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Die Würde der Forschung ist unantastbar - Regeln für die Wissenschaft

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28.05.20 19:21
Fertiggestellt

Da ich bereits einen Essay verfasst habe, der sich mit den
Aufgaben der Kunst auseinandersetzt („Die Grenzen der Moralität-Darf Kunst
alles“) und die Frage behandelt, ob künstlerische Betätigung in ihrer
grenzenlosen Freiheit eingeschränkt werden sollte, um beispielsweise nur
„moralisch verträgliche“ Werke zu produzieren, wende ich die gleiche
Fragestellung, der Gleichberechtigung wegen, nun auf die zweite große Domäne
menschlicher Schöpfungskraft an, der Wissenschaften, was uns zu nicht minder
interessanten Erkenntnissen und Debatten verhelfen soll.

Ebenso wie der Begriff der Kunst, ist auch der der
Wissenschaft nicht immer eindeutig einzugrenzen. Der Einfachheit halber sind in
diesem Text, wenn von „den Wissenschaften“ die Rede ist, sowohl Geistes-wie
auch Naturwissenschaften gleichermaßen gemeint. Aus konkreten Beispielen wird
ohnehin hervorgehen, von welcher Einzelwissenschaft in diesem speziellen Fall
die Rede ist.

Wissenschaften zu bewerten und einzuordnen, ist eine
Funktion, die heutzutage in erster Linie den Philosophen und Ethikern zukommt,
die selbst als Wissenschaftler fungieren und darüber hinaus in besonderem Maße
über die Aufgabe der Selbstreflexion verfügen. Das kritische Hinterfragen auch
der eigenen Tätigkeit ist selbstverständlich Bestandteil einer jeden
Wissenschaft, doch die Praxis zeigt, dass eine sinnvolle Bewertung ohne
ethische Prinzipien und philosophische „Werkzeuge“ kaum möglich ist. In der
öffentlichen Wahrnehmung erscheint es oftmals so, als hätten die
Einzelwissenschaften, allen voran die Naturwissenschaften, der Philosophie
gehörig den Rang abgelaufen. Wenngleich die Philosophen mittlerweile
tatsächlich nicht mehr den alleinigen Ruf der „Welterklärer“ haben und sich
dieser auf mehrere Schultern verlagert hat, so ist Philosophie doch immer noch
unverzichtbar, wenn es darum geht, aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
Schlüsse für den Menschen und die Gesellschaft zu ziehen und vermeintliche
„Tatsachen“ einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Mal ganz abgesehen davon,
dass philosophische Forschung aufgrund ihrer ganz einzigartigen Perspektive auf
den Menschen und die Welt auch an sich nach wie vor bedeutsam ist. Ganz so
einfach darf man es sich eben nicht machen!

Um die Wissenschaften auf ihre Aufgaben hin zu überprüfen,
sowie einen Versuch zu wagen, sie in unser Leben einzuordnen, habe ich mich
dazu entschlossen, diesen Text in bestimmte Abschnitte zu unterteilen. Um
überhaupt einen groben Überblick darüber zu bekommen, wie sich Wissenschaft
entwickelt hat und was es eigentlich bedeutet, wissenschaftlich zu denken oder
wissenschaftlich zu arbeiten, betrachten wir zunächst die Geschichte der Wissenschaften
und im Anschluss Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens. Da
wissenschaftliches Denken gleichbedeutend mit kritischem Denken ist, was für
alle Menschen gleichermaßen wichtig ist, ganz gleich welchen Bildungsgrad und
welche Ausbildung sie vorzuweisen haben, erachte ich es als unumgänglich,
wissenschaftliche Methoden zumindest in Ansätzen zu vermitteln. Wissenschaft
ist nichts, was sich komplett unserer alltäglichen Erfahrungswelt entzieht und
auch nichts, was nur von weltfremden Spinnern betrieben wird! Mit diesen
Vorurteilen aufzuräumen, wird allerhöchste Zeit! Erst danach haben wir die
Grundlagen erarbeitet, die es uns ermöglichen, die Themen auf einer ethischen
Ebene zu betrachten und uns zu fragen, was wir mit der Wissenschaft anfangen dürfen
oder sollen. „Darf Wissenschaft alles?“ ist die Grundfrage, die uns im
Hinterkopf bleibt und als roter Faden für die folgende Ausarbeitung dient.

 

Zu behaupten, Wissenschaft gibt es schon so lange, wie es den
Menschen gibt, wäre falsch. Der urzeitliche Mensch war zu sehr damit
beschäftigt, sein eigenes Überleben, sowie den Fortbestand der Art zu
gewährleisten, als dass er sich beispielsweise mit Naturphänomenen hätte
auseinandersetzen können. Dafür fehlten ihm schlichtweg die Muße und dem
primitiven Menschen womöglich auch der Intellekt, der für theoretische
Auseinandersetzungen erforderlich ist.

Im Gegensatz zu den anderen Tierarten gelang es dem Menschen
jedoch irgendwann, sich über die Natur aus der er selbst stammt, hinwegzuheben,
indem er sich selbst zivilisierte. Jener Moment, in dem eine Gruppe oder
vielleicht auch nur ein einziger Mensch aufgrund der Zivilisierung nicht mehr
um sein eigenes Überleben in der Savanne bangen musste und er quasi Langeweile
empfand, da er ja jetzt quasi nichts mehr zu tun hatte, stellt wohl die Geburt
der Wissenschaft dar. Plötzlich hatte der Mensch nämlich die Zeit und Muße,
sich selbst und die Welt um ihn herum bewusster wahrzunehmen und zu
hinterfragen. Das Staunen und sich wundern darüber, warum die Welt und das
Leben so ist, wie es ist, stellt den Ursprung der Wissenschaften dar. Als erste
wissenschaftliche Disziplin überhaupt entstand die Philosophie als Antwort auf
das Staunen und Zweifeln.

Der Anbeginn der Wissenschaften lässt sich mit Bestimmtheit
aufgrund fehlender Zeugnisse nicht bestimmen. Einer der ersten Philosophen, die
der westlichen Philosophie bekannt sind, hieß Thales von Milet (625 v.Chr.-546
v.Chr.), der auch als Mathematiker in Erscheinung trat, was darauf schließen
lässt, dass Philosophie und Mathematik als Teil ein und desselben Denkprozesses
ungefähr zur gleichen Zeit entstanden. Diese beiden Disziplinen legten
erstmalig die Grundsätze der Logik fest und ermöglichten somit überhaupt erst
die Voraussetzungen für alle weiteren Wissenschaften, denn das logische Denken
ist stets ein Grundpfeiler einer jeden seriösen Wissenschaft.

Daraus entwickelten sich später die sogenannten
Naturwissenschaften, die uns heute beispielsweise als Biologie, Chemie oder
Physik bekannt sind, wobei zu dieser frühen Zeit der Forschung noch nicht
derart differenziert wurde.

Die Philosophie in dem ganzen Entwicklungsprozess als „Mutter
aller Wissenschaften“ zu bezeichnen, ist keine Übertreibung eines eingebildeten
Philosophen, sondern sehr nah an der Wahrheit, wenn man bedenkt, dass nahezu
alle uns heute bekannten Wissenschaften ihren Ursprung in der früher alle
Bereiche abdeckenden Philosophie haben. Nicht nur die Naturwissenschaften,
sondern auch Geistes-und Sozialwissenschaften, wie die Psychologie und
Soziologie, die erst im 19. Jahrhundert entstanden und sich mit der
philosophischen Frage nach dem Wesenskern des Menschen und von Gesellschaften
auseinandersetzen. Wie bereits angedeutet, wurde lange Zeit gar nicht zwischen
den verschiedenen Wissenschaften unterschieden und Mathematik, Chemie,
Philosophie und dergleichen alles in einen Topf geworfen. So wurde
beispielsweise Isaac Newton (1643-1727), der uns heute in erster Linie als
Physiker bekannt ist, von seinen Zeitgenossen nur als „Philosoph“ im
Allgemeinen bezeichnet.  Erst im Laufe
des 18. Jahrhunderts sind zwischen den Wissenschaften Grenzen gezogen worden,
um besser differenzieren zu können. Aus diesem Grund werden wir heutzutage mit
einem Haufen von Einzelwissenschaften konfrontiert. Da kann man schnell den
Überblick verlieren! Das Problem hierbei ist allerdings, dass die Grenzen
zumeist recht willkürlich gezogen wurden. Die wissenschaftliche Praxis
verdeutlicht nämlich, dass im Grunde genommen alle Wissenschaften miteinander
verwoben sind und es wenig sinnvoll ist, alles einzeln und für sich stehend zu
betrachten. Die Übergänge sind fließend. Zum Beispiel in der Quantenphysik,
eine Disziplin, die wegen ihres Namens als Teilgebiet der Physik betrachtet
wird, in Wahrheit jedoch viel eher chemisch anmutet, da man sich hierbei mit
den allerkleinsten Atomen und Molekülen, sowie deren Aufbau und Funktionsweise
auseinandersetzt. Auch die Psychologie wird durch neurologische Erkenntnisse
über die Zusammenhänge im menschlichen Gehirn unterstützt, also auch mithilfe
der Biochemie. Meines Erachtens ist die Aufteilung in Einzelwissenschaften vor
diesem Hintergrund vollkommen unsinnig, geht es uns letztendlich doch allen um
das große Ganze, um die Wahrheit, nach der wir alle streben. Auch an dieser
Stelle kommt die Philosophie als Vermittlerin zwischen den Einzelwissenschaften
wieder ins Spiel, die das große Ganze bei allen Streitigkeiten untereinander
stets im Blick behält. Ein einseitiger Wahrheitsbegriff, der sich nur auf
Mathematik oder Psychologie beschränkt, ist keineswegs zielführend.

Welche Wissenschaft auch immer man betreibt und wie auch
immer man diese aufzuteilen gedenkt, so ist der Kern aller Wissenschaften doch
immer das gleiche zutiefst im Menschen verankerte Bedürfnis nach Wahrheit. Die
Neugier des Menschen, die Welt verstehen zu wollen, ist der Motor einer jeden
Wissenschaft. Die Welt verändern kann schließlich auch nur der, der sie
versteht. Der Wunsch nach Wissen und das Bedürfnis dementsprechend zu forschen,
kennzeichnet den Menschen wesentlich und unterscheidet ihn von den anderen
unbewusst lebenden Tieren, die die Welt nicht verstehen wollen und können,
sondern nur in ihr zurechtkommen. Vielleicht verstehen wir Menschen die Welt
besser aber kommen wir deswegen auch besser in ihr zurecht?

Ebenfalls ihren Ursprung in der Philosophie haben
wissenschaftliche Methoden, die dazu dienen, Erkenntnisse über die Welt zu
gewinnen. Diese „Werkzeuge“ des Denkens werden in jeder Wissenschaft verwendet,
weshalb es sich lohnt, sich mit einer Hand voll Methoden auseinanderzusetzen,
wenngleich dieser Essay nur einen kleinen Einblick geben kann, fernab von
Vollständigkeit.

Die wichtige Grundlage ist zunächst einmal, Wissenschaft von
Meinungen zu unterscheiden, etwas, was nicht immer einfach ist. In der
Wissenschaft spricht man von Hypothesen, dies sind zunächst einmal nur
Vermutungen, aber solche, die gut begründet sind und auf einer logischen
Grundlage basieren. Die Behauptung: „Auf dem Mond ist ein Mann, der uns
beobachtet“, ist keine wissenschaftliche Hypothese, da es für ihren Wahrheitsgehalt
keinerlei Beweise gibt. Hierbei handelt es sich um Meinungen, Weltanschauungen
oder allenfalls noch Verschwörungstheorien. Fake News würde man heute sagen. Bei
der Aussage „Rauchen kann tödlich sein“, liegt dagegen eine wissenschaftliche
Hypothese vor, da diese Aussage wissenschaftlich begründet werden kann. Zum
Beispiel gibt die chemische Erforschung der Inhaltsstoffe einer Zigarette,
sowie Erfahrungswerte wie Statistiken und Messwerte, ausreichend Belege für die
Gefahr des Rauchens, damit die Aussage als tragbar angesehen werden kann. Dass
eine Hypothese jedoch richtig ist, muss sich erst noch erweisen. Als
Wissenschaftler darf man nicht allzu lange an seiner Hypothese festhalten,
sobald sich diese als nicht mehr tragbar herausstellt. Da Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen auch nur Menschen sind, fällt dieser Schritt besonders
schwierig. Aber die Einsicht, dass man sich jederzeit irren kann und die
Offenheit, neue Wege zu gehen und tragbarerer Hypothesen anzuerkennen und
fortan auch zu vertreten, gehört zur seriösen wissenschaftlichen Arbeit einfach
dazu.

Um eine Hypothese auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu
überprüfen, kann man sich mehrerer Methoden bedienen, beispielsweise indem man
eine Gegenthese aufstellt und dann erarbeitet, welche von beiden sinnvoller
ist. Sind zwei Hypothesen gemäß des aktuellen Kenntnisstandes als gleichwertig
anzusehen, so gilt, dass die einfachere von beiden als wahr betrachtet wird,
denn je komplexer eine Theorie ist, desto unwahrscheinlicher wird sie automatisch.

Grundsätzlich gibt es zwei große Methoden, um Hypothesen
aufzustellen: Man kann entweder induktiv oder deduktiv vorgehen.

Deduktiv bedeutet, vom Allgemeinen auf das Spezielle zu
schließen oder einfacher gesagt, vom großen Ganzen auf den konkreten Einzelfall.
Ein bekanntes Beispiel ist die Beobachtung von Schwänen in Bezug auf die Farbe
ihres Gefieders. Wenn wir deduktiv vorgehen, stellen wir die Hypothese zuerst
auf und behaupten: Alle Schwäne sind weiß. Dass alle Schwäne weiß sind, ist in
diesem Fall das Allgemeine. Wenn ich mich jetzt an einen See begebe, um dort
Schwäne zu beobachten, sehe ich, wie ein Schwan nach dem anderen an mir
vorbeischwimmt und ich schließe bereits im Vorfeld aufgrund meiner Hypothese,
dass auch der nächste Schwan, den ich in Kürze sehen werde, weiß sein muss.
Denn wenn ein Schwan allgemein weiß ist, wird auch der nächste einzelne Schwan
weiß sein!

Bei der Induktion geht man genau andersherum vor. Hierbei
schließt man vom Speziellen auf das Allgemeine. Die Naturwissenschaften haben
lange nach diesem Prinzip gearbeitet. Bevor wir uns also überhaupt Gedanken
über die Farbe von Schwänen machen, vertrauen wir unseren empirischen
Forschungen und Beobachtungen, indem wir uns als erstes an den See begeben und
jeden einzelnen Schwan betrachten, der uns begegnet. Wir sehen zahlreiche
Einzelfälle von Schwänen, also das Spezielle und stellen fest, dass das weiße
Gefieder allen Einzelfällen gleichermaßen zu eigen ist. Daher schließen wir von
der speziellen Beobachtung auf das Allgemeine und legen allgemeingültig die
Hypothese fest: Alle Schwäne sind weiß!

Induktion und Deduktion haben sich zwar in der Geschichte der
Wissenschaften als durchaus hilfreich erwiesen, doch das Fundament auf dem
beide Prinzipien beruhen ist äußerst instabil. Das Problem bei beiden ist
nämlich, dass ein einziges Gegenbeispiel reicht, um die gesamte Hypothese als
falsch zu enttarnen. Wissenschaften haben immer den Anspruch auf
Allgemeingültigkeit und eine allgemeingültige Aussage wie „Alle Schwäne sind
weiß“ wird bereits durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegt, denn dann trifft
ja rein logisch betrachtet nicht mehr zu, dass alle weiß sind, da es ja den
einen gibt, der eine andere Farbe aufweist. Tatsächlich gibt es Schwäne, die
schwarz sind und in Australien leben. Unsere Erkenntnisse, die sich aus
Induktion und Deduktion ergeben haben, sind also nicht richtig gewesen! Um
dieser Gefahr vorzubeugen, hat man die Wissenschaft um das Prinzip der
Falsifikation erweitert. Dies bedeutet, dass man sich nicht darum bemüht, nach
Belegen für eine Hypothese zu suchen, sondern ganz bewusst nach Gegenbeispielen
und aktiv versucht, Thesen zu widerlegen. Die wissenschaftlich tragbarste These
ist folglich die, die den Widerlegungsversuchen am ehesten Stand hält. Wenn wir
in unserem Beispiel nur nach weißen Schwänen Ausschau halten, um unsere These
zu belegen, so kommen wir kein Stück weiter und verweilen in der Annahme, dass
wir richtig lägen. Halten wir aber nach schwarzen Schwänen Ausschau, so können
wir wirklich herausfinden, wie gut unsere Hypothese in Wahrheit ist. Das
Bemühen um Widerlegung ist das, was Falsifikation ausmacht. Voraussetzung
dafür, dass eine These als wissenschaftlich angesehen wird, ist überdies auch,
dass sie prinzipiell falsifizierbar ist. Die Annahme „Gott existiert“ ist nicht
wissenschaftlich, da sich diese Behauptung unserer Erfahrungswelt und logischen
Überlegungen völlig entzieht. Selbst wenn wir es wollten, hätten wir nicht die
Möglichkeiten, diese These zu widerlegen, da uns hierfür schlichtweg die Mittel
fehlen. Die These kann also nicht falsifiziert werden, nicht einmal rein
theoretisch und somit wird sie als unwissenschaftlich eingestuft. Das muss
natürlich nicht bedeuten, dass sie falsch ist aber wir können es eben nicht
erforschen und sie verliert somit an Bedeutung, zumindest für Wissenschaftler.

Dies ist eine gute Überleitung zu unserem neuen Thema, den
Missverständnissen über Wissenschaft. Allgemein wird Wissenschaft gerne mit
Fakten in Verbindung gebracht, weshalb ihr allgemeine Wahrheitsgültigkeit
nachgesagt wird. Das stimmt jedoch nicht! Wissenschaft ist nicht unumstößliche
Wahrheit. Wissenschaften können beispielsweise mit Hilfe von Logik versuchen,
sich einem schwierigen Thema zu nähern oder statistische Daten berechnen und
Messungen durchführen, die Interpretation dessen ist allerdings in den meisten
Fällen nicht eindeutig und bietet viele Ansätze. Zudem beziehen sich
wissenschaftliche Erkenntnisse oftmals nur auf einen kleinen Geltungsbereich,
wo sie zwar den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, welcher jedoch nicht
im gleichen Maßstab auf einen anderen Bereich angewandt werden kann. Beispiel
hierfür ist die Evolutionstheorie Darwins, die nicht verallgemeinert auch auf
die menschliche Gesellschaft zutrifft und die Durchführung dessen in einem
unwissenschaftlichen Sozialdarwinismus resultiert. Entgegen dem Wunsch und der
Vorstellung vieler Menschen bieten die Wissenschaften in der Regel keine
einfachen und schnellen Antworten. Im Gegenteil, wissenschaftliches Arbeiten
ist ein äußerst langwieriger und komplexer Prozess an dessen Ende nicht immer
eindeutige Aussagen stehen. Schließlich ist es unglaublich schwierig, einzelne
Teilaspekte zu isolieren. Wissenschaftlich ist es nämlich kaum möglich, zum
Beispiel herauszufinden, ob gewaltverherrlichende Kunst reale Gewalt begünstigt
(ein Thema, welches in meinen Essays auch immer wieder Anklang findet). Ein
logischer Schluss ist nämlich in beide Richtungen möglich. Es kann sein, dass
fiktive Gewalt einen Menschen dazu treibt, selbst gewalttätig zu werden, es
kann aber auch sein, dass ein von Natur aus gewalttätiger Mensch eher zu
gewaltverherrlichender Kunst greift. Statistiken, die besagen, wie viele
Amokläufer unter dem Einfluss von Videospielen standen, sind also nicht im
Geringsten zielführend. Zudem ist es schwer wissenschaftlich herauszufinden, ob
Amokläufe wirklich ihren Ursprung in einem einzigen Teilaspekt haben (der
gewaltverherrlichenden Kunst), der untersucht werden soll oder ob nicht andere
Aspekte oder aber eine Mischung aus alledem in den Mittelpunkt gerückt werden
sollten. Alles kann, nichts muss! So exakt, wie die meisten Menschen immer
denken, ist Wissenschaft nämlich doch nicht. Die Unterscheidung zwischen
Kausalität, also der notwendigen Folge einer Reaktion, die aus einer bestimmten
Aktion resultiert und Korrelation, also dem Zusammenhang, der jedoch auch
völlig zufällig sein kann, macht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
immer noch sehr zu schaffen.

Von ewigen Wahrheiten kann in den meisten Wissenschaften,
vielleicht von der rein auf Logik beruhenden Mathematik abgesehen, sicherlich
nicht die Rede sein, beziehen sich die Erkenntnisse doch stets auf den
aktuellen Kenntnisstand und können ebenso schnell wieder veralten und widerlegt
werden, sobald sich beispielsweise neue technische Möglichkeiten ergeben.
Wissenschaft also immer mit Wahrheit und Fakten gleichzusetzen, wie es immer
noch häufig geschieht, ist unangemessen und selbst wiederum sehr
unwissenschaftlich, da unkritisch und nicht reflektiert. Während Newton im 18.
Jahrhundert beispielsweise fest davon ausging, dass Zeit eine unumstößliche
Konstante ist, die immer und überall gleich ist (damalige wissenschaftliche
Erkenntnis), wissen wir heute dank Albert Einstein, dass Zeit nicht absolut,
sondern relativ ist und im Universum je nach Raum und Zustand variiert (heutige
wissenschaftliche Erkenntnis). Neugierig und offen für den Fortschritt und die
Weiterentwicklung sein und dabei nicht krampfhaft an veralteten Theorien
festhalten, gehört also auch zum Dasein als Wissenschaftler dazu.

Ebenfalls als problematisch erachte ich, dass die
Wissenschaften bedingt durch die wegen des Kapitalismus stattfindender
Kommerzialisierung einem strikten Nützlichkeitsdenken unterworfen werden.
Wissenschaft solle schließlich für irgendetwas gut sein, einen bestimmten Zweck
erfüllen. Klar, ohne die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Chemie und Physik
wäre der technische Fortschritt, die Entdeckung der Elektrizität, das Internet,
Autos, Handys, Flugzeuge aber auch Medikamente, Brillen und dergleichen gar
nicht erst möglich gewesen. Wissenschaft steht also häufig im Dienste der
Technik, um das Leben der Menschen zu verbessern und zu erleichtern und das ist
auch gut so! Dennoch sollte der Wert und die Bedeutung von Wissenschaften nicht
alleine an ihrem reinen Nutzen gemessen werden. Wissenschaftliche Betätigung
ist sinnstiftend und erfüllend für den schöpferischen und neugierigen Menschen
und aus diesem Grund verfügt Wissenschaft über einen Selbstzweck. Einzig dem
Streben nach Wahrheit und Erkenntnis sollte sie unterworfen sein. Genau wie ein
Mensch sich nicht durch seine Leistung und Dienste für die Gesellschaft in
seinem Wert definiert und rechtfertigen muss, so verhält es sich auch bei den
Wissenschaften. Die Würde der Forschung ist unantastbar!

Die Chemikerin und Populärwissenschaftlerin Dr. Mai Thi
Nguyen-Kim (geb. 1987) schreibt im neunten Kapitel ihres Buches „Komisch, alles
chemisch!“ (die genaue Ausgabe ist im Quellenverzeichnis aufgelistet)
beispielsweise über ein wissenschaftliches Experiment aus dem Jahr 1998, bei
dem die chemische Zusammensetzung von Fürzen untersucht wurde. Hierbei pupsten
die Studienteilnehmer, unter dem Einfluss von bestimmten Nahrungsmitteln wie
Bohnen stehend, in ein Röhrchen. An diesen wurde dann gerochen und der unangenehmen
Duft daraufhin in verschiedene Kategorien je nach Art des Geruches und
Intensität eingeordnet, um diese später auf bestimmte Nahrungsmittel
zurückzuführen. Eine sehr unterhaltsame Studie, die sicherlich zum Schmunzeln
anregt. Die Autorin selbst gibt in diesem Zusammenhang folgenden Kommentar ab:
„Was macht man nun mit diesem Wissen? Na ja, nicht jede Forschung muss zwingend
einem praktischen Zweck dienen, sie hat auch ohne eine Antwort auf `What´s in
it for me?´ eine Berechtigung. Der Kern der Wissenschaft ist es an erster
Stelle, die Welt besser zu verstehen, da gehören Flatulenzen nun einmal auch
dazu.“ (S. 164-165). Diese Aussagen treffen den Kern des Ganzen. Dem ist nichts
mehr hinzuzufügen!

Nachdem wir nun Missverständnisse über Wissenschaften (hoffentlich)
aus dem Weg geräumt und auch schon über ihre Aufgaben nachgedacht haben, so
drängt sich uns jetzt die Frage auf, ob Wissenschaft alles darf oder ob ihrer
Freiheit auch staatliche Grenzen gesetzt werden sollten.

Während ich genau die gleiche Frage in dem Essay über die
Freiheit der Kunst noch bejaht habe, also dass Kunst alles darf, so verneine
ich diese in Bezug auf die Wissenschaften. Die Begründung hierfür ist simpel.
In der Kunst kommen schlichtweg keine realen Lebewesen zu Schaden und ob gewaltverherrlichende
Kunst einen Einfluss auf reale Gewalt hat, ist, wie bereits dargelegt, höchst
spekulativ und nicht wissenschaftlich zu klären. In wissenschaftlichen
Experimenten, die an Tieren oder Menschen durchgeführt werden, können jedoch,
je nach Art des Experiments, sehr wohl real existierende Lebewesen direkt und
für jedermann offensichtlich zu Schaden kommen. Man denke nur an die
schrecklichen Menschenversuche Josef Mengeles im KZ Auschwitz!

Dass in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie China noch
vergleichsweise sehr stark darauf geachtet wird, der Wissenschaft gewisse
Grenzen aufzulegen, indem Menschenversuche verboten und auch Versuche, bei
denen Tiere zu Schaden kommen, zumindest eingeschränkt werden, halte ich aus
moralischer Sicht also für vollkommen richtig. Das Streben nach Wahrheit steht
nämlich in keinem Verhältnis zu daraus real resultierendem Leid. Und auch
utilitaristische Abwägungen, wonach das Leid von Wenigen zu Erkenntnissen
führen könnten, die später einmal sehr Vielen das Leben retten werden, stufe
ich als nicht überzeugend ein, bin ich doch der festen Ansicht, dass man
Lebewesen nicht gegeneinander abwägen und für andere Zwecke instrumentalisieren
sollte. Die Freiheit der Wissenschaften ist also wichtig und auch, dass viel Geld
in Forschungen investiert wird, dabei müssen jedoch gewisse Grenzen schlichtweg
eingehalten werden. Die Wissenschaften sind den Rechten von Menschen und Tieren
immer noch untergeordnet! Das Wohl von Lebewesen zu beeinträchtigen, ist durch
nichts zu rechtfertigen!

Wie sieht es jedoch aus, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse
indirekt Leid verursachen, da sie missbraucht wurden, was jedoch von dem
Wissenschaftler oder der Wissenschaftlerin selbst nicht beabsichtigt war? Ist
in diesem Fall der Urheber oder die Urheberin der Entdeckungen für die Folgen
verantwortlich?

Auch diese Frage verneine ich entschieden! Jeder ist nur für
sein eigenes Werk verantwortlich, da sie auf dem eigenen Handeln direkt
beruhen. Alles, was darüber hinaus geht und was letztendlich damit gemacht
wird, liegt nicht mehr meiner Hand! Alles kann ausgenutzt und missbraucht
werden, die Schuld liegt dann jedoch nicht mehr bei mir, sondern bei
denjenigen, die den Missbrauch durchgeführt haben. Mag sein, dass meine
Erkenntnisse die Werkzeuge geliefert haben, doch als Wissenschaftler strebe ich
schließlich nur nach der Erkenntnis selbst, wenn ich keine bösen Hintergedanken
habe. Natürlich trägt Einstein keine Schuld an der Erfindung der Atombombe, nur
weil sich die Erfinder seiner Erkenntnisse bedient und diese missbraucht haben.
Doch so lange man selbst nicht bei dem Missbrauch aktiv mitwirkt und man
dergleichen nicht beabsichtigt oder in Auftrag gegeben hat, so ist man auch
nicht für die katastrophalen Folgen zu verantworten. Das wäre zu einfach und
sehr ungerecht! Wäre es nicht auch absurd, Jesus für die grausamen Kreuzzüge im
Namen des Christentums und die Inquisition zu beschuldigen, Mohamed für
islamistische Terroristen oder Karl Marx für das stalinistische
Unterdrückungsregime?

So sehr ich vorsichtige Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen auch bewundere, die sich im Vorfeld Gedanken machen, was
man mit ihren Forschungen theoretisch alles Schlimme anstellen könnte und daher
auch eher zurückhaltend agieren, so würde ich doch niemals jemandes Forschung
aufgrund der potentiellen Missbrauchsgefahr unterdrücken. Letztendlich kann
alles missbraucht werden und darauf hat keiner Einfluss! Die Wissenschaften
haben neben ihren unglaublichen positiven Errungenschaften leider auch enormes
Zerstörungspotential. Sind alle Forscher und Wissenschaftlerinnen deswegen
Mörder? Man sieht, die Logik, so zu denken, ist absurd!

Ob wissenschaftliche Erkenntnisse nun in der Praxis umgesetzt
werden dürfen oder nicht, liegt nicht mehr im Verantwortungsbereich des
Forschers selbst. Diese Frage müssen sich andere Menschen stellen. Hier kommen
vor allem die Ethiker ins Spiel! Im Folgenden setzen wir uns mit der letzten
Frage auseinander, der des Dürfens. Wann darf Wissenschaft angewandt werden und
wann nicht? Wann ist etwas nur nützlich, wann ist die Gefahr eventuell zu groß?

Allgemein lässt sich feststellen, dass es enorm schwierig
ist, wissenschaftliche Erkenntnisse beispielsweise auf menschliche
Gesellschaften anzuwenden. Staaten und Gesellschaften, also alles
menschengemachte funktioniert nach eigenen Regeln und Gesetzen, die von der
Logik der Natur losgelöst sein können (hiermit meine ich selbstverständlich die
gesellschaftlichen Regeln selbst und nicht etwa die Naturgesetze, die natürlich
auf jeden wirken). Ebenso wenig ist es eindeutig, welche Folgerung aus einer
Erkenntnis richtig ist, beziehungsweise, ob eine Folgerung überhaupt sinnvoll
und notwendig ist.

Betrachten wir das Beispiel des von Adolf Hitler und den
Nationalsozialisten propagierte Weltbild des Sozialdarwinismus. Man ging damals
tatsächlich davon aus, dass es unter den Menschen verschiedene Rassen gibt
(damaliger Stand der Wissenschaft). Heute wissen wir natürlich, dass der Mensch
an sich eine Rasse ist, er aber nicht untereinander in verschiedene Rassen
aufgeteilt werden kann (heutige gesicherte Erkenntnis der Wissenschaften).
Dieses Beispiel verdeutlicht außerdem erneut, wie unsicher vermeintliche
wissenschaftliche „Fakten“ tatsächlich sind und dass auch die Wissenschaften
nicht immer die unumstößliche Wahrheit predigen. Evolution und Genetik sind
relativ junge wissenschaftliche Disziplinen, sie entstanden beide erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, dementsprechend steckte auch noch die Forschung in
den Kinderschuhen, was falsche Annahmen natürlich begünstigt. Auch Darwin
selbst spricht in seinen Werken immer wieder von den „Menschenrassen“.

Nehmen wir also an, dies entspräche wirklich der Wahrheit,
wie es die Menschen des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts taten und gehen davon
aus, dass es verschiedene Rassen von Menschen gibt. Die Schlussfolgerung, die
die Nationalsozialisten daraus zogen, ist gleich in vielerlei Hinsicht
unlogisch und nicht eindeutig. Zum einen lässt sich aus der Voraussetzung von
der Existenz verschiedener Menschenrassen nicht logisch auch eine
unterschiedliche Wertigkeit folgern. Bewertung ist meistens etwas sehr
menschliches, was alleine auf menschlichen Gefühlen beruht und nicht von
objektiver Gültigkeit ist, wie Fragen über Gut und Böse veranschaulichen.
Dennoch folgerten die Nazis, dass es eine Herrenrasse geben muss, die den
anderen von der Wertigkeit her überlegen ist. Nochmal, das ist kein logischer
Schluss, da Bewertung immer subjektiv und nicht logisch nachvollziehbar ist!
Doch nehmen wir auch dies an. Es gibt also eine Herrenrasse, die die Nazis als
„Arier“ bezeichnen.  An dieser Stelle
liegt ein zweiter Schluss vor, der nicht logisch ist. Die Nazis folgern, dass
der Herrenmensch das Recht, ja sogar die Aufgabe hat, alle anderen Rassen zu
unterdrücken und im besten Fall gänzlich auszurotten. Logik bedeutet
Notwendigkeit. Dieser Schluss erfolgt jedoch nicht mit Notwendigkeit und ist
somit auch nicht logisch. Aus der Überlegenheit einer Rasse könnte man
schließlich genauso folgern, dass diese aufgrund ihrer natürlichen Stärke die
Aufgabe hat, sich besonders fürsorglich um die Schwachen zu kümmern und quasi
gütig und gerecht zu herrschen.

Das Beispiel des Sozialdarwinismus ist perfekt geeignet, um
aufzuzeigen, welche enormen Gefahren es birgt, Wissenschaft unmittelbar auf
Mensch und Gesellschaft anzuwenden und wie Logik plötzlich in Unlogik und
Sachlichkeit in Unsachlichkeit mündet.

Da wir bereits erarbeitet haben, dass Wissenschaft
Selbstzweck ist, gibt es auch gar keinen Zwang, die theoretischen Ergebnisse in
unsere praktische Wirklichkeit zu integrieren. Es gibt ein „Kann“ unter
moralischen Umständen aber nie ein „Muss“, denn Wissenschaft muss sich nicht
durch Nützlichkeit rechtfertigen, um wertvoll und wichtig zu sein. Nur weil man
etwas kann, folgt daraus nicht, dass man es auch tun muss. Theoretisch kann ein
Erwachsener einen Säugling umbringen, aufgrund der körperlichen Überlegenheit.
Natürlich soll man dies aber nicht, man hat kein Recht darauf! Die
Wissenschaften erarbeiten das „Können“, über das „Sollen“ urteilt die Moralwissenschaft.

Ein Beispiel hierfür aus der wissenschaftlichen Praxis ist
die Künstliche Intelligenz und die Förderung der Forschung in diesem Bereich.
Dystopien und panische Menschen befürchten, dass die KI und Maschinen
irgendwann so gut sein werden, dass sie den Menschen beispielsweise in der
Arbeitswelt komplett ersetzen oder einfach direkt die Weltherrschaft an sich reißen.
Dabei wird allerdings völlig außer Acht gelassen, dass es auch noch so etwas
wie politische Entscheidungsträger, Verfassungsschützer oder Ethikräte gibt,
die über allem wachen und letztendlich die Entscheidungen fällen. Sicherlich
wird die KI in der Zukunft gut genug sein, den Menschen in sämtlichen Bereichen
zu übertrumpfen (das ist sie zum Teil ja jetzt schon), doch die Politik hat
doch auch die Möglichkeit, dies jederzeit zu unterbinden. Nur weil solche
Maschinen theoretisch hergestellt werden könnten oder sogar schon werden, heißt
das doch noch lange nicht, dass sie auch eingesetzt werden müssen. Politiker
können die Tür auch schließen, wenn absehbar ist, dass die gesellschaftlichen
Folgen zu verheerend werden können. Ich gehe fest davon aus, dass dies auch so
sein wird im Ernstfall! KI kann gerne zum Wohle der Menschheit in Branchen
eingesetzt werden, wo es uns moralisch notwendig oder sinnvoll erscheint aber
wir müssen uns nicht komplett nach ihnen richten. Nochmal in aller
Deutlichkeit: Ein „Können“ allein begründet niemals ein „Sollen“ oder „Müssen“!

Das meiner Meinung nach wichtigste Prinzip der
Wissenschaften, in gewisser Weise ihr oberstes Gebot, wurde von dem
schottischen Aufklärungsphilosophen David Hume (1711-1776)  begründet. Schlüsse, die aus einem
„Ist-Zustand“ ein „Sollen“ folgern, bezeichnet er als „Naturalistischen
Fehlschluss“. Davon auszugehen, dass, nur weil KI da ist, um bei unserem
Beispiel zu bleiben, sie auch eingesetzt werden soll, ist ein solcher
„Naturalistischer Fehlschluss“.

Dieses Prinzip bezieht sich natürlich auf alle
wissenschaftlichen Erkenntnisse im Allgemeinen. Vom natürlichen Sein
unmittelbar eine gesellschaftliche Norm abzuleiten ist ein „Naturalistischer
Fehlschluss“ und somit, laut Hume, zu unterlassen. Der Schluss ist unzulässig!
Eine Folgerung (Konklusion) muss nicht automatisch richtig oder natürlich sein,
nur weil die Voraussetzungen (Prämissen), die sie bedingen natürlich und
richtig sind.

Ein weiteres Beispiel für einen „Naturalistischen
Fehlschluss“ könnte lauten: „Männer sind von Natur aus stärker als Frauen,
deshalb steht ihnen jederzeit eine Vergewaltigung zu.“

Eine wohl biologische Richtigkeit (die körperliche
Überlegenheit der Männer in den meisten Fällen), kann und darf niemals
Rechtfertigung oder Erlaubnis für ein gesellschaftliches Sozialverhalten (einer
Vergewaltigung) sein!

Oder etwa auch im medizinischen Sinne: „Medizin A ist
natürlich, Medizin B ist künstlich, also ist A zu bevorzugen.“ In diesem Fall
geht man von der Überlegenheit natürlicher Produkte aus im Vergleich zu
solchen, die in einem chemischen Labor entstanden sind. Je nach Krankheit oder
Situation kann aber ein künstliches Medikament sogar noch besser sein,
schließlich können dort die Inhaltsstoffe ganz bewusst gewählt werden, während
bei natürlicher Medizin immer ein gewisses Risiko besteht, auf bestimmte Stoffe
zu stoßen, wie noch nicht ausreichend erforscht sind oder womöglich gar nicht
berechenbare Nebenwirkungen hervorrufen. 

Achten Sie bei politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen
einmal darauf, wie oft Politiker oder vermeintliche „Experten“ ungewollt und
unbewusst einen „Naturalistischen Fehlschluss“ begehen. Meiner Erfahrung nach
tappen besonders oft Konservative in diese Falle. Sie scheinen wohl anfällig
dafür zu sein, aus dem „Sein“, dem „Ist-Zustand“, wissenschaftlichen
Erkenntnissen oder wie auch immer man es nennen möchte, Regeln und Normen für
das Leben der Menschen abzuleiten. Dabei fallen mir Argumentationen ein, die
„erklären“, wie „furchtbar“ Homosexualität doch sei. Fortpflanzung sei ja in
der Natur stets das wichtigste Prinzip, um die Arterhaltung zu gewährleisten
und bekanntermaßen können sich Homosexuelle untereinander nicht fortpflanzen,
weshalb Homosexualität mit Therapien, Gewalt, der Unterbindung der gleichgeschlechtlichen
Ehe oder womit auch immer, unterbunden werden müsste! Des Weiteren sei die Frau
ja diejenige, die die Kinder zur Welt bringt und daher sollte sie auch zuhause
bleiben, sich um Küche, Haushalt und die Kinder kümmern, während der Mann arbeiten
gehe.

In solchen Situationen weiß ich nie, ob ich stolz grinsen
soll, darüber, mal wieder einen „Naturalistischen Fehlschluss“ erkannt zu haben
oder einfach nur empört den Kopf schütteln muss.

Wie schön, dass wir einem Philosophen die Antwort auf unsere
Frage zu verdanken haben, über den richtigen Umgang mit Wissenschaft und dem,
was wir dürfen und was nicht.

 

Dieser Essay soll keineswegs den Eindruck vermitteln, ich
würde die praktische Anwendung von Wissenschaft auf unser Leben generell
ablehnen. Keineswegs! Im Gegenteil, wenn es sich sinnvoll anbietet und in einem
moralisch vertretbaren Rahmen stattfindet, sollte es sogar unbedingt gemacht
werden! Technischer Fortschritt und dergleichen, alles schön und gut aber bitte
nur in dem Maße, wie es für Mensch und Natur vertretbar ist. Und die Logik der
Erkenntnisse bitte auch vom Menschen selbst fern halten, denn der Mensch ist im
Grunde ein durch und durch irrationales Wesen, welches nicht nach Prinzipien
der Logik funktioniert.

Aufklärung über Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten,
halte ich für enorm wichtig. Zum einen sollen die Menschen wissen, wo das ganze
viele Geld bei Forschungen hinfließt, um die Politik und unsere Demokratie
transparenter zu gestalten. Zum anderen sollten jedem Menschen
wissenschaftliche Maßstäbe im Denken, sowie die zu Beginn thematisierten
„Werkzeuge“ kritischen Denkens zur Aneignung zur Verfügung gestellt werden.
Unsere Demokratie profitiert von mündigen, wissenschaftlichen Bürgern, die
weder Verschwörungstheoretikern, wie es leider im Falle der Demonstrationen
gegen die Corona-Maßnahmen der Fall ist, noch unwissenschaftlichen Populisten
Glauben schenken. Nur mit möglichst viel Bildung wird es uns möglich sein, die
Gefahren unserer Zeit zu überwinden. Generell ist es einfach sinnvoller, öfter
der Wissenschaft zu vertrauen, wenngleich man diesbezüglich seine Erwartungen
nach unten fahren sollte, denn wie oft genug beschrieben, kann sich auch
Wissenschaft irren. Doch lieber wissenschaftlich irren, als sich in Irren zu irren,
habe ich Recht? Vor allem bei der Problematik des Klimawandels wäre eine
deutlich wissenschaftlichere Haltung von Politikern und Bürgern wünschenswert!

Um Wissenschaft populärer und einer breiten Maße zugänglicher
zu machen, müssen sich auch die Wissenschaften selbst vermehrt an die
Öffentlichkeit wenden, Missverständnisse aufdecken, aufklären und verständlich
lehren, um den Menschen auch einen richtigen Mehrwert zu bieten. Erforderlich
ist dafür auch ein verstärkter Dialog von Wissenschaftlern verschiedener
Bereiche. Ich werde mich immer für eine übergeordnete, fächerübergreifende
Zusammenarbeit einsetzen, denn nur zusammen, können wir der Wahrheit ein Stück
näher kommen. Wissenschaft verständlich machen und an den Mann und die Frau
bringen, ist wichtig. Genauso wichtig, wie die Zusammenarbeit aller
Wissenschaften! Wir sitzen alle im selben Boot und wollen an das gleiche Ziel!
Wissenschaftliche Betätigung macht Spaß und ich kann es nur jedem raten,
auszuprobieren und dem eine Chance zu geben, ohne Nützlichkeitsabwägungen im
Hinterkopf. Sich einfach der Sache hingeben um ihrer Selbst willen! Um der
Wahrheit willen!

Mein Dank gilt auch all den Wissenschaftlern und
Wissenschaftlerinnen, die in der Forschung aktiv sind, sich rund um die Uhr,
auch an Wochenenden, in Laboren aufhalten und schlecht bezahlte und befristete
Arbeitsverhältnisse an den Universitäten eingehen und das, obwohl sie mit ihren
Qualifikationen in der Industrie oder Wirtschaft richtig viel Geld verdienen
könnten und das alles nur, weil die Leidenschaft für die Wissenschaft, die
„Liebe zur Weisheit“ stärker ist. Ihr seid richtig cool! Die Welt wäre besser,
wenn alle Menschen nur etwas wissenschaftlicher wären!

 

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