbst ohne größere Schäden über die Runden kam, und was auch immer der nette Mann mir da gerade erzählte, ich würde damit nicht klar kommen.
Glenn kam mit einem Glas in der Hand zurück, und ich sah einen Margarita.
„Rita Hayworth favorisierte Margarita.“
Er reichte mir das Glas und ich griff danach.
„Danke. Das ist sehr aufmerksam.“
Das fand ich wirklich, ich mochte Margarita. Auch wenn es sich vermutlich um einen Zufallstreffer handelte, war es doch sehr gut getroffen.
„Ich denke, ich lasse euch beide dann mal einen Moment alleine.“
Dino schlug ihm auf den Arm und machte sich davon, ich fühlte mich noch unwohler als ohnehin schon, und nahm erstmal einen tiefen Schluck.
„Wieso bist du her gekommen?“
Er sah mich interessiert an, was mich dann doch überraschte, denn er sah mir sonst nicht in die Augen. Zum ersten Mal schien er mich wahrzunehmen, nicht durch mich hindurch zu sehen, und es fühlte sich gut an.
„Ich hab dich gesehen und dachte...“ Ja, was hatte ich eigentlich gedacht?
„Kommunikation mit Frauen ist nicht meine Stärke.“
Es klang nicht wie eine Entschuldigung, eher wie eine Feststellung, und ich musste zugeben, dass er Recht hatte.
„Macht es dir angst?“
Ich vermutete, es machte ihm Angst, und das tat mir leid. Ich wollte ihn nicht verunsichern, seine Welt war sicher auch ohne mich schon erschreckend genug.
„Angst ist laut Duden der Zustand, sich vor etwas oder jemandem zu fürchten. Nein, ich habe keine Angst.“
Das war echt kompliziert. Er fühlte sich unwohl mit mir, so viel stand fest, und ich hatte ihn in eine Situation gebracht, aus der einfach nicht fliehen konnte.
„Verunsichert es dich?“
Also probieren wir es von der anderen Seite. Wenn Angst das falsche Wort war, dann vielleicht dieses?
„Synonym: Bringt mich aus dem Konzept. Ja, es verunsichert mich.“
„Warum?“
Er trank einen Schluck aus seinem Glas, vielleicht um Zeit zu gewinnen, und ich tat es ihm gleich.
„Fremde Menschen sind nicht kalkulierbar.“
Irgendwie hatte er ja recht. Fremde Menschen waren ein Risiko, das man eingehen konnte, oder nicht. Ich hatte mich schon vor Jahren gegen dieses Risiko entschieden.
Auch wenn seine Worte alles andere als angebracht waren, so war es auf jeden Fall die Wahrheit. Wenn er unsicher war, sprach nichts dagegen, es auch zuzugeben, auch wenn millionen anderer Menschen das nicht taten.
„Ich bin nicht mehr fremd. Ich bin Rita, du bist Glenn. Deine Mutter ist Schwedin und dein Vater ist Amerikaner. Du hast die Seite Einhundertneundundreißig gesucht.“
Sein Gesicht hellte sich auf, eindeutig war das der richtige Weg Zugang zu ihm zu gewinnen.
„Ja!“
Er sah aus, als hätte ich soeben alle seine Probleme gelöst, und ich war ein wenig stolz auf mich selbst. Wobei es sich auch hierbei eindeutig um einen Zufallstreffer handelte.
„Und du arbeitest bei der Polizei. Ich bin Verwaltungsfachangestellte. Bei der Stadt.“
„Du arbeitetest mit Daten?“
Diese Information schien ihn ernsthaft zu interessieren, denn sofort veränderte sich seine Haltung gänzlich. Noch vor Sekunden hatte es gewirkt, als würde er sich vor mir schützen müssen, und jetzt stand er vor mir, wie jeder andere es vermutlich auch getan hätte.
„Ja. Mit allen Daten, die eine Stadt betreffen. Und mit Zahlen.“
„Ich mag Zahlen!“
Er schien nun ernsthaft begeistert, und ich fragte mich, ob meine Definition von Zahlen der seinigen entsprach. Ich arbeitete mit Zahlen, ja, aber ich vermutete, er tat etwas völlig anderes damit.
„Ich stelle fest, wie viele Menschen hier leben und gemeldet sind, und wie viele Kinder geboren werden.“
„Auch wie viele Mülltonnen es hier gibt?“
Er sah mich noch immer komplett begeistert an, und ich nickte unsicher.
„Das könnte ich auch herausfinden.“
„Wirklich? Ich frage mich seit Jahren, wie viele Mülltonnen es hier gibt. Wir haben hier 1,024 Millionen Einwohner, in Anbetracht der Tatsache, dass einige davon Kinder sind, und in gemeinsamen Haushalten leben, oder in Mehrfamilienhäusern, bin ich auf eine Summe von 113777 Tonnen gekommen.“
Ich sah ihn an und fragte mich, ob Wahnsinn ansteckend sein könnte. Wer um Himmels Willen würde sich über so etwas Gedanken machen? Und hatte er alle Tonnen gemeint, oder nur die grauen? Wären es nicht mit den gelben und mit den braunen Tonnen viel mehr? Und was war mit den Altpapiertonnen? Ich schüttelte den Kopf, jetzt fing ich auch schon an, mir Gedanken über Mülltonnen zu machen.
„Ich schau für dich nach, wenn du möchtest.“
„Das wäre toll!“
Er lächelte, etwas unbeholfen und schief, aber ich freute mich. Er sah viel besser aus, wenn er lächelte. Irgendwie nicht mehr so fremd. Das Lächeln macht ihn sympathischer und normaler, und fast vergaß man, wie merkwürdig unser Gespräch verlief.
„Was machst du bei der Polizei?“
Ich hoffte, etwas mehr zu erfahren, um besser verstehen zu können, was für ein Mensch er war.
„Tatortanalyse. Das kann ich gut.“
Das klang wichtig, und ich dachte an all die vielen CSI Sendungen, die ich gesehen hatte. War er einer von diesen super schlauen Ermittlern?
„Und was macht man da?“
Er schien viel lockerer geworden zu sein in den letzten Minuten, und ich fand das Gespräch gar nicht mehr so unangenehm. Um ehrlich zu sein, konnte ich mich nicht wirklich daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Gespräch mit einem fast Fremden geführt hatte, das nicht schon nach unter einer Minute im Sande verlaufen war. Auch Glenn stand viel lockerer neben mir, und ich hatte durchaus den Eindruck, er fühlte sich wohler. Und er sprach auch fast in ganzen Sätzen mit mir, was es auch für mich irgendwie einfacher machte.
„Ich sehe mir Tatorte an und finde die Fehler. Oder ich merke mir die Dinge, die ich sehe, und schließe daraus, was passiert ist.“
„Das klingt sehr spannend.“
Irgendwie passte diese Beschreibung zu ihm. Wahrscheinlich war er sehr gut in dem was er tat, er war schließlich wirklich gut darin, sich Dinge zu merken.
Wie ein Typ wie er, der nun wirklich nicht der breiten Masse entsprach, in einem solchen Job gelandet war, verstand ich allerdings nicht. Gab es nicht für solche Jobs Vorgaben? Konnte jemand wie er, einfach so einen normalen Job machen?
„Es ist... auslastend. Mein Kopf ist beschäftigt.“
Vermutlich war das wichtig, Informationen aufsaugen, um sich selbst die Welt zu erklären. Wenn man sich so fremd in der Welt fühlte, waren Informationen vermutlich der einzige Zugang zu all dem, was draußen geschah.
„Und was machst du, wenn du nicht arbeitest?“
Er runzelte die Stirn und schien die Frage nicht zu verstehen.
„Wie? Wenn ich nicht arbeite?“
„Was machst du in deiner Freizeit? Hast du Hobbys?“
Er schien die Frage noch immer nicht ganz zu verstehen, und ich sah, wie sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Wusste er etwa nicht, wovon ich sprach?
„Ich lese Bücher?“
Es klang mehr wie eine Frage, und ich vermutete, dass seine Definition von Bücher lesen, auch grundlegend anders war, als meine. Ich hatte gesehen, wie seine Augen über die Seiten geflogen waren. Wenn er nicht wusste, was Freizeit für normale Menschen war, dann würde auch Bücher lesen vermutlich eher in Arbeit ausarten.
„Wie viele?“
„Viele.“
Er schien zu wissen, wie merkwürdig das alles auf andere Leute wirkte, und ich befürchtete, er würde wieder in seiner kleinen Welt verschwinden. In den wenigen Minuten mit ihm hatte ich zumindest eins schon gelernt: Wenn ich Fragen stellte, die ihm seine Andersartigkeit vor Augen führte, bemerkte er es. Auch wenn er es vielleicht selbst nicht so empfand, bemerkte er an meinem Verhalten, dass etwas an seiner Antwort mich irritierte.
„Schaust du nie Filme oder gehst ins Kino?“
Er legte den Kopf schief.
„Nein, da reg ich mich nur wegen der vielen Fehler auf. Filmemacher bedenken nicht, wie die Welt wirklich funktioniert.“
Ich musste lachen. Er hatte ja recht. Viele Hollywood Filme waren so weit hergeholt, das war einfach nicht realistisch. Für jemanden wie ihn war das sicher ein riesen Problem, mit sowas konnte er auf keinen Fall umgehen. Jemand wie er, dessen Weltanschauung so rational war, konnte mit dem meisten Filmen vermutlich nicht wirklich etwas anfangen. Wo andere Leute es als Fluchten empfanden, als Ausweg aus dem alltäglichen Trott und den Problemen, würde das für ihn nur unrealistisch wirken.
„Ist es nicht ganz schön einsam, so nur mit den Büchern?“
Ich hoffte, ihm damit nicht zu nah zu treten, und mir wurde klar, dass wir nun schon eine ganze Weile miteinander sprachen. Irgendwie gefiel es mir mit ihm, er war anders als alle anderen Menschen, die ich kannte, und trotzdem war es spannend. Im Grunde war er sympathisch, wenn auch auf eine ziemlich verquere Art.
Glenn war erfrischend, wenn auch auf eine ungewöhnliche Art, und eigentlich fand ich es angenehm, mir den ewig gleichen Smalltalk zu sparen.
„Manchmal. Aber Menschen mögen mich nicht. Nur das Team.“
Er zeigte auf eine kleine Gruppe an der Bar, die offenbar ordentlich zu feiern schien. Jede der Personen hatte ein Glas in der Hand, und alle sprachen und lachten wild durcheinander.
Eine kleine, etwas dickliche, sehr auffällige Frau, ein asiatisch aussehender Mann mit kurzen Haaren, und eine blonde Frau, die zu uns hinüber sah. Er winkte ihr zu, und sie winkte zurück, obwohl sie eher besorgt aussah. Sie sah in liebevoll, fast mitfühlend an, und ich war sicher, dass sie ihn sehr mochte. Machte sie sich sorgen, was ich hier mit ihm tat?
Auch Dino stand bei der Gruppe, alle schienen gut gelaunt, und ich vermutete, er hatte den anderen verboten, uns zu stören.
„Hast du keine Freunde außerhalb deiner Arbeit?“
„Nein, ich denke nicht.“
Ich hatte ernsthaft Schwierigkeiten, das zu verstehen, auch wenn ich selbst nicht viele Freunde hatte. Jeder hatte doch irgendwelche Menschen in seinem Umfeld, oder Nachbarn, mit denen er sich gut verstand.
Hatte jemand wie er es wirklich so schwer, dass selbst das nicht der Fall war?
Sofort brannte mein Herz, denn das schien wirklich alles andere als erstrebenswert, und er tat mir noch mehr leid. Nichts an ihm war wirklich falsch, auch wenn er seltsam war, und eigentlich war er doch ein netter Kerl.
„Doch. Jetzt hast du ja mich.“
Es war mir ein dringendes Bedürfnis ihm zu geben, was er nicht hatte, und war fest davon überzeugt, dass ich absolut geeignet dazu war.
Ich fand mich ziemlich mutig, so weit vorzupreschen, und eigentlich war es auch dreist, mich ihm so aufzuzwingen. Aber aus irgendeinem Grund fühlte ich mich ihm verbunden, und wollte für ihn da sein. Ich war nie irgendjemandem eine große Hilfe gewesen, es gab niemanden, um den ich mich kümmerte, niemanden der froh war, dass es mich in seinem Leben gab.
Meine Freunde brauchten mich nur selten, und vermutlich auch nicht so, wie er jemanden brauchen würde. Auch wenn ich zuerst geglaubt hatte, ich sei für ihn absolut nicht geeignet, so sah es doch jetzt anders aus. Offenbar vertraute er mir, was sich wirklich toll anfühlte, und irgendetwas musste mit mir richtig sein, dass er es tat.
Glenn brauchte in meinen Augen dringend jemanden, der für ihn da war, und anscheinend war ich ja tatsächlich dazu in der Lage, zu ihm durchzudringen. Er war ja auch zu mir durchgedrungen, hatte mich dazu gebracht, entgegen meiner eigentlichen Gewohnheiten, jemanden anzusprechen, den ich eigentlich nicht kannte. Vielleicht war ich diejenige, die für ihn eine gute Freundin sein konnte. Ich würde mit seiner merkwürdigen Art klar kommen, und vielleicht würde ich ihn dazu bringen normale Dinge zu erleben.
Er sah mich irritiert an, aber nicht sauer, was ich als gut wertete, und ich stieß mein fast leeres Glas gegen das seine.

„Möchtest du uns deine Begleitung nicht vorstellen?“
Die dickliche Frau kam zu uns herüber, und ich sah Tonnen von Schminke in einem ansonsten ganz hübschen Gesicht. Greller Liedschatten ging fast nahtlos in dunkelrotes Wangenrot über, und auf ihrem Kopf sah ich eine übergroße Schleife in perfekt frisierten Locken. Ein wenig erinnerte sie mich an eine Comicfigur, selten hatte ich jemanden gesehen, der so viel Farbe auf so wenig Fläche gebracht hatte. Die Frisur ähnelte einem Helm, kaum möglich auf so etwas zu schlafen, geschweige denn, damit durch den Tag zu kommen.
Jede einzelne Strähne der perfekten Locken schien wie festbetoniert, vermutlich hatten sämtliche Haarpflegemittel dieser Welt gleichzeitig ihren Dienst getan. Ich war beeindruckt von so viel Perfektion, ich selbst brachte es an guten Tagen nicht mal auf zwanzig Prozent davon, ganz zu schweigen von dem Desaster auf meinem eigenen Kopf.
Glenn sah unsicher aus, offensichtlich war er sich nicht einig, ob er das wirklich wollte.
„Ich bin Rita.“
Ich hielt der Frau meine Hand entgegen, und sie schüttelte diese überschwänglich. Etwas zu begeistert für meinen Geschmack, aber nun gut.
„Kirsten. Schön, dich kennen zu lernen.“
Die anderen aus der Gruppe stießen binnen Sekunden zu uns, und ich war hin und her gerissen. Entweder ihre Anwesenheit würde ihm Sicherheit geben oder ihn total überfordern, wobei mir die Anwesenheit all der fremden Menschen ganz und gar nicht zusagte. Vermutlich hatten alle darauf gewartet, wie wir auf Kirsten reagieren würden, und hatten sofort die Chance ergriffen sich dazu zu gesellen. Alle sagten ihre Namen, aber ich konnte sie mir kaum merken, lediglich den Namen des Asiaten konnte ich mir behalten: Alex.
„Ich wusste nicht, das du eine Freundin hast, Glenn.“
Der Asiate sah erst mich an und dann ihn, offensichtlich kam ihm das alles mehr als spanisch vor. Er schien misstrauisch, als sei irgendetwas an mir eine Gefahr, was nun wirklich nicht der Fall war. Warum??
„Sie ist nicht meine Freundin, also nicht sinngemäß, sie ist eine Person, mit der ich mich anfreunde. Also ich lerne sie gerade erst kennen.“
Glenn machte einen gestressten Eindruck, die Beschreibung unserer Situation schien ihn zu überfordern.
„Wir kennen uns noch nicht lange.“
Ich wollt ihm helfen, konnte aber selbst nicht genau beschreiben, in was für einer Phase unseres Kennenlernens wir uns gerade befanden.
Musste man das überhaupt? Konnte sich nicht einfach Menschen in einer Kneipe unterhalten, ohne ihren Status sofort festzulegen?
Die blonde, sehr schlanke Frau sah mich an und verschränkte die Arme vor dem Körper. Auch sie war sich offensichtlich nicht sicher, was sie von mir halten sollte. Und sie war eindeutig nicht der Meinung, dass ich der Richtige Umgang für Glenn war, das sagte mir ihre Körpersprache mehr als deutlich. In ihrem Gesicht sah ich Misstrauen und Alarmbereitschaft, sie würde auf keinen Fall zulassen, dass ihm etwas geschah.
Was war das hier? Eine Inquisition? Hatten all diese Menschen tatsächlich ein Recht darauf, zu entscheiden, für wen ihn Glenns Leben Platz war?
Oder wollten sie ihn einfach schützen?
Ich fühlte mich unwohl und beobachtet, etwas das ich auf keinen Fall ertragen konnte. Wann immer Menschen mich beobachteten, passierten mir peinliche und schreckliche Dinge, oder ich verletzte mich.
Alles in mir schrie nach Flucht, aber ich konnte doch unmöglich einfach so gehen?
„Sie kann mir sagen, wie viele Mülltonnen es in dieser Stadt gibt.“
Glenn war wohl der Meinung, das sei Grund genug mich zu mögen und mir Platz einzuräumen, und Dino trat neben mich. Ein wenig fühlte es sich an, als wolle er mich stärken, was erstaunlichweise funktionierte. Sofort fühlte ich mich weniger verloren, und beschloss sofort, dass ich nicht kampflos das Feld räumen würde.
„Das ist doch toll, Glenn. Dann hätten wir auch dieses Problem ein für alle Male aus der Welt geräumt.“
Sie Situation wurde schlagartig entspannter, und einige lächelten. Es schien, als sei diese Information tatsächlich so wichtig, dass sie meinen Platz zwischen diesen Menschen sichern konnte.
„Eins der großen Mysterien in dieser Stadt, wird sich endlich lösen.“
Die blonde Frau, mir fiel ein, dass sie Jane hieß, ließ die Arme sinken, und gab mir damit zu verstehen, dass ich wohl doch keine große Bedrohung mehr war.
„Sie ist nett. Und sie mag Zahlen.“
Noch immer war Glenn damit beschäftigt, ein mehr oder minder überzeugendes Statement für mich abzugeben, und ich mochte ihn dafür noch etwas mehr. Er war merkwürdig und irgendwie kauzig, aber trotzdem empfand ich Sympathie für ihn. Diese Welt war nicht seine, aber er hatte sich seinen Platz darin erkämpft, und er hatte Freunde gefunden, die ihn liebten. Etwas anderes konnte ich nicht sehen, diese Menschen hier liebten ihn, sie waren seine Burg, und ich dachte an meine Freunde am Ende des Raums, die vermutlich schon total betrunken waren.
„Vielleicht trefft ihr euch mal auf einen Mathematik-Abend.“
Alex schlug ihm auf die Schulter und ging zurück zur Bar. Er war anscheinend nicht mehr der Meinung, dass Glenn dringend einen Wachhund brauchte.
„Ich bin nicht gut in Mathe.“
Das war eine Lüge. Ich war eine Katastrophe in Mathe, eine absolute Niete. Ich brauchte selbst für einfachste Rechnungen einen Taschenrechner.
„Glenn hat einen Abschluss in Mathematik.“
Jane sah stolz auf ihren Schützling, und ich wollte im Boden versinken. Ich war dermaßen dumm ihm Vergleich zu ihm.
Auch wenn Alex das sicher eher als Witz gemeint hatte, führte es mich doch vor. Ich war nicht wie Glenn, ich war ein einfaches Mädchen, und nie und nimmer würde ich seinen Gedankengängen bis zum Ende folgen können.
„Aber du bist dafür normal.“
Glenn sah mich hoffnungsvoll an, „normal“ sein schien ihm anscheinend erstrebenswerter als ein Titel in Mathematik. Ich allerdings hatte arge Zweifel, ob ich das wirklich war. Langweilig, ja, aber normal? Was war schon normal, und woran machte man das fest? Wenn langweilig gleichbedeutend mit normal war, dann auf jeden Fall, langweilig war ich auf jeden Fall.
„Ja, ich glaub schon.“
„Vielleicht kannst du mir zeigen, wie das ist. Normal sein.“
Er blickte mich an und ich musste fast losprusten. Jane schüttelte den Kopf und zog Kirsten an Arm von uns weg.
„Lass die beiden. Er schafft das alleine.“
Kirsten war wohl anderer Meinung, machte sich dann aber doch widerwillig vom Acker.
„Ich glaub, so einfach ist das nicht, Glenn. Das kann man nicht lernen.“
Dino sah ihn liebevoll an, konnte aber anscheinend seinen dringenden Wunsch nach Normalität nachempfinden.
Vermutlich war das sein tiefster Wunsch, den auch ich verstehen konnte. Zu sein wie alle anderen dort draußen, schien der Schlüssel für ein freies Leben.
„Aber vielleicht kann ich es, wenn ich die Chance dazu habe.“
Er glaubte es. Er glaubte fest, dass ich der Schlüssel zu einem normalen Leben sein könnte. Wie lächerlich, wie sollte gerade ich jemandem wie ihm irgendetwas beibringen? Wo ich doch selbst kaum mit meinem Leben zurechtkam, und meilenweit von irgendetwas Bewundernswerten entfernt war...
„Also, ich bin nicht sicher, ob ich da wirklich die Richtige für bin...“
Das alles machte mir Angst. Eben noch war ich der Meinung gewesen, dass ich mit ihm klar kommen würde. Aber jetzt schien mir mein Vorhaben doch zu absurd. Was war schon normal? Und was sollte ich ihm zeigen, was er nicht schon längst wusste? Sein IQ war vermutlich doppelt so hoch wie meiner, und mein Leben war, im Gegensatz zu seinem, auch mehr als unspektakulär. Ich ging arbeiten, las Bücher, traf mich mit meinen Freunden, mehr nicht. Nichts spannendes, kein spannendes Hobby, keine besonderen Fähigkeiten.
„Aber du könntest es versuchen.“
Glenn sah mich an und ich war geschlagen. In seinen Augen sah ich so viel Flehen und Bitten, dass ich unmöglich ablehnen konnte.
„Was soll ich den tun?“
Ich hatte keine Ahnung, was ich Glenn zeigen sollte, geschweige den, was ich mit ihm anfangen sollte.
„Vielleicht trefft ihr euch mal auf eine Pizza, oder geht mal zusammen aus. Ohne andere Leute?“
Dino zog die Augenbrauen nach oben, als wollte er mir Mut machen. Er war offenbar der Meinung, die Idee sei tatsächlich gut.
Glenns Mine hellte sich auf, er war anscheinend begeistert, und glaubte ebenfalls, das sei eine gute Idee.
Ich weniger, denn ich vermutete, er würde mir dann alle Inhaltsstoffe der Pizza bis in ihre kleinsten Atome aufzählen, bis mir der Appetit verging.
Ich sah keinen Ausweg aus der Situation und war hin und her gerissen. Das Ganze konnte ebenso eine wirkliche Schnapsidee sein, wie der Stein der Weisen.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass Glenn etwas mit mir erlebte, dass er nie vorher erlebt hatte. Aber wie hoch war diese schon?
„Ja, das könnte ich tun.“
Ich gab mich geschlagen. Schließlich hatte ich all das selbst herauf beschworen. Ich hatte den merkwürdigen Jungen unbedingt kennenlernen wollen, und jetzt hatte ich den Salat.
„Glenn, geh deiner Freundin noch einen Cocktail holen, ja? Es ist unhöflich, eine Frau mit leerem Glas stehen zu lassen.“
Dino zeigte auf mein leeres Glas und ich reichte es Glenn. Dieser machte sich unverzüglich auf den Weg, und wieder fragte er nicht, was ich trinken wollen würde.
„Ich glaube, ich kann das nicht.“
Ich war sicher, dass ich auf keinen Fall für diesen Job geeignet war. Egal wie sehr sich Glenn das vielleicht wünschte, ich würde eine Enttäuschung sein.
So ich es immer war, weil ich einfach nichts Besonderes war.
„Er ist nicht immer so. Wenn er vertrauen gefasst hat, und wenn er sich sicher fühlt, ist er fast normal.“
„Aber er ist viel klüger als ich.“
„Das kann man so nicht sagen. Er ist sehr klug, was Daten und Fakten betrifft, aber was Emotionen und Gefühle betrifft, ein völlig unbeschriebenes Blatt. Er ist zweiunddreißig, und hat außer Studium und Schule nichts erlebt. Er war nie aus, außer mit uns, und er hat keine Freunde außer uns. Er hat zwei Doktortitel, aber er hat nie „Indiana Jones“ gesehen. Er hat jede Art von Gewalt oder Missbrauch in seinem Job gesehen, aber er selbst hat je weder Wut, Hass noch Liebe erlebt.“
Das alles passte zu dem, was ich bisher gesehen hatte, und war doch so unfassbar traurig. Es klang nach Isolation, nach Einsamkeit, und auch das hatte ich in ihm gesehen. Was war das für ein Leben, in dem absolut nichts stattfand, was normale Menschen erlebten? Fühlte man sich dann überhaupt wie ein Teil dieser Welt?
„Was ist mit seinen Eltern?“
Ich stellte es mir schrecklich vor, wenn das eigene Kind in einer so völlig isolierten Welt lebte, zu der man selbst keinen Zugang hatte.
„Die haben Geld. Viel Geld. Aber sie haben ihn schon sehr jung auf ein Internat gegeben. Niemand kam so wirklich mit ihm klar, und vermutlich war das auch gut so. Wenigstens konnte er Wissen aufsaugen. Aber alles andere ist ohne ihn passiert.“
Er tat mir leid. Noch mehr als ohnehin schon. Niemand hatte ihn je gewollt, wahrscheinlich hatte nie jemand ihn in den Arm genommen. Keiner hatte ihn getröstet, keiner hatte ihm eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt.
Wenn ich versuchen würde, ihm meine Welt zu zeigen, meine kleine, langweilige Welt, würde sie ihm gefallen?
Ich war nicht sicher, vielleicht wäre all das viel zu banal und einfach, aber ich würde es versuchen.
Mein Blick wanderte zu meinen Freunden, und ich sah, wie Lucy eine Augenbraue nach oben zog, als sie meinen Blick auffing. Sie entschuldigte sich offensichtlich bei den anderen und kam zu uns rüber.
„Dino, das ist ja ein Zufall!“
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und er umarmte sie. Ungewöhnlich überschwänglich.
„Lucy, wie schön dich hier zu sehen!“
Er schien aufrichtig erfreut, und ich war irritiert.
„Ihr kennt euch?“
„Ja, sehr gut sogar. Er hat mir im Studium geholfen, und wir hatten einige Fälle zusammen.“
Sie drückte sich weiter an seine Brust, und ich ahnte, dass sie ihm weit näher gestanden hatte, als sie es eben zugegeben hatte. Man spürte die Spannung zwischen den beiden, etwas das ich nie bei ihr erlebt hatte. Sie war nicht der Typ, dem man Gefühle leicht anmerkte, aber dieser Mann schien ihr wichtig.
Lucy war älter als wir anderen, sie war zwar mit uns auf der gleichen Schule gewesen, aber drei Klassen über uns. Irgendwann auf dem Weg zum erwachsen werden, war sie in unsere Clique gestoßen und geblieben.
„Sie ist eine sehr gute Anwältin.“
Dino sah sie an und ich sah auch in seinen Augen, dass er sie nicht nur dafür hielt. Er war attraktiv, keine Frage, aber trotzdem passte er so gar nicht in ihre Welt, und schon gar nicht zu den Männern, die ich sonst von ihr kannte.
Sie hatte nie lange Beziehungen gehabt, immer nur ihre Arbeit. Selten hatte ich mal eine ihrer Bekanntschaften getroffen, aber keine hatte es länger bei ihr ausgehalten. Aber dieser Mann schien ihr wichtig zu sein, wichtiger als die anderen, und ihm schien es ebenso zu gehen.
Ich wunderte mich, denn so weit ich mich erinnern konnte, hatte sie nie über ihn gesprochen. Ich hätte mich sicher an den Namen erinnert, aber egal wo ich in meinem Hirn danach grub, ich konnte keine Situation finden, in der sein Name oder irgendetwas über einen wesentlich ältern, gut aussehenden Mann gefallen war. Sie hatte es einfach verschwiegen. Warum nur?

Glenn kam zurück mit einem weiteren Glas Margarita, und ich war froh, nicht mehr das dritte Rad am Wagen sein zu müssen. Lucy und Dino schienen im Moment ihres Zusammentreffens wie zu einer Einheit verschmolzen, und ich war mir sofort überflüssig vorgekommen. Was für eine merkwürdige Situation.
Ich nahm Glenn das Glas ab und bedankte mich, was ihn von einem Ohr bis zum anderen grinsen ließ. Das war doch eine Art Emotion, oder? Warum sollte er sonst grinsen?
Er selbst hatte sich einen weiteren Whiskey mitgebracht, und ich fragte mich, was er daran fand. Ich selbst fand Whiskey ekelhaft, und wunderte mich, warum er überhaupt trank. Jemandem der sonst so kontrolliert war, sah das irgendwie nicht ähnlich.
„Das ist meine Freundin Lucy, das ist Glenn.“
Ich zeigte von einem zum anderen, und Glenn schien ihre Anwesenheit nicht zu stören.
„Lucy Brinkmann, Abschluss 2012, 54 gewonnene Fälle, 13 verlorene. Ein hervorragender Schnitt.“
Er sah sie direkt an, und ich konnte es nicht fassen. Er kannte sie.
Sie zog eine Augenbraue nach oben, geschmeichelt wie mir schien.
„Das hätte ich selbst nicht gewusst.“
Sie suhlte sich in seiner Bewunderung, und ich fragte mich, woher er so genau wusste, wie viele ihrer Fälle sie gewonnen hatte. Absurderweise hatte sich die Spannung völlig verändert, Glenn schien weder verunsichert noch aufgeregt, während ich mich absolut unwohl fühlte. All das war merkwürdig, irgendwie schräg, und ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, in welchen Film ich gerade gelandet war. Kannte hier jeder jeden, oder war ich so weltfremd geworden, dass ich einfach nicht mehr Teil von all dem war?
„Glenn interessiert sich für sowas. Er verfolgt alle Rechtsanwälte in der Stadt.“
Dino versuchte eindeutig, das Ganze weit weniger spektakulär aussehen zu lassen, als es eigentlich war.
„Schön sie kennen zu lernen, Glenn.“
Sie reichte ihm die Hand und machte einen dämlichen Knicks, obwohl das so gar nicht zu ihr passte.
Sie fand ihn eindeutig nicht mehr so daneben wie noch vor einer Stunde, und er reichte ihr locker die Hand.
Anscheinend war er wirklich sehr viel entspannter, wenn er sich in seiner Welt befand, und Lucy gehörte eindeutig dazu. Vielleicht hatte Dino doch recht, er würde anders sein, wenn er auch mich besser kannte. Vielleicht musste er wirklich nur Vertrauen fassen, und vielleicht war er doch nicht mehr als ein sehr schüchterner Mann.
Ich verurteilte mich selbst für meine Vorurteile. Jemand der einen guten Job hatte, studiert war, und offenbar mehr als klug, war nicht wirklich behindert. Irgendwie hatte ich ihn in meinem Kopf als behindert eingestuft, aber das passte irgendwie nicht zu dem, was ich sah. Eigentlich hasste ich Vorurteile, Menschen die sich davon leiten ließen, verabscheute ich. Aber eigentlich war ich nicht viel besser. Ich hatte mir eine Meinung gebildet, ohne ihn zu kennen, nur aufgrund der wenigen Dinge, die ich erfahren hatte.
„Schön sie kennen zu lernen. Ich habe sie bewundert für den Heymann-Fall. Ein sehr spannender Zivilprozess, der interessanteste seit Jahren. Sie haben das wirklich gut gelöst, sehr beeindruckend.“
Ich fasste es nicht. War das noch der gleiche Mann? Er wirkte selbstsicher, fast charmant, und ich spürte, dass Lucy das ebenso empfand. Sie strahlte ihn an, und ich sah, wie sehr sie sich freute.
„Mir sind einfach die richtigen Karten in die Hand gefallen.“
„Nein, sicher nicht. Das war hervorragende Arbeit.“
Glenn hatte sie. Sie war Wachs in seinen Händen, und ich stand dümmlich daneben. Wieso war er so völlig anders? Gab ihm sein Job so viel Sicherheit?
Ich sah zu Dino, der noch immer seine Hand auf Lucys Hüfte gelegt hatte, was sie nicht zu stören schien. Er sah mich an und zog eine Augenbraue nach oben, als wollte er mich ermuntern. Er ist doch eigentlich ganz normal, übersetzte mein Unterbewusstsein, und ich war etwas eifersüchtig.
Lucy hatte eindeutig beschlossen, ihn zu mögen, zumindest für den Augenblick, und sie schien nicht mal zu ahnen, wie merkwürdig er eigentlich war. Sie war einfach glücklich, einen Fan zu haben, und eindeutig auch glücklich über die Hand an ihrer Hüfte.
Vielleicht würde der Abend doch noch ganz amüsant werden, und vielleicht würde es doch gar nicht so schwer werden, Glenn in ein normaleres Leben zu transportieren. Eigentlich waren wir doch schon mittendrin, ein paar Freunde, Drinks und eine Kneipe. Normaler konnte ein Leben kaum sein.

„Triffst du dich nochmal mit Glenn?“
Lucy rührte in ihrer Kaffeetasse und ich zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, wir schreiben uns SMS, aber wir haben noch nichts ausgemacht.“
Das war eine Lüge. Er schrieb mir hunderte von Nachrichten, und ich musste fast immer darüber lachen. Kurznachrichten passten nicht in seine Welt, und irgendwie schien er jedes Mal nach dem versenden, seine Worte sofort in Frage zu stellen.
Er hatte mir geschrieben, dass er den Abend schön fand, und dass er froh war mich kennengelernt zu haben. Sekunden später hatte er eine weitere Nachricht geschickt, in der er erklärte, dass er nicht aufdringlich sein wollte, und dass er mich zwar mögen würde, aber mich nicht stalken wollen würde. Und dass er Lucy auch mochte, und nicht nur mich. Und dass er mich beim nächsten Mal auch fragen würde, was ich trinken wollen würde.
Ich musste jedes mal lachen, und wenn er mir ein paar Stunden nicht schrieb, fehlten mir seine wirren Nachrichten. Man gewöhnte sich einfach schnell daran, dass jemand an einen dachte.
Ich hatte längst vergessen, wie sich das anfühlte, und konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte mal so viel Zeit an meinem Handy verbracht hatte.
Ich sah an die hundert Mal am Tag auf das Display, und wann immer das kleine Licht in der oberen Ecke blinkte, so macht mein Herz einen winzigen Sprung.
Es fühlte sich eindeutig gut an jemandem wichtig zu sein. Es schmeichelte mir natürlich, ich war ja auch nur eine Frau, und selbst wenn er noch so merkwürdig war: Er interessierte sich für mich.
Ich empfand es fast als Ritterschlag, schließlich war ich nicht mal halb so klug wie er, ich konnte mir selbst nicht erklären, wie ich es geschafft hatte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Aber es fühlte sich eindeutig gut an, warum auch immer.
„Also ich finde ja, er sieht furchtbar aus, aber er scheint nett zu sein. Vielleicht kannst du ihm ja ein paar andere Klamotten anziehen.“
Sie pustete in ihren Kaffee und nahm einen Schluck.
„Wieso? Wenn er seine Sachen doch mag?“
Ich fand selbst, dass er merkwürdig aussah, aber ich hatte mich auch schon fast daran gewöhnt, und hielt ein Make-over nicht für die beste Idee. Es würde ihn nur verunsichern. Ich selbst mochte auch nicht, wenn Menschen versuchten, mich zu ändern, und ich ging davon aus, er würde das ebenso wenig wollen. Ich mochte meine einfachen Klamotten, und ich sah keine Begründung dazu, daran etwas zu ändern. Warum sollte ich also ihn ändern?
Kleidung war in meinem Leben einfach nicht wichtig. Als ich jünger gewesen war, ja, da hatten Marken und Designer eine Rolle gespielt. Auch ob etwas „In“ oder „Out“ war. Allerdings hatte meine Familie nie genug Geld gehabt, um mir derartiges zu ermöglichen, und irgendwann hatte es einfach seinen Stellenwert verloren. Ich kam auch so ganz gut klar, ohne diese Dinge, und ich wollte Menschen einfach nicht auf den Preis ihrer Jeans reduzieren.
Sicher war Glenn noch etwas anderes, sein Stil war völlig anders als alles, was ich je gesehen hatte, aber schlussendlich kam es doch auch darauf gar nicht an. Wichtig war doch nur das Gefühl, das er mir vermittelte.
Ich hatte mich immer von Männern angezogen gefühlt, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprachen, ich fand Narben oder kleine Unzulänglichkeiten anziehender, als perfekte Glattheit und Perfektion. Bei Glenn war es die Kleidung, eindeutig, denn sein Gesicht war fast zu perfekt, um wahr zu sein. Wenn man ihm eine andere Frisur und andere Kleidung verpassen würde, dann würden Frauen ihn sicher völlig anders wahrnehmen. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem er sich bewegte oder sprach, dann würde jeder merken wie anders er war.
Ich jedenfalls fand sein schrulliges Auftreten irgendwie ansprechend, er gab nichts auf Marken oder die Meinung anderer, er zog sein Ding durch. Solche Leute fand ich einfach pauschal schon mal gut, ich hatte auf jeden Fall etwas übrig für Menschen, die nicht mit dem Strom schwammen.
Außerdem stand eins für mich fest: Auch wenn alle seine Kleidung unmöglich fanden, das konnte sich ebenso ändern wie das Wetter. Wenn in den nächsten Monaten irgendein Youtuber oder irgendein Designer Pullunder und Cordhosen zum neuen Trend ausrufen würde, dann wäre Glenn binnen weniger Tage nicht nur schrecklich „In“, sondern vermutlich auch auf dem Cover der nächsten Cosmopolitan. Alles eine Frage der Sicht.
„Ich glaube, mit einem anderen Haarschnitt und anderen Sachen, würde er richtig gut aussehen.“
Vermutlich hatte Lucy in ihrem Kopf schon einen komplett anderen Glenn aus ihm gemacht, aber ich war strickt dagegen.
„Also ich mag ihn so, wie er ist. Außerdem ist er krank.“
Ich war nicht sicher, ob das die richtige Bezeichnung war. War er krank? Oder einfach nur anders? War das tatsächlich überhaupt eine Krankheit oder Behinderung? Ich musste dringend Google bemühen, um zu erfahren, mit was genau ich es zu tun haben würde. So richtig konnte ich das alles nicht einordnen, wie auch? Mir war nie jemand mit Autismus begegnet, und so hatte ich mich auch nicht wirklich damit auseinandergesetzt.
„Krank? Wieso? Der sah doch ganz gesund aus.“
„Krank ist vielleicht nicht die richtige Bezeichnung. Er ist ein Genie, glaub ich, und er hat eine Form von Autismus.“
Lucy ließ die Kaffeetasse sinken.
Es war mir etwas unangenehm, weil ich sicher war, die Beschreibung würde mehr verunsichern als beruhigen. Lucy neigte dazu, die Flöhe husten zu hören, und sich übermäßige Sorgen, um alles und jeden zu machen. Jemand wie Glenn würde alle roten Alarmleuchten auf einmal blinken lassen, soviel stand fest.
„Er ist der Junge aus dem Internat.“
Ihr schien ein Kronleuchter aufzugehen und ich sah sie fragend an. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Reaktion.
„Ich erinnere mich an ihn. Dino hat mir von ihm erzählt. Er hat die damals dort rausgeholt, er hat gesagt, er wäre ein Genie.“
„Was hat er dir erzählt?“
Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und hoffte, ich müsste ihr nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.
„Er hat gesagt, er hat einen jungen Mann gefunden, der 20.000 Wort pro Minute lesen kann, und sich alles merken kann, was er liest. Und das er ihn für seine Einheit habe möchte.“
Ja, das war er. Niemand anderes konnte so schnell lesen. Die kleinen Haare auf meinem Arm stellen sich auf und mein Gehirn rotierte auf Hochtouren.
„Und weiter?“
Diese neuen Informationen waren spanned. Was auch immer Lucy wusste, ich musste es unbedingt wissen. Alles.
„Es war nicht klar, ob er ihn einstellen durfte, er galt als Risiko. Unberechenbar klug und völlig weltfremd. Ich weiß noch genau, dass Dino sich wochenlang mit nichts anderem beschäftigt hat. Er hat gesagt, er kann nicht mit Menschen umgehen, und deshalb wollten sie ihn nicht für die Prüfung zulassen.“
Dino hatte es geschafft, er hatte ihn eingestellt und scheinbar das Risiko als überschaubar eingestuft. Was für eine kuriose Geschichte, schoss mir durch den Kopf, und ich bin jetzt Teil davon.
„Ja, das ist er. Fremde Menschen überfordern ihn. Bei dir war das anders, er hatte vorher Informationen über dich. Das war einfacher für ihn.“
Kaum hatte ich das ausgesprochen, wurde mir klar, dass ich soeben den Schlüssel zu allem gefunden hatte. Informationen über sein Umfeld waren das wichtigste für ihn, damit kam er klar. Also würde ich ihn einfach nur über Informationen über mich füttern müssen, und auch ich wäre nicht mehr fremd für ihn. Im Grunde hatte ich das schon erkannt, aber das volle Ausmaß wurde mir erst noch bewusst. Es ging darum, Dinge VORHER zu wissen. Was auch immer er schon mal gehört hatte, überforderte ihn weit weniger. Neue Dinge waren ein Problem, nicht die Dinge, die er bereits wusste.
„Dino hält große Stücke auf ihn. Er muß wirklich gut sein.“
Sie sah aus dem Fenster und ich fragte mich, wie groß Dinos Rolle wirklich in ihrem Leben war. Trotzdem fragte ich sie nicht danach, sie würde irgendwann selbst mit der Sprache rausrücken. Sie hatte mir nie vorher von ihm erzählt, und sie hatte sicher ihre Gründe dafür, also sollte sie selbst entscheiden, wann sie darüber sprechen wollen würde. Ich wollte nicht jemand sein, der andere aushorchte, ich selbst fand das furchtbar, und Lucy würde ohnehin nicht mit der Sprache herausrücken. Wenn sie über etwas nicht sprechen wollte, tat sie es nicht, so gut kannte ich sie, und früher oder später würde ich die Wahrheit ohnehin erfahren. Irgendjemand würde darüber sprechen, jetzt wo Dino so nah an unser beider Leben gerückt war.
Lucy sah traurig aus, irgendwie versunken, und ich fragte mich, wie viel ich eigentlich über meine Freundin wusste. Sie hatte mir nie von Dino erzählt, aber ich selbst hatte auch nicht wahrgenommen, was damals passiert war. Sie war immer mal wieder betrübt gewesen, in all den Jahren in denen wir uns kannten, aber ich hatte eigentlich immer gedacht, dass ihr Job und die schlimmen Dinge mit denen sie sich beschäftigte, der Grund dafür waren. Darauf, dass die Gründe dafür ihn ihrem Privatleben lagen, wäre ich nie gekommen. Sie hatte Männerbekanntschaften gehabt, aber ich hatte nie den Eindruck, dass diese in irgendeiner Weise belastend für sie waren. Der Job ging ihr über alles, und ich hatte nie auch nur einen Funken Liebeskummer wahrgenommen.
Jetzt sah ich die Dinge anders, und es tat mir leid. Sie hatte ganz eindeutig irgendwann wegen ihm eine sehr schlimme Zeit durchgemacht, und ich hatte es nicht gesehen. Lucy hatte die Dinge offenbar mit sich selbst ausgemacht, und war anscheinend zumindest halbwegs darüber hinweg.
Die beiden hatten sich gefreut sich zu treffen, und ich hatte tiefe Zuneigung gespürt. Allerdings sah sie jetzt nicht mehr so ganz glücklich aus, und ich fragte mich, welche kleine Kiste die Begegnung mit Dino in ihr geöffnet hatte.
Man kannte das doch, man dachte, man ist darüber weg, man kommt damit klar, und dann ist es doch nicht so. Jeder hatte Derartiges schon mal erlebt. Die Dinge sind in Ordnung, so lange sie sind, wie sie sind, aber wenn man die Kiste öffnete, waren all die kleinen, oft schmerzlichen, Erinnerungen wieder da. Und man konnte einfach nicht damit umgehen. Ich selbst machte einen großen Bogen um derartige Begegnungen, ich wollte nicht zurück in Zeiten katapultiert werden, die ich lange hinter mir gelassen hatte. Nur leider war das nicht immer möglich.
„Es tut mir echt leid, ich muß wirklich los. Ich muß noch dringend was erledigen.“
Ich hatte meinen Kaffee nur zu Hälfte geleert, aber ich musste dringend meine gerade eben gewonnene Logik auf die Probe stellen. Auch wenn Lucy mir leidtat, sie würde mir ohnehin nicht erzählen, was sie belastete. Alles in mir wollte das neu gewonnene Wissen auf die Probe stellen, und jede verschenkte Sekunde war mir dabei im Weg
„Aber du hast doch gar nicht ausgetrunken!“
„Sorry, wirklich. Ich ruf dich an!“
Ich legte einen fünf Euro Schein auf den Tisch und packte meine Handtasche. Ich musste dringend nach Hause, um Informationen zu sammeln und zu verteilen.

Zwei Stunden später rauchte mein Kopf. Wikipedia hatte mir eine völlig neue, vollkommen verwirrende Sicht auf die Dinge vermittelt. Ich hatte herausgefunden, dass Asberger-Autismus eine mildere Form von Autismus war, und dass diese Menschen oft inselbegabt waren. Bei Glenn war das sicher nicht der Fall, jedenfalls nicht nach dem, was ich erlebt hatte. Er war nicht inselbegabt, er war allgemein ein Genie. Es ging nicht um Mathe oder Geschichte, er war überall überproportional begabt. Auch dies schien gar nicht mal so selten, ich fand hunderte Geschichten über Menschen wie Glenn, Menschen die weit ab von jeglicher Normalität, ihr Wissen zur Perfektion brachten.
In den Foren, die ich durchstöberte, fand ich Berichte von Eltern, die panisch nach Hilfe für ihre Kinder suchten, Erwachsene die sich selbst kaum verstanden, Partner die versuchten ihre Liebsten zu verstehen. Anscheinend gab es eine Millionen Auswüchse dieser Störung, mehr oder minder schlimm, und bei hunderten der Berichte gab es nicht mal eine offizielle Diagnose. Oft wurde Autismus erst sehr spät diagnostiziert, manchmal erst im Erwachsenenalter, und all diese Menschen suchten nach einer Antwort auf die Frage, ob sie krank oder behindert waren.
Ich hatte viel gelesen über die Tatsache, dass Menschen wie er Emotionen nicht deuten und auch schlecht übersenden konnten. Sie konnten Gefühlsregungen nicht deuten, und selbst auch keine vermitteln. Allerdings traf das auf Glenn nur in Teilen zu, er war durchaus dazu in der Lage Freude zu zeigen, und ich vermutete, dass er wirklich nur eine sehr leichte Form dieser Erkrankung hatte.
Trotzdem hatte ich bei vielen der Beschreibungen an ihn denken müssen. Starre Abläufe und Gleichheit gaben ihm Sicherheit, nur Dinge, die er einschätzen konnte, waren für ihn eindeutig.

Nach der zehnten Seite, die ich durchforstete hatte, war ich endgültig verunsichert. Ging es hier um Menschlichkeit? Hatte jemand wie er nicht die Fähigkeit, seine Menschlichkeit auszuleben?
Unter Menschlichkeit verstand ich die Fähigkeit Mitleid, Angst, Verunsicherung oder eben Liebe zu empfinden, und all das waren Dinge, die offenbar ein Problem für Autisten darstellten.
War er nicht dazu in der Lage, Mitgefühl mit seinen Mitmenschen oder Tieren zu empfinden? Oder kannte er überhaupt die absurde Angst, im Dunkeln durch eine unbeleuchtete Straße zu gehen? Hatte er als Kind Angst vor den Monstern unter seinem Bett empfunden, oder hatte er um die Prinzessin in den Märchen gebangt, ebenso wie ich es getan hatte?
All das schien mir unvorstellbar, es gab in meiner Vorstellungen niemanden, der dazu nicht in der Lage war.
Allerdings würde das ebenso bedeuten, dass ich ihm nicht so wichtig sein konnte, wie ich mir selbst glauben machen wollte. Und das all die vielen Dinge zwischen uns nicht wirklich existierten. Oder noch viel schlimmer: Dass er sie gesteuert hatte, aus einem bestimmten Grund, den ich eindeutig nicht kannte.
Steuerte er mich, weil er sich von mir etwas erhoffte? Oder war ich für ihn nur ein Übungsobjekt, was jederzeit durch ein anderes ersetzt werden konnte?
Glauben wollte ich das einfach nicht. So war er nicht.
Wenn er keine Menschlichkeit hatte, dann würde er nicht wissen, was richtig oder falsch ist, denn das forderte all diese Empfindungen.
Da ich ihn jedoch nie so erlebt hatte, nicht mal im Ansatz, war ich ebenso sicher, dass das alles für ihn nicht galt. Was auch immer mit ihm los war, diese Form von Autismus war nicht seine.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand wie Glenn so berechnend sein sollte, und wollte es daher nicht glauben. Auch wenn er Empfindungen nicht auf die gleiche Art wie ich empfand, so fühlte es sich nicht an, als würde er mich als Testobjekt benutzen.
Viele der Beschreibungen erinnerten mich an Horrorgeschichen, Menschen ohne jede ernsthafte Gefühlsregung und Mitgefühl für nicht und niemanden wurde beschrieben, und das machte mir Angst.
Allerdings fand ich auch Berichte, in denen Menschen beschrieben wurden, die zwar merkwürdig, aber nicht gefährlich waren. Im Bericht eines Mannes fand ich eine recht genaue Beschreibung einer Beziehung zu einer Frau. Er hatte Grenzen gezogen, sie hatte Grenzen gezogen, und am Ende hatten sie eine recht stabile Verbindung aufgebaut.
Er schrieb reduziert, er war sich seiner Andersartigkeit sehr bewusst, aber er schrieb auch immer wieder, wie wichtig es ihm war, dass es ihr gut ging. Und das er das nicht bei anderen Menschen so empfand. Auch er hatte einen Job, war nicht übermäßig intelligent, aber immerhin hatte er es in eine gute Stelle geschafft. Die Entscheidung nicht mehr alleine zu bleiben, hatte er ganz bewusst getroffen, wer allerdings die Person sein sollte, die diese Lücke dann füllte, das hatte er nicht einfach nur entschieden. Er war über sie gestolpert, hatte beschlossen, sie sei es wert es zu versuchen, und hatte die Teile an die richtigen Stellen geschoben.
Irgendwie fand ich das sehr rührend, und ich fand die Vorstellung, dass gerade ich für Glenn diese Person sein könnte, sehr romantisch. Ich könnte diejenige sein, die seine Menschlichkeit hervorbrachte.
Alles in allem machte mir das alles jetzt weit weniger Angst. Viele dieser Menschen lebten relativ normale Leben, hatten normale Jobs, in denen sie gut waren, und fielen in der Masse kaum auf.

Trotzdem war ich sicher, dass es einfacher sein würde, wenn ich ihm mit dem füttern würde mit dem er umgehen konnte: Informationen.
Ich schrieb ihm eine Nachricht, und hoffte, er würde mir antworten. Ich hatte mir genau überlegt, was ich tun musste, um ihm die notwendige Sicherheit geben zu können.

Ich brauche deine Email-Adresse.

Die Antwort kam nur Sekunden später. Keine Worte, lediglich die Adresse, keine Frage nach dem „Warum“. Auch das sah ihm ähnlich. Eine präzise Anweisung erforderte nichts, als die dazu gehörige Antwort. Er würde sich vermutlich nicht mal fragen, wozu ich die Adresse brauchte.
Ich öffnete das Email-Feld und fügte seine Adresse ein, bestehend aus seinem Vor-und seinem Nachnamen mit einem Punkt dazwischen. Kein Phantasiename, kein Spitzname, nichts dergleichen. Auch das passte zu ihm, er war einfach so, und während die Leute dort draußen sich absurde Decknamen gaben, tat er es nicht.

Mein Name ist Rita Elisa Reiter, ich wurde geboren am 03.10.1984 in Köln-Ehrenfeld (Einwohnerzahl 103.621). Es war ein Mittwoch in einem Schaltjahr. Meine Mutter heißt Helene, sie ist Köchin, und war bei meiner Geburt einunddreißig Jahre alt. Mein Vater, Gerhard, war fünfunddreißig, er war Metallarbeiter. Er starb am 04.02.2010 an Lungenkrebs. Meine Mutter lebt mit zwei Katzen namens Ginger und Roger noch immer in unserem Haus in Ehrenfeld. Ich ging in Ehrenfeld zur Grundschule, und lernte dort meine Freundin Pia kennen. Wir sind bis heute befreundet und sie ist Zahnarzthelferin. Sie ist blond und etwas kräftig, aber sehr lustig, und eine ganz tolle Freundin. Später gingen wir auf die weiterführende Schule, und Felix kam zu unserer Clique. Er ist heute Dachdecker und sieht aus wie ein Boxer. Er ist genau so alt wie wir, und er gehört auch zu meinem Leben. Wir haben zusammen den Schulabschluss gemacht, und ich habe eine Ausbildung bei der Stadtverwaltung gemacht. Im letzten Schuljahr haben wir dann Lucy kennengelernt, aber die kennst du ja schon. Ich mag Fotografie und Hörbücher, ich hasse Rosenkohl und die Farbe pink. Außerdem koche ich gerne, und gehe gerne mit meinen Freunden aus. Ich schreibe dir das alles, damit es dir leichter fällt mich kennen zu lernen, und damit du meine Freunde erkennst, wenn du sie triffst.
Ich hoffe wir sehen uns bald, vielleicht kann ich etwas für dich kochen,

Rita

Ich drückte auf „Senden“ und war sehr zufrieden mit mir. Nach allem was ich gelesen hatte, würde ihm das wirklich weiter helfen. Er würde meine Freunde erkennen, und sie würden ihm nicht fremd sein, weil er Informationen über sie hatte. Und ich würde ihm auch nicht fremd sein.
Ich lehnte mich zurück und fragte mich, ob er mir auch einen derartigen Text zu sich selbst senden würde. Oder ob er mir irgendwann von sich erzählen würde, was mir persönlich lieber gewesen wäre. Ich hoffte einfach, er würde mir trauen, und mich Teil seiner kleinen Welt sein lassen.
Eigentlich war es nicht wirklich viel anders, als jeden anderen fremden Menschen kennenzulernen, na ja, vielleicht ein bisschen anders. Man tauschte grundlegende Informationen aus um den anderen einschätzen zu können, und um im richtigen Moment die notwendigen Schlussfolgerungen aus Handlungen zu ziehen. Bei ihm war es eben nur wesentlich mehr auf Fakten reduziert. Kein Lesen zwischen imaginären Zeilen, das gab es bei ihm nicht. Ich würde nicht erwarten können, dass er aus meinen Worten oder Handlungen Dinge lesen würde, die ich nicht aussprach.
Irgendwie war das nicht mal eine schlimme Vorstellung. Tatsächlich scheiterten viele Freundschaften oder Beziehungen genau daran. An zu wenig Information, und der Unfähigkeit, zwischen den Zeilen des anderen zu lesen. Man verstand sich nicht, weil die Worte oder Taten für einen selbst keinen Sinn ergaben, und irgendwann gab man dann auf. Was, wenn das alles nicht so wäre? Wenn der andere nicht erwartete, dass man hellsah und orakelte? War das nicht vielleicht eine sehr viel erstrebenswertere Bindung?

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RitaSolexs Profilbild RitaSolex

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Kapitel: 4
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Kurzbeschreibung

Wer legt fest, wer normal ist, und woran erkennt man das eigentlich? Wann gilt jemand als behindert, und ist man deshalb automatisch nicht fähig zu lieben? All diese Fragen hat Rita sich nie gestellt, bis zu dem Tag, an dem sie auf den autistischen Glenn trifft. Glenn ist anders, jedenfalls anders, als jeder Mann, den Rita je getroffen hat. Trotzdem fühlt sie sich angezogen von ihm und seiner verqueren Art, und von der völlig anderen Sicht auf die Welt. Aber kann es tatsächlich funktionieren? Ein normales Mädchen und ein junger Mann mit außergewöhnlichen Eigenschaften?

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