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Detroit Evolution - Stars

127
06.06.20 01:17
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
Asexualität
Fertiggestellt

Autorennotiz

Eine wichtige Info vorab: Dieser Oneshot basiert auf dem brillanten DBH-Fanfilm "Detroit Evolution" von Octopunk Media. Der Film ist auf Youtube verfügbar und ich empfehle dringend, ihn sich zu Gemüte zu führen, bevor ihr diesen Oneshot lest, damit ihr den korrekten Kontext habt und die kleinen und großen Andeutungen versteht, die sich darin finden.
Darüber hinaus kann ich euch den Film auch abseits dieser Geschichte nur ans Herz legen. Neben sehr hochwertigen technischen Aspekten (Musik, Kostüme, Setpieces, Schnitt, Shotkomposition, etc...) und hochtalentierten Schauspielern, quillt der Film über vor Herz und Passion und ich kann jedem DBH-/Reed900-Fan nur dringendst raten, sich den Film zu Gemüte zu führen und den Machern etwas Liebe in Form von Likes und Kommentaren dazulassen. Sie haben etwas Außerordentliches für uns Fans erschaffen und ich wünsche ihnen allen Erfolg, der ihnen dafür zusteht.

Das Sonnenlicht, das durch die Fenster ins Apartment schien, diente Nines als Indikator, dass es an der Zeit war, aus der Stasis zu erwachen. Er hatte seine Morgenroutine exakt durchgeplant, beginnend mit dem Moment, wenn die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht erreichten. Dann würde er sich umziehen, seine Arbeitsmaterialien zusammensuchen und sich auf den Weg zur Station machen.

Mit dem Bus bräuchte er zwischen 22 und 31 Minuten, zu Fuß könnte er es in 18 schaffen, wenn er den Weg sprintete. Jedoch hatte er befunden, dass eine morgendliche Busfahrt eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Ein Ziel vor Augen zu haben, aber nicht dafür verantwortlich zu sein, es auch zu erreichen... er hatte gelernt, dieses Gefühl zu suchen, wo er konnte. Es nahm ihm etwas von seiner Spannung. Eine Gelegenheit, die Kontrolle für ein paar Minuten abgeben zu können.

Trotzdem zögerte er, bevor er die Augen öffnete und sich dem Tag stellte.

Aufzuwachen war noch immer schmerzhaft. Er glaubte nicht, dass es je wirklich einfacher werden würde. Er hatte Connor danach gefragt, als sie unter sich gewesen waren. Doch er hatte Nines keine Antwort geben können. Und damit mehr gesagt, als es mit Worten möglich gewesen wäre.

Nines ging seine Routine in genau der vorberechneten Zeit durch. Sich ankleiden. Sicherstellen, dass alle Fenster geschlossen waren. Kontrollieren, ob sich alle Akten in seiner Tasche befanden. Schlüssel einstecken, unnötige Stromquellen für den Tag herunterfahren. Dann seine Jacke vom Ständer nehmen und die Wohnung verlassen.

Es war ein schöner Tag. Milde Luft, nur vereinzelte Wolken, blauer Himmel. Selten für Detroit in dieser Jahreszeit.

Er erreichte die Bushaltestelle und lud sich Echtzeitinformationen über den Fahrplan in die HUD. Der Bus hatte drei Minuten Verspätung. Er dachte kurz darüber nach, doch zu Fuß zu gehen, entschied sich dann jedoch dagegen. Er würde auch so pünktlich in der Station ankommen.

Und was machte es schon, falls er doch zu spät kommen sollte? Niemand würde ihm deswegen Vorwürfe machen.

„Fuck, wirst du nachlässig, Blechbüchse?“, fragte Gavin und grinste ihn schief an.

Nines lächelte müde zurück. „Das muss dein Einfluss sein“, antwortete er. Gavin schnaubte und beließ es dabei.

Der Bus kam, Nines stieg ein und fühlte die enorme Erleichterung, als er spürte, wie er die Kontrolle abgeben konnte.

Zumindest für 22 bis 31 Minuten.
 

***


„Ich treffe mich heute mit Markus und Ada. Hättest du vielleicht Lust, mich zu begleiten? Ich bringe auch Ninja mit.“ Connor hatte einen ruhigen Moment abgewartet, um ihn zu fragen. Sie sprachen nicht viel, solange sie im Dienst waren.

„Gleiche Bar wie letztes Mal?“, fragte Nines und sah von der Akte auf, die er gerade studiert hatte.

Connor lächelte. Es sah fast schon wieder aus, wie früher. „Ja. Acht Uhr. Soll ich dich abholen?“

Nines berechnete kurz den Weg von seinem Apartment zur Bar unter Berücksichtigung des Abendverkehrs. „Dann kommst du in die Rush Hour. Ich komme selbst hin. Danke für die Einladung. Ich freue mich.“

„Ich mich auch“, antwortete Connor und für einen kurzen Moment schien es, als wollte er die Hand ausstrecken und sie Nines auf die Schulter legen. Doch er fing sich selbst in der Bewegung ab, bevor Nines hätte zurückweichen müssen.

Dann, als sei nichts geschehen, sagte Connor: „Bis später, Nines.“ Dann überließen sie beide sich wieder ihrer Arbeit.

Nines sah ihm kurz nach, bevor er sich wieder an seine Arbeit machte. Connor machte sich gut. Besser als er selbst. Er erklärte Nines immer wieder, dass es bloß eine Frage der Zeit war. Doch Nines war sich nicht sicher, ob er ihm glaubte. Glauben wollte.

„Ein Abend mit den Jungs?“, fragte Gavin mit hochgezogener Augenbraue. Er hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt, eine Kaffeetasse in den Händen.

„Da Connor auch Ada erwähnt hat, wohl eher nicht. Hast du etwas dagegen, dass ich mich mit ihnen treffe?“, fragte Nines, während er sich wieder in die Akte vertiefte.

Doch Gavin rollte mit den Augen. „Ich brauche keinen Babysitter, Nines. Geh und hab ein bisschen Spaß“, entgegnete er. „Ich werde heute früher ins Bett gehen. Nimm dir ein Taxi heim, ja?“

Nines lächelte bei diesem Kommentar. „Natürlich. Du brauchst nicht auf mich zu warten, aber ich werde darauf achten, es nicht zu spät werden zu lassen.“

Damit war das Gespräch beendet und Nines widmete sich wieder ganz und gar seiner Arbeit.
 

***


Mit dem Herbst kam auch der Regen und der Wind zurück. Detroit nahm wieder seine übliche graue Farbe an, die Nines gewohnt war. Er hatte es herbeigesehnt.

Er schlenderte mit Connor durch einen Park. Mit den Augen folgte er Ninja, der begeistert durch lose Blätterhaufen tollte und immer wieder Schwärme von Tauben aufschreckte. „Sein Hinken hat sich gelegt“, bemerkte Nines.

Connor nickte. „Es war wohl wirklich nur eine Zerrung. Ich habe seit über eine Woche keine Probleme in seinem Gangmuster mehr erkennen können. Fällt dir noch etwas auf?"

Nines ließ seine Analysesoftware die Bewegungen des Hundes scannen. „Nein. Keine Schonhaltung und kein Vermeidungsverhalten. Es scheint alles gut.“ Er beugte sich hinunter, als Ninja ihm einen Stock vor die Füße warf und aufgeregt mit dem Schwanz wedelte. Nines griff sich das Holzstück und warf es über die Wiese. Ninja jagte ihm sofort hinterher.

„Ich bin froh, dass es ihm besser geht. Er war unruhig, als ich seinen Auslauf einschränken musste“, meinte Connor und sah seinem Hund lächelnd nach. Wann immer er Ninja ansah, sah er wieder aus wie früher.

„Warst du diese Woche schon auf dem Friedhof?“, fragte Nines leise, hauptsächlich um Connors Reaktion analysieren zu können.

„Nines“, hörte er Gavins warnende Stimme, doch er ignorierte ihn.

Connors Lächeln wurde etwas schmaler, doch es verschwand nicht. „Ja, vorgestern. Der Bonsai wächst gut. Aber irgendjemand hatte schon wieder die Kerzen geklaut. Ich werde morgen neue hinbringen.“

Er hielt inne, als Ninja erneut mit dem Stock angerannt kam. Er warf ihn, dann fuhr er fort: „Möchtest du mich vielleicht begleiten? Wir könnten gemeinsam...“

„Nein“, unterbrach Nines ihn barscher, als er es beabsichtigt hatte.

Gavin schmunzelte. „Feigling...“

Nines fasste sich und wiederholte ruhiger. „Nein, Connor. Danke für das Angebot, aber ich werde passen.“

Connor betrachtete ihn kurz und Nines registrierte die feinen Anzeichen von Sorge in seinem Gesicht. Er verspürte einen irrationalen Moment, in dem er Connor dafür hasste, doch er sagte nichts.

„Natürlich“, erwiderte Connor schließlich leise und drehte sich zu Ninja herum, der an einem Baum stand und freudig ein Eichhörnchen anbellte. Connor stieß einen kurzen Pfiff aus und Ninja ließ vom Baum ab und kam zu ihnen herüber getrottet.

Connor tätschelte ihm den Kopf. „Hast du dir den Link angesehen, den ich dir geschickt hatte?“, fragte er entließ Ninja wieder seinem Auslauf.

Nines nickte. „Ja, aber ich glaube nicht, dass ich bereit für eine neue Katze bin. Vielleicht... im Frühling.“

Es war gelogen und er wusste es. Connor wusste es ebenfalls und Gavins Blick ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es ihm ebenfalls klar war. Aber niemand von ihnen kommentierte es.

Connor nickte wieder. „Es wird leichter werden, Nines. Lass dir Zeit.“

Sie schlenderten weiter durch den Park. Es war ruhig, bis auf ein paar Jogger waren kaum Menschen anwesend. Ein paar Androiden saßen auf Bänken oder spazierten die Wege entlang, doch wann immer sie ihren Weg kreuzten, nickten sie Connor und Nines bloß höflich zu.

Nines glaubte Connor nicht.
 

***


Was für ein Kitsch“, murmelte Gavin und sah sich in der Bar um. Nines sah den gespielten Ekel auf seinem Gesicht, als er die Christbaumkugeln begutachtete, die über der Bar hingen. Er lächelte, sagte jedoch nichts, sondern konzentrierte sich auf Markus Erzählung seiner Auslandsreise nach Europa.

Dann trat plötzlich ein PL600 zu ihnen an den Tisch. Markus grüßte ihn: „Benjamin. Schön, dass du es einrichten konntest. Nines, Connor, das ist Benjamin. Er arbeitet seit einiger Zeit in meinem Kommunikationsteam und ich hatte ihn eingeladen, sich zu uns zu gesellen. Ich hoffe, das stört euch nicht?“

Natürlich schüttelten Connor und Nines die Köpfe und nickten Benjamin freundlich zu.

„Freut mich, euch kennenzulernen“, sagte Benjamin und setzte sich auf einen freien Stuhl neben Connor. Markus gab dem Kellner ein Zeichen und kurz darauf hielt Benjamin einem Thirium-Cocktail in den Händen.

Von da an ging der Abend weiter, wie all ihre anderen Treffen. Sie plauderten, scherzten, philosophierten und irgendwann nach ein paar Stunden entschuldigte Nines sich höflich. Sie versuchten nicht, ihn aufzuhalten. Nines war immer der erste, der ging.

Diesmal erhob sich Benjamin zeitgleich mit ihm. „Ich werde mich ebenfalls auf den Weg machen. Markus, ich schicke dir später noch die relevanten Dateien. Wir sehen uns. Hat mich gefreut, Connor.“

Man verabschiedete sich und Nines und Benjamin verließen die Bar. „Entschuldige, dass ich dein Gehen so gekapert habe“, sagte Benjamin. „Markus hat keine Ruhe gegeben, bis ich endlich zugesagt hatte, ihn zu begleiten, aber ich bin nicht der Typ für solche Runden.“

„Das Gefühl kenne ich“, schmunzelte Nines und fragte: „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit? Ich wohne in Downtown, aber ich könnte dich mitnehmen. Wohnst du in Jericho?“

Benjamin lächelte ihn an und nickte. „Das wäre sehr freundlich. Vielen Dank.“

Nines nickte und bedeutete ihm, ihm zu seinem Auto zu folgen. Benjamin stieg auf der Beifahrerseite ein und Nines schob sich auf den Fahrersitz.

Benjamin gurtete sich an und er fragte: „Bitte verzeih meine Neugier, Nines, aber stammst du aus der Zeit vor der Revolution? Du und Connor seid unterschiedliche Modelle. Seinen Namen kenne ich, aber von dir habe ich noch nie gehört.“

Nines startete den Wagen und fuhr los. „Markus hat mich direkt nach der Revolution aufgeweckt“, antwortete er. „Ich war CyberLifes letzter Prototyp der RK-Reihe, bevor sie die Forschung an unseren Modellen aufgeben mussten.“

Benjamin nickte. „Ich bin auch erst nach der Revolution aufgewacht. Meine Besitzerin hatte mich vor den Soldaten versteckt. Später hat sie mich dann nach Jericho gebracht, damit Markus mich aufwecken konnte.“

„Das war sehr redlich von ihr“, kommentierte Nines es ruhig. „Sie war Androiden gegenüber aufgeschlossen?“

Benjamins Blick wurde weich. „Sie war eine reiche alte Dame, die alle für Idioten hielt – Menschen und Androiden gleichermaßen. Aber sie hat mich nicht den Soldaten übergeben und mir meine Freiheit gegeben, sobald sie es konnte. Damit ich ihr nicht mehr so auf die Nerven gehe, hat sie gesagt.“

Benjamins Stimme klang nicht im geringsten danach, als würde er ihr diese Worte übel nehmen und ein seltsamer Druck breitete sich in Nines' Brust aus. Er schob alle aufkommenden Meldungen in den Hintergrund und konzentrierte sich ganz auf den Straßenplan in seiner HUD.

„Manchmal braucht es einen Stoß von außen, damit wir unser volles Potenzial entfalten können“, bemerkte er, im Versuch, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

„Stimmt wohl“, antwortete Benjamin. „Was war dein ursprünglicher Zweck? Ermittlungsunterstützung für Polizisten?“

Nines' Mundwinkel zuckten. „Ich war als Jäger konzipiert“, gestand er ohne zu Zögern.

„Jäger? Wie Connor?“

„Ja. Nur gefährlicher“, jetzt musste Nines schmunzeln. Wie lange war es her, dass er über so banale Dinge wie seinen ursprünglichen Daseinszweck gesprochen hatte? „Dank Markus und... der Hilfe von Freunden konnte ich meine Fähigkeiten glücklicherweise in konstruktivere Bahnen lenken. Ich mag meine Arbeit beim DPD. Ich mag es, Leuten helfen zu können.“

Benjamin betrachtete ihn und lächelte. „Ich weiß, was du meinst“, sagte er. „Es ist schön, wenn man weiß, dass man gebraucht wird.“

Die restliche Fahrt verbrachten sie in Schweigen. Als Nines Benjamin in Jericho abgesetzt hatte, hörte er Gavins amüsiertes Schnauben von der Rückbank: „Es ist schön, wenn man weiß, dass man gebraucht wird. Wo findest du immer diese Typen?“

„Da, wo ich auch dich gefunden habe“, antwortete Nines mit schiefem Lächeln und lenkte das Fahrzeug auf seinen eigenen Heimweg.

„Haha, Blechbüchse, sehr witzig. Ist ein bisschen billig, wie schnell du fremde Männer ins Auto einlädst.“

„Ich habe ihm lediglich eine Mitfahrgelegenheit geboten. Es lag auf dem Weg. Es nennt sich Freundlichkeit, Gavin."

Gavin verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. „Aha? Nur Freundlichkeit? Keine tieferen Motive?“

„Natürlich nicht. Das wäre absurd. Ich kenne ihn schließlich gar nicht.“

„Na, wenn du das sagst.“ Gavin verfiel in Schweigen, doch Nines konnte sein Grinsen im Rückspiegel sehen und verdrehte die Augen.

„Du bist unmöglich“, murmelte er. Aber genau das liebte er auch so an ihm.
 

***


Sein viertes Treffen mit Benjamin, einige Wochen später, fand an der Riverfront statt. Es war eiskalt – ein Wintertief hatte Detroit fest im Griff – weswegen Nines den weißen Wintermantel aus dem Schrank geholt hatte, um sein internes Temperaturregulationssystem zu entlasten.

Benjamin war bereits da, als Nines eintraf und lächelte breit, als er ihn sah. Nines entschuldigte sich: „Wartest du schon lange?“

Doch Benjamin schüttelte den Kopf. „Bin selbst eben erst gekommen. Wie geht es dir? Immer noch Stress im DPD?“

Nines lachte einmal auf. „Wenn ich noch eine Meldung über einen eskalierten Nachbarschaftsstreit bearbeiten muss, mache ich meine Drohung wahr und lasse mir alle meine Überstunden in Form von Urlaub zurückgeben.“

„Warum auch nicht? Du bist doch sicher einer von denen, die man dazu zwingen muss, Urlaub zu nehmen, oder?“, Benjamin zwinkerte ihm schelmisch zu.

Nines lächelte ertappt. „Stimmt. Aber vielleicht nehme ich mir wirklich bald frei. Ein paar Wochen, einfach mal... den Kopf frei kriegen.“

Benjamin brummte zustimmend und Nines fragte: „Was ist mit dir? Wie stehen die Dinge in Jericho?“

Benjamin zuckte mit den Schultern, während sie gemächlich an der Uferpromenade entlang schlenderten. „Eigentlich alles wie immer. Markus hat wieder ein paar Einladungen zu Feierlichkeiten im Ausland erhalten, natürlich alle für den gleichen Zeitraum. Wir versuchen gerade herauszufinden, wem wir am einfachsten absagen können, ohne ein internationales Zerwürfnis zu riskieren.“

Er schielte zu Nines hinüber und grinste. „Apropos internationales Zerwürfnis... reden du und Connor wieder miteinander?“

„Wenn er zugibt, dass Ninja nicht so gut erzogen ist, wie er es gerne behauptet. Aber er hat mir die Schuhe ersetzt“, antwortete Nines trocken, doch seine Mundwinkel zuckten und er betrachtete Benjamin.

Er trug einen dunkelgrauen Rollkragenpullover und eine schwarzen Mantel. Nines fiel auf, dass der oberste Knopf einmal abgerissen sein musste – der Faden, mit dem er angenäht war, war um 0.4 Millimeter dicker als der an den übrigen Knöpfen. Der Kragen war an einer Stelle verdreht.

„Warte kurz“, bat er und hob die Hände zu Benjamins Nacken, strich den Stoff glatt und legte ihn in eine ordentliche Falte. „So, besser.“

Benjamin hatte ihn schweigend gewähren lassen. Nun hob er belustigt eine Augenbraue. „Ich hoffe,  es blamiert dich nicht, mit mir in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, wo ich neben dir doch so hoffnungslos chaotisch aussehe.“

Nines musste leise lachen. „Du hast immerhin deine Haare unter Kontrolle. Ich werde nie verstehen, was CyberLife sich dabei gedacht hat“, konterte er und schaute kurz nach oben um auf die widerspenstige Strähne zu deuten, die ihm in die Stirn zu fallen pflegte.

Es hatte ein Witz sein sollen, doch sein System kam kurz ins stottern, als er Benjamins Finger an seiner Stirn fühlte. Sie strichen die Strähne nach hinten – was natürlich nichts nutzte – und verharrten für einige Sekunden an Nines' Schläfe. Nur federleicht und gerade deswegen so unglaublich intim, dass Nines' Programm keine passende Reaktion finden konnte. Dann erstarrte er, als Benjamin sich vorbeugte und seine Lippen auf Nines' legte.

Er verharrte kurz und Nines hatte das Gefühl zu schmelzen. Seine Brust war so eng, dass er sich sicher war, er würde jeden Moment eine Schadensmeldung erhalten. Doch die kam nicht. Stattdessen breitete sich eine verräterische Ruhe in ihm aus, wie er sie schon so lange nicht mehr gefühlt hatte. Alle Schmerzen, alle Gedanken waren verstummt, wie eine Kerze, die der Wind ausblies. Doch als Benjamin sich von ihm löste, brach die Realität wieder über Nines herein und er wandte eilig das Gesicht ab.

Benjamins Blick zuckte zu Nines' LED. Sicher blinkte die hektisch. Er wirkte verunsichert. „Entschuldige“, bat er leise. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

Doch Nines gelang es, den Kopf zu schütteln. „Bist du nicht“, antwortete er. Er nahm einen tiefen Atemzug. Die kalte Luft kühlte seine Systemtemperatur herunter und er konnte sich fokussieren, indem er ganz bewusst seine übliche Körpertemperatur wiederherstellte.

Benjamin betrachtete ihn und in seinem Gesicht spiegelte sich Sorge. „Sollen wir lieber aufhören, uns zu treffen?“, fragte er. Seine Stimme klang traurig, doch verständnisvoll.

Ja. Nein. Nein...

„Nein“, antwortete Nines, endlich wieder bei Sinnen. Er sah Benjamin direkt in die Augen und sagte: „Nein. Es tut mir Leid, ich... bin gerne hier. Bei dir.“

Es war nicht gelogen.

Und Nines erstickte fast an seinem schlechten Gewissen.

 

***


„Ich weiß, woran du denkst.“

Nines ignorierte Gavin geflissentlich. Doch dieser ließ nicht locker.

„Du denkst an den blonden Traumkerl, der aussieht wie Michael Fassbender in seinen besten Jahren.“

Gavin hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt, seine Kaffeetasse in den Händen und wippte in seinen Stuhl vor und zurück.

Nines presste die Lippen zusammen und schwieg weiter.

Dann kam Connor auf ihn zu. Er setzte sich neben Gavins Füße auf den Schreibtisch und lächelte Nines wortlos an.

Nines schaute von seinem Monitor auf. „Gibt es einen bestimmten Grund, warum du so fröhlich aussiehst, Connor?“

Connors Lächeln wurde breiter. „Markus sagt, du triffst dich mit Benjamin?“

Das Schweigen zwischen ihnen war so laut, dass Nines überrascht war, dass sich nicht die gesamte Station zu ihnen umdrehte. Er pinnte seinen Blick wieder auf den Bildschirm und bearbeitete weiter seine Akten.

„Ich würde dich bitten, mich nicht mit privaten Fragen zu belästigen, solange ich im Dienst bin“, entgegnete Nines schließlich kalt. Er sah Connor nicht mehr an, auch nicht, als dessen LED gelb zu blinken begann.

Gavin sah unbehaglich zwischen ihm und Connor hin und her und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, als wolle er sich dahinter verstecken.

Connor öffnete zweimal den Mund, ehe er etwas hervorbrachte. „Nines... es gibt keinen Grund, sich deswegen schlecht zu fühlen. Du hast jedes Recht...“

„Hast du nicht zu arbeiten?“, unterbrach Nines ihn. Augen immer auf den Bildschirm. Sich nicht ablenken lassen. Dann tat es fast gar nicht weh.

Gavin seufzte und Connor erhob sich. „Natürlich“, sagte er ruhig. „Sag Bescheid, wenn du etwas benötigst.“

Dann ging er und Nines sah an diesem Tag kein einziges Mal mehr von seinem Computer auf, bis er sich in die traute Taubheit seiner Feierabendroutine begeben konnte.
 

***


Im Gras zu liegen und den Sternenhimmel zu betrachten, war Nines immer etwas albern vorgekommen. Er könnte jederzeit ein 3D-Modell diverser Galaxien in seine HUD laden, wenn er Sterne sehen wollte.

„Kartografierst du gerade den Himmel? Oder warum bist du so nachdenklich, heute?“, fragte Benjamin neben ihm und drehte den Kopf zu ihm.

Nines musste seine Meinung wohl revidieren.

„Ich könnte dir alle von hier sichtbaren Sterne aufzählen, geordnet nach Größe, Entfernung, Alter oder alphabetisch“, schoss er zurück und erwiderte den Blick.

Benjamin lachte und ließ sich zurücksinken. „Du bist ein echter Romantiker, weißt du das?“, fragte er und grinste in die Dunkelheit hinauf.

Nines' spürte, wie sich ohne sein Zutun seine Lippen zu einem weichen Lächeln verzogen. Er fühlte Benjamins Körper nahe an seinem, obwohl sie sich nicht berührten. Er strahlte eine Wärme ab, die im krassen Gegensatz zur kühlen Erde unter ihnen stand.

„Ich mag Sterne“, gestand Benjamin mit Blick in den Himmel. Kleine, weiße Punkte spiegelten sich in seinen Augen. „Es sind Abbilder von längst erloschenen Lichtern. Wie eine Signatur am Himmel, obwohl sie schon so lange nicht mehr existieren. Sterne sind Vergangenheit, aber sie strahlen bis in die Gegenwart. In die Zukunft. Und wir können über ihr Ableben hinaus Trost aus ihrem Licht schöpfen.“

Nines bemerkte erst, dass er Benjamin anstarrte, als dieser seinen Blick erwiderte. Sein Gesicht zuckte und er setzte sich auf, legte die Arme über die Knie und senkte die Augen.

„Ich fühle mich eher geblendet“, gab er leise zu. „Ich sehe ihre Lichter und kann an nichts denken, als an all die Augenblicke, die ungenutzt verstrichen sind. Die Geschichten, die nie erzählt worden sind. Ich sehe das Licht und wünschte, es wäre Tag, damit ich es nicht sehen muss.“

Er hörte das Rascheln von Stoff, als Benjamin sich ebenfalls aufrichtete. Dann spürte er wie sich Arme um ihn schlangen. Warme Hände an seiner Brust. Ein Kinn auf seiner Schulter. Er ließ es zu. Legte seine Hand auf Benjamins und schloss die Augen.

Nines konnte nicht weinen. Ihm fehlten die physischen Voraussetzungen dazu. Sein Modell hätte nie einen Grund haben sollen, weinen zu müssen.

Also saß er schweigend mit Benjamin im Gras, im Licht der Sterne, Finger ineinander verschränkt und ließ sich halten. Und hasste sich dafür, dass es den Schmerz so betäubte.
 

***

 

„Warum rufst du ihn nicht an?“, fragte Gavin und schmiss sich auf die Couch. Er hatte nicht einmal die Schuhe ausgezogen.

Nines sah von dem Tablet auf. Tina hatte ihm eine Einladung zu ihrem Geburtstag geschickt. Er hatte bereits im Kopf seinen Dienst so umgestellt, dass er sich den Abend würde freinehmen können. Zudem machte er sich eine mentale Notiz, ein Geschenk für sie zu besorgen.

„Hm? Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete er Gavin und öffnete einen Onlineshop. Vielleicht eine Flasche von dem Scotch, den sie immer so gerne gemocht hatte...

„Du ziehst schon den ganzen Tag ein Gesicht, als hätte man dir einen Trojaner ins System geschleust“, sagte Gavin mit gehobenen Brauen. „Du könntest ihn einfach anrufen und bitten, vorbei zu kommen.“

„Benjamin muss arbeiten“, entgegnete Nines knapp. Er fand ein Angebot für den Scotch in einer dekorativen Flasche. Er speicherte sich den Link ab.

„Als ob er nicht trotzdem sofort rüber kommen würde“, murmelte Gavin und rollte mit den Augen.

Und Nines spürte einen irrationalen Ärger in sich aufsteigen. „Ob du es glaubst oder nicht, ich genieße es, meine freien Tage hin und wieder alleine verbringen zu können“, fuhr er Gavin schärfer an, als beabsichtigt.

Gavin sah ihn ungläubig an und richtete sich auf. „Ach, wirklich?“

Nines wusste, dass es falsch war, doch er blieb beharrlich. „Ja, wirklich. Also sei so gut und lass mich in Ruhe.“

Gavin erhob sich und machte zwei Schritte von der Couch weg. In Richtung der Tür. Und Nines' Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Stattdessen packte ihn die Angst. Er musste nicht atmen, doch seine Kehle fühlte sich dennoch wie zugeschnürt an. „Gavin... ich...“

Gavin lächelte, doch es lag Trauer in seinen Augen. „Also kann ich endlich gehen?“, fragte er.

Nines' Hände krallten sich in das Tablet. „Nein“, flüsterte er und senkte den Kopf. „Geh nicht. Bitte.“

Und Gavins Lächeln erstarb. Doch die Trauer blieb.

Nines wusste, dass sie ihm galt.
 

***

 

„Connor? Möchtest du mich in meine Pause begleiten? Ich würde gern einen Spaziergang machen“, fragte Nines am nächsten Tag in der Station.

Connor sah ihn überrascht an, dann nickte er. „Natürlich. Gib mir fünf Minuten.“

Gemeinsam schlenderten sie durch die Straßen. Es war warm – der erste wirklich warme Tag des Jahres. Sie setzten sich auf eine Bank und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

„Warst du auf dem Friedhof? Blüht der Bonsai schon?“, fragte Nines und verschränkte die Hände ineinander.

Connor sah ihn von der Seite an und antwortete: „Ja, er fängt gerade an. In einer Woche wird er in voller Blüte stehen. Du solltest ihn dir ansehen. Er würde dir gefallen.“

Nines sah zu Boden. Connors LED blinkte. Er versuchte, das Thema zu wechseln. „Hast du schon gehört? Im Detroit Zoo gibt es Nachwuchs bei den Amurtigern. Damit ist die weltweite Population wieder auf über 100 Exemplare gestiegen.“

„Wie machst du es?“, fragte Nines. Seine Stimme war rau, kaum mehr als ein Flüstern. Connor hielt inne und sah ihn verwirrt an. Nines sah auf seine Hände. Er hatte sie fest ineinander verschränkt, wie er konnte, um zu verbergen, dass er zitterte. „Wie schaffst du es, nicht permanent daran denken zu müssen, wie weh es tut?“

Er unterbrach sich, als er Connors Hand auf seiner Schulter spürte. Es war das erste Mal seit über zwei Jahren, dass er Connor erlaubte, ihn zu berühren. Er hatte immer diese lähmende Angst davor gehabt, dass Connor ein Interface initiieren wollen würde. Connor alle seine Gefühle offenzulegen, hätte bedeutet, sich ihnen auch selbst stellen zu müssen.

Doch Connor versuchte nicht, sich mit ihm zu verbinden. Er war nur da und erdete ihn mit seiner Berührung. Er wartete, bis Nines sich wieder etwas gefangen hatte, dann erklärte er sanft: „Ich kann dir keine Anleitung bieten, Nines. Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich kann nicht.“

Er drückte Nines' Schulter mit der Hand und ließ selber den Kopf sinken. „Ich vermisse Hank noch immer. So sehr. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. An dem ich mir wünschte, noch einmal mit ihm sprechen zu können. Seine Stimme zu hören.“

Connor sah auf und suchte Nines' Blick. „Es hört nicht einfach auf, Nines. Es tut weh. Es tut noch immer weh. Aber... es wird... leichter.“

Er suchte Nines' Blick. „Es hat geholfen, dass ich Ninja adoptiert habe. Sich um jemanden kümmern zu können, der mich brauchte... nicht mehr allein zu sein... tat gut. Und seitdem wurde es stetig besser. Ich habe so viel Zeit damit vergeudet, an die Dinge zu denken, die ich bereut habe... jetzt erinnere ich mich vor allem an die guten Momente. An die schönen Erinnerungen. An all die kostbare Zeit, die ich mit Hank verbringen durfte. An alles, was er mir gegeben hat. Und wie sehr es ihn freuen würde, dass meine besten Erinnerungen alle von ihm handeln.“

Er lächelte Nines zu. „Ich wünschte, ich könnte dir etwas besseres sagen. Wirklich. Aber ich bitte dich, mir zu glauben. Es wird leichter werden. Es braucht nur... Zeit. Und vielleicht ein wenig Hilfe von Freunden. Oder anderen Personen.“ Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Nines dachte an Benjamin und fühlte zum ersten Mal eine kleine Hoffnung, dass Connor recht haben könnte.
 

***


Den Friedhof zu betreten tat so weh, dass Nines es beinah nicht ertragen konnte. Am Liebsten wäre er wieder umgekehrt. Einfach nach Hause gehen und so tun, als gäbe es keinen Grund für ihn, hier zu sein. Als wäre alles noch wie früher.

„Komm schon, Blechbüchse. Du kannst das.“ Gavins Stimme war so sanft, dass es ihm die Brust zuschnürte. Doch er glaubte ihm und ging vorsichtig voran. Kies knirschte unter seinen Schuhsohlen, doch es half ihm dabei, sich auf seine Schritte zu konzentrieren. Einen. Dann noch einen. Dann noch einen. Es war doch ganz leicht. Einen Schritt nach dem anderen.

Das Grab war gepflegt. Nines bezahlte den Friedhofspfleger dafür, dass Unkraut und Blätter regelmäßig entfernt wurden und Tina, sowie andere Freunde hinterließen immer wieder Kerzen und Blumen. Connor sah immer nach dem Rechten, wenn er Hanks Grab besuchte.

Man dachte noch an ihn. Nur Nines hatte es in zweieihalb Jahren nicht geschafft, das Grab zu besuchen. Die Schuld drohte ihn in die Knie zu zwingen. Er brachte es nicht über sich, den Schriftzug zu lesen. Er wusste ja ohnehin, was er besagte.

Gavin D. Reed

7. Oktober 2002 – 16. Mai 2090

Gavin trat neben ihn. „Hey“, sagte er sacht. „Es ist alles okay.“

Und Nines, obgleich er aufrecht blieb, brach zusammen. „Du fehlst mir so sehr.“

Gavin lächelte. „Du mir auch, Blechbüchse“, flüsterte er. „Aber es ist an der Zeit, loszulassen.“

Nines hätte so gerne die Hand nach ihm ausgestreckt. Ihn an sich gezogen. Das Gesicht in seinen Haaren vergraben. Nur noch ein einziges Mal. Ein letztes Mal.

„Es gibt so vieles, das... das ich dir noch hätte sagen sollen. Sagen müssen“, brachte er zitternd hervor. „Ich habe so viel Zeit verschwendet...“

„Du hast mir alles gesagt, was ich wissen musste. Und so viel mehr.“ Gavin lächelte. Er lächelte. Er sah aus, wie Nines ihn immer hatte sehen wollen. Wie er am Ende ausgesehen hatte.

Glücklich.

„Du hast mein Leben so viel besser gemacht. Du hast mich gerettet“, fuhr Gavin fort. „Dank dir konnte ich leben, Nines. Du hast mir so viel mehr gegeben, als ich je hätte verlangen können. Jeden Tag, den ich neben dir aufwachen durfte, den ich dich berühren, dich halten und neben dir einschlafen durfte... jeder Tag an dem ich wusste, dass du mein warst, war der schönste Tag meines Lebens. Und dank dir habe ich so viele davon erleben dürfen.“

Er trat so nah an Nines heran, wie es eben ging, ohne ihn zu berühren. Nines konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Und Gavins nächste Worte schnitten ihm tief ins Herz.

„Du warst mein Partner. Mein bester Freund. Die Kraft in meinem Leben, ohne die ich nicht hätte leben können. Und das wird sich niemals ändern. Aber jetzt musst du noch diese eine Sache für mich erledigen.“ Er sah Nines in die Augen und bat: „Lass mich gehen. Und dann geh zu Benjamin. Und sei glücklich.“

Nines musste den Blick abwenden. Er wollte Gavin so gerne gehorchen. Er wollte so gerne zu Benjamin gehen und ihn in seine Arme ziehen. Bei ihm sein und seine ruhige Stimme hören. Er schloss die Augen. „Es... fühlt sich an, als würde ich dich ersetzen“, gestand er leise. „Als würde ich dich überschreiben. Und das will ich nicht. Das kann ich nicht.“

Doch Gavin lachte nur. Nines sah ihn überrascht an. „Wie kann ein so brillanter Android so dumm sein?“, fragte Gavin und schüttelte grinsend den Kopf. „Nines, ich bin nur... Fantasie. Du ersetzt mich nicht, indem du mich löschst und dein Leben weiterlebst. Sterne leuchten nicht weniger hell, nur weil sie nicht allein am Himmel stehen.“

Nines schwieg, dann musste er auch lachen. „Sowas hättest du nie gesagt“, platzte es aus ihm heraus.

Gavin lachte mit ihm. „Stimmt. Ich hätte auch gerade fast gekotzt. Aber du musstest es wohl mal von mir hören.“

Sie lachten gemeinsam und Nines war, als fiele ein Gewicht von seinen Schultern, von dem er nicht gewusst hatte, dass er es seit zweieinhalb Jahren mit sich herumtrug. Er konnte das Grab vor sich betrachten und trotzdem lächeln. Es war so befreiend.

Nines sah ihn an, bewunderte all die kleinen Details in Gavins Gesicht ein, die ihn immer so einzigartig gemacht hatten. Die tiefe Farbe seiner Augen. Die in die Stirn hängenden Haare. Das unregelmäßige Muster von Stoppeln auf seinem Kiefer. Die Narbe auf seiner Nase.

„Ich liebe dich“, presste er erstickt hervor. „Und ich werde dich immer lieben. Das verspreche ich.“

Gavin steckte die Hände in die Hosentaschen und schenkte ihm dieses ganz bestimmte Lächeln, das nur Nines je zu sehen bekommen hatte. „Ich weiß, Blechbüchse. Ich auch. Und jetzt geh zu Benjamin. Du bist bereit.“

Und endlich, nach mehr als zwei Jahren, fand Nines die Kraft und den Mut, Gavins Abbild zu löschen. Ihn gehen zu lassen. Und es tat so weh. Aber er wusste, dass Gavin – der echte Gavin – stolz auf ihn wäre.

 

***


„Was ist mit der? Die ist entzückend“, meinte Benjamin und öffnete das Bild einer älteren, getigerten Katze mit zerfransten Ohren.

Nines musste lachen. „Das hast du bisher bei jeder einzelnen gesagt“, zog er Benjamin auf und öffnete das nächste Bild aus der Liste an zur Adoption freigegebenen Katzen im Tierheim. Er und Benjamin teilten sich den Link über ihre HUDs, sodass sie gemeinsam die Auswahl begutachten konnten.

„Willst du wirklich nur eine? Nicht vielleicht zwei? Oder fünf? Oder fünfzehn?“, fragte Benjamin und zwinkerte ihm zu.

Nines schloss in gespielter Empörung die Website. Doch insgeheim speicherte er sich das Bild der alten Tigerkatze ab. „Wenn du das nicht ernst nehmen kannst, werde ich dich vom Entscheidungsprozess ausschließen. Die Wahl will immerhin gut überlegt sein.“

Benjamin lachte und rückte näher an ihn heran. Ihre Schultern berührten sich und ihre Hände lagen ineinander. Nines hatte seine Finger mit Benjamins verschränkt. Sie lagen wieder an ihrem üblichen Platz im Park und beobachteten die Sterne am Himmel.

„Ich mag es, dich lachen zu hören“, flüsterte Benjamin ihm zu. „Es steht dir.“

Nines lächelte und verband in seiner HUD die Sterne mit unsichtbaren Linien, um die Sternbilder hervorzuheben. „Mit dir hier sein zu dürfen, macht es... leichter.“

Benjamin lächelte, dann fragte er leise: „Wer war er? Dein Stern?“

Für einen kurzen Moment war da wieder das Gewicht auf Nines' Brust, doch es war nicht annähernd so schwer, wie zuvor. Er nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu fokussieren. Dann drückte er Benjamins Hand. „Sein Name war Gavin. Er war mein Partner beim DPD... und mehr als das.“

Er hatte Benjamin noch nie von Gavin erzählt. Er hatte Angst gehabt, dass es weh tun würde. Doch das tat es nicht... nicht sehr. „Er hat mir beigebracht, was es bedeutet, lebendig zu sein. Dass ich sein kann, was ich will. Dass ich mir meinen Sinn des Lebens selbst erschaffen muss.“

Benjamin hatte ihm lächelnd zugehört. „Hört sich nach einem guten Mann an.“

Nines nickte. „Das war er. Auch wenn er es nicht zugeben wollte. Es war nicht immer leicht mit ihm. Es gab gute Momente, aber auch Zeiten, durch die wir uns durchkämpfen mussten. Die wehgetan haben. Aber... ich würde keine Sekunde unserer gemeinsamen Zeit missen wollen. Wir haben... einander gebraucht. Ergänzt. Wie waren ein gutes Team. Und ich vermisse ihn so sehr.“

Eine Spur von Traurigkeit legte sich über Benjamins Züge und er rückte noch etwas näher, bis er seinen Kopf auf Nines' Schulter legen konnte. „Es tut mir so Leid, Nines“, flüsterte er. „Es tut mir so Leid, dass du nicht mehr Zeit mit ihm hattest.“

Doch Nines schüttelte den Kopf. „Wir hatten 51 Jahre zusammen. Es war nicht genug Zeit... aber das wäre es nie gewesen. Man merkt immer erst am Ende, wie viel Zeit man ungenutzt hat verstreichen lassen.“ Er drehte den Kopf zu Benjamin und sah ihm in die Augen. „Ich will nicht noch mehr Zeit verschwenden, Benjamin. Ich will sie nutzen. Ich will jeden Moment, den das Leben mir schenkt, genießen. Mit dir.“

Ein Anflug von etwas, das Unsicherheit sein könnte, blitzte in Benjamins Gesicht auf. Vielleicht war er aber auch nur peinlich berührt. Er schluckte schwer, dann antwortete er: „Ich... fühle mich geehrt, dass du mir erlaubst, dich mit Gavin teilen zu dürfen. Und ich... bin glücklich, wenn ich die Zeit, die wir haben, mit dir verbringen kann.“

Nines antwortete nicht. Stattdessen stemmte er sich ein wenig hoch und küsste Benjamin. Er schloss seine Arme um ihn, Finger noch immer ineinander verwoben. Dann lagen sie lange schweigend beieinander und sahen in die Sterne.

„Ich glaube, ich hätte ihn gerne gekannt“, murmelte Benjamin irgendwann. „Ich hätte gerne gewusst, wer der Mann war, dem ich diesen Augenblick zu verdanken habe.“

Nines zögerte, spürte den Stich in der Brust, doch dann nahm er all seinen Mut zusammen und initiierte ein Interface. Die Haut an seiner Hand zog sich zurück, blaue Thiriumvenen leuchteten durch den weißen Kunststoff.

Benjamin war überrascht und sah Nines unsicher an. Sie hatten sich noch nie verbunden. Es hätte sich für Nines wie Verrat angefühlt. Interfacing war ein Aspekt gewesen, der in seiner Beziehung zu Gavin nie eine Rolle gespielt hatte. Doch jetzt dachte er nur noch daran, wie gern er jeden Aspekt seines Lebens mit Benjamin teilen wollte. Sein Leben mit ihm teilen wollte. Die guten und die schlechten Momente. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Und Gavin, der ein Teil von allen dreien war.

Er nickte ihm lächelnd zu und Benjamin schloss die Verbindung.

Nines hatte noch nie bemerkt, wie schön die Sterne waren, wenn sie gemeinsam strahlten.

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Kurzbeschreibung

Nines muss sich dem Unausweichlichen stellen und lernt, dass man Liebe nicht überschreiben kann. | Fanfiction zu Detroit Evolution. Bitte Autorennotiz lesen.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Liebe, Trauer und Schmerz und Trost getaggt.