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Staat gegen Gewissen: Der Fall Carola Rackete

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01.07.19 18:36
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Kaum ein anderes Thema beherrscht die aktuelle mediale Berichtsersattung mehr als das aufsehenserregende Schicksal von Carola Rackete. Unverständnis und großer Unmut stehen bei dieser zutiefst umstrittenen und polarisierenden Problematik großer Zustimmung gegenüber. Ein weiteres Mal scheint sich die Gesellschaft zu spalten, in sich feindlich gegenüberstehenden Lagern. Rechts und Links konkurrieren erneut um die Vorherrschaft. Vergessen wird dabei oftmals der eigentliche Kern, der Ursprung des Themas an sich. Ideologien und Prinzipien erhalten den Vorzug, Vernunft wird vernachlässigt. Warum dieses Verhalten nicht nur unangebracht, sondern auch höchst gefährlich sein kann und was der Fall Carola Rackete konkret beinhaltet, wird in diesem Essay erläutert werden.
Um die Thematik selbst bewerten und kritisch analysieren zu können, ist es zunächst vonnöten, sich der genauen Hintergründe bewusst zu werden. Schließlich können weder politische noch ethische Diskussionen  ohne Kentnisse der übergeordneten Zusammenhänge geführt werden.
Carola Rackete war Kapitänin der Sea-Watch 3, einem privaten Rettungsschiff, welches im Mittelmeer Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahrt. Diese überqueren, beispielsweise von Libyen kommend, das Mittelmeer mit, von Schleppern zur Verfügung gestellten Schlauchboten. Problematisch ist hierbei jedoch, dass die Boote absichtlich mit zu wenig Treibstoff ausgestattet werden, um Geld zu sparen. Eine vollständige Überquerung des Meeres ist somit praktisch ausgeschlossen. Der Tod tausender Menschen wird billigend in Kauf genommen. Dass das Handeln der profitorientierten Schlepper moralisch betrachtet absolut verwerflich und in höchstem Maße inakzeptabel ist, steht außer Frage. An dieser Stelle treten letztendlich die Rettungsschiffe in Erscheinung. Diese wurden in den vergangenen Jahren offiziell von der EU zur Rettung von Flüchtlingen eingesetzt. Schätzungen zufolge konnten somit insgesamt 50.000 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt werden. Dieses Verfahren wurde jedoch mittlerweile eingestellt. Ausschlaggebend hierfür war in erster Linie das 2003 von der EU beschlossene "Dublin-Abkommen", welches besagt, dass ein Flüchtling in dem europäischen Staat, den er als erstes betritt, auch seinen Asylantrag stellen muss. Dass es sich bei dem hiervon betroffenen Staat aufgrund der Lage notwendigerweise überwiegend um Italien handelt, missfällt der rechten Regierung dieses Landes. Aus diesem Grund machte Italien von seinem Veto-Recht Gebrauch und stellte somit sicher, dass Rettungsschiffe nicht mehr eingesetzt werden dürfen. Die einzige Möglichkeit, Menschen noch vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu bewahren, sind somit private Rettungsschiffe, wie es die Sea-Watch 3 darstellte, wenngleich dieses Vorgehen offiziell als illegal gilt.
An Bord des besagten Schiffes befanden sich 53 gerettete Flüchtlinge. Frau Rackete steuerte die italienische Insel Lampedusa an, trotz des eindeutigen Verbots durch Italiens Innenminister Matteo Salvini. Letztendlich sah sich die Kapitänin gezwungen, an Land anzulegen, da sie die Zustände auf dem Schiff nach einer solch langen Fahrt für nicht mehr zumutbar betrachtete. Im Anschluss wurde die Sea-Watch 3 beschlagnahmt und Frau Rackete sofort festgenommen. Da man ihr Beihilfe zur illegalen Einwanderung, sowie Widerstand gegen Staatsgewalt vorwirft, drohen ihr bis zu zehn Jahre Gefängnis!
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich dieser komplizierte Fall auf ein zentrales Thema reduzieren lässt, nämlich auf den Widerspruch zwischen Gewissen und staatlicher Anordnung und die damit einhergehende Frage nach dem, was gerecht ist. Interessanterweise trat dieses Dilemma in der Geschichte immer wieder auf, was verdeutlicht, dass  die Problematik dieser offensichtlichen Diskrepanz den Menschen bereits seit Anbeginn der Gründung moderner Staaten begleitet. Als Beispiele hierfür dienen die Mauerschützen, die an der Grenze der ehemaligen DDR eingesetzt wurden, um Menschen an der Flucht aus der DDR zu hindern. Dass glücklicherweise viele der Schützen absichtlich ihr Ziel verfehlen, stellt unter Beweis, dass die staatliche Gesetzgebung nicht mit dem Gewissen des Betroffenen zu vereinbaren waren. Ähnlich verhielt es sich zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Als berühmtes Beispiel für den Widerstand gegen eine menschenverachtende Regierung dient Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der einen Attentatsversuch auf Adolf Hitler ausübte.
So abwegig der Vergleich zunächst erscheint, so fallen doch gewisse Parallelen mit dem Fall Carola Rackete auf. Ein Staat, der seine Autorität über das Leben von Menschen stellt, wie es im Falle Italiens vorliegt, weist eindeutig diktatorische Züge auf, was für einen demokratischen Staat wie Italien eigentlich inakzeptabel ist und auch innerhalb der EU unter keinen Umständen toleriert werden sollte. Der Mensch sollte stets im Vordergrund stehen, seine Würde zu schützen die wichtigste Aufgabe aller staatlichen Gewalt sein! Man könnte die Würde eines Menschen nicht schlimmer missachten, als ihn auf erbärmlichste Weise sterben zu lassen, nämlich durch den qualvollen Tod durch Ertrinken.
Sicherlich muss ein Staat über gewisse Autorität verfügen, da das Prinzip des Staates ansonsten ad absurdum geführt würde. Ein Staat, der über keinerlei Befugnisse und Rechte verfügt könnte nämlich niemals existieren. Es ist folglich des Staates Aufgabe Gesetze zu erlassen und auch Verbote durchzusetzen. Dieses Privileg endet jedoch, wenn das Leben und die Unversehrtheit des Menschen auf dem Spiel steht. Dieses zu ignorieren würde nämlich dem bereits angedeuteten, obersten Grundsatz widersprechen, dem ein jeder Staat Folge zu leisten haben sollte, von einem rein moralischen Standpunkt aus betrachtet: Die Würde und das Leben zu schützen!
Außerdem hebeln sich viele Gesetze gegenseitig aus und widersprechen sich gegenseitig. So ist beispielsweise auch ein Seefahrergesetz existent, welches besagt, man müsse Schiffsbrüchige aufnehmen und an Land absetzen, da es sämtlichen humanitären Werten zuwiderläuft, sie ertrinken zu lassen. Hierbei handelt es sich um das internationale Seerecht! Diesem hat Frau Rackete definitiv Folge geleistet! Dementsprechend kann das bloße Befolgen von Befehlen nicht als Maßstab für moralisches Handeln dienen. Die Moral ist ohnehin losgelöst von staatlichen Anordnung und nur auf Instanzen wie den eigenen Verstand, das Gefühl oder das Gewissen zurückzuführen.
Auch das Argument, Frau Rackete habe zur illegalen Einwanderung beigetragen, lässt sich leicht widerlegen. Im Grunde genommen hielt sie nur die Zustände auf dem Schiff für nicht länger tragbar. Abgesehen davon liegen der italienischen Regierung ausschließlich ideologisch begründete Argumente zugrunde. Diese sind zurückzuführen auf Abschottungspolitk, Nationalismus, Populismus und womöglich gar Fremdenfeindlichkeit. Keine Ideologie der Welt vermag das tatenlose Zusehen beim massenhaften Sterben von Menschen einem vernünftigen Menschen begreiflich zu machen! Unterlassene Hilfeleistung ist bekanntlich eine Straftat. Warum gilt dies nicht in diesem Fall?
In Bezug auf Frau Rackete als Person lassen sich zwei Feststellungen ausmachen. Sie ist eine Person, die sich dem Gesetz und dem Staat widersetzt hat. Eine solche Beschreibung, die, bei einer reinen Betrachtung der faktischen Tatsachen, auf sie zutrifft, erweckt Assoziationen wie, dass es sich bei ihr um eine Mörderin handelt, oder jemanden, der eine Bank überfallen hat. Eine Kriminelle eben. Doch was ist, wenn man eine andere Feststellung in Bezug auf Frau Rackete trifft? Diese lautet, dass sie eine Person ist, die Menschenleben gerettet hat! Auch hierbei handelt es sich rein faktisch betrachtet um eine Tatsache! Verbindet man die beiden Ausgangslagen miteinander, ergibt sich eine Konklusion, die folgendermaßen lautet:
"Frau Rackete hat sich dem Gesetz und dem Staat widersetzt, um Menschenleben zu retten!"
Wie man diese Aussage bewertet, liegt ebenfalls im individuellen Ermessen. Man kann argumentieren, dass in diesem Fall Selbstjustiz vorliegt. Zweifellos weist selbige zahlreiche Schwierigkeiten auf, jedoch ist im Einzelfall stets die der Handlung zugrunde liegende Intention zu überprüfen. Bei dem vorliegenden Thema, fällt die Bewertung eindeutig aus. Frau Racketes Handeln entspringt ihrem Gewissen und somit dem gesunden Menschenverstand! Die Handlung stellt einen Akt größtmöglicher Humanität dar, da sie sich ethischer Grundwerte von Mitmenschlichkeit und Zusammenhalt bedient, nämlich dass Menschen in Not zu helfen ist, wenn man selbst über die entsprechenden Mittel verfügt. Menschliches Zusammenleben sollte sich auf den moralischen Grundwerten stützen, dass die Stärkeren die Schwächeren unterstützen! Dies ist Pflicht der Menschheit gegenüber!
Ebenfalls für Frau Rackete spricht, dass sie sich aufgrund des Verbots durch Salvini der sich aus ihrem Handeln ergebenden Konsequenzen bewusst war. Sie wusste ganz genau, dass sie staatlicher Anordnung zuwiderhandelt und dementsprechend mit einer harten Strafe zu rechnen hatte. Nichtsdestotrotz hat sie dies nicht davon abgehalten, ihrem Gewissen zu folgen und ihrer moralischen Pflicht nachzugehen, indem sie die Flüchtlinge in Sicherheit brachte. Dieses Handeln verdient allerhöchsten Respekt, da es sich einzig und allein an der Moral orientiert und nicht an egoistische und eigennützige Absichten gebunden ist.
Gerechtigkeit besagt, dass alle Menschen gleich an Wert sind. Frau Rackete rettete diese Menschen vor dem Ertrinken, da sich der Gleichheit an Wert all dieser Betroffenen, sich selbst eingeschlossen, bewusst war. Daraus folgt, dass ihr Handeln vollkommen gerecht war und somit alles andere als kriminell. Staatliche Gesetze sind schlichtweg zu eindimensional um die Tragweite eines moralischen Problems genaustens zu beleuchten. Dementsprechend ist eine Änderung der Perspektive für ein allumfassendes Verständnis erforderlich.
Überaus passend zu diesem Thema sind überdies die Lehren des großen Rechtsphilosophen der Weimarer Republik, Gustav Radbruch (1878-1949). Dessen berühmte "Radbruch´sche Formel", die sich aus zwei Teilen zusammensetzt, thematisiert ebenfalls die Problematik der Diskrepanz zwischen positivem Recht, also dem von staatlicher Seite erlassenem Recht, das sich in Gesetzen und Verboten äußert und dem Naturrecht, also dem Recht, was sich an der Gerechtigkeit orientiert und jedem Menschen aufgrund seines bloßen Menschseins, unabhängig von individueller Gesetzgebung zukommt. Radbruchs "Unerträglichkeits-These" besagt, dass das positive Recht zwar Rechtssicherheit schafft und somit in der Regel Vorrang hat, jedoch der Gerechtigkeit weichen muss, sobald die Ungerechtigkeit unerträgliche Ausmaße annimmt. Auf den Fall Carola Rackete übertragen, bedeutet dies, dass die Kapitänin gemäß Radbruch im Recht ist! Hilflose Menschen ihrem Schicksal zu überlassen und sie dem sicheren Tod auszuliefern ist derartig ungerecht und widerspricht jedwedem dem Menschen zu eigenem Verständnis von Moral und Gerechtigkeit, sodass sich dieser staatlichen Anordnung um der Gerechtigkeit willen zu widersetzen ist! Darüber hinaus verfasste Radbruch eine weitere These, die er als "Verleugnungs-These" bezeichnete. Diese besagt, dass wenn die Gerechtigkeit, folglich die Gleichheit an Wert aller Menschen bei der Gesetzbegung ignoriert wurde, verliert dieses Gesetz sämtlichen Anspruch auf Gültigkeit. Italiens Regierung hat im vorliegenden Fall ebenfalls der Gerechtigkeit zuwidergehandelt, indem sie Frau Rackete hat festnehmen lassen. Somit lässt sich unter anderem mithilfe der "Radbruch´schen Formel" beweisen, dass das Handeln der Kapitänin ganz im Gegensatz zu der der italienischen Regierung, absolut rechtens war!
Bei all dem darf schließlich niemals vergessen werden, dass es um Menschenleben geht! Nicht um Ideologien, politische Meinungsverschiedenheiten, stumpfe Gesetze, sondern um etwas, das weit über all dem steht! Es bedarf folglich nicht unbedingt des Bezugs auf theoretische Überlegungen, es ist völlig ausreichend, in sich zu gehen und auf die Vernunft im Kopf und das Gefühl im Herzen zu achten, um festzustellen, dass die Rettung von Menschenleben unter keinen Umständen ein Verbrechen ist und vielmehr unterstützt, anstatt bestraft werden sollte. Würde Frau Rackete tatsächlich inhaftiert, widerspräche dies nicht nur sämtlichen moralischen Werten und stellte somit die Glaubhaftigkeit der italienischen Regierung in Frage, sondern würde auch ein vollkommen falsches Zeichen setzen. Es würde zukünftige Menschen davon abhalten, Menschen in Not, in welcher Situation auch immer, helfend zur Seite zu stehen, wie es eigentlich der gesunde Menschenverstand verlangt. Dies würde in einer noch ignoranteren, noch egoistischeren, noch kälteren Gesellschaft als die ohnehin schon bestehende resultieren und dazu beitragen, dass die Moral im Menschen keinerlei Gehör mehr findet. Dies liefe der Natur des Menschen als vernünftigem Wesen in höchstem Maße zuwider und ist somit mit aller Kraft zu verhindern!
Konkrete politische Maßnahmen sind zu treffen, um diesem dystopischen Szenario entgegenzuwirken. Herbeigeführt werden soll eine neue Form von staatlicher Autorität, eine solche, die gewünscht und dringend benötigt wird. Der Staat als Instrument, um den Menschen zu schützen, nicht andersherum! Ein Anfang wäre beispielsweise eine Abschaffung oder zumindest eine Überarbeitung des "Dublin-Abkommens", um Italien zu entlasten, eine intensivere Bekämpfung der Fluchtursachen, beispielsweise durch Verbot von Waffenexporte in als besonders gefährdet eingestufte Länder (dies sollte auch für Italien gelten, denn wer sich die Probleme selbst schafft, der darf sich auch nicht über die logischen Konsequenzen beschweren). Nicht zuletzt sind auch Sanktionen gegen Länder, die sich dem gemeinschaftlichen Handeln der EU in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen widersetzen, allen voran Staaten wie Italien, Polen oder Ungarn, zu befürworten!
Wie auch immer künftige Reformen aussehen werden, eines darf unter keinen Umständen toleriert werden: Die Bestrafung Unschuldiger, die Ächtung von Helden und Rettern von Menschenleben, wie Carola Rackete!
Die Menschlichkeit steht über allem und wer Leben rettet, darf nicht inhaftiert, sondern muss unverzüglich in die Freiheit entlassen werden. Alles andere wäre ein Unrecht wie es größer kaum sein könnte und ein Mordversuch an die Humanität! Der Humanismus muss siegen, oder die Menschheit ist verloren!

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