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Am Ende eines Krieges

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03.07.22 23:29
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Autorennotiz

Mahnung

Willst deines Hauses Glanz du erhalten?
Lass rosten deiner Väter Schild und Schwert,
die tun es nicht, die geben nicht den Wert,
die Zeit ist abgelaufen, wo sie galten.

Adelbert von Chamisso (1781 – 1838)

Das Original der Geschichte findet Ihr hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=am_ende_eines_krieges.pdf

Zwei Kriege und die Zeit hatten den Mann altern lassen. Jetzt, im Mai 1945, da der zweite der Kriege nach Jahren des Tötens und Sterbens ein Ende gefunden hatte, stand der Mann vor der Herausforderung, nach den Angehörigen zu suchen, von denen er hoffte, dass sie hätten den Krieg überlebt hatten. In den Wirren der letzten Monate war der Kontakt zu allen Kindern, Kindeskindern und Schwiegerkindern abgebrochen. Die letzten Kriegswochen hatten er und seine Frau gemeinsam mit den Nachbarn im Luftschutzkeller zugebracht. Sie waren erst wieder nach oben gekommen, als der wochenlange Gefechtslärm von einer unheimlich wirkenden bleiernen Stille abgelöst wurde. Als sie den Keller verließen, war die Straße mit Trümmern übersät, viele der Häuser waren ausgebrannt. Das Haus direkt gegenüber war komplett in sich zusammengefallen, die Trümmer versperrten die Straße.

Ihr eigenes Wohnhaus hatte die Kämpfe so gut wie unversehrt überstanden. So war ihm, seiner Frau und den übrigen Hausbewohnern zumindest die Sorge um die Unterkunft genommen. Schon am ersten Tag nach den Gefechten eröffnete seine Frau wieder ihren Kolonialwarenladen. Sie hatte keinerlei Waren mehr, die sie hätte verkaufen können, sie tat es aus reiner Gewohnheit. Der Mann blickte auf sein Leben zurück, geboren in der Kaiserzeit hatte er den ersten Krieg als junger Soldat überlebt. Er hatte Glück gehabt und war während der gesamten Kriegsjahre nie in eine der großen Schlachten verwickelt worden. Kurz vor und während des Krieges hatte ihm seine Frau zuerst eine Tochter und dann drei Söhne geboren, einen weiteren Sohn gebar sie in den Wirren der Nachkriegszeit. Die Tochter war als Kleinkind gestorben, die Söhne waren zu jungen Männern herangewachsen. Er war sich sicher, zwei der Söhne würden sie nicht wiedersehen, soviel stand fest. Die beiden anderen Söhne würden zurückkommen, so hoffte er. Eine der Schwiegertöchter hatte in der Stadt mit ihrer kleinen Tochter überlebt, von einer weiteren der drei Schwiegertöchter hoffte er, dass sie mit ihren beiden Kindern das Kriegsende in Thüringen unbeschadet überstanden hatte. Die Frau seines zweitältesten Sohnes vermutete er in einem kleinen Dorf sechzig Kilometer südlich. Zumindest hatte sie sich von dort, kurz vor dem allgemeinen Zusammenbuch per Brief gemeldet. Sie hatte darin von der guten Entwicklung seines ältesten Enkelsohns berichtet; und von Reiseplänen. Diese Reisepläne, kurz vor dem Zusammenbruch, erfüllten ihn mit Unruhe. Was, wenn sie wirklich die geplante Reise angetreten hatte und das mit einem Kleinkind? Verrückt genug war sie dazu, fand er. Was, wenn sie mit ihrem kleinen Kind im Gefolge in die Wirren des untergehenden Reichs geraten war? Unruhe breitete sich in seinem Inneren aus. Abends sprach er mit seiner Frau über diese Befürchtungen. Seine Frau nannte seine Einschätzung, die Schwiegertochter sei verrückt genug, in den Kriegswirren mit einem kleinen Kind zu reisen, Blödsinn. Trotzdem kamen sie nach einigen Überlegungen zu dem Ergebnis, er müsse sich über das Schicksal der beiden Gewissheit verschaffen.

Während der nächsten Tage versuchte er in Erfahrung zu bringen, ob es irgendeine Möglichkeit gab, nach Süden zu fahren. Seine Erkundungen verliefen negativ, er hatte das befürchtet, trotzdem hatte er bis zuletzt gehofft irgendeine Fahrmöglichkeit zu finden. Alle Verkehrsverbindungen, egal in welche Richtung waren zerstört, weder Busse noch Bahnen verkehrten. Das ganze Land war in Agonie verfallen und es sah aus, als würde es sich nie wieder daraus erheben. So beschlossen seine Frau und er, dass er sich möglichst bald zu Fuß auf den Weg nach Süden machen solle. Einfach losgehen, ging nicht. Zuerst mussten die Beiden klären, wovon sie sich ernähren konnten, von dem erforderlichen Reiseproviant ganz zu schweigen. Eines Sonntags, Anfang Juni, war es so weit, er hatte etwas Proviant in Form von Brot, das seine Frau gebacken und sorgsam eingewickelt hatte, in seiner alten Aktentasche verstaut. Frühmorgens machte er sich auf den Weg, da er hoffte, einen Großteil der Strecke am ersten Tag zu schaffen. Anfangs ging er noch durch weitgehend zerstörte Vororte und er erkannte viele der vertrauten Straßen kaum wieder. Sobald er das städtische Krankenhaus erreicht hatte, sah er, die weiter vom Zentrum entfernten Vororte waren weitaus weniger zerstört, als die stadtnahen Regionen. Das Denkmal mit Springbrunnen für den Geheimen Medizinalrat Dr. Mooren stand unbeschädigt neben einer Straßenbahnhaltestelle, ganz so, als wäre es vom Krieg vergessen worden. Hier merkte er zum ersten Mal auf seiner Wanderung, dass der Durst bei dem warmen Sommerwetter ein Problem war. Trinkbares Wasser zu bekommen, war genauso wichtig, wie schwierig. Der weitere Weg entlang des südlichen Autobahnzubringers führte ihn zur Stoffeler Kapelle. Die Kapelle und das daneben liegende Ausflugslokal waren unbeschädigt. Er hatte gehofft beim Lokal etwas Trinkwasser zu bekommen, wurde aber enttäuscht, die Tür war geschlossen. Entlang des Zubringers ging er über freies Feld in Richtung Wersten, um die Reichsstraße 8 zu erreichen. Der Tag wurde schnell wärmer und bereits am Ortseingang von Wersten brannte die Sonne so sehr, dass er seinen Pullover auszog und in seiner Aktentasche verstaute. Er hoffte dringend, in Wersten etwas zu trinkbares zu finden.

Als er die Reichsstraße erreichte, sah er zu seiner Überraschung Menschen über Menschen, die, gleich ihm, alle irgendwo hingingen. Gleichwohl, ob in Richtung Süden oder Norden, das Gewimmel war beträchtlich. Es gab Menschen wie ihn, die ohne großes Gepäck unterwegs waren, viele andere trugen Rucksäcke und Koffer, wieder andere zogen Handkarren oder schoben Schubkarren, auf denen sie ihr Gepäck deponiert hatten. Etliche der Karren waren so abenteuerlich beladen, dass es schien, sie würden jeden Moment unter der Last zusammenbrechen. Auf nicht wenigen der Gefährte hatte man zusätzlich zum Gepäck die kleineren Kinder gepackt. Er reihte sich in die Menschenmenge ein und wanderte weiter in Richtung Süden. Aus dem geöffneten Fenster ihrer Küche schaute eine alte Frau dem Treiben zu. Kurzentschlossen trat der Mann auf das geöffnete Fenster zu und bat um etwas Wasser. Knurrend, mit der Bemerkung, wenn sie jedem dahergelaufenen Wasser geben würde, hätte sie viel zu tun, verzog sich nach hinten in die Küche. Nach kurzer Zeit kam sie mit einem Blechbecher zurück und reichte dem Mann den mit Wasser gefüllten Becher. Sie nörgelte dabei, „wenden sie sich von der Straße ab, sonst kann ich mich vor weiteren Bittstellern nicht retten.“ Der Mann trank den Becher in einem Zug bis zur Neige leer, obwohl der Becher den Eindruck machte, als er wäre schon länger nicht mehr Spülwasser in Berührung gekommen. Als er die südlich von Wersten gelegenen Industriegebiete erreichte, sah er, dass hier der Krieg genauso wie innerhalb der Stadt gewütet hatte. Die großen Werke, die sich links der Reichsstraße erstreckten, waren zerstört. Er erreichte Benrath, wo er im Schatten des Schlosses eine kurze Rast einlegte.

Er dachte an die Zeiten vor dem Krieg. Sonntags waren er und seine Frau gern mit der Straßenbahn bis hier hinausgefahren. Oft waren sie eine Haltestelle weiter gefahren; und das nur, um den Ausblick auf das Schloss zu genießen, wenn die Elektrische zuerst in einer Linkskurve und anschließend in einer weiten Rechtskurve um den Schlossweiher kurvte. Ihm fiel ein, viele Menschen, mit denen er ins Gespräch kam, wunderten sich über seine Ausdrucksweise, wenn statt Straßenbahn, die Elektrische sagte. Er lächelte über seinen plötzlichen Gedankengang. Als die Söhne noch kein waren, hatten sie zu solchen Ausflügen selbstgebackenen Kuchen und Kaffee in der Thermoskanne mitgenommen. Später dann, als er mit seiner Frau alleine war, leisteten sie sich ab und an einen Besuch im Café Rheinterrassen, wenn sie durch den Schlosspark bis an den Rhein spaziert waren. Manchmal setzten sie dann mit dem Fährboot über zu den linksrheinischen Rheinauen, einer Gegend, die unter dem Namen Grind bekannt war. Von dort waren sie dann nach Zons, einer mittelalterlichen Festungsstadt, gewandert. Wenn das Geld langte, kehrten sie dort im Café Juch ein. Von der Terrasse aus genossen sie den Blick auf die Streuobstwiesen und er liebte es, kurz vor Abschluss des Aufenthalts, sich dort eine Zigarre anzuzünden und dem sich kringelnden Rauch hinterherzusehen. Um zurück nach Benrath zu gelangen, hatten sie mit der Gierseilfähre nach Urdenbach übergesetzt und waren von dort durch die Kämpe zurück nach Benrath gewandert. Abends nach solchen Ausflügen hatte er mit seiner Frau meist zusammen am Küchentisch gesessen und sie hatten Radio gehört.

Bevor er weiterzog, ging er zum Schlossweiher, wo er, Abkühlung suchend, die Hände ins Wasser tauchte. Das Wasser roch faulig, aber die Kühle ihm tat gut. Als er Benrath verließ und die Landstraße erreichte, kam er in eine Landschaft, die durch weites Ackerland geprägt war. Die meisten Felder waren unbestellt, niemand hatte sich in diesen wirren Zeiten um die Bestellung der Felder kümmern können oder wollen. Fast alle Männer waren noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt oder schlimmer, sie waren gefallen, die ausländischen Fremdarbeiter[1] hatten sich auf und davon gemacht.

Die kleine Stadt Langenfeld, die die Reichsstraße durchquerte, war vom Krieg weniger geschädigt, als seine Heimatstadt. Der Betrieb auf der Straße hatte hier im ländlichen Raum nachgelassen, nur noch selten begegnete er anderen Reisenden. Kurz nach Langenfeld gelang es dem Mann einen Platz auf einem Lastwagen mit Holzvergaserantrieb zu ergattern. Der Fahrer erklärte ihm, er könne ihn bis kurz hinter Opladen mitnehmen. Dort ginge es nicht weiter, da die Brücke über die Wupper wenige Tage vor Kriegsende gesprengt worden sei. Für Fußgänger sei die Wupper aber einigermaßen trockenen Fußes zu überqueren. Über die Trümmer der Brücke Seile seien gespannt, an denen man sich über den Fluss hangeln könne. Er erreichte die zerstörte Brücke zu Mittagszeit. Auf einem der Trümmerteile der Brücke sitzend, schaute er zum gegenüberliegenden Ufer. Das Überqueren der Wupper würde, wie er sah, keine größeren Schwierigkeiten verursachen. Der Tag war inzwischen drückend heiß. Er zog Schuhe und Socken aus, krempelte sich die Hosenbeine hoch und verstaute Schuhe und Socken in der Aktentasche. Als er beim Herüberhangeln an den Teil der Brückenruine kam, an dem die Betonreste der Brücke vom Wasser überspült waren, fiel ihm auf, wie klar das Wasser war. In seinem Gedächtnis war die Wupper eine stinkende Industriekloake. Die weiter oben am Fluss gelegenen Fabriken waren mit Sicherheit zerstört und ihre verseuchten Abwässer wurden nicht mehr in den Fluss geleitet. Das kühle Wasser des Flusses an den Füßen tat ihm gut und der Mann benetzte sein Gesicht damit, bevor er sich über die steil aufragenden Brückenreste am anderen Ufer nach oben hangelte. Weiter gehend erreichte er am späten Nachmittag Leverkusen. Die Stadt und das große Chemiewerk waren zerstört, so beeilte er sich weiter in Richtung Köln zu kommen.

Als er sich am Abend der Stadt Köln näherte, war er zutiefst erschüttert. Er kannte die Stadt aus der Vorkriegszeit. Was er jetzt sah, hatte er nicht erwartet. Nach den Zerstörungen in seiner Heimatstadt hatte er sich nicht vorstellen können, dass die Zerstörungen irgendwo anders noch schrecklicher sein konnten. Er blickte auf ein unendlich wirkendes Trümmerfeld, aus dessen Mitte sich einzig und allein der Dom erhob. In die Innenstadt konnte er nicht kommen, da die Brücken über den Rhein zerstört waren. So hielt er sich in Richtung Köln-Deutz. Dort hoffte er für die Nacht einen Unterschlupf zu finden. Aus früheren Jahren wusste er, in Deutz gab einen größeren Bahnhof und ein Messegelände. Vielleicht gab es dort einen Platz, wo er vor der Kühle der Nacht geschützt war. Seinen Brotvorrat hatte er inzwischen verzehrt, den Vorrat auffüllen zu können wagte er nicht zu hoffen. Mehr als der Hunger, machte ihm aber weiterhin der Durst zu schaffen. Nach einigem Suchen fand er in der weitgehend zerstörten Bahnhofshalle einen Platz unter einem halb herab gebrochenem Teil des Daches und aus einem Hydranten konnte Wasser gezapft werden. Nachdem der Mann getrunken hatte, versuchte er es sich unter dem Dach so bequem wie irgend möglich zu machen. Mit fortschreitender Stunde suchten immer mehr Menschen Unterschlupf unter dem Dach und es wurde eng und stickig. Er zog seinen Pullover wieder an, da er befürchtete, dieser würde ihm während der Nacht gestohlen. Als es dunkelte, legte er sich lang hin und benutze seine Aktentasche als Kopfkissen.

 


 

[1] Anmerkung des Autors: Fremdarbeiter ist ein beschönigender Begriff für diese armen Menschen, der damals gebräuchlich was. Es waren Zwangsarbeiter, die von den Nazis aus ihren Heimatländern deportiert worden waren. Zum Teil handelte es sich auch um KZ-Häftlinge, die in den sogenannten Außenlagern, der großen Konzentrationslager untergebracht waren.

Ab und zu war er in der Nacht eingeschlafen, aber das Liegen auf dem harten Boden der zerstörten Bahnhofshalle war unbequem. Als er einmal für längere Zeit eingeschlafen war, wurde er durch ein Kribbeln in den Armen wach, so suchte er sich eine andere Liegeposition, fand aber nicht mehr in den Schlaf. Die vielen Menschen verursachten einige Unruhe, immer wieder hörte er Kinder weinen. Die Kinder taten ihm leid. Ein jüngeres Paar neben ihm, unterhielt sich leise und wie er aus deren Wortfetzen entnehmen konnte, schmiedeten sie Pläne für die Zukunft. Das erfreute den Mann. Solange Menschen an die Zukunft glauben, wird das Leben weitergehen, dachte er. Weiter hinten in der Halle gingen Dirnen ihrem Gewebe nach, wenn die Freier Erleichterung fanden, war lustvolles Stöhnen zu vernehmen. Er war froh, als der Morgen dämmerte. Durstig, wie er war, stand er auf und ging zum Hydranten. Dort wusch sich eine der Dirnen völlig ungeniert ihre schlaffen Brüste. Als sie ihn bemerkte, guckte sie den ihn schnippisch an.
      „Wat luurste so, Opa? Häste noch kinn bläcke Mämme jesenn[1]?“
      Obwohl kein Rheinländer, verstand der Mann, was sie meinte. „Doch, doch, ich wollte nur etwas trinken.“
      Als die Dirne hörte, dass er Hochdeutsch sprach, wechselte auch sie in eine Art Hochdeutsch, in der breiten Aussprache der Rheinländer. „Sonst kann ich nichts für dich tun, Opa? Ich mache dir einen Sonderpreis.“
      „Nein danke, ich möchte nur trinken.“
      „Jo, wenn do nix wiederes möhts[2]!“

Die Dirne trat zur Seite, sich die Brüste mit ihrem zerfetzten Unterhemd abtrocknend. Der Mann beugte sich vor und schlürfte, sein Gesicht an den Wasserstrahl haltend, das mit ziemlichem Druck aus dem Hydranten fließende Wasser. Als er sich erhob, grinste ihn die Dirne an, dabei massierte sie auffordernd ihre Brüste. Er lächelte ihr kurz zu und trat hinaus auf die Stufen, die von der Halle hinunter auf den Vorplatz führten. Auf dem Bahnhofsvorplatz standen, ineinander verkeilt, zerschossene und ausgebrannte Straßenbahnwaggons. Zu dieser frühen Stunde war es noch recht frisch auf dem Platz, er orientierte sich kurz über die einzuschlagende Richtung und ging dann nach links über den Platz zurück zur Reichsstraße 8. Er hatte nicht erwartet, dass er sich so weit von seinem Weg entfernt hatte. Immerhin benötigte er flotten Schrittes fast eine Stunde, bis er zurück zur Reichsstraße gefunden hatte. Kaum zurück auf der Reichsstraße, geriet er in eine Kontrolle der Amerikaner. Ausweichen konnte er nicht, da sich die Kontrollstelle hinter einer unübersichtlichen Stelle der Straße verbarg und die Straße links und rechts von martialisch wirkenden, mit Maschinenpistolen bewaffneten amerikanischen Militärpolizisten bewacht wurde. So reihte er sich in die lange Schlange, der vor dem Kontrollposten wartenden Menschen ein. Der Sinn der Kontrollstelle wurde ihm erst klar, als er den kontrollierenden Soldaten nah genug gekommen war. Alle Männer mussten den linken Arm entblößen und anheben – gesucht wurde nach Mitgliedern der Waffen-SS. Der Mann vor ihm wirkte ziemlich nervös und als dieser den Arm hob, sah der Mann die Tätowierung auf der Innenseite des Oberarms. Ziemlich brutal ergriffen die Soldaten den SS-Mann und führten ab.

Er fühlte sich ziemlich alt an diesem Morgen, als der Posten ihn durchgewinkt hatte, war er froh endlich wieder flott ausschreiten zu können. Der Tag wurde mit fortschreitender Zeit wieder drückend heiß. Er hatte keine Vorstellung davon, wie weit er noch zu gehen hatte, aber er war sicher, den weitesten Teil des Weges hatte er hinter sich gebracht. Schon kurze Zeit darauf kam er an eine Abzweigung der Reichsstraße, an der nach links weisend, ein teilweise zerschossener Wegweiser mit der Aufschrift Rösrath 11 km stand. Er wusste nun, sein Weg würde nach nicht einmal zwanzig Kilometer sein Ende gefunden haben. Wenn er nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam ging, würde er am späten Nachmittag sein Ziel erreichen. Die elf Kilometer bis Rösrath zogen sich und als er endlich den kleinen Ort erreicht hatte, hatte die Sonne bereits ihren Zenit überschritten. Nach Verlassen des Ortes ging es weiter über eine stille Landstraße durch das Sülzbachtal. Er fühlte sich schlapp, hungrig und müde. Das Hungergefühl war bohrend, schließlich hatte er seit dem vergangenen Nachmittag nichts mehr gegessen. Als sich die Straße dem Sülzbach näherte, stieg der Mann kurz entschlossen die Böschung hinunter. Er setzte sich in das hohe Gras, zog Schuhe und Socken aus und ließ die Füße im kalten Wasser baumeln. Sein Durst war inzwischen so groß, dass er mit der Hand aus dem glasklaren Gewässer eine geringe Menge Wasser schöpfte und davon trank. Forellen standen gegen die Strömung und warteten auf Beute. Das gleichmäßige Plätschern des fließenden Wassers, wirkte einschläfernd. Er legte sich zurück, achtete aber darauf, dass ihm die Augen nicht zufielen. Als er sich wieder stark genug zum Weitergehen fühlte, kletterte er über die Böschung hinauf zur Straße. Oben angekommen, reckte er seine steif gewordenen Glieder und machte sich wieder auf den Weg. Dem Mann fiel nun das Gehen schwer und er kam nur noch langsam voran. Links und rechts am Straßenrand traf er immer wieder auf von den fliehenden deutschen Truppen zurück gelassene Geschütze. Niemand hatte sich nach dem Untergang des Nazireiches für diese Hinterlassenschaft des Krieges interessiert. Gestern noch der Stolz des tausendjährigen Reiches, waren die angeblich unüberwindbaren Waffen, jetzt nur noch vergammelnder Schrott. Auf einer der Kanonen spielte eine Gruppe halbwüchsiger Kinder. Endlich, alles Zeitgefühl war ihm inzwischen verloren gegangen, senkte sich die Straße und der alte Mann sah vor sich das silberne Band der Agger.

Die Straßenbrücke über die Agger war zerstört. Der Mann hatte nicht damit gerechnet, dass es in dieser stillen Gegend zu Kampfhandlungen gekommen war. Er bog deshalb, kurz bevor sich die Straße endgültig zu Agger hin absenkte, in eine kleine Straße ein, die durch das Dörfchen Sottenbach führte. Das Sträßchen war mit groben Steinen gepflastert und führte ziemlich steil zu Agger hinunter. Das Gehen auf dem unebenen Sträßchen fiel ihm schwer, da er jeden der Steine durch die abgewetzten Sohlen seiner Schuhe spürte. Als er am Ende der Straße anlangte, dort wo das Sträßchen sich zu einem schmalen Feldweg verengte, sah er, der hölzerne Steg über die Agger war intakt. Er kannte den Steg noch aus der Vorkriegszeit, einmal hatte er mit Sohn und Schwiegertochter den Ort besucht. Der Bachlauf war zwar an dieser Stelle kaum knietief, aber der Grund des Bachs bestand aus groben Kieseln, die sicher glitschig waren. So war er erleichtert, dass er die letzten Meter ohne weitere Mühen zurücklegen konnte. Nach Überqueren des Stegs ging der Mann über einen kleinen Pfad hinauf zur Straße, die im Schatten mächtiger Linden lag. Einige Meter trennten ihn noch von seinem Ziel, total erschöpft lehnte der Mann sich an den Zaun, der das Haus umschloss, in dem er seine Schwiegertochter zu finden hoffte. Nun, am Ziel seiner Reise, brach er fast zusammen, der Hunger verursachte nagende Schmerzen. Er hatte zu wenig zu trinken gefunden und fühlte sich völlig ausgetrocknet, der fehlende Schlaf machte ihn benommen. Mehrmals atmete er tief durch, bevor er weiter auf die Gartenpforte zuging. Beim Blick auf die Hausfront fielen ihm etliche Einschusslöcher auf. Links der Gartenpforte stand eine alte Wasserpumpe. Der Mann betätigte mit der einen Hand den Schwengel und versuchte mit der anderen Hand das kühle Nass aufzufangen.

In der ersten Etage des Hauses stand ein Fenster offen, aus dem eine alte Frau voller Misstrauen auf den Mann schaute. Die Szene an der Pumpe aufmerksam beobachtend, änderte sich ihr Gesichtsausdruck von Misstrauen, in ungläubiges Staunen, dann in Verwunderung. Sich nach hinten ins Zimmer wendend rief sie, „Leo luurens, do drusse aan dä Pomp stott dä Andreas[3].“ Als sie wieder nach unten blickte, hatte sich an der Szene noch nichts geändert. Immer noch versuchte der Mann möglichst viel von dem gepumpten Wasser aufzufangen und zu schlürfen.
      „Mein Gott, bist du das, Andreas? Wie kommst du denn hier her?“
      „Ach, du bist es Henriette“, sagte der Mann und versuchte zu lächeln. Tatsächlich gelang es ihm mit viel Mühe sein Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen.
      „Komm doch erst einmal nach oben, du kannst hier oben trinken. Die Haustür steht offen“, rief die Alte. Andreas ging durch die Haustür und freute sich über die im Flur herrschende Kühle. Mühsam stieg er nach oben die Treppe herauf, wo in Henriette bereits unter dem Türsturz erwartete.
      „Bitte komm herein, Andreas“, sagte die Alte kurz und bündig. Sie ging voraus in ihre Küche. Wortlos schöpfte sie aus einem Eimer, einen Becher mit Wasser und reichte ihn dem Mann.
      „Danke Heni“, der Mann trank den Becher in einem Zug leer. „Guten Tag, Leo“, sagte er danach zu dem Mann, der schweigsam am Küchentisch saß.
      „Leo spricht im Moment nicht viel“, sagte die Frau entschuldigen, als Leo nicht antwortete.
      „Komm Andreas, setzt dich und ruhe dich aus.“

Andreas schaute sich im Zimmer um, das wohl als Küche und Wohnraum genutzt wurde. In der Ecke neben der Tür stand ein kleiner schwarzer Küchenherd, daneben ein Schemel, auf dem der Eimer mit dem gepumpten Wasser stand. Andreas tankt einen weiteren Becher leer und Leo ging nach unten, um den Eimer an der Pumpe mit frischem Wasser zu füllen.
      „Bist du den ganzen Weg von Düsseldorf zu Fuß hierhergekommen?“.
      „Fast Heni, bei Langenfeld hat mich ein Lastwagen ein kleines Stück mitgenommen.“
      „Wie geht es zu Hause? Ist Christina gesund?“
      „Wir können nicht klagen, Heni. Das Haus ist nur leicht beschädigt, steht aber inmitten einer Trümmerwüste. Was ist denn mit Leo los.“
      „Ach, ich weiß nicht. Er spricht kaum noch mit jemand.“
      „Er ist doch gerade erst pensioniert worden.“
      „Das ist es ja. Seitdem hat er sich sehr verändert. Habt ihr etwas von Liesel gehört?“
      „Ist sie nicht hier?“
      „Nein, du kennst sie doch. Das Reisefieber hat sie gepackt und so ist sie im März zu Marianne nach Thüringen gefahren.“
      „Mit dem Kind?“ Fragte Andreas ungläubig.
      „Ja, mit dem Kind. Sie meinte, dort wäre es sicherer.“
      „Da muss sie der Teufel geritten haben. Da standen die Russen schon an der Oder und die Liesel fährt ihnen entgegen.“

Beide schwiegen und hingen ihren Gedanken nach, während Leo den Eimer mit frischem Wasser auf den Hocker stellte, anschließend nahm er wieder seinen Platz am Tisch ein.
      „Habt ihr etwas von Hubert gehört?“
      „Ja, er ist in Rshew gefallen.“ Henriettes Augen füllten sich mit Tränen.
      „Ist Leo deshalb so komisch?“
      „Weiß nicht, kann sein.“
      „Ich habe die Einschüsse am Haus gesehen, ist hier gekämpft worden?“
      „Ja Andreas, die Amerikaner kamen über Siegburg und aus dem Wahnbachtal hierher. Die Nazis hatten sich nach Scheiderhöh zurückgezogen und nahmen von dort aus das Tal unter Feuer. Drei Tage hat der Spuk gedauert. Wir haben die ganzen Tage im Keller gesessen. Im Haus ist nicht viel passiert, nur das Fenster von Liesels Zimmer ging zu Bruch. In ihrem Kleiderschrank stecken ein paar Granatsplitter.“
      „Ist Änne noch in Sigmaringen?“, wollte Andreas von Henriette wissen.
      „Ich glaube schon. Der letzte Brief von ihr erreichte uns im Februar. Sie schrieb, ihr und den Kindern ginge es gut. Über ihren Kurt ist bisher nichts bekannt.“
      „Ich kümmere mich jetzt einmal um das Abendessen, Andreas. Viel haben wir nicht. Gestern konnte ich in Lohmar ein Brot ergattert. Milch bekommen wir nebenan bei der Poststelle. Die Alte und die Postmeisterin haben zwei Kühe im Stall. Sonst haben wir nur noch Rhabarber aus dem Garten. Das ist das einzige, was dort zurzeit geerntet werden kann. Hauptsache, wir brauchen nicht zu hungern. Du bist sicher müde, leg dich ruhig auf Liesels Bett; ich rufe dich dann zum Essen.“

Henriette ging voraus und zeigte Andreas das Zimmer, das Liesel als Schlafzimmer genutzt hatte. An der Fensterwand war eins von Liesels Ehebetten aufgebaut. Neben der Tür stand das Kinderbett. Andreas zog seine Schuhe aus, ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schlief fast umgehend ein. Wilde Träume zogen an ihm vorbei, er erwachte, als ihm Leo bei an der Schulter schüttelte. „Essen ist fertig“, sagte Leo und schlurfte wieder aus dem Zimmer. Andreas erhob sich mühsam, am liebsten wäre er liegengeblieben, doch der Hunger trieb ihn hoch. Er versuchte wieder in seine Schuhe zu kommen, was sich bei seinen geschwollenen Füßen als ein sinnloses Unterfangen erwies. Er betrachtete seine Socken, diese wiesen an den Zehen und Ferse große Löscher auf.

In der Küche hatte Heni der Tisch gedeckt. Den Rhabarber hatte sie zu einem Kompott verarbeitet. Das Brot war zum Glück ein großes Zweikilobrot, so hatten sie genug zu essen für die nächsten Tage. Henriette schöpfte für jeden einen Schöpflöffel von dem Kompott auf die Teller. „ Is zeemlich suer, mer hann kinne Zocker“, bemerkte sie dazu. Andreas guckte verständnislos. „Ist ziemlich sauer, wir haben keinen Zucker“, verbesserte sich Heni, „aber greif ruhig zu Andreas.“

Obwohl das Kompott, wie Heni es angekündigt hatte, ziemlich sauer war, aß Andreas mit großem Appetit. Beim Brot hielt er sich zurück, er wollte nicht, dass Heni und Leo nichts zu essen hatten, nur weil er sich den Bauch vollgeschlagen hatte. Als hätte Heni das geahnt, sagte sie, „nimm Brot, Andreas, damit du Kraft für den Heimweg bekommst.“ Dabei schnitt sie eine dicke Scheibe vom Brot, reichte die Schnitte zu Andreas und sagte auf die Kompottschüssel weisend, „nimm das saure Zeug als Aufstrich, dann bekommst du es besser runter.“ Heni erhob sich, schürte das Feuer im Herd und setzte einen Topf mit Milch auf das Feuer. Sie blieb beim Herd stehen und wartete darauf, dass die Milch aufkochte. Als die Milch aufgekocht war, setze sie sich wieder an den Tisch und goss jedem eine Tasse von der Milch ein. „Mehr habe ich nicht zu bieten, nimm noch vom Brot, Andreas.“ Andreas gab vor, gesättigt zu sein, trank die Tasse mit der Milch leer und danke für das Mahl. Der Rest des Abends verlief ziemlich wortkarg und noch vor Einbruch der Dunkelheit, wollte sich Andreas auf den Heimweg machen.
      „Andreas, das kommt gar nicht infrage, erst einmal wird ausgeschlafen und morgen sehen wir weiter“, das war so ziemlich das Erste, was Leo seit Andreas‘ Ankunft sprach.
      „Ich gehe einmal nach hinten und hole dir ein Paar frischen Socken. Mit den durchlöcherten Dingern läufst du dir nur die Füße wund“, meinte Henriette, sie erhob sich und verschwand im hinteren Teil der Wohnung.
      „Leo, kann ich etwas für euch tun?“
      „Nein, geht schon, Andreas.“
      Heni kam wieder in die Küche, „hier, mit diesen Socken solltest du bis nach Hause kommen. Ich glaube aber, ich gebe dir noch ein Paar als Reserve mit.“
      „Nein, nein, das wird schon reichen“, werte Andreas ab.

Als es dunkelte, waren sie gezwungen zu Bett zu gehen, da es keinen elektrischen Strom gab und die letzten Kerzen inzwischen abgebrannt waren. Andreas fühle sich nach dem Essen um einiges besser, war aber doch froh, sich endlich ausziehen zu können und ins Bett zu kommen. Der ersehnte Schlaf wollte sich nicht einstellen. Obwohl der Tag so warm gewesen war, kühlte es sich schnell ab und er zog die Decke höher. Andreas kam ins Grübeln. Zwei Tage war er gelaufen, um Gewissheit über das Schicksal von Schwiegertochter und Enkel zu erlangen. Jetzt war er genauso klug wie zuvor. Niemand hätte ihm sagen können, wie es den beiden ergangen war, eine Kontaktaufnahme ins ferne Triptis war unter den derzeitigen Umständen nicht möglich. Liesels Mann, sein Sohn Hans, war in den Weiten Russlands verschollen, seit Ende 1942 gab es keinerlei Nachrichten von ihm. Die Umstände seines Verschwindens deuteten darauf hin, Hans würde für immer verschollen bleiben. Bei seinem Sohn Helmut hatte er die gleiche Vermutung, von ihm hatte er in den letzten Jahren nichts mehr gehört. Kriege immer nur Kriege, sie verbreiten nur Not und Leid; und trotzdem immer wieder Kriege. Andreas erinnerte sich mit Schaudern an sein letztes Aufeinandertreffen mit Hans. Sie hatten einen furchtbaren Streit und waren im Zorn auseinander gegangen. Über den Sinn und Unsinn dieses Krieges hatten sie gestritten. Hans hatte argumentiert, nur noch einen Winter im Eis überstehen, nur noch eine große Schlacht und der Sieg ist unser. Andreas war entsetzt, hatte den Krieg einen Wahnsinn genannt und die Träume vom Sieg, hatte er als Hirngespinste abgetan. Dann hatte er noch nachgelegt, eure Armeen werden in Russland genauso untergehen, wie die Armeen Napoleons. Ihr rennt in euer Verderben, hatte er voller Sorge noch hinzugefügt. Hans war darüber furchtbar wütend geworden, hatte ihn einen Kommunisten geschimpft und war Türen schlagend davon gegangen. Andreas hatte ihn danach nie mehr wieder gesehen. Er fühle keine Genugtuung darüber, dass er am Ende Recht behalten hatte. Trauer darüber, dass er an diesem Tag nicht geschwiegen hatte, erfüllte ihn; hätte ich doch nur geschwiegen, dieser Satz geisterte immer wieder durch seine Gedanken.

Irgendwann dachte er an diesem Abend, es muss weitergehen; und morgen gehe ich zurück. Dazu brauche ich zwei Tage, dann fange ich mit dem Wiederaufbau meiner Werkstatt an. Und irgendwann bekomme ich über das Schicksal meiner Verwandten Gewissheit. Die Augen fielen ihm zu, er versank in einen erholsamen Schlaf.


[1] Was guckst du so, Opa? Hast du noch keine nackten Brüste gesehen?
[2] Ja, wenn du nichts Weiteres möchtest!
[3] Leo guck, da draußen an der Pumpe steht der Andreas.

Der Ursprung dieser Erzählung ist Teil meiner Familiengeschichte. Wenn auch der Inhalt größtenteils frei erfunden ist, so schildert sie doch – zumindest zum Teil – tatsächliche Geschehnisse an Ende des 2. Weltkrieges. Mein Großvater väterlicher Seite hat diese Reise zu Fuß kurz nach der Kapitulation der Naziarmeen unternommen. Aus heutiger Sicht war das der reine Wahnsinn. Das Verhalten passte aber zum Familiensinn meiner Großeltern. Mein Großvater hat diese Wanderung mir gegenüber nur einmal erwähnt, da war ich ein junger Erwachsener. Es sagte auch nur einen Satz dazu, in dem er ausdrückte, wie traurig er gewesen sei, mich am vermuteten Ort nicht anzutreffen. Ich war zu jung, um an den Vorgängen zu Zeiten meiner Kindheit interessiert zu sein. So habe ich nicht nachgehakt und jetzt ist es zu spät dazu. Die Menschen, auf die mein Großvater am Ziel seiner Reise traf, waren die meine Großeltern mütterlicher Seite. Ich habe den Vater meiner Mutter nie wirklich verstanden, etwas war in ihm zerbrochen, vielleicht war es wirklich der Soldatentod seines einzigen männlichen Nachkommens, so wie ich es in der Geschichte darstelle.

Die Reise meiner Mutter in den letzten Kriegswochen vom Rheinland nach Thüringen ist auch eine Tatsache. Ich beschreibe das in meiner Geschichte als Verrücktheit und empfinde das tatsächlich so. Meine Mutter war nicht verrückt, aber sie tat oft Dinge, die ich nicht nachvollziehen konnte. An die Reise habe ich nur sehr verschwommene Erinnerungen, schließlich war ich gerade einmal drei Jahre alt. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber die Bilder, die ich davon im Gedächtnis habe, werden nicht klarer. Nur ein Bild ist weniger verschwommen, als die anderen. Wir lagerten im Beisein eines motorisierten Trupps Soldaten getarnt auf einer Landstraße oberhalb einer Autobahn. Auf der Autobahn waren Militärfahrzeuge unterwegs. Aus diesem Bild ergibt sich eine einzige Frage. Hat meine Mutter sich tatsächlich einer Militärkolonne angeschlossen, die an die Ostfront verlegt wurde? Ich halte das nicht für unwahrscheinlich, denn in dem Haus, in dem wir bis zur Abreise wohnten, waren Offiziere der Wehrmacht einquartiert. Ich will mich nicht in Spekulationen verrennen. Der Verlauf der Reise bleibt ein Rätsel.

Meine Großeltern lebten bis 1952 in dem Dorf. Wir besuchten sie häufig. Eigentlich jedes zweite oder dritte Wochenende und in den Schulferien. Es war wohl in den Herbstferien 1951, als der Briefbote einen an meine Mutter adressierten Brief übergab. Der Brief war Ende 1944 oder Anfang 1945 in Triptis aufgegeben worden. Meine Tante bat darin meine Mutter dringend, vom geplanten Besuch bei ihr Abstand zu nehmen, da die Front immer näher rücke. Wie meine Mutter reagiert hätte, hätte sie der Brief rechtzeitig erreicht, da kann ich nur spekulieren. Ich glaube, sie hätte die Warnung ignoriert.

Der Streit zwischen meinem Großvater und meinem Vater, den hat es wirklich gegeben. Meine Mutter hat mir davon erzählt. Unbekannt ist mir, wann es zu dieser Auseinandersetzung gekommen ist. So ist das von mir gewählte Szenario meiner Fantasie entsprungen. Vom Inhalt des Streits her würde ich diesen Vorgang eher in der Anfangsphase des Unternehmens Barbarossa vermuten. Aber meine Mutter versicherte mir immer, mein Vater sei vom Jahreswechsel 1940/1941 bis zum Spätsommer 1942 nicht einmal zu Hause gewesen. Sollte mein Vater 1942 noch an den Sieg geglaubt haben? Ich schließe das nicht aus, aber der Inhalt eines Briefes, den er im frühen Herbst 1942 an meine Mutter geschickt hat, spricht dagegen.

Mein Großvater mag vieles gewesen sein, aber ihn einen Kommunisten zu nennen – da sind meinem Vater die Pferde durchgegangen. Mein Großvater war mittelständischer Unternehmer und recht konservativ.

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Kapitel: 3
Sätze: 361
Wörter: 5.826
Zeichen: 34.283

Kurzbeschreibung

Der Krieg ist zu Ende, das Land zerstört, das Schicksal geliebter Familienmitglieder ungewiss. Da alle Verkehrsmittel zerstört sind, macht sich ein älterer Mann zu Fuß auf den Weg, um herauszufinden, wie es Schwiegertochter und Enkel geht.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Historik auch in den Genres Krieg, Familie gelistet.

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