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Under Our Wings

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24.12.21 15:55
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Hallo miteinander. Vielleicht überrascht es euch, dass ich eine neue Geschichte hochlade, obwohl ich „Die letzte Ehre“ noch nicht fertiggestellt habe. Nun, für diejenigen, die es schon wissen, aufgrund dessen, dass der Film Kung Fu Panda 2 heute 10 Jahre alt wird, wollte ich eine ganz besondere Geschichte über Lord Shen schreiben. Diese Geschichte „Under Our Wings“ wird sich grundlegend von den bisher dagewesenen Shen/Eltern Geschichten unterscheiden. Ich dachte, wie es wohl wäre, wenn seine Eltern noch am Leben wären. Was ist, wenn sie mehr als nur sterben wollten, wegen des Verlustes ihres Sohnes? Nun, jetzt könnt ihr es hier lesen. :-) Viel Spaß!
Hier ist nun meine Version von der Wiedervereinigung zwischen Shen und seinen Eltern - aber NICHT in einem Leben im Jenseits. ;-)

Übrigens hat die Geschichte nichts mit meinen aktuellen Geschichten zu tun!

Noch ein kleiner Hinweis: Für Shens Eltern wählte ich Namen, die mir am besten gefielen. Das soll aber nicht heißen, dass das ihren wirklichen Namen entspricht. Es ist schade, dass DreamWorks ihre Namen nie genannt hat, und ich besitze nun auch nicht so viel Kenntnis über chinesische Namen. Vielleicht existieren weitaus bessere Namen als meine, aber wenn ich ihre Namen kennen würde, würde ich sie natürlich hinschreiben. :-D Aber, nun, es ist ja nur Fanfiktion und vielleicht auch besser als nur „Vater“ und „Mutter“ zu schreiben. :-S

Okay, wünsche euch eine schöne Lesezeit!

 

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„Sie haben dich geliebt. Sie haben dich so sehr geliebt, dass es sie umgebracht hat dich wegschicken zu müssen.“ (Wahrsagerin, Kung Fu Panda 2)

Bemerkung des Autors: Haben sie das wirklich? ;-)


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1. Wiedergeboren


(~ 2 Jahre nach Shens Verbannung)

Der Abend hing schwer über der Stadt Gongmen. Dabei stand keine einzige Regenwolke am Himmel. Und nicht nur in den Straßen und Häusern, auch im Palast drückte die Stimmung schwer auf jedem Gemüt. Auch der Wahrsagerin. Mühselig setzte die alte Ziege einen Fuß auf den anderen, als sie sich in die privaten Gemächer des Fürstenpaares begab. Genauer gesagt, von nur einem Teil davon.
Sie schob die Tür auf. Der Raum war schön eingerichtet, fast wie ein Wohnzimmer. Doch nichts von all der Pracht konnte die traurige Seele des Herrschers aufheitern. Zuerst sah sie ihn nicht. Erst ein leises Schluchzen ließ sie aufhorchen und ihre Augen wanderten in eine bestimmte Richtung. Der Lord lag zusammengesunken auf einem Sofa.
Die Wahrsagerin wagte kaum den Mund zu öffnen. Doch irgendwie überwand sie sich dann doch dazu, obwohl es nicht viel war, was ihr über die Lippen kam. „Lord Liang?“
Ein Ruck ging durch den älteren blauen Pfau. Dennoch hob er nur langsam den Kopf. Sein Gesicht war durchnässt von Tränen.
Der Ziege fiel es schwer ihm ins Gesicht zu sehen und senkte den Blick mit Reue und Wehmut. „Es tut mir furchtbar leid. Ich habe es gerade erfahren.“
Der Tod seiner Frau war vor wenigen Stunden eingetreten. Der Arzt hatte es bereits bestätigt.
„Wenn ich irgendetwas für Euch tun kann…“
„Meine Frau ist tot“, hauchte der Lord in einer leeren, tonlosen Stimme. „Was soll mich noch hier halten?“
Die Augen der Ziege weiteten sich entsetzt. „Mein Lord! Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Ihre Gemahlin würde es sicher nicht wollen, dass Ihr ihr so schnell nachfolgt. Bedenkt doch, was dann aus Eurem Reich wird.“
„Wem soll ich es denn geben?“ Die Stimmte des Pfaus klang so schwer, dass die Ziege Sorge hatte, er würde an seinen eigenen Worten ersticken. Und dementsprechend sah er auch aus. Statt sich wenigstens zu erheben oder ein paar Schritte zu gehen, rollte sich der blaue Pfau einfach auf den Rücken und schloss die Augen. „Wenn ich sterbe, möge man mich zu meiner Frau in den Sarg legen.“
„Mein Lord!“ Schnell eilte die Ziege zu dem Herrscher und umfasste seinen Flügel. „Das dürfen Sie nicht sagen! Was immer auch auf Eurem Weg passieren mag, ich bin mir sicher, dass Sie wieder aufstehen werden.“
„Bist du dir so sicher wie deine Wahrsagung über meinen Sohn?“
Die Haltung der Ziege wandelte sich um in tiefe Bestürzung und sie beugte sich schwer auf ihrem Gehstock. Es waren bereits zwei Jahre nach dem Massaker im Panda-Dorf vergangen und dass der Lord und seine Frau ihren eigenen Sohn aus der Stadt verbannen mussten. Niemand wollte mehr daran erinnert werden und dennoch konnten sich die Eltern einfach nicht davon losreißen. Weder geistig noch körperlich.
„Euch blieb keine andere Wahl“, versuchte die Ziege das Gespräch fortzusetzen. „Entweder Tod oder Verbannung. Ihr tatet das einzig Richtige.“
Zumindest hoffte sie das. Sie selber hätte es gegenüber den anderen nie zugegeben, aber sie hätte vielleicht nicht mehr weiterleben wollen, wenn man den jungen Lord hingerichtet hätte.
„Erst mein Sohn, jetzt meine Frau.“ Die Stimme des Lords klang schwach, was die Ziege sehr erschreckte. „Der eine ist nicht mehr. Zumindest nicht hier. Und sie - sie ist nicht mehr in der Lage mit mir zu reden.“
„Ihr müsst Euch nur ausruhen“, sagte sie. „Ich kann Euch gerne etwas zur Beruhigung bringen.“
„Mich beruhigen?“ Wieder war die Stimme des Lords um einiges leiser geworden. „Der Tod ist mein einziges Mittel, um Ruhe und Frieden zu finden.“
Die Wahrsagerin wich etwas von ihm weg. Er war einfach nicht mehr derselbe Lord, der ihr anfangs vorgestellt worden war. Es war als lege ein völlig Fremder vor ihr. Zuvor war er voller Lebensfreude und immerzu entschlossen seine Ziele durchzusetzen. Jetzt war er nur noch ein Schatten, der keinen Lebenswillen mehr besaß.
„Mein Lord machen eine schwere Zeit durch“, sagte sie schließlich. „Ich bitte Sie inständig sich nicht weiter zu quälen. Euch trägt keine Schuld. Ihr habt alles für Eure Familie getan, was Ihr konntet. Da kann Ihnen keiner einen Vorwurf machen.“ Sie wandte sich ab. „Wenn Ihr es wünscht, werde ich solange in der Nähe verweilen. Wenn Ihr etwas braucht, könnt Ihr mich jederzeit rufen.“
Sie machte ein paar Schritte zur Tür, doch bevor sie den Raum verließ richtete sie noch einmal ein paar beruhigende Worte an ihn. „Machen Sie sich keine weiteren Sorgen. Es wird bestimmt alles wieder gut werden.“
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, stieß der blaue Pfau einen tiefen Seufzer aus. „Das hoffe ich sehr.“

Die Wahrsagerin entfernte sich nicht allzu weit vom Zimmer. Im nächsten Gang ließ sie sich nieder und lehnte sich gegen die Wand. Eine Weile hing sie ihren Gedanken nach. Sie fühlte sich immer noch für das schwere Unglück im Panda-Dorf verantwortlich. Vielleicht wäre nie etwas passiert, wenn sie nie in die Zukunft beschaut hätte und einen Krieger in schwarz und weiß vorhergesagt hätte, die den zukünftigen jungen Prinzen von seinem Vorhaben abhalten sollte. Die Ziege verfluchte sich selber. Warum hatte sie nicht gespürt, dass Shen sie belauscht hatte? Und selbst wenn, warum hatte sie das Unglück nicht vorhergesehen, das danach kommen würde? Gedemütigt vergrub sie das Gesicht in den Hufen. Nach einer Weile schlief sie schließlich ein.

Es vergingen ein paar Stunden als die Rufe der Wachen sie aus ihrem Schlaf rissen, die durch die ganzen Gänge des Palastes widerhallten.
„Der Lord ist tot!“
„Wie ist das passiert?“
„Gift.“
Völlig geschockt sprang die Ziege auf und rannte los. Sie stolperte mehrmals über ihren Rockzipfel bis sie schweratmend das Zimmer erreichte, in dem sie sich zuvor noch mit dem Herrscher unterhalten hatte. Gerade kamen zwei Antilopen-Soldaten heraus. In den Hufen hielten sie eine Trage, bedeckt mit einem Laken.
Der Arzt, eine schon ältere Gazelle, begleitete den Leichenzug. Als er die Wahrsagerin erblickte, neigte er den Kopf. „Ich werde mich um die Bestattung kümmern.“
Fassungslos beobachtete die Ziege wie man die Leiche des Lords wegschaffte. Dann sank sie zusammen und eine erneute Welle der Schuld schlug über sie her. Jetzt hatte ihre Prophezeiung nicht nur ein ganzes Dorf und der Lady von Gongmen das Leben genommen, sondern jetzt auch noch dem Lord.
Die Ziege hielt sich die Hufe an den Kopf. Was würde jetzt aus ihrem Sohn werden? Er war jetzt völlig auf sich alleine gestellt auf der Welt. Was würde passieren, wenn er erfuhr, dass er seine Eltern verloren hatte? Die beiden hatten noch nicht mal ihr hohes Alter erreicht.
Die alte Frau war so tief in ihrem Verdruss versunken, dass sie die Gespräche um sie herum gar nicht mehr mitbekam.
„Er wollte mit seiner Frau in den Sarg gelegt werden.“
„Der Sarg steht unten schon bereit.“
„Wann soll die Beerdigung stattfinden?“
„In drei Tagen. Der Lord hatte es so angeordnet.“
„Meister Donnerndes Nashorn. Von heute an hat der hohe Rat des Kung-Fu das Wort über die Stadt Gongmen.“
Das Nashorn klopfte mit dem großen Hammer auf den Boden. „Wir werden das Erbe des Pfauen-Clans in Ehren halten.“

Der Lord blinzelte. Um ihn herum war es stockdunkel. Die Luft roch stickig und modrig. Lord Liang kroch ein eiskalter Schauer unter die Federn. Der Gedanke als Leiche hier jetzt liegen zu müssen, so hatte er sich sein Dasein nach dem Tod nie vorstellen können. Allmählich ließ die betäubende Wirkung des Trankes nach. Kurz nachdem er das Getränk getrunken hatte, war er zusammengebrochen. Genauso wie er es geplant hatte.
Er bewegte die Flügelspitzen und Fußzehen. Unter sich konnte er weiches Polster fühlen. Er hätte es nie zugegeben, doch es war schon irgendwie angenehm in einem Sarg zu liegen. Zumindest von der Bequemlichkeit her.
Er seufzte schwer. Der Pfau konnte nicht glauben, dass er das tat. Er hatte die ganze Welt angelogen. Sowohl Freunde als auch Fremde. Jeder dachte er sei tot. Ebenso seine geliebte Frau, die neben ihm lag.
„Ai?“, wisperte er vorsichtig, aus Angst sie würde ihm nicht antworten.
Erleichterung machte sich in ihm breit, als er ein leises Murmeln und ein Rascheln vernahm.
„Liang?“ Das starke Schlafmittel, das er ihr vor vielen Stunden verabreicht hatte, ließ allmählich nach. „Sind wir… sind wir…“
„Ja“, hauchte der Pfau bestätigend. „Wir liegen in einem Sarg.“
Er konnte ihre Anspannung spüren.
„Nur keine Sorge“, beruhigte er sie schnell. „Die Luft reicht noch aus-“
„Du weißt, dass ich Platzangst habe!“, zischte die Pfauenhenne diesmal etwas lauter und eindringlicher.
Liang machte das weniger aus, doch auch er spürte eine Unruhe in sich austeigen.
„Warte einen Moment.“ Langsam richtete er sich auf und hob den Deckel an. Der Sarg war nicht verschlossen. So wie er es angeordnet hatte. Vorsichtig lugte er durch den Spalt. Sie waren allein. Sie befanden sich im untersten Teil des Palastes. So wie er es dem Arzt befohlen hatte. Alles verlief genau nach Plan.
Nachdem der Lord sich vergewissert hatte, dass sich niemand in der Nähe befand, hob er den Sargdeckel höher und hielt ihn über den Kopf.
„Klettere raus“, flüsterte er seiner Frau zu.
Sofort machte sich die Pfauenhenne auf allen Vieren auf und schwang sich aus dem hölzernen Gefängnis. Anschließend half sie ihrem Mann den Deckel zu halten, damit sie ihn geräuschlos wieder auf seinen Platz legen konnten.
Einen Moment verharrten beide und lauschten. Nichts war zu hören. Sie waren allein. Und da war niemand, der sie sah.
Lord Liang sah sich um. Der Keller bestand aus kahlen Steinwänden mit ein paar verzierten Säulen und vereinzelten Fackeln an den Seiten.
„Komm schnell.“ Er ergriff ihren Flügel und gemeinsam eilten sie einen Flur die Treppe runter. Auf der letzten Stufe gelangten sie in eine Art Abstellkammer. Liang kniete sich auf den Boden und tastete den Steinboden ab. Als er auf einer der Platten drückte gab diese kurz nach. Dann schwang sie zur Seite und gab den Weg zu einem Geheimgang frei.
Beide Pfauenvögel schauten hinein.
„Mir nach“, sagte der Lord und stieg als Erster hinunter, während die Lady zögerte.
„Können wir keine Fackel mitnehmen?“, fragte sie unsicher.
Liang schüttelte den Kopf. „Wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Dazu gehört auch keine Mitnahme von Gegenständen jeglicher Art. Nun komm! Ich kenne den Weg auch blind.“ Er hielt ihr seinen Flügel hin. Schließlich gab Ai sich einen Ruck und folgte ihrem Mann ins Dunkel.
Der unterirdische Gang fungierte einst als Fluchtweg, der vor vielen Jahren erbaut worden war, im Falle einer Belagerung der Stadt. Der Gang endete hinter einem Felsen unter einer mit Gras bewachsenen Falltür im Gebüsch. Nachdem der Lord sich vergewissert hatte, dass sie niemand beobachtete, stieg er aus und half seiner Frau aus dem Loch heraus.
Sie befanden sich jetzt im angrenzenden Wald. Die Stadt lag jetzt fast einen halben Kilometer entfernt. Von einem Hügel aus sahen sie auf die glänzende Metropole Gongmen herab, die vom Morgenlicht bestrahlt wurde. Dies war ihre Heimat. Seit Generationen. Das Land ihrer Vorfahren.
Still legte der blaue Lord seinen Flügel über die Schultern seiner Frau.
„Es war die einzige Möglichkeit. Ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr.“
Er nahm seine Frau beim Flügel. „Jetzt komm. Ich habe bereits alles vorbereitet. Die Sachen finden wir in einer alten Hütte im Wald. Dort werden wir uns zurecht machen. – Für ein neues Leben.“
Das Ehepaar beeilte sich. Sie durften nicht riskieren zufällig von einem Waldläufer entdeckt zu werden. Die Holzhütte war gut getarnt und extrem klein. Dort holten sie einen Beutel mit alten bäuerlichen Kleidern heraus.
„Hier die Farbe.“ Liang reichte seiner Frau einer Art Farbpulver. Schnell entkleidete sie sich und rieb sich damit ein, sodass sich ihr rosa-türkises Gefieder in ein hölzernes Braun verwandelte.
Bevor auch ihr Mann sich dieser Arbeit zuwandte, holte er ein Messer hervor. Als seine Frau das Messer in seinem Flügel sah, überkam sie ein ungutes Gefühl. „Liang? Wozu?“
Die Augen des Lords waren ernst. „Niemand darf mich erkennen.“
Mit einem schnellen Ratschen schnitt er über die hintersten Enden seiner langen Schwanzfedern. Ebenso verfuhr er mit seinen langen Bartfedern am Schnabel. Anschließend zerschnippelte er alle Federn in kleine Stücke und steckte sie in einen Sack. Dann nahm auch er ein Farbpulver zur Hand. Und es dauerte nicht lange und sein dunkelblaues Gefieder verwandelte sich in ein dunkles Grün.
Sie verstauten die restlichen Materialien in ihr Gepäck und setzten sich zum Schluss Strohhüte auf. Nachdem sie sich vergewissert hatten, nichts zurückgelassen zu haben, rief Liang zur Eilte.
„Komm. Das Schiff aus Japan wird jeden Moment im Hafen eintreffen. Wir müssen den Zeitpunkt genau abpassen, um keinen Verdacht zu erwecken.“
Sie begaben sich zur Landstraße, die an der Küste entlangführte.
Ab dieser Strecke spazierten sie in gemäßigtem Tempo weiter. Auf dem Weg kam ihnen ein Ziegenbock entgegen. Liang spürte wie Ai wieder nervös wurde und griff beruhigend nach ihrem Flügel.
„Bleib ganz ruhig“, raunte er ihr zu. „Sie kennen uns nicht und wir kennen sie nicht.“
Liang nickte dem Passanten zur Begrüßung zu. Dieser blieb kurz stehen. Anscheinend meinte er ihre Silhouetten zu erkennen. Kein Wunder, kannte doch jeder das Ehepaar der Stadt Gongmen. Doch als er einen näheren Blick auf die beiden zerlumpten Vögel wagte, grüßte er nur kurz zurück und schüttelte über sich selber den Kopf.
Nach einer kurzen Strecke blieb Liang stehen und deutete nach vorne.
„Dort drüben liegt das nächste Dorf.“
Sie marschierten auf das vorderste Haus zu, vor dem ein Schaf gerade dabei war Holz zu hacken.
„Sei gegrüßt“, begann Lord Liang.
Das Schaf hielt in seiner Arbeit inne und betrachtete das Pfauenpaar verwundert. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Wir sind aus Japan“, erklärte der grün angemalte Pfau. „Wir sind gerade von einer langen Schiffsreise hier angekommen und suchen nach einem Ort, wo wir uns niederlassen können.“
„Und mit wem habe ich die Ehre?“, erkundigte sich das Schaf.
„Mein Name ist Makkuro“, stellte der ehemalige Lord der Stadt Gongmen sich vor. „Und das ist meine Frau Nara.“
Nara, alias Lady Ai, verneigte sich respektvoll.
„Sie kann noch nicht so gut Chinesisch“, fügte Makkuro, Lord Liang, hinzu.
Das Schaf rieb sich übers Kinn. „Nun, bei uns stehen wirklich ein paar Hütten leer. Gongmen ist auch nicht mehr die große Blüte, was sie mal gewesen war. Besonders seit dem schrecklichen Vorfall in einem Panda-Dorf hat es einige vertrieben.“
Der Pfau seufzte, ließ sich aber nichts anmerken.
„Es würde uns genügen“, sagte er stattdessen.
„Nun denn. Dann folgt mir.“
Das Schaf legte die Axt beiseite und führte das Ehepaar an ein paar verlassenen kleinen Häusern vorbei, die er ihnen der Reihe nach vorstellte. Liang, oder Makkuro, nahm jede der Hütten genau in Augenschein. Erst am letzten Haus, das ganz am Ende des Dorfes stand, beendete er seine Begutachtung.
„Dieses hier ist perfekt.“
Das Schaf nickte und stieg über die Terrasse, um die Tür zu öffnen.
„So, da wären wir.“
Das Pfauenpaar trat ein. Vor ihnen stand ein Tisch mit Stühlen, daneben die Küche mit einer Feuerstelle und in einem Nebenzimmer Betten.
Liang ging durch den Esszimmerraum und strich hier und da mit den Fingerfederspitzen über die Flächen.
Schließlich faltete er die Flügel zusammen und warf seiner Gattin einen zufriedenen Blick zu.
„Wir nehmen es“, sagte er schließlich.
„Das freut mich zu hören“, sagte das Schaf. „In dem Fall werden wir die Formalitäten dann später erledigen, sobald Sie sich von der Reise erholt haben. Und dann auch noch die Aufgaben, die in unserem Dorf anfallen.“
Liang nickte. „Natürlich dürfen Sie das. Iroiro to arigatōgozaimashita (Danke für alles)“, sagte er zum Schluss auf Japanisch. Der Pfau war zum ersten Mal seit langem dankbar für seine gute Schuldbildung. Besonders in Sachen Fremdsprachen.
Das Schaf wollte sich gerade zur Tür wenden, als es sich nochmal umdrehte. „Verzeihen Sie meine Bemerkung. Aber mit Verlaub, ich dachte immer, Pfaue haben lange Schwanzfedern.“
Auf diese Frage hatte Lord Liang schon eine Antwort parat.
„Es ist eine alte Sitte in unserer Gemeinde sich nach der Hochzeit die Schwanzfedern abzuschneiden“, erklärte er.
Das Schaf runzelte die Stirn. „Okay. Sitten gibt’s. Sonderbar.“ Murmelnd verließ es die Hütte.
Lady Ai sah sich um. Noch nie hatte sie in einer Hütte gewohnt. Weder früher noch sonst irgendwann. Nicht einmal im Urlaub. Von der Decke hingen Spinnweben und überall lag Staub und sie wusste, dass es hier keinen Putzdienst gab.
„Liang?“, begann sie schließlich. „Ich weiß nicht, ob ich dieses Leben auf ewig durchstehen kann.“
Tröstend legte ihr Gatte seine Flügel auf ihre Schultern. „Tut es für ihn. Wir müssen versuchen so ein Leben zu führen.“
Betrübt hielt sie seine Flügel. „Er fehlt mir so sehr. Könnte ich ihn doch noch einmal sehen. Nur noch ein einziges Mal. Nur noch einmal ihn berühren.“
Der Lord drückte seine Frau eng an sich. „Das werden wir. Verlass dich drauf.“
Er strich ihr über den Kopf. „Aber nun komm. Wir müssen noch ein Feuer machen.“

Es dauerte nicht lange und das Feuer brannte in der Feuerstelle in der Küche. Die zwei Pfaue saßen davor und schnitten ihre königlichen Gewänder in Streifen, die sie dann anschließend nach und nach in die Flammen warfen. Das gleiche passierte auch mit Liangs abgeschnittenen Federn. Traurig sahen sie zu wie das lodernde Feuer ihre Vergangenheit auffraß.
„Liang?“, begann Ai nach einer Weile des Schweigens. „Jetzt wo wir nicht mehr unter Beobachtung stehen… Könnten wir nicht einfach diesen Ort verlassen und nach ihm suchen?“
Ihr Gatte sah sie mit warmem Blick an, doch dann schüttelte er den Kopf und umfasste ihren Flügel. „Er hat es mir geschworen. Damals. An jenem Tag. Er wollte zurückkommen. Ich bin mir sicher, dass er das tun wird.“ Er stand auf und ging nachdenklich ein paar Schritte auf und ab. „Bis dahin werden wir hierbleiben… und auf ihn warten. Und wenn er kommt… werden wir über ihn wachen. Ohne dass er es merkt.“
Er sah aus dem Fenster in die Ferne, so als würde er dort seinen Sohn sehen. Er war dort. Irgendwo, da draußen.
Mein Sohn.


Nun, ich hoffe, ich hab euch mit meiner „was-wäre-wenn-Shens-Eltern-noch-am-Leben-sind“ Theorie nicht erschreckt. Ich kenne nicht die wahren Charaktere von Shens Eltern und es beruht alles in dieser Fanfiktion auf Spekulationen. Seid mir von daher nicht böse, falls ich deren Charakter falsch beschreibe. Es ist das erste Mal, dass ich sie ganzheitlich in einer Geschichte auftreten lasse. Was genau die beiden zu diesem Vorhaben bewogen hat, wird im Laufe der Geschichte noch erklärt.

Das nächste Kapitel knüpft direkt an den 2.Film an. :-) Viel Spaß und auf bald!

Übrigens, hier noch das Cover: https://www.deviantart.com/bookdreamcatcher/art/Under-Our-Wings-Cover-880286522

Hi, so, hier ist das nächste Kapitel. Es beginnt wie gesagt mitten im Kung Fu Panda 2 Film. Hinzufügen möchte ich noch, dass der Zeitraum zwischen Shens Exil und seiner Rückkehr ungefähr 20 Jahre betrug, statt 30, da laut Kung Fu Panda 3 Po knappe 20/21 Jahre alt ist.
 

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„Tai Lung war ein gefährlicher Bösewicht, der vor nichts zurückschreckte, um die Macht und den Respekt zu erlangen, die ihm zustehen. Shens Probleme liegen noch tiefer: Er wird nicht eher zufrieden sein bis sich ganz China vor ihm verneigt.“*
(Melissa Cobb, Produzentin - The Art of Kung Fu Panda 2, Seite 51)

 

* frei übersetzt
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2. Alte Gefühle kehren zurück


(~ 20 Jahre nach Shens Verbannung)

Die Sonne hing niedrig über dem Dorf nahe der Stadt Gongmen. Lady Ai, seit über vielen Jahren Nara genannt, brachte gerade einen Korb Wäsche nach draußen. Dort warf sie die schmutzigen Kleidungsstücke in eine Waschwanne und rubbelte sie im Seifenwasser sauber.
Nach einer Weile zog sie ihre Flügel aus dem Wasser und besah sich die Federn. Sie seufzte tief. Ihre Farbe war wieder abgegangen und das Türkise ihres royalen Gefieders schimmerte unter der Seifenlauge hervor. Doch von der erhabenen Würde war nichts mehr zu sehen. Ihre Federn waren völlig zerzaust und teilweise an den Spitzen abgebrochen von der ganzen Arbeit. Ganz zu schweigen von ihrer Kleidung, die weder aus Seide noch aus edlem Garn bestanden.
Die Pfauenhenne seufzte schwer und rieb sich den Rücken. Seit knapp 18 Jahren schuftete sie wie eine Hausfrau, was sie anfangs gar nicht gewohnt war.
Ihr Blick wanderte zum Himmel hoch. Sie hatte heute so ein merkwürdiges Gefühl. Irgendeine Unruhe staute sich in ihr auf. Sie wusste nicht was es war. Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere auch seit sie ihr Leben im Palast aufgegeben hatten. Und doch war er irgendwie anders als die anderen.

Auch Liang, oder auch Makkuro genannt, betrachtete den Himmel. Es waren einige Wolken zu sehen und die Nachmittagssonne erhellte den Himmel. Kein Anzeichen für Regen oder ein Unwetter, und dennoch war er unruhig. Diese Nervosität hatte er bis jetzt nur, wenn er eine Bedrohung witterte, doch sein Instinkt meldete ihm keine Feinde.
Schließlich schüttelte der ehemalige Herrscher über sich selber den Kopf. Er war gerade im Wald Holzsammeln. Allerdings hatte der Wind wenig Zweige von den Bäumen geschüttelt. Der Blick des ehemaligen Lords wanderte nach oben zu den Ästen. Dann kam ihm ein Gedanke. Er sah sich hastig um. Außer ihm war keiner in der Nähe. Er drehte sich um, rannte ein paar Schritte vor, dann machte er kehrt, nahm Anlauf, schlug kräftig mit den Flügeln und schwang sich auf die Baumwipfel. Seine Flügel durchschnitten das Blätterwerk und mit ein paar schneidenden Flügelbewegungen säbelte er hier und da ein paar Äste ab, die dann auf den Boden heruntersegelten.
Anschließend ließ sich der Gongmen Herrscher wieder fallen und landete mit einem gekonnten eleganten Satz wieder im Gras. Mit einem Lächeln betrachtete er seine Arbeit.
„Ich kann es immer noch.“
Seine Kung-Fu-Kunst war nach all den Jahren noch nicht eingerostet. Schmunzelnd hob er einen Zweig nach dem anderen auf.
Plötzlich ließ ihn ein Knall aus der Ferne hochschrecken. Hastig sah sich der Pfau um, doch es war nichts zu sehen. Mit angespannter Haltung erhob er sich. So einen Laut hatte er noch nie gehört. Sogar die Vögel hatten ihr Gezwitscher unterbrochen.
Als jegliches weitere laute Geräusch ausblieb, zuckte der Lord die Schultern. Vielleicht war es doch nur ein Feuerwerkskörper gewesen, den mal falsch angezündet hatte.
Er begab sich wieder ans Holzsammeln, packte sie in ein Laken, schnürte sie zusammen und machte sich auf dem Weg zurück ins Dorf.

Der Pfau hatte die Nähe des Dorfes fast erreicht, als er laute Stimmen hörte. Der ehemalige Lord beschleunigte seine Schritte bis er die ersten Häuser erreichte. Verwundert sah er sich um. Die Leute waren völlig aufgeregt und redeten wild durcheinander. Einige rannten sogar in ihre Häuser und holten ein paar Sachen heraus.
Der Lord sah sich nach dem Dorfältesten um. Das alte Schaf unterhielt sich gerade mit ein paar Dorfbewohnern, die wild miteinander diskutierten.
Kurzentschlossen gesellte Liang sich zu ihnen.
„Was ist denn los?“, fragte er. „Warum sind denn alle so aufgeregt?“
„Oh, Makkuro!“, rief das alte Schaf bestürzt. „Ein Unglück hat uns heimgesucht!“
Der Lord hob die Augenbrauen. So aufgebracht hatte er den Dorfältesten noch nie erlebt. „Ein Unglück? Was denn für ein Unglück?“
„Lord Shen… er… er ist zurückgekehrt!“
Der ehemalige Lord ließ das Holz fallen.
„Er hat eine Kanone bei sich!“, schrie eine Gans im Vorbeirennen hysterisch. „Die zerfetzt alles was ihr in den Weg kommt!“
„Ja“, bestätigte ein Ziegenbock. „Und… er hat Meister Donnerndes Nashorn damit getötet! Hingerichtet hat er ihn!“
„Besser wir evakuieren das Dorf, bevor er auch noch uns damit in die Luft jagt!“
„Nur nichts überstürzten. Lasst uns das besser nochmal überlegen. Nur keine Panik!“
Der Dorfälteste war so sehr damit beschäftigt seine Nachbarn zu beruhigen, dass er nicht mehr weiter auf den Pfau achtete.
Liang musste sich an eine Hauswand lehnten. Aus ihm war sämtliche Kraft sich auf den Beinen zu halten gewichen. Nachdem er ein paar kräftige Atemzüge genommen hatte, rannte er in die Richtung seines Hauses.

Lady Ai war gerade dabei ein Hemd zu flicken, als ihr Mann ohne anzuklopfen die Tür aufstieß. Die Pfauenhenne sah erschrocken auf, als der Pfau sie entgeistert anstarrte.
„Ai“, stieß er atemlos hervor. „Er ist hier.“
Die Pfauenhenne ließ Nadel und Faden fallen. Sie war mit einem Mal gar nicht mehr in der Lage zu denken. Es vergingen ein paar Sekunden bis sie wieder die Fähigkeit fand den Schnabel zu bewegen. „Wo?“
Ihre Frage kam fast mechanisch. Es war ihr als hätte man sie in einen Trancezustand geschleudert.
Liang ging es nicht unbedingt anders. Auch er war noch völlig außer Stande einen klaren Gedanken zu fassen, schaffte es aber schließlich für eine Antwort Luft zu holen. „In Gongmen. Er soll heute angekommen sein.“
Ai sprang auf, doch noch ehe sie durch die Tür rennen konnte, hielt ihr Ehemann sie zurück. „Ai, hör mir zu! Was ich dir jetzt sage wird dir weh tun, aber ich muss es dir sagen.“
Die ehemalige Lady von Gongmen sah ihn entsetzt an. „Stimmt etwas nicht mit ihm? Ist ihm was passiert?!“
Liang wich ihrem Blick aus. So sehr er sich auch darüber gefreut hatte, wieder von seinem Sohn zu hören, so war dies ein extrem schlimmer Anlass.
„Er hat Meister Donnerndes Nashorn umgebracht.“
Es fiel ihm schwer diesen Satz auszusprechen.
Ai hingegen starrte ihn entgeistert an. „Umgebracht?“
Liang fand keine Kraft mehr zu Antworten und nickte nur.
Ai versagten die Beine. Der Lord merkte wie sie einknickte und schob sie schnell zu einem Stuhl. Dort angekommen setzte er sie ab. Kaum saß sie, stützte Ai das Gesicht in den Flügeln. Sie konnte nur schwer verkraften was ihr Mann gerade gesagt hatte.
Ihr Sohn hatte wieder getötet. Viel schlimmer. Er hatte gemordet. Das war kein Unfall gewesen. Shen hatte schon seit jeher einen Groll gegen den großen Kung-Fu-Meister gehegt. Insgeheim hatte sie stets gehofft, sein Zorn würde sich irgendwann legen. Doch stattdessen schien ihr Sohn seinen Hass in der Verbannung nur noch genährt zu haben.
Liang beobachtete sie schweigend. Zuerst sah es so aus als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch dann, nach ein paar heftigen, tiefen Atemzügen nahm sie die Flügel vom Gesicht runter und stand entschlossen auf. „Ich will ihn sehen!“
Der Pfau hielt sie fest und Ai befürchtete, dass er es ihr verbieten würde. Doch der alte Lord sah sie nur an und nickte schließlich. Auch er war entschlossen sofort mehr herauszufinden.
„Ja, das werden wir. Ich werde mich erkundigen, wo er sich aufhält.“

Es vergingen Minuten. Minuten, die für Ai wie Stunden vorkamen. Um sich abzulenken hatte sie sich in die Küche zurückgezogen und schnitt Gemüse. Es war zumindest sinnvoller als nur herumzusitzen bis ihr Mann zurückkommen würde, der sich wieder unter die Dorfleute gemischt hatte.
Mit stummem Blick starrte die Pfauenhenne auf den Rettich, den sie mit langsamen Bewegungen mit einem Messer in Scheiben schnitt. Doch ihre Gedanken kreisten nur um ihren Sohn.
Ihren Sohn.
So viele Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Jahre, die leer und trostlos gewesen waren, als wären sie nur Luft. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Leben so sinnlos sein würde, wenn nicht noch ihr Mann bei ihr gewesen wäre. All die Jahre hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn ihr Sohn wieder vor ihr stehen würde. Sämtliche Szenen hatte sie sich ausgemalt, sogar Träume, die ihr Freude und Kummer zugleich bereitet hatten. Stets verdrängte sie die Tatsache, dass er ein ganzes Dorf ausgelöscht hatte. Immer wenn sie aufwachte, stellte sie sich vor, dass es nie passiert war. Er war ihr Sohn, den sie nach seiner Geburt in den Flügeln getragen hatte. So klein und schwach… Er hätte nie jemanden weh tun können. Er war so unschuldig. So zerbrechlich. Für sie war er immer das kleine weiße Küken bis zur letzten Minute bevor er sein Massaker gestand… Das sollte nicht wahr sein! Sie verdrängte es immer wieder jeden Tag. Und jetzt der Kung-Fu-Meister…
Ai brach ab. Sie legte das Messer beiseite und stützte sich auf dem Küchentisch ab. Eine Weile starrte sie auf die Arbeitsplatte, dann merkte sie, wie sich ihre Sicht verschleierte und die heißen Tränen aus ihren Augen kullerten. Sie kniff die Augen zusammen und ließ dem salzigen Wasser im Gesicht freien Lauf.
„Shen“, schluchzte sie leise. „Shen! Wieso? Wieso? Warum hast du das getan?!!“
Sie hob ruckartig den Kopf. Jemand hatte die Haustüre aufgestoßen. Die Schritte auf dem Holzboden ließ die Pfauenhenne ihren Mann erkennen. Schnell wischte sie sich über das Gesicht. Liang sollte ihre Tränen nicht sehen. Hastig ließ sie alles stehen und liegen und eilte zu ihm. Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Und?“
„Ich habe gehört, dass er die Feuerwerkfabrik in Beschlag genommen hat“, berichtete Liang. „Zudem soll er ein ganzes Wolfrudel in die Stadt geführt haben.“
Ai schluckte schwer. Das Wolfrudel. Er hatte sich immer noch mit ihnen verbündet.
Der Lord schränkte die Flügel auf den Rücken. „Das beste wäre, wenn wir heute Nacht uns dort umsehen, bevor sich die Wölfe noch in jeden Winkel der Stadt verteilen.“
Ais Augen weiteten sich. Doch sie sah ihrem Mann an, dass er es ernst meinte. Innerlich sank ihr Herz. Sie hatte Angst davor beim Umherschleichen in der Stadt ertappt zu werden, doch die Vorstellung dafür ihren Sohn zu sehen überwand alles wieder in ihr.
„Einverstanden“, sagte sie schließlich. „Ich mache uns vorher noch was zu Essen.“
Sie wandte sich wieder zur Küche. Liang lächelte. Es war erstaunlich wie sie in all den Jahren so gut das Kochen gelernt hatte.

Es war vor Mitternacht und stockdunkel in der Stadt, bis auf ein paar Laternen. Lord Liang konnte nicht riskieren, dass man sie entdeckte und war froh darüber, dass sich nach all den Jahren die Stadt Gongmen nicht sonderlich verändert hatte. Er war hier geboren und aufgewachsen und kannte jeden Winkel. Das Einzige, was ihn wunderte war, dass so gut wie keine Leute mehr auf den Straßen waren. Die Nachricht von Shens Ankunft schien die Stadt in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Besonders nachdem Shen mit seiner Kanone seine vernichtende Macht auf brutale Art und Weise an dem Meister demonstriert hatte. Zudem patrouillierte alle paar Straßen ein Wolf, was dem Elternpaar es erschwerte zügig voran zu kommen. Keiner von beiden wollte sich ausmalen, was passieren würde, wenn man erfuhr, dass sie noch am Leben und nicht tot waren. Und noch viel mehr, wie würde Shen darauf reagieren, wenn er, oder zumindest einer seiner Leute sie entdeckte?
Diese und jene Gedanken durchzogen den Kopf des Pfaus immer und immer wieder, bis sie an dem großen Gebäude angekommen waren. Zum Glück standen hier nicht viele Häuser und die meisten Wohnungen in der nahen Umgebung waren von den Wölfen leergeräumt worden. Keiner sollte die Geheimnisse, die in der Fabrik produziert wurden, ausspionieren. Und vor allem keinem die Gelegenheit gegeben, die Anlage zu sabotieren.
Das Pfauenpaar hatte das Fabrikgebäude fast erreicht, bis die Pfauenhenne im Gehen innehielt, als ihr Mann einen Flügel auf ihre Schulter legte.
„Ai?“ Er sah sie eindringlich an. „Bedenke, er ist kein kleines Kind mehr. Er ist jetzt erwachsen und muss die Verantwortung für sein Tun tragen.“
Ai spürte wie sich ein Kloss in ihrem Hals bildete, nickte aber.
Plötzlich hoben die Pfaue die Köpfe.
„Ich will, dass das alles bis morgen früh erledigt ist!“, rief eine Stimme nicht weit entfernt.
„Meister Shen, unsere Leute tun schon was sie können!“, beteuerte eine andere tiefe raue Stimme.
„Ich warte schon seit so vielen Jahren darauf! Eine Verzögerung dulde ich nicht!“
Schnell zog Liang seine Frau hinter ein paar Kisten und sahen rüber zum riesigen Tor, dass nur einen Spalt weit offenstand. Im Inneren des gigantischen Gebäudes wurde schwer geschuftet und gearbeitet.
Liang hob etwas den Kopf und schnupperte. Neben heißem Metall roch er eindeutig Schießpulver.
Plötzlich tauchten im Torspalt Schatten auf. Jemand schob das Tor auf und trat aus dem Gebäude raus.
Ais Flügel krallte sich in die Kleidung ihres Mannes, als sie neben dem Wolf eine weitere Gestalt herauskommen sah. Selbst wenn er verkleidet gewesen wäre, seine weiße Gestalt hätten sie unter Millionen von anderen wiedererkannt. Ai meinte ihr Herz würde aussetzen und fühlte sich wie in einem ihrer Träume. Auch Liang starrte entgeistert nach vorne.
Ihr Sohn lebte!
Er stand nur ein paar Meter von ihnen entfernt und schwang sein Lanzenschwert vor einem großen einäugigen Wolf.
Liang verengte die Augen. Es war dasselbe Schwert, das er immer bei sich getragen hatte. Auch schon damals als er ihn aus der Stadt verbannt hatte, war es sein ständiger Begleiter gewesen wie für ein Kind die Puppe.
Der weiße Pfau redete irgendetwas auf den Wolf ein. Beide Eltern hörten kaum zu. Ihre Augen waren nur auf ihn fixiert, als wollten sie jede Veränderung an ihm absuchen.
„Er ist stärker geworden“, dachte Liang voller Wehmut und sein Gesicht füllte sich mit tiefer Trauer. Und auch Ai zerfraß die Sehnsucht.
Das Blut, die Wut, die Trauer - all das waren für einen Moment völlig vergessen.
„Nein, Ai! Nicht!“ Schnell packte Liang seine Frau noch bevor sie nach vorne stürmen konnte. Sie wollte zu dem weißen Pfau laufen und ihn umarmen, doch das ließ ihr Mann nicht zu und zerrte sie hinter einen Stapel Fässer.
„Ai, das ist zu gefährlich.“
„Aber das ist mein Sohn!“
Liang packet sie an den Flügeln und sah sie streng an. „Er weiß nicht, dass wir noch leben! Er denkt, wir sind tot. Wenn er das jetzt herausfindet… Bedenke was damals passiert ist.“
„Aber das ist doch schon so lange her. Bestimmt hat er uns längst verziehen.“
„Bestimmt nicht für die Lüge, die wir allen – und vor allem ihm – vorgegaukelt haben. Nein, Ai. Wir dürfen nichts riskieren. Wenn er schon in der Lage war Meister Donnerndes Nashorn zu töten, wie hoch wird die Wahrscheinlichkeit dann sein, dass er uns was abtut?“
Ai versagte die Stimme. „Aber wir sind doch seine Eltern…“
Sie spürte wie sich seine Griffe um sie verengten. Vor den inneren Augen des Lords blitzten Bilder auf, die er nie vergessen hatte.
„Du bist nicht mehr mein Sohn! Verlass meine Stadt und komm nie wieder! Ich will dich nie wieder hier sehen!“ - „Ich hasse dich!“
Liang blinzelte heftig. Dann senkte er den Blick. „Ich glaube nicht, dass er dasselbe denkt.“
Er drückte ihren Kopf auf seinen langen Hals, bis eine laute fordernde Stimme sie aus ihrem inneren Konflikt riss.
„Deine Leute sollen sich beeilen die verbliebenen Materialien zu beschaffen!“, befahl Lord Shen. Die Härte in seiner Stimme ließ die Eltern erzittern. Solche barschen Rufe hatte er auch auf ihrer letzten Unterhaltung mitgegeben. Seine Einstellung in seinem Leben schien sich sogar noch mehr versteinert zu haben.
Liang spürte wie Ai zu frösteln begann, doch es war nicht die Kühle der Nacht. Sie schraken zusammen, als ein Schatten davonrannte. Doch der Wolfanführer bemerkte sie nicht, sondern war nur darauf konzentriert den Befehl seines Herrn auszuführen.
Zögernd blickten der Pfauenvater und die Pfauenmutter um die Ecke der Fässer. Ihr Sohn stand immer noch im Torbogen und vollführte ein paar elegante agile Kampfübungen mit seinem Lanzenschwert. Wäre es nicht so ein gefährliches Instrument, hätte man es mit einem Tanz vergleichen können. Der weiße Pfau und seine Waffe bildeten eine Einheit. Sogar noch mehr als Liang es von damals in Erinnerung hatte. Shen schien seine Kampfkünste im Laufe der Jahre extrem verbessert zu haben. Es war kein Vergleich mehr zu damals als er durch die Kung-Fu-Prüfung durchgefallen war…
Plötzlich hielt der weiße Pfau inne. Hatte er sie bemerkt oder ihre Blicke gespürt? Die Augen des weißen Kriegsherrn wanderten in ihre Richtung. Schnell duckten sich beide weg. Mit angehaltenem Atem lauschten sie.
Ein metallisches Klimpern von Schritten näherte sich ihrem Versteck.
„Er kommt!“, zischte Liang. „Schnell versteck dich!“
Den beiden schlugen die Herzen bis zum Hals. Auf keinen Fall durfte Shen sie erwischen.
Liang machte einen Karren ausfindig, unter den er zuerst seine Frau dann sich selber drunter zwängte. Dort drängten sie sich dicht einander und drückten sich so gut es ging auf den Boden.
Sie hörten ihn kommen. Das Klirren von Eisen auf dem Steinboden kam mit jedem Schritt näher an sie heran. Langsam und bedächtig. Plötzlich verstummten sie. Es wurde still. Extrem still.
Die Eltern hielten den Atem an.
Auf einmal sprang etwas vor sie. Ai presste sich den Flügel vor den Schnabel, um nicht laut zu schreien. Der weiße Pfau stand jetzt direkt vor dem Holzwagen, doch er schien das Pfauenpaar nicht entdeckt zu haben. Stattdessen sah er sich nach allen Seiten um und schwang sein Lanzenschwert in sämtliche Richtungen.
Liang drückte seine Frau enger an sich. Das Schwert blitzte im Laternenlicht und flößte allein schon bei dessen Anblick seiner puren Schärfe blanke Furcht ein.
Shen drehte sich weiter um die eigene Achse. Das Pfauenpaar unter den Karren konnten nur die Füße, den Saum seiner weißen Robe und seine langen Schwanzfedern sehen. Erst jetzt erkannten sie, dass seine Füße mit einer eisernen Rüstung bedeckt waren, bestückt mit langen metallischen Krallen.
Liang durchfuhr ein Schrecken, als seine Frau ihren Flügel nach ihrem Sohn ausstreckte.
So vielen Jahre, fast 20 Jahre lang, hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und jetzt stand er nur ein paar Zentimeter vor ihr. Ihre Fingerfederspitzen berührten fast seine langen Federn. Sie wollte ihn nur einmal berühren. Nur ein einziges Mal, nach so vielen Jahren.
In letzter Sekunde hielt Liang ihren Flügel fest und drückte ihn weg. Ai wich erschrocken zurück, völlig fassungslos was sie fast getan hätte. Plötzlich sprang etwas an ihnen vorbei. Der weiße Pfau wirbelte herum und zielte mit dem Schwert auf das springende Etwas. Verwundert hielt er inne, als er einen kleinen Frosch auf den Steinfliesen erblickte. Der Frosch quakte kurz, dann hüpfte er eilig davon.
Der weiße Lord zog sein Schwert zurück, dann schmunzelte er. „Wie lächerlich.“
Dann zog er sich wieder in das Fabrikgebäude zurück und schloss das Tor.
Eine Weile verharrte das Ehepaar unter dem Holzwagen ohne sich zu rühren. Dann konnte Ai sich nicht mehr beherrschen und vergrub schluchzend das Gesicht in Liangs Hemd.

Auf dem Heimweg sprach keiner der beiden ein Wort. Erst als sie wieder ihre Hütte betraten und die gewohnte Umgebung, die sie seit über 18 Jahren schon bewohnten, umgaben, legte sich ihre Anspannung etwas. Die ganze Aufregung hatte sie extrem ausgelaugt, doch ihnen war nicht zum schlafen zumute und beschlossen noch etwas zu essen.
Ai hatte am allerwenigsten Hunger. Ziellos stocherte sie mit den Essstäbchen im Reis, wobei sie in Gedanken sämtliche Möglichkeiten und Szenerien durchging was passiert wäre, wenn Shen sie doch erwischt hätte. Ihre Sehnsucht ihn zu umarmen und zu küssen zerfraßen ihr Gemüt. Schließlich konnte sie eine Frage einfach nicht mehr zurückhalten. „Liang? Was sollen wir jetzt tun?“
Liang sah nicht auf, er schielte nur kurz zu ihr rüber, dann starrte er wieder mit leerem Blick auf seine Schüssel. „Kommt drauf an, was er tut.“
„Was denkst du wird er denn jetzt tun?“ Ai wollte dringend eine Antwort auf diese Frage. „Und wenn er was tut, was sollen wir dann machen?“
Doch Liang wich ihrer Frage aus. „Wir warten und halten ab und zu Ausschau“, sagte er stattdessen. „Die Dorfbewohner sind sehr gesprächig. Dann müssen wir nicht immer in die Nähe der Stadt gehen.“
Ai hätte ihn vielleicht noch mehr ausgefragt, doch sie musste einsehen, dass es unmöglich war jetzt schon klare Ziele zu setzen. Schließlich stand sie auf und räumte ihre Schüssel weg. Ihr war der Appetit vergangen.
Liang seufzte. Dann stand auch er auf und folgte ihr in die Küche. Dort war seine Frau gerade damit beschäftigt Wasser in ein Becken zu gießen, um die Schüssel auszuwaschen.
Ai sog scharf die Luft ein, als Liang seine Flügel auf ihre Schultern legte und sie zu massieren begann. „Ai, das wird schon wieder.“
Wieder begann die Pfauenhenne zu zittern und schrubbte nervös die Schüssel aus. „Ich… ich kann es nur nicht ertragen, wenn ihm irgendetwas Schlimmes passiert. Ich konnte es damals nicht, und heute genauso wenig.“
Sie ließ die Schüssel ins Waschwasser sinken. Der Lord drehte sie herum und sah ihr ins Gesicht. „Ai - Wir schaffen das.“
Ai presste die Schnabellippen zusammen. Dann fiel sie ihm um den Hals und begann zu weinen. Liang tadelte sie nicht dafür. Er drückte sie eng an sich und ließ sie weinen.
„Das wird schon wieder“, hauchte er.
Zumindest hoffte er das.


Fortsetzung folgt…

„Man sieht wirklich, was in ihm vorgeht (…) In diesem Moment hat er die Wahl. Er erfährt, dass seine Eltern in liebten, und er könnte sagen: „Oh, es war alles ein Missverständnis. Das war alles gar nicht notwendig. Vielleicht kann ich mich bessern.“ Aber man sieht, wie abgedreht er ist. Er macht weiter, obwohl er weiß, dass es falsch ist. Er kann nicht zugeben, dass alles seine eigene Schuld ist. Er gab immer allen anderen die Schuld. Er hat die Pandas unnötig getötet. Er muss seine Boshaftigkeit rechtfertigen. Ja, er bleibt bei seinem Plan. Die Aufnahme, in der er allein in dem roten Licht zurückbleibt, war seine alleinige Entscheidung. (…) Und man weiß, dass es ihn innerlich auffrisst. Er wird nicht ohne Weiteres verarbeiten, was er getan hat.“
(DVD Extra - Kommentar der Filmmacher – Jennifer Yuh Nelson, Melissa Cobb, Raymond Zibach, Rodolphe Guenoden über die finale Szene zwischen Lord Shen und der Wahrsagerin)


 

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3. Gebrochene Seelen


Es vergingen ein paar Tage. Liang tat sein Bestes so unauffällig wie möglich die Dorfbewohner auszufragen. Er erfuhr nebenbei, dass die anderen zwei Kung-Fu-Meister, Meister Tosender Ochse und Meister Kroko, in den Kerker geworfen worden waren und dass Shen sich daran machte eine Flotte bereitzustellen, was den Lord sehr beunruhigte. Einerseits konnte er den Gedanken nicht ertragen seinem Sohn was anzutun. Doch zuzulassen, dass er China mit Gewalt unterjochte, konnte er genauso wenig. Manchmal schmerzte es ihn, dass er einen solchen Sohn hatte. So hatte er sich sein Vaterdasein vor seiner Hochzeit mit Ai nie vorgestellt.
Als er wie jeden Tag durch das Dorf schlenderte und, anscheinend zufällig, wieder bei jemanden vorbeikam, erfuhr er meistens nichts Neues. Doch an diesem Tag wurde er dann doch überrascht. Er kam gerade beim Dorfschmied, einem alten Ziegenbock, vorbei, der sich mit einem Gänserich und einem Schwein unterhielt.
„Guten Morgen“, grüßte Liang höflich.
Die drei Tiere nickten dem Pfau ebenfalls zu.
„Guten Morgen, Makkuro“, antwortete der Dorfschmied und schlug ein paar Male auf ein heißes Stück Eisen, bevor er es mit lautem Zischen in einen Eimer kaltes Wasser tauchte.
„Ihr erscheint aufgeregt“, bemerkte Makkuro oder Liang mit belanglosem Unterton. „Stimmt etwas nicht?“
„Na ja“, begann das Schwein zögernd. „So ungefähr, oder beinahe.“
Liang hob verwundert die Augenbrauen. „Beinahe, wieso?“
„Nun, ein Schaf hat mir heute verraten, oder eher behauptet, es habe einen Panda gesehen, der ihm gesagt hat, er wollte Shen stürzen.“
Der Lord wurde hellhörig. „Ein Panda? Aber… es gibt doch keine Pandas…“
Er schluckte. Es gab keine Pandas mehr. Zumindest nicht hier. Doch das Schwein beharrte auf seine Aussage.
„Mag sein, aber das Schaf hat es so gesagt. Er soll sogar ein Kung-Fu-Kämpfer sein. Vielleicht haben wir Glück und sie werden wirklich Shen stoppen und aus der Stadt vertreiben. Sie hätten sich besonders gefreut zu hören, dass die zwei Kung-Fu-Meister noch am Leben und im Kerker sind. Bestimmt haben die schon einen Plan ausgeheckt.“
Dem Lord lief es eiskalt den Rücken runter. Er verabschiedete sich schnell und lief auf das Haus seiner Frau zu. Drinnen empfing ihm seine Frau bereits in erwartungsvoller Haltung.
„Liang, irgendetwas Neues?“, fragte sie sofort.
Der grüne ehemals blaue Pfau sah seine Frau an. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Mutter hatte die letzten paar Nächte sehr schlecht geschlafen. Sie konnte kaum ein Auge zukriegen und nachts hielten sie Albträume wach. Liang kroch ein schlimmes Gefühl hoch. Sie hatte Angst. Ebenso wie er. Die Ungewissheit erdrückte beide, auch wenn es keiner dem anderen zugeben wollte.
„Nein, es gibt nichts Neues“, log er.

In dieser Nacht schlief Liang extrem unruhig. Er hatte seiner Frau nichts von seinem Verdacht mit dem Panda und dass er in Verbindung mit dem schwarz-weißen Krieger stehen könnte erzählt. Sie machte sich schon genug Sorgen, aber er wusste, dass er es nicht ewig vor ihr geheim halten konnte. Wenn es wirklich stimmte, dass dies der Krieger in Schwarz und Weiß war, dann war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Shens Vorhaben scheitern könnte. Und dann… Was würde dann passieren? Diese Frage hielt den Pfau die ganzen Abendstunden wach und ließ ihn einfach nicht los.
Plötzlich schreckte der Pfau hoch. Aus der Ferne waren mehrere dumpfe Aufschläge wie von Geschossen zu hören, die gar nicht mehr aufhören wollten.
„Was ist los?“, murmelte Ai noch ganz verschlafen. Auch sie hatte das merkwürdige Knallen aus dem Schlaf geholt. Immer und immer wieder durchbrach ein Krachen die Luft. Bis auf einmal ein schreckliches Grollen den Boden erschütterte, wie bei einem leichten Erdbeben und endete in einem unheilvollen Donnern.
Beide Eltern verließen fluchtartig ihr Bett und stürzten nach draußen. Verängstigt krallten sich Ais Fingerfedern in Liangs Hemd. Das Beben hatte aufgehört und es wurde still.
„Was war das?“, hauchte die Pfauenhenne.
Liangs Blick wanderte Richtung Stadt. „Es kam aus Gongmen.“
Für einen Moment wagte keiner von beiden zu Atmen. Schließlich sahen sie sich an. Dann wie auf Kommando rannten sie durch den Wald, der eine Abkürzung zu einem Hügel war, von der man auf die Stadt Gongmen sehen konnte. Beide hatten kein Problem den Weg im Dunkeln zu finden. Sie lebten schon lange genug in dieser Gegend um jeden Busch und Zweig auf den Boden zu kennen.
Als sie endlich atemlos den Hügel erreicht hatten, blieben sie wie erstarrt stehen. Vor ihnen lag die Stadt, so wie immer. Doch irgendetwas fehlte.
„Wo… wo ist der Palast?“, stammelte Ai völlig fassungslos. Sie kniff mehrere Male die Augen zusammen, nur um sicher zu gehen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Doch auch Liang konnte nur bestätigen, dass der Turm, der einst stolz über der Stadt Gongmen gethront hatte, nicht mehr zu sehen war. Und erst jetzt bemerkten sie leichter Rauch und schwellendes Feuer auf den Palastmauern.
Für mehrere Sekunden herrschte zwischen den beiden Pfauen verständnislose Sprachlosigkeit. Beide konnten sich absolut nicht erklären, was passiert war. Wo war der Turm? Wo war ihr einstiges Zuhause? Und vor allem, wo war ihr Sohn? Hatte er sich nicht in dem Turm aufgehalten? Wer hatte den Turm zum Einsturz gebracht? War es ein Unfall gewesen? Oder hatte der schwarz-weiße Krieger ihn vielleicht…?
Liang schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein, dass konnte nicht sein“, dachte er verzweifelt und Ai sprach seine Befürchtung gleich aus.
„Oh bitte sage mir, dass er nicht dort drinnen war!“, rief sie völlig aufgelöst und vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung.
Hastig fasste ihr Mann sie am Kopf und sah ihr in die Augen. „Bleib ganz ruhig, bleib ganz ruhig, ich werde nachsehen. Hast du gehört? Ich sehe nach. Du bleibst hier, oder geh zurück ins Dorf und warte dort. Ich komme gleich wieder.“

Liang rannte nicht, er raste. Die Stadt kam näher und näher. Immer wieder flatterte er kurz in die Luft, dann wetzte er wieder zu Fuß weiter. Er wollte nur so schnell wie möglich wissen, ob sein Sohn noch am Leben war. Ständig quälte ihn die Frage, ob ihre ganze Mühe und Verzicht umsonst gewesen und sie den Zeitpunkt verpasst hatten, an dem ihr Sohn sie am meisten gebraucht hätte.
Wie ein Schatten huschte und schlich der Pfau durch die Gassen der Stadt. Niemand hielt sich draußen auf. Alle Stadtleute waren von dem ganzen Krawall um den Stadtturm völlig verängstigt in ihre Zimmer geflüchtet. Doch selbst wenn die Straßen voller Tiere gewesen wäre, so hätte dies den Pfauenvater nicht davon abgehalten zu seinem Sohn vorzudringen.
Völlig atemlos kam er an der Unfallstelle an. Vor ihm tat sich ein schreckliches Bild auf. Das was einst sein Zuhause gewesen war, lag in Trümmern. Doch fürs Trauern blieb Liang keine Zeit. Schnell versteckte er sich in eine Ecke, als mehrere Wölfe an ihm vorbeigerannt kamen und heulend durch die Gassen rannten. Der ehemalige Lord sah ihnen nach. Vielleicht führten sie ihn zu seinem Sohn, dachte er und nahm die Verfolgung auf.

Die Wölfe verschwanden in der Feuerwerkfabrik, was in Liang etwas Hoffnung aufkeimen ließ. Hatte sein Sohn sich doch noch in Sicherheit bringen können?
Er schaute sich um. Es waren zwar überall Wölfe postiert, doch die Wände und das Dach waren frei. Für Liang, der alles von Kindesbeinen auf kannte, war es kein Problem den wachsamen Wölfen auszuweichen und durch eine Lücke hindurch zu schlüpfen. Geschickt kletterte der Pfau an den Balken des Fabrikgebäudes entlang. Im Anschleichen und Tarnen war er schon immer gut gewesen in seiner Kung-Fu-Ausbildung. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.
In der Fabrik merkte er sofort, dass sich einiges verändert hatte und vieles umgebaut worden war. Statt wie gedacht Feuerwerk zu produzieren, wurden die Gerätschaften nur noch dafür verwendet, um Metall zu schmelzen, die von Wölfen und Gorillas bedient wurden.
Liang kroch ein schauerliches Gefühl durch Mark und Bein bei dem Gedanken, dass alles nur dazu diente anderen Tieren verheerenden Schaden zuzufügen. Und das schlimmste noch war, dass es das Werk seines eigenen Sohnes war.
Plötzlich ließ ihn eine Stimme aufhorchen.
„Du hast dich geirrt, Wahrsagerin. Heute Nacht singen wir dem Sieg entgegen. Dein magischer Panda ist eindeutig ein Narr.“
Liang meinte sein Herz würde zerspringen. Das war Shens Stimme. Erleichterung machte sich in dem Lord breit. Seinem Sohn war nichts passiert.
„Bist du dir sicher, dass es der Panda ist, der sich als Narr erweist?“
Der Lord hielt überrascht inne. Das war doch die Stimme der Wahrsagerin. Sie war noch hier?
„Du hast gerade das Heim deiner Vorväter zerstört, Shen!“, rügte die Ziege weiter.
Der alte Pfau meinte nicht richtig zu hören. Sein Sohn hatte seinen eigenen Palast zerstört?
Schnell folgte Liang den Stimmen, die aus einem Holzverschlag kamen. Vorsichtig und elegant wie eine geschmeidige Katze glitt er über die Holzplanken und lugte durch einen Spalt nach unten. Tatsächlich befand sich dort sein Sohn. Und neben ihm stand die Wahrsagerin.
Sie hatte sich gar nicht verändert.
Shen hatte gerade sein Lanzenschwert zur Hand genommen, tunkte es einmal in eine Feuerschale und entzünde mit der glühenden Metallspitze eine Karte von China, die kurz darauf in hellen Flammen aufging.
„Ein unbedeutendes Opfer“, höhnte der weiße Pfau. „Wenn dafür ganz China meine Belohnung ist.“
Gebieterisch breitete Shen die Flügel aus. Doch die Wahrsagerin ließ sich von Shens Begeisterung nicht anstecken und starrte ihn nur wütend an. „Und wirst du dann endlich zufrieden sein? Denkst du wirklich, wenn du erst die ganze Welt unterjocht hast, dass du dich dann besser fühlst?“
Etwas ernüchtert ließ der weiße Pfau die Flügel sinken und legte sie unter der Robe zusammen. Dann ging er an der alten Ziege vorbei, wobei er ihr einen gehässigen Blick zuwarf. „Es ist ein Anfang. Und vielleicht bau ich auch den Keller zu einem Kerker um.“
Damit ging er bis zum Rande des hölzernen Balkons und schaute ins Innere der Fabrik herab.
Die Wahrsagerin hingegen ließ nur traurig den Kopf hängen. „Der Becher, den du füllen willst, hat keinen Boden.“
Sie ging zu Shen rüber. Liang, ließ sie nicht aus den Augen und beobachtete wie sie sich neben dem weißen Lord stellte und flehentlich zu ihn hinaufblickte. „Es ist höchste Zeit diesen Wahnsinn zu beenden.“
Ein leichtes hoffnungsloses Lächeln glitt über Shens Schnabelwinkel. „Wieso in aller Welt sollte ich das tun?“
„Damit deine Eltern endlich in Frieden ruhen.“
Lord Liang durchzog ein Schrecken.
„Meine Eltern… haben mich gehasst“, hauchet Shen niedergeschlagen. „Verstehst du?“ Er sah die Ziege an. Zum ersten Mal lag Trauer in seinem Gesicht. „Sie haben mir Unrecht angetan. Und ich… und ich werde das wieder gut machen.“
Die Ziege schüttelte wehmütig den Kopf und sah ihn eindringlich an. „Sie haben dich geliebt. Sie haben dich so sehr geliebt, dass es sie umgebracht hat, dich wegschicken zu müssen.“
Sekunden der Stille erdrückten die Luft, die schwer auf jedem der Anwesenden lastete. Und keiner der beiden bemerkten die dritte Person, die auf dem Dach zusammengebrochen war. Die Wahrsagerin hielt ihren Blick auf den weißen Pfau gerichtet. Was ging nur gerade durch den Kopf des einstigen Prinzen vor?, fragte sie sich immer wieder und hoffte inständig, dass er ihr sein Herz öffnen würde. Für einen Bruchteil einer Sekunde schien Shen tief in sich zu gehen. Doch dann hob er entschlossen den Kopf.
„Die Toten leben nur in der Vergangenheit“, antwortete er kalt. „Und ich muss mich um die Zukunft kümmern.“
Die alte Frau meinte, ein Messer würde ihre Seele durchbohren. Sie hatte alles versucht, aber dem einstigen unschuldigen Jungen war nicht mehr zu helfen. Egal wie sehr sie ihm zuredete, er weigerte sich auf sie zu hören.
„Lasst die Wahrsagerin frei“, befahl der weiße Pfau tonlos. „Sie hat keinen Nutzen mehr für mich.“
Wehmütig wandte sich die alte Frau ab. „Lebwohl, Shen. Ich wünsche dir Glück und Freude.“
Shen schnaubte abfällig. „Glück und Freude, muss man sich holen.“ Bitterkeit und Härte lagen in seiner Stimme. „Und ich hole mir das meine.“
Mit schweren Schritten entfernte sich die Ziege von ihm. Ein Gorilla begleitete sie. Shen blieb allein zurück und starrte in das Fabrikgebäude.
Es wurde still. Extrem still. Schließlich wandte sich der weiße Lord ab, nahm sein Lanzenschwert und spießte es in den Holzboden. Eine Weile hielt er noch den Schwertgriff im Flügel, dann glitten seine Fingerfedern daran ab. Er musste sich die Beine vertreten. Einfach auf andere Gedanken kommen. Er wollte gerade die Treppe runter, als er ein leises Knarren vernahm. Er stellte seinen Pfauenkamm auf und sah sich um. Irgendjemand war da. Das konnte er deutlich spüren. Aber er hatte keine Angst. Waren es schon diese Kung-Fu-Krieger? Etwas huschte über ihm drüber. Sofort sprang der weiße Lord aufs Dach und sah sich krampfbereit nach allein Seiten um. Doch der Platz war leer.

Niemand bemerkte ihn. Niemand sah ihn. Weder die Gestalt noch wie es ihm innerlich ging. Liang konnte nicht denken, er funktionierte nur. Er wusste nicht wie aber irgendwann fand er sich auf einer Wiese außerhalb der Stadt wieder. Als er sicher war, dass niemand außer ihm hier war, schrie er auf und sank zu Boden, dicht gefolgt von einem lauten Weinen, als würde er seine Seele zerreißen wollen.
Er dachte an gar nichts, nur an den einen Satz, der ihm immer und immer wieder auf seinem Gemüt drückte. Nie hätte der ehemalige Herrscher von Gongmen gedacht, solche Worte von seinem Sohn zu hören.
„Ich hasse dich!“, hatte Shen ihn damals angebrüllt. Doch dass sein Sohn mit der Überzeugung lebte, dass seine Mutter und sein Vater ihn hassen würden, darauf war er nicht gefasst gewesen. All die Jahre hatte dieser Gedanke ihn beherrscht, ohne dass Liang es gewusst hatte. War er so ein schlimmer Vater gewesen?
„Meine Eltern haben mich gehasst.“
…gehasst…

Liang krallte seine Fingerfedern in das Gras und presste seine Stirn auf den Boden. Er hatte keine Kraft mehr darüber nachzudenken. Er wollte nur weinen. Seine Tränen fanden kein Ende. Er hatte keine Kontrolle mehr über sich. Er weinte so lange bis er irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrach und auf dem Boden das Bewusstsein verlor.
Eine Weile schluchzte er noch leise weiter, dann wurde es allmählich still auf der Lichtung. Leichte Regentropfen rieselten auf den Pfau herab. Doch Liang spürte und hörte nichts mehr. Auch nicht den Knall einer Kanone, die eine schwarz-weiße Gestalt durch die Luft schleuderte und in einem Fluss verschwand.

„Shen hat sich entschieden, einen dunklen Pfad einzuschlagen, indem er das, was einst eine Quelle der Ehre für seine Familie war, zum Bösen umwandelte.*“ (Phil Craven, Head of story, The Art of Kung Fu Panda 2, Seite 47)

 

*frei übersetzt

 

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4. Das Ende des Pfades?


„Liang? Liang?“
Blinzelnd schlug der Pfau die Augen auf. Eine Laterne schwenkte über seinem Kopf, in deren Lichtschein sich das besorgte Gesicht seiner Frau zu ihm herunterbeugte. Sanfte Regentropfen fielen auf ihn hernieder. Seine Federn waren unter seinen Augen verklebt von den getrockneten Tränen, aber sein Gefieder war bereits so nass vom Regen, dass Ai es nicht bemerkte.
„Was machst du hier?“, fragte er.
„Ich hab stundenlang zuhause gewartet und als du nicht kamst, hab ich angefangen nach dir zu suchen. Ich hab mir Sorgen gemacht, dass etwas Schlimmes passiert wäre.“
Der Pfau schwieg. So langsam kamen ihm wieder die Erinnerungen in den Sinn. Seine Augen wanderten zum Himmel hoch. Es war noch dunkle Nacht. Die Regenwolken hatten schon durchsichtige Flecken und gaben den Blick auf den Sternenhimmel dahinter frei. Liang erhob sich. Der Sternenhimmel war schon etwas angehellt. Er musste ziemlich lange hier schon gelegen haben, wenn es schon fast dämmrig wurde.
„Geht es ihm gut?“, riss Ais Stimme ihn aus seinen Gedanken.
Die Augen des Pfaus wanderten zu seiner Frau. Wieder stieg in ihm das furchtbare Gefühl hoch, das ihm bei den Worten seines Sohnes durchzogen hatte. Schließlich nickte er leicht. „Ja, es geht ihm gut.“
Ai senkte erleichtert den Blick.
Doch plötzlich zerriss ein lauter Knall die Luft. Beide Pfaue sahen sofort in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war.
„Ist das…?“ Ai wagte es nicht auszusprechen. Aber es war eindeutig ein Kanonenschuss gewesen.
Sofort war Liang auf den Beinen und sah über die Ebene. „Es kam von der Stadt.“
Er brauchte seine Frau nicht aufzufordern. So schnell sie konnten bahnten sie sich einen Weg durch die Wälder. Über die Wiesen trauten sie sich nicht, aus Angst sie könnten entdeckt werden.
Es kam den beiden wie eine Ewigkeit vor. Sie hatten fast den Stadtrand erreicht, als eine nächste, viel lautere Explosion, von der Stadt her dröhnte, was den Lord sehr beunruhigte. Die Nebengeräusche deuteten auf eine verheerende Zerstörungswelle hin.
Endlich hatten sie das Ende des Waldes erreicht. Von dieser Stelle aus hatten sie einen guten Blick über die Stadt. Die Morgendämmerung war angebrochen und tauchte die Wolken in ein unheilvolles dunkles Rot. Dennoch konnte man die wandernden Lichter von Schiffen über dem Stadtfluss deutlich erkennen, sie so langsam in den Hafen glitten.
Liang zog seiner Frau am Flügel und gemeinsam rannten sie zum Strand runter, der etwas abseits von der Stadt lag, sodass sie unbeobachtet das Geschehen mitverflogen konnten.
Das Hafenwasser war übersät mit Trümmerteilen.
Der Pfau kniff die Augen zusammen und erkannte auf dem mittleren Schiff seinen Sohn.
Etwas schwamm durchs Wasser und stellte sich auf einen Felsen, der aus dem Wasser ragte.
Liang erkannte sofort, um wen es sich handelte. Ai hielt den Atem an, als sie den Panda sah.
„Der Krieger?“, war alles was Ai an Worten aufbringen konnte. Die Angst schnürte ihr regelrecht die Kehle zu.
Mit festen Griffen schlang ihr Mann seine Flügel um sie. So lange hatten sie befürchtet, dass es so kommen würde. Und sie hatten sich immer wieder vorgenommen stark zu sein. Haben sich immer wieder eingeredet, dass es das Verschulden ihres Sohnes war, der alles auf sich gehetzt hat. Doch als sich die beiden Kämpfer praktisch gegenüberstanden, zwischen ihnen ein Feld aus Wasser, regte sich in den Vögeln der Beschützerinstinkt, den keiner von beiden unterdrücken konnte.
Die Schiffe positionierten sich in einer Reihe nebeneinander. Der Panda auf dem Felsen machte einen niedergeschlagenen Eindruck, hielt sich aber tapfer auf den Beinen.
Liangs Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Gegen den schwarz-weißen Krieger stand eine ganze Flotte mit schwerem Geschütz. Wie sollte er einen Sieg dadurch erringen?
Die Schiffe behielten ihre Stellung. Sie fuhren weder vorbei noch steuerten sie auf den Panda zu.
Liang ahnte was Shen vor hatte. Er kannte die Sturheit seines Sohnes nur zu gut. Wenn er sich etwas vorgenommen hatte, dann biss er sich regelrecht daran fest.
Ai zuckte zusammen, als die erste Kanonenkugel abgefeuert wurde. So sehr sie ihren Sohn auch liebte, sie konnte es nicht sehen, wenn er andere verletzte.
Liangs Umarmung um sie herum verstärkte sich. Mit angehaltenem Atem warteten sie auf einen Schrei.
Doch dann… der Panda vollführte merkwürdige Bewegungen. Es sah aus, als würde er Tai-Chi praktizieren. Und als die Kugel ihn traf…
Beiden Pfauen stockte der Atem mit dem Herzschlag.
Der Panda fing sie auf, wirbelte sie herum und warf sie von sich. Die Kugel verschwand irgendwo im Meer. Ein paar Sekunden der Fassungslosigkeit entstanden.
Wieder wurde ein Schuss abgefeuert. Wieder fing der Panda das Geschoss auf und warf es hoch in die Luft, wo es irgendwo diesmal in der Nähe der Schiffe mit einem lauten Klatscher im Wasser landete. Dasselbe geschah auch mit allen weiteren Schüssen.
Die nächsten hingegen schlugen in die Schiffe ein und zersprangen in Trümmern.
„Nein!“, schrie Ai völlig fassungslos. Ihr Sohn zerstörte sich selber. Sah er das denn nicht? Die Eltern erkannten, dass es unmöglich war dem Krieger auf diese Art und Weise zu schlagen. Doch ihr Sohn schien völlig blind zu sein für diese Erkenntnis. Ohne Pause ließ er weitere Geschosse auf den Panda abfeuern.
Schließlich wirbelte der schwarz-weiße Krieger die Feuerkugel so kräftig im Kreis und schleuderte sie direkt auf Shens Schiff. Noch ehe Shen reagieren konnte, traf die Kugel auf das Schiff und explodierte.
Lady Ai vergrub ihr Gesicht in den Mantel ihres Mannes, während Lord Liang den Hafen nicht mehr aus den Augen ließ. Krampfhaft suchte er die Umgebung ab. Eine extreme Stille war eingetreten. So still wie der Tod.
Inzwischen war es so hell im Morgengrauen, dass man klare Strukturen im Wasser erkennen konnte. Die Schiffe waren nur noch ein treibendes Trümmerfeld. Der Dunst lag dicht über der Meeresoberfläche, sodass der Pfau einen Entschluss fasste.
Beherzt schob er Ai von sich und drückte ihr einmal auf die Schultern. „Du wartest hier.“
Kaum hatte er sie losgelassen, hob die Pfauenhenne erschrocken den Kopf. „Liang?“
Mit einem tiefen Seufzer schaute der Pfau sie an. „Ich bring ihn dir zurück. Das verspreche ich dir.“
Dann rannte er los. Dabei hielt er sich so dicht am Strand, an der eine steile kleine Felswand entlangführte. Es war für ihn zwar ein Risiko von einem Passanten gesehen zu werden, doch im Moment hatte sein Sohn Vorrang. Der Pfau war zu allem entschlossen. Er würde jederzeit seine Seele für ihn geben, auch wenn noch so viel Blut unschuldiger getöteter Seelen an seinen Federn klebten.
Zu Liangs Glück traf er niemanden. Alle Stadtleute schienen sich im Hafen der Stadt direkt versammelt zu haben. Am Stadtrand fand der Pfau die ersten schweren Trümmerteile vor. Die verbliebenen Wölfe hatten sich inzwischen ans Ufer gerettet. Liang nahm Anlauf und mit ein paar eleganten Sprüngen und fast lautlosen Flügelschlägen huschte er über die Wasseroberfläche, wobei er die Trümmer als Zwischenhalt für einen Sprung nutzte. Der Dunst über dem Wasser wich mehr und mehr der ankommenden Sonne, die sich noch hinter dem Horizont verbarg. Ab und zu verharrte der Pfauenherr geduckt auf einer Holzplanke und lauschte. Erst als er ein wildes Gerangel vernahm, wurde er hellhörig. Schnell folgte er dem Geräusch, dass sich wie ein Kampf anhörte. Dann lichtete sich auf einmal der Nebel vollständig und dem Lord blieb das Herz stehen.
Mehrere Meter weiter weg von ihm erhob sich ein zerborstenes Schiffswrack, das teilweise noch aus dem Wasser ragte. Und auf dem verbliebenen Deck sprang eine weiße Figur hin und her. Liang erkannte seinen Sohn, der völlig die Kontrolle über sich zu verloren zu haben schien. Immer wieder jagte er einer anderen Person nach und warf alles auf ihn was er an Waffen bei sich hatte.
In diesem Moment hallten Liang die Worte durch den Sinn: Wenn er nicht von seinem dunklen Pfad abweicht, wird er ihn besiegen.
„Besiegen?“ Aber was sollte das bedeuten? War der Tod seines Sohnes unausweichlich?
Völlig außerstande was zu unternehmen, beobachtete der Pfau die Hetzjagd, und er fragte sich, wieso der Panda seinen Angreifer nicht angriff.
Plötzlich ertönte ein knackendes Geräusch. Entsetzt riss Liang die Augen auf. Die Kanone, die die Explosion noch halbwegs überstanden hatte, begann sich zu neigen. Und Shen stand direkt darunter.
Der weiße Pfau sah über sich. Angespannt stellte sich Liang auf seine Zehenspitzen.
Wieso rannte sein Sohn nicht weg?
Er nahm eine andere Bewegung aus dem Augenwinkel war. Der Panda hatte die Gefahr erkannt und rannte davon.
In diesen Sekunden schien die Zeit still zu stehen. Hilflos sah Liang zu wie die Kanone von der Schwerkraft nach unten gezogen wurde. Und Shen bewegte sich immer noch nicht.
„Nein!“, schoss es Liang durch den Kopf. „Das ist nicht sein Schicksal! Nicht wenn ich es verhindern kann!“
Liang sah ein, dass er zu weit entfernt war, um jetzt noch eingreifen zu können. Schnell griff er nach einem treibenden Holzbrett.
So nicht, mein Sohn! So nicht!
Er sprang hoch und trat mit voller Wucht dagegen. Das Geschoss durchschnitt die Luft. Es war kaum zu sehen. Kaum hatte es den weißen Pfau berührt, schlug die zertrümmerte Kanone mit voller Wucht auf das Schiffwrack und explodierte.
Kaum war die Explosion verklungen, warf der Pfauenvater sich ins Wasser.

Lady Ai meinte ihr Herz würde absterben. In ihr verdorrte etwas im buchstäblichen Sinne, das händeringend nach Halt suchte. Sie presste die Flügel auf den Schnabel. Sie hatte die weiße Gestalt unter der Kanone noch gesehen. Jetzt war sie verschwunden.
Die Pfauenhenne spürte ein starkes Zittern, dass sich von den Knien über ihren ganzen Körper ausbreitete. Verzweifelt hielt sie nach ihrem Mann Ausschau. Es folgten über dem Schiff noch viele weitere kleine Explosionen vom restlichen Schießpulver. Allmählich wurde es ruhiger. Im Gegensatz zum inneren Gemüt der Mutter. Wie gebannt starrte Ai auf das Bild und hoffte die ganze Zeit, dass ein weißer Körper die Wasseroberfläche durchbrechen und ans Ufer kraulen würde.
Als sich über eine Minute nichts tat, schüttelte die Pfauenhenne ungläubig den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wollte nicht glauben, was gerade passiert war.
Plötzlich hob sie ruckartig den Kopf, als etwas über die Wasseroberfläche glitt. Aber es floss nicht mit der Strömung, sondern es schwamm. Ab und zu kam ein rudernder Flügel zum Vorschein, der in der Morgensonne glitzernde Wassertropfen versprühte.
„Shen?“, hauchte sie atemlos. „Shen?!“
Ein Aufkeuchen ließ die Stimme von Liang erkennen.
„Ai!“, japste der Pfau und winkte seine Frau zu sich heran. „Hier rüber!“
Die Pfauenhenne konnte nicht anders und warf sich ins Wasser. Hastig kraulte sie auf ihn zu. Es trennten sie nur noch wenige Meter. Sie schwamm als ginge es um ihr Leben. Nein, nicht um ihr Leben - um seines!
„LIANG! Was ist?!“
Im nächsten Moment war sie bei ihm. Unter ihrer Flügelhand tastete sie Federn. Etwas Weißes lag unter der Wasseroberfläche. Mühsam hielt Liang etwas über Wasser. Ai blieb das Herz stehen, als sie den weißen Kopf mit den geschlossenen Augen erblickte, an dem frisches Blut klebte.
„SHEN! NEIN! NEIN! Oh Gott! Sag mir, dass er noch lebt!“
Für einen Moment vergaß die Pfauenhenne, dass sie sich im Wasser befand. Ihre Flügel suchten nur nach ihrem Sohn und presste seinen Körper an sich.
„Ai, reiß dich zusammen!“, wies Liang sie zurecht. „Wir müssen ihn ans Ufer bringen. Hilf mir!“
Endlich erwachte die Pfauenmutter wieder aus ihrem betäubten Zustand, und beide paddelten ans Ufer. Kaum spürten sie festen Boden unter den Füßen zerrten sie den weißen Pfau aus dem Nassen und schleiften ihn mit mühsamer Sorgfalt über den Kiesboden. Sanft legten sie ihren Sohn auf dem trockenen Boden ab.
Liang strich sich übers Gesicht. Man konnte nicht sagen, ob es nur Wasser oder auch Tränen waren. Er hatte sich fest vorgenommen nicht gleich emotional zu werden, aber dieser Anblick ließ seine ganze Selbstdisziplin in die Kniee gehen.
„Junge!“
„Shen!“, rief Ai völlig aufgelöst. „Sag doch was!“
Beide beugten sich über ihn. Doch das, was einst ihr Sohn war, bewegte sich nicht. Liang gab sich alle Mühe einen klaren Kopf zu bewahren und versuchte den Schaden zu begutachten, den der weiße Pfau von der Explosion erlitten hatte. Die Kanone hatte ihn dank seines Geschosses zwar nicht getroffen, dafür waren die dafür geschleuderten Holzsplitter umso schlimmer. Überall auf seiner linken Körperseite stecken große und kleine Holznadeln in dem ehemals weißen Gefieder. Seine einst so stolzen Federn waren teilweise angebrannt und mit Blut verklebt.
Mit zittrigen Fingern drehte Ai Shens Kopf, an deren linke Seite mehrere Stiftgroße Splitter drinstecken. Behutsam strich sie drüber. Shen warf den Kopf in den Nacken und wollte schreien, doch außer einem heiseren Krächzen brachte er nichts heraus. Sofort drückte Liang ihn an den Schultern wieder nach unten. Shen wandte sich ein wenig, doch er wachte nicht auf. Wimmernd drehte er den Kopf hin und her. Doch wenn die Holzsplitter dabei den Boden berührten, zuckte er verkrampft zusammen.
Ais Schnabellippen begannen zu beben. Sie war kurz davor in Tränen auszubrechen. Doch noch bevor es dazu kam, sprach Liang ein Machtwort.
„Ai! Sieh mich an, sieh mich an!“ Der Pfau umfasste das Gesicht seiner Frau und schaute ihr eindringlich in die Augen. „Es nützt nichts hier herumzusitzen. Wir müssen ihn von hier wegschaffen! Komm schnell, bevor man uns hier entdeckt.“
Zu Liangs Glück stand Ai sofort auf und gemeinsam trugen sie ihren schwerverletzten Sohn weg.
Im nächsten Moment knallten Raketen in der Luft. Das Elternpaar schaute zurück zum Hafen. Dort wo das Schiff explodiert war, funkelten schöne schimmernde Feuerwerkskörper, die kurz die Form eines Pfauenkopfes bildeten. Beiden überkam ein schauerliches Gefühl. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

„Shen schien eine geringe Schmerztoleranz zu besitzen (obwohl er ein erfahrener Meister des Kung-Fu und der Schwertkunst war), denn als die Wahrsagerin eine seiner kleinsten Daunenfedern ausriss, schrie er hörbar auf und zog seinen Flügel zurück, während er so tat, als ob er schwer verwundet worden wäre.“* (kungfupanda.fandom.com/wiki/Shen)


 

* frei übersetzt


 

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5. Ein Hoffnungsschimmer


Im Raum war es dunkel, obwohl es draußen heller Tag war. Dennoch konnten die beiden Pfaueneltern kein Risiko eingehen. Draußen war die Stadt in Feierlaune, und man konnte nicht sagen, ob nicht doch ein aufgeregter Nachbar durchs Fenster spähen würde. Vor jedem Loch hatten sie ein Tuch oder eine Decke vorgehängt, damit auch wirklich niemand sie beobachten konnte. Das einzige Licht, was in dem Haus leuchtete war eine Laterne, die von Lady Ai schweigend über zwei andere Pfaue in einer einsamen Ecke gehalten wurde. Es war ein improvisiertes Bettlager neben dem Esszimmer, wo eigentlich die Abstellkammer lag. Aber man konnte sie gut mit einem Vorhang abtrennen. Falls jemand unerwartet ins Haus kommen sollte, würde er den weißen Kriegsherrn, der jetzt von jedem für tot erklärt wurde, nicht sofort entdecken. Besonders da Shen sich gegen niemanden zur Wehr setzen konnte. Er war immer noch bewusstlos, eingebettet auf einem Kissen und Decken, die teilweise mit Blut befleckt waren. Dennoch hob sich seine weiße Gestalt kaum von dem weißen Stoff ab und verlieh ihm ein gespenstisches Aussehen. Sein zerrissenes Gewand lag durchgeschnitten, aber zusammengefaltet auf dem Boden. Liang, der neben seinem Sohn am Bettlager kniete, gab sich große Mühe die Holzsplitter mit einer Pinzette oder mit dem bloßen Flügeln herauszubekommen. Die meisten waren zum Glück nicht tief. Selbst am Kopf hatten sie nicht die Schädeldecke durchdrungen. Dennoch konnten beide nur darum beten, dass das Gehirn keinen Schaden davongetragen hatte. Liang drückte die Pinzettenenden zusammen und zog den nächsten kleinen Holzsplitter aus Shens Kopf heraus. Shens Gesichtsmuskeln zogen sich extrem zusammen, was Ai wiederum das Herz zusammenzog.
„Guter Junge“, sprach Liang leise auf seinen Sohn ein. Anschließend wusch er kurz die Wunde aus und wandte sich der nächsten zu.
Die Pfauenhenne seufzte schwer. Ab und zu bildenten sich Tränen in ihren Augen. Sie konnte es nicht ertragen ihren Sohn so zu sehen. Schon seit seinem ersten Atemzug war er ein sonderbares Kind mit seiner Gesundheit gewesen. Wie oft hatte sie an seinem Krankenbett Wache gehalten. Und jetzt, wie er so da lag, schnürte es ihr die Kehle zu.
„Ai?“ Die Pfauenhenne zuckte zusammen, als ihr Ehemann ihren Namen rief und mit dem Flügel winkte. „Mehr Licht.“
Gehorsam beugte sich die Pfauenhenne mit der Laterne weiter vor. Von außen reagierte sie nur, innerlich waren ihre Gedanken nur bei ihrem Sohn. Aber vielleicht erging es Liang auch nicht anders, der gerade darum bemüht war ein besonders großes Holzstück zu begutachten, dass sich in Shens Flügel reingebohrt hatte. Nachdenklich betrachtete der Vater das Holzgeschoss und schob die Federn beiseite, um zu sehen wie das Stück Holz in der Haut steckte. Es war nicht so einfach, da das Blut teilweise schon geronnen und die Haut mit den Federn verklebt war. Liang nahm ein Tuch zur Hand, tunkte es in eine Schüssel mit warmem Wasser und strich über die betroffene Stelle. Das Blut löste sich und gab den Blick auf die Haut frei.
Ai reckte den Hals. Es tat ihr zwar weh die vielen Verletzungen zu sehen, doch sie wollte wissen, was ihr Sohn hatte.
„Und?“, fragte sie. „Wie schlimm ist es?“
„Der Knochen ist noch heil“, beruhigte Liang sie. „Es steckt nur in der Hautfalte fest. Wird aber nicht so leicht herauszukriegen sein. Ich muss den Flügel wohl etwas anschneiden.“
Mit diesen Worten nahm der Pfauenvater ein kleines Messer zur Hand. Ai sah nur mit einem Auge dabei zu, wie er sachte die kleine Operation durchführte.
Liang hatte zwar kein Medizinstudium absolviert, hatte aber seit den vielen Jahren im Dorf gelernt wie man sich selber versorgte. Das gleiche verübte er auch an dem Holzpfeil in Shens Bauch, das den allermeisten Schaden verursacht hatte. Liang hatte sich zuerst davor gescheut, dieses größere Holzteil herauszuholen. Doch solange sie keinen richtigen Arzt auftreiben konnten, war das Risiko, dass das Holz schwere Entzündungen hervorrufen konnte, wesentlich größer. Zu Liangs Erleichterung hatte das Geschoss kein Organ getroffen.
Während der Pfau die Wunde vernähte, musste er leicht lächeln. Sein Sohn hatte mehr als zwei Schutzengel gehabt. Doch dann verschwand sein Lächeln wieder. Oder war das nur eine Verlängerung des Unheils, dass noch auf sie zukommen könnte?
Als er fertig war, erhob er sich und betrachtete seinen Sohn mit einer Sorgenfalte auf der Stirn.
Lady Ai gefiel sein Blick gar nicht. „Wie sieht es aus?“
„Die Wunden sehen noch einigermaßen gut aus“, meinte Liang. „Jedenfalls zumindest es keine Komplikationen gibt…“
Er sah seine Frau an. Diese fing seinen Blick besorgt auf. „Sollen wir nicht doch versuchen den Arzt zu holen?“
Liang seufzte. „Wir müssen abwarten. In der Stadt wird eh jetzt das Chaos ausgebrochen sein. Wer weiß, ob der Arzt überhaupt zu diesem Anlass zuhause ist.“ Er legte einen Flügel auf die Schulter seiner Frau. „Das wird schon wieder. Komm, hilf mir ihn sauber zu machen. Er hat es dringend nötig.“
Damit begaben sich beide an die Arbeit das Gefieder und den Körper ihres Sohnes zu reinigen, das neben Blut auch mit Schießpulver verdreckt war. Dabei gingen sie so sanft wie möglich vor, um ihn nicht zu wecken. Er hatte nicht nur Verletzungen, sondern auch einen extremen Kampf hinter sich, den er verloren hatte. Das worauf er sein ganzes Leben lang hingearbeitet hatte, war innerhalb von wenigen Minuten den Erdboden gleichgemacht worden.
Nachdem sie ihn gut abgewaschen hatten, versorgten sie seine Wunden anschließend mit Wundsalben und verbanden sie mit Verbandsstoffen. Dann rieben sie ihn trocken und deckten ihn mit einer Decke zu.
Eine Weile betrachtete das Elternpaar ihren Sohn. Es war so extrem lange her als sie ihn das letzte Mal schlafen gesehen hatten. Über 20 Jahre. 20 Jahre, die für sie auf einmal wie ein Nichts vorkamen. Nach einer Weile lösten sie sich von diesem Anblick. Sie zogen die Vorhänge zu, die den Blick auf die Baracke freigab und zogen sich kurzzeitig ins Schlafzimmer zurück. Dort wechselten sie ihre Kleidung, und färbten sich auch wieder ihr Gefieder ein, denn das Wasser hatte ihre ganze Tarnfarbe abgewaschen.
Als sie das Zimmer verlassen hatten, blieben sie einen Moment schweigend im Esszimmer stehen und schienen nicht zu wissen, was sie jetzt machen sollten.
Schließlich hob Ai den Kopf. „Ich mach uns einen Tee.“

Schweigend saß das Ehepaar am Tisch und ließen den ereignisreichen Morgen nochmal Revue passieren. Alles kam ihnen so unrealistisch vor. Die ganzen Jahre hatten sie auf seine Rückkehr gewartet. Jetzt war alles auf einmal passiert und sie mussten das Erlebte erst einmal verarbeiten.
Nachdenklich blies Ai über ihre noch dampfende Teetasse. Sie schielte zu ihrem Mann rüber, der seinen Tee noch nicht angerührt hatte und nur mit leerem Blick auf die Tischplatte starrte.
Schließlich hielt die Pfauenhenne es nicht mehr länger aus und stellte die Teetasse ab.
„Haben wir das Richtige getan?“, fragte sie leise.
Doch Liang reagierte nicht auf diese Frage und senkte den Blick nur noch mehr. Er war sich selber nicht ganz sicher. Hatten sie sich jetzt so sehr von ihrem elterlichen Instinkt täuschen lassen und einen Fehler mit ihrer Handlung begangen?
Doch hätte man sie gefragt, ob sie auch anders reagiert hätten, so hätte jeder von ihnen diese Frage mit einem deutlichem „Nein“ beantwortet. Die ganze Welt mochte ihren Sohn hassen, aber sie konnten es nicht. Nicht mehr. Einmal hatten sie ihn vor aller Augen verstoßen. So wie es das Gesetz vorgeschrieben hatte. Und auch die große Enttäuschung, dass er als Massenmörder aus ihrer Heimat verbannt werden musste. Doch genauso groß war die Wut, die Shen ihnen entgegengebracht hatte. Niemals würden sie vergessen, wie er damit gedroht hatte zurückzukommen und ganz China würde sich dann vor ihm verneigen.
Bei diesem Gedanken musste Ai erneut seufzen. „Ob er uns immer noch hasst?“
Erst jetzt ging durch ihren Mann ein Ruck.
Hassen.
Meine Eltern haben mich gehasst.

Liang blinzelte bei Shens Worten, die er während des Gesprächs mit der Wahrsagerin geäußert hatte. Sein Blick wanderte zu seiner Frau, die nicht wusste, was sie von seinem Gesichtsausdruck halten sollte.
Schließlich bewegte Liang den Schnabel. „Vielleicht…“, begann er zögerlich. „Vielleicht hatte er dasselbe von uns gedacht.“
Er versuchte zu lächeln und noch ehe seine Frau darauf etwas erwidern konnte, legte er schnell seinen Flügel auf ihren Flügel. „Wir müssen abwarten, was passieren wird. Wir haben unseren Teil getan.“ Er senkte kurzzeitig seinen Blick. „Der Rest liegt bei ihm.“
Lady Ai seufzte schwer. Sie hatte Angst, dass es bei Shen Komplikationen geben könnte und es war für jeden von beiden klar, dass sie um einen Arzt nicht herumkommen würden.
Liang verstärkte seinen Druck auf ihrem Flügel. „Keine Sorge, er wird es schon schaffen. Er ist stark.“
Er versuchte zu Lächeln, was seine Frau versuchte zu erwidern, aber keinem von beidem war zum Lachen zumute. Keiner wollte es aussprechen, aber sie mussten sich bewusst machen, dass sie mit Shens Verschonung gegen das Gesetz verstoßen hatten. Egal ob sie nun zur royalen Familie gehörten oder nicht, so könnten jederzeit dafür verurteilt werden – wenn sie nicht aufpassten.

Lady Ai blinzelte. Sie meinte etwas gehört zu haben. Sie lag im Bett neben ihrem Mann. Beide hatten sich nur kurz hingelegt, um sich von den ganzen Strapazen zu erholen. Ais Blick wanderte zum Fenster. Es war dämmrig draußen. Wieder meinte sie ein Geräusch zu hören. Um ihren Mann nicht unnötig aufzuwecken, stieg sie leise aus dem Bett, zündete im Esszimmer eine Kerze an und näherte sich der Abstellkammer. Hinter dem Vorhang raschelte es.
Der Pfauenhenne blieb das Herz stehen. War ihr Sohn aufgewacht?
Zögernd schob sie den Vorhang etwas beiseite. Zuerst erschrak sie. Shen wälzte sich unruhig im Bett hin und her, doch zu ihrer Erleichterung waren seine Augen geschlossen. Er schien schlecht zu träumen.
Instinktiv setzte sich die Pfauenmutter neben ihn ans Bettlager. Dort stellte sie die Kerze auf den Boden ab und legte beruhigend ihren Flügel auf seinen Flügel.
„Psst“, flüsterte sie sehr leise. „Es ist gut, alles ist gut.“
Sie spürte seine Anspannung, begleitet von einem unkontrollierten Zittern. Was sah er nur gerade? Sie wünschte, sie könnte in seine Gedanken schauen. Noch immer plagten sie die letzten Geschehnisse, die sie kurz vor seiner Vertreibung aus der Stadt durchlebt hatten. Noch nie hatte sie ihren Sohn so gesehen. Noch nie hatte er sie so angesehen. Das hatte Ai bis in ihre Albträume verfolgt. Jeden Tag quälte sie die Frage, was ihr Sohn von ihr dachte. Empfand er überhaupt noch etwas für sie?
Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte sich ihm gegenüber nie richtig geöffnet. Weder in seiner Kindheit, noch als er erwachsen war.
Behutsam strich sie ihm über die weißen Federn. Das starke Zittern hatte aufgehört. Doch das war nicht das Einzige, was sie so beschäftigte.
Vorsichtig hielt sie einer der Federn mit den Fingerfederspitzen hoch und betrachtete sie voller Trauer.
„Wie Baizhong“, murmelte sie leise.
Seufzend ließ sie die Feder wieder los. Immer hatte sie Angst gehabt es würde mit Shen wie mit Baihzhong sein. Dessen Mutter war an seinem Tod zerbrochen. Sie wollte nie dasselbe durchmachen.
Ihr Blick wanderte wieder zu Shens verbundenem Kopf zurück.
Aber er lebte doch noch, dachte sie und Schuldgefühle schlugen wieder auf sie ein. Warum hatte sie sich nur so sehr von Baizhongs Leben beeinflussen lassen? Wäre es mit Shen sonst anders gekommen?
Ai unterdrückte ein Schluchzen. Behutsam strich sie ihrem Sohn über die unverletzte Kopfseite. Wo war ihr kleines, unschuldiges Kind von damals?
Schließlich konnte sie nicht anders und nährte sich mit ihrem Gesicht, bis sie ganz dicht an seinem Ohr war.
„Kommt zurück zu mir“, hauchte sie und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.


„Baizhong” steht für die chinesischen Worte „weiße Rasse/Spezies“. Wir werden erst später mehr über ihn erfahren. ;-)

„Man sieht wie verletzt er ist und wie gefährlich das sein kann.“ - (DVD Extra - Kommentar der Filmmacher – Jennifer Yuh Nelson, Melissa Cobb, Raymond Zibach, Rodolphe Guenoden über die finale Szene zwischen Lord Shen und der Wahrsagerin)

 

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6. Reue und Verbitterung


Die Sonne stand zwar hoch am Himmel, doch es zogen dunkle Wolken auf. Ein klares Zeichen dafür, dass es bald regnen würde. Dennoch hatte Ai es vorgezogen im Dorf ein paar Besorgungen zu machen. Sie wollte unbedingt auf andere Gedanken kommen. Doch kaum war sie nur 10 Minuten lang vom Haus weg, überfiel sie wieder eine Unruhe. So sehr sie auch Angst vor Shens Erwachen hatte, so war ihre Sorge, ihn allein mit seinem Vater ihm Haus zu lassen wesentlich größer. Schnell erledigte sie alle Einkäufe, wobei es nicht sonderlich leicht war, weil die meisten nach Gongmen gegangen waren, um den Sieg über Shen zu feiern. Einmal bekam sie sogar einen Teil eines Gespräches zwischen zwei Dorfschafen mit, die davon berichteten, dass es trotz allem in der Stadt noch recht turbulent zuginge. Irgendjemand würde dort Unruhe stiften. Auch war von Shens Leuten die Rede, die das Gebiet partout nicht verlassen wollten.
Doch Ai war viel zu sehr drum bemüht sich schnell wieder auf den Weg nach Hause zu begeben. Also ließ sie sämtliche Gespräche und Kontakte zu anderen ausfallen und rannte durch das Dorf zurück zur Hütte.

So chaotisch und laut es auch in der Stadt zugehen mochte, umso ruhiger und leiser war es in der Hütte, die das Pfauenpaar bewohnte.
Lord Liang hatte die ganze Nacht über kaum ein Auge zugetan. Zwar hatte er bis zur Abenddämmerung gestern noch durchgeschlafen, dennoch fühlte er sich extrem müde und abgeschlagen. Er kam sich vor als wäre er 20 Jahre nochmal gealtert. Und kaum hatte Ai das Haus verlassen, sank er am Esszimmertisch zusammen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Eigentlich wollte er nur etwas dösen, doch dann war er innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen.
Es vergingen mehrere Minuten. Draußen wehte ab und zu eine starke Brise durch die Baumwipfel über der Hütte. Nichts anderes schien die Ruhe zu stören. Jeder im Haus schlief tief und fest. Bis auf einmal ein leises Stöhnen hinter dem Vorhang erklang. Der Körper des weißen Pfaus im Bettlager zuckte leicht. Doch es waren nur seine Muskeln, die reflexartig auf die Zerstörung im Fleisch und Nerven reagierten. Noch spürte er die Schmerzen nicht. Erst als sein Unterbewusstsein nach und nach vom Bewusstsein abgelöst wurde, nahm der ehemalige Kriegsherr einen tiefen nach Luft ringenden Atemzug. Shen krampfte kurz zusammen und bewegte dabei unglücklicherweise zu heftig seinen frisch operierten Flügel. Der weiße Pfau stieß einen erstickten Schrei aus. Reflexartig schlug er neben sich. Griff ihn jemand an? Befand er sich in einem Kampf?
Er griff unter sich. Seine Fingerfedern krallten sich in die Decke und Kissen. Wie ein Blinder tastete er die Umgebung ab, wobei er äußerst hektische Bewegungen vollführte. Diese ungewohnte Umgebung versetzte ihn kurzfristig in Panik. Er konnte sich nicht erklären, wie er den Zusammenhang zwischen im Bett liegen und Schmerzen verstehen sollte. Normalerweise hatte er nie Schmerzen im Bett. Außer anfangs, als er immer zu trainiert hatte und bei der Waffenherstellung….
Er presste die Augenlider zusammen, als die starken Schmerzen am Kopf auf ihn einschlugen. Schwer atmend versuchte er diesen Schmerzpegel unter Kontrolle zu bekommen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so starke Schmerzen gehabt hatte.
Hatte er sich bei einem seiner Experimente verschätzt?
Seine befiederte Hand wanderte zu der Quelle des Schmerzes in seinem Gesicht. Er fühlte Verbände. Der Lord zuckte bei dieser Berührung zusammen und dies entlockte einen erneuten jammernden Ton von ihm.
Schließlich schaffte er es gleichmäßig kräftig ein und aus zu atmen. Nachdem sich seine Anspannung einigermaßen gelegt hatte, gelang es ihm seine Augen etwas zu öffnen. Obwohl seine Gesichtsmuskeln extrem weh taten, der Drang zu wissen, was um ihn herum war, überwand die Schmerzgrenze.
Über ihm befand sich eine dunkle Holzdecke. Neben ihm stand eine Wand, auf der anderen Seite ein Vorhang.
Shen wollte sich sofort aufrichten, doch ein gleißender Schmerz ließ ihn sofort wieder zurücksinken. Sein Flügel ging erneut auf Wanderschaft und er fühlte weitere Verbände um seinen verletzten Flügel und auf seinem Bauch unter der Decke.
Plötzlich fiel ihm auf, dass er nichts anhatte. Er schlug die Bettdecke beiseite. Seine Robe war weg! Hastig deckte er sich wieder zu.
Wer um alles in der Welt hatte es gewagt ihm die Kleidung auszuziehen? Niemandem war es erlaubt ihn unbekleidet zu sehen.
Empört über diese Demütigung spannte er erneut die Rückenmuskulatur an, doch die frische Wunde auf seinem Bauch zwang ihn dazu liegen zu bleiben.
Eine Weile blieb er so. Sein Brustkorb hob und senkte sich stark. In seinem Kopf herrschte immer noch völliges Chaos.
Was machte er hier? Und vor allem, wie kam er hierher? Was war überhaupt passiert?
Dann fiel es ihm wieder ein und jetzt tat ihm nicht nur sein Körper, sondern auch seine Seele weh. Er hatte verloren. Alles hatte er verloren. Da war kein Ausweg gewesen. Er hatte keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als nur noch seinem ursprünglichen Ziel zu folgen…
Das Letzte, woran er sich erinnerte war als die Kanone auf ihn fiel. Er hatte die Augen geschlossen und sämtliche Gefühle seines Körpers ausgeschaltet. Es hatte nicht sonderlich weh getan. Das schwere Gewicht der Kanone musste so enorm gewesen sein, ohne, dass er großartig was davon gemerkt hatte. Da war nur ein lauter Knall gewesen… und…
Shen blinzelte kräftiger. Aber was machte er dann hier? Das konnte doch nicht das Leben im Jenseits sein. Es war doch unmöglich, dass man danach noch Schmerzen spürte. Wo blieb da die Schmerzlosigkeit?
Stöhnten drehte er den Kopf zur Seite und suchte mit seinen Augen den Spalt im Vorhang. Als er ihn endlich gefunden hatte, hob er mühsam einen Flügel. Der Raum dahinter war nicht sonderlich hell. Doch es genügte Shen, um etwas zu erkennen. Er befand sich eindeutig in einer Hütte. Vor ihm stand ein Tisch und mehrere Stühle drum herum. Und an diesem Tisch saß zusammengesunken eine Gestalt.
Shen kniff die Augen zusammen. Es war ein grüner Pfau, doch das merkwürdige an ihm war, dass er keine langen Schwanzfedern besaß. Wie konnte das sein? Er versuchte näher an den Vorhangspalt heranzurücken, doch er konnte nicht.
Plötzlich waren auf der Terrasse vor der Tür Schritte zu hören. Schnell ließ er den Stoff wieder los und ließ sich wieder aufs Kissen sinken. Jemand öffnete die Tür. Eine Person trat ein und die Stimme einer Frau flüsterte in den Raum: „Liang?“
Der weiße Kriegsherr meinte der Unfall hat jetzt sein Gehirn völlig zerstört. Das war doch… nein, das konnte nicht sein… doch diese Stimme… und dieser Name.
„Liang? Bist du wach?“
Irgendjemand murmelte etwas. „Mm, tut mir leid, ich bin wohl kurz eingenickt.“
Shen kniff die Augen zusammen. Seine Sinne mussten komplett verrückt geworden sein. Oder war das alles nur eine irreale Welt? War er irgendwo in einem Zwischenleben oder in einer anderen Dimension im Universum gelandet? Er war verletzt. Das konnte nur heißen, das waren Spuren von der Explosion, die er noch in Erinnerung hatte, doch warum hörte er jetzt Stimmen, die wie seine Eltern klangen? Noch dazu hörte er den Namen von seinem Vater. Shen schüttelte den Kopf. Nein, es gab viele, die so hießen. Das konnte nur ein Zufall sein. Aber diese Stimmen… Shen presste die Augenlider zusammen. Das konnte nicht real sein. Er drehte den Kopf abwechselnd nach rechts und nach links. Er wollte ihre Stimmen nicht mehr hören. Sie sollten aus seinem Kopf verschwinden.
„Ist er aufgewacht?“, fuhr die Stimme seiner vermeintlichen Mutter fort.
„Ich hab noch nicht nachgesehen“, antwortete die Person, die die Frau zuvor mit Liang angesprochen hatte. „Warte kurz.“
Shen war hin und her gerissen. Schritte näherten sich seinem Bettlager. Doch kaum hörte er das Rascheln des Vorhanges, schloss er schnell die Augen und tat so als würde er schlafen.
Er spürte den Blick der Person. Er musste regelrecht dagegen ankämpfen nicht die Augen aufzumachen. Erleichtert hörte er wie die Person den Vorhang wieder schloss.
„Er schläft noch.“
Jemand atmete erleichtert auf.
„Ist wohl auch besser so“, fuhr die Frauenstimme fort, die wie seine Mutter klang. „Allerdings wird er wohl nicht ewig so bleiben.“
Einer der beiden ließ sich auf einem Stuhl nieder, während die andere Person leise im Raum auf und ab ging.
„Was sollen wir ihm sagen?“, fragte die weibliche Stimme weiter.
„Was wohl?“, meinte die nach seinem Vater klingende Stimme. „Natürlich die Wahrheit, alles andere wird er nicht akzeptieren.“
„Aber wird er die Wahrheit verkraften können?“, äußerte die Frau ihre Bedenken.
Liang seufzte schwer. „Wir haben es gemeinsam getan. Wir wussten, dass der Tag irgendwann kommen würde, an dem wir es ihm sagen müssen.“
Eine weitere Schweigephase entstand, bevor die Frau das Gespräch fortsetzte. „18 Jahre sind eine lange Zeit. 18 Jahre lang haben wir es ihm verschwiegen. Wie wird er das verarbeiten, wenn er erfährt, dass Eltern ihrem Kind verheimlichen, dass sie noch leben?“
Shen meinte sein Herz würde aussetzen. Nein! Das durfte nicht sein! Das konnte alles nicht real sein. In welchem Teil des Universums war er nur gelandet?
„Er wird es schon verstehen“, meinte die Stimme von Liang. „Irgendwie. Wir müssen das Beste hoffen, Ai.“
Als er den Namen seiner Mutter hörte, presste der weiße Pfau seinen Flügel auf seinen Schnabel. Nur mit großer Mühe konnte er verhindern nicht laut loszuweinen. Sein Schnabel bebte, und am Ende sein ganzer Körper. Er fand nur schwer die Beherrschung wieder. Er wusste einfach nicht, was er denken sollte. Doch bevor er innerlich völlig zusammenbrach, hörte er seine Mutter sagen: „Ich mach uns jetzt was zu Essen.“
Erleichterung machte sich in ihm breit, als sie das Esszimmer verließen. Er schluckte mehrere Male bevor er den zittrigen Flügel vom Schnabel runternahm und wieder durch den Vorhang spähte. Dann sah er sie. Sie hatten ihm zwar den Rücken zugewandt und auch ihr Gefieder war anders. Aber sie waren es. Ihre Stimmen, ihre Gesichter, die sich seit seiner Geburt in sein Gedächtnis eingebrannt hatten.
Angespannt sah er zu, wie sie in der Küche verschwanden.
Zuerst lag er eine Weile da wie erstarrt, dann verengte er die Augen.
Was treibt ihr für ein Spiel mit mir?

Es war spät am Abend. Draußen hatte es angefangen etwas zu tröpfeln, aber der große Regen hielt sich noch zurück.
Das Ehepaar hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Zuvor hatten sie noch nach Shen gesehen. Er war immer noch unverändert. Ai machte sich Sorgen, und hoffte, dass er nicht in ein Koma gefallen war. Als es dann Zeit für sie war schlafen zu gehen, begaben sie sich zu Bett. Ai stellte eine Kerze auf einer Kommode ab, während Liang die Bettdecken und die Kissen ausschüttelte. Als Ai ihm dabei half die Decke zur Seite zu schlagen, nahm sie eine Bewegung im Türrahmen wahr. Sofort schaute Ai zur Tür und erschrak. Liang bemerkte ihre Reaktion und sah nun ebenfalls zur Tür. Die Eltern erstarrten, als sie in das düstere Gesicht ihres Sohnes sahen, der sie feindselig anstarrte. Seine Flügel waren an dem Türrahmen gestützt. Er war noch etwas geschwächt, aber vollständig bei Bewusstsein. Und das was sein Bewusstsein sah und begriff, überstieg sein Fassungsvermögen. Auch seine alte Robe hatte er sich angezogen. Ai hatte sie zwar gewaschen, aber es waren immer noch leichte Blutflecken drauf zu sehen.
Shens Mutter löste sich als Erste aus ihrer Erstarrung. Er war anders als am Tag zuvor, wo er noch bewusstlos gewesen war. Jetzt waren seine Augen offen und klar. Ai war so überwältig von diesem Anblick, dass sie nicht wusste, ob sie weinen oder jubeln sollte. Die Augen, von denen sie gedacht hatte, sie nie wieder zu sehen. Doch dann wandelte sich ihr Innerstes wieder in tiefe Bestürzung. Das letzte Mal als sie diese Augen gesehen hatte, waren sie in Hass auseinander gegangen.
„Shen“, hauchte sie. Mehr wusste sie nicht zu sagen.
„So tot… seht ihr… gar nicht aus“, keuchte Shen eisig. Er hatte immer noch starke Schmerzen, doch er hatte im Laufe der Stunden, wo er wieder bei Bewusstsein war, gelernt sie zu kontrollieren. Sein kalter Blick wanderte zu seinem Vater.
„Das ist nicht das Leben nach dem Tod, oder?“, forschte Shen barsch. „Dafür wirkt ihr beide viel zu lebendig.“
Liang schluckte schwer. Sein Sohn sah ihn so böse an, dass er kaum den Mut aufbrachte, etwas zu sagen. Shen sah aus, als würde er jeden Moment losschreien, und er wusste, dass es so kommen würde. Schließlich hob Liang den Kopf. Er wollte nicht wie ein verwirrter Greis dastehen und setzte zu einer formellen, aber tonlosen Begrüßung an. Auch wenn er sein Sohn war, so musste er seine Würde als ehemaliger edler Herrscher wahren, und nicht vergessen was Shen für ein schlimmes Verbrechen begangen hatte.
„Es ist schön dich wiederzusehen…“
„IHR HABT GELOGEN!“, brüllte Shen ihn an.
Das ließ seinen Vater dann doch zusammenzucken, fasste sich aber sofort wieder. „Wenn du uns ausreden lässt, dann wirst du es auch verstehen können. Das ist kein Grund sich aufzuregen…“
„Ich soll mich nicht aufregen?!“, keifte Shen ihm dazwischen. „Ich soll mich nicht aufregen?! Über all die Jahre lebe ich mit dem Gedanken, dass ihr tot wärt! Was hab ihr erwartet?! Das ist an eurem Grab weine? Wolltet ihr sehen wie ich um Vergebung bettle?!“
Ai schüttelte bestürzt den Kopf. „Nein, aber wir fanden, dass dies die einzige Möglichkeit war, bei dir zu sein.“
Für einen Moment stand Shen nur laut atmend da. Dann lächelte er kalt. „Ach, fein. Okay, ihr habt mich gesehen. Dann könnt ihr ja wieder verschwinden.“
Ai warf Liang einen hilfesuchenden Blick zu, doch dieser war erst mal vorsichtig mit dem was er sagte. Schließlich ging Ai um das Bett herum und stand jetzt etwas näher bei ihrem Sohn. Sie versuchte ihn anzulächeln. „Shen, du bist krank. Da können wir dich nicht alleine lassen.“
Der schneidende Blick ihres Sohnes ließ sie förmlich einfrieren.
Krank. Krank. Krank. Krank.
Ein Wort, dass auf seiner Hassliste ganz oben stand. Die Lippen des Pfaus begannen zu beben.
„ICH BIN NICHT KRANK!“
„Ich meinte, deine Wunden. Deine Wunden, Shen“, versuchte Ai ihn zu besänftigen. „Du bist verletzt…“
Sie streckte ihre Flügel nach ihm aus. Doch er wich ihr aus, als hätte sie Feuer an den befiederten Händen.
„FASS – mich – nicht – an - …. Mutter. Oder soll ich dich überhaupt noch so nennen?“
Ai presste ihre Flügel an ihren Körper. Sie sah so verloren aus. Shens Blick wanderte zu Liang. Dieser fing den Blick seines Sohnes auf und beide starrten sich finster an. Zwischen den beiden Pfauen bahnte sich eine Anspannung an, die so gewaltig war wie der stärkste Sprengstoff. Es genügte nur ein Funke, um das ganze zur Explosion zu bringen, wenn nicht einer von beiden nachgab.
Schließlich war es Liang, der sich aus dem Blickgefecht zurückzog. Mit gesenktem Kopf ging er zu seiner Frau und zog sie eng zu sich heran.
„Sohn, es ist spät“, sagte er mit fester Stimme. „Wir reden am besten morgen weiter. Jetzt musst du dich erst einmal erholen.“
Shen kniff zornig die Augen zusammen. „Mein Verstand ist absolut klar! - Jedenfalls besser als DEINER!“
„Shhh!“, wies sein Vater ihn an. „Wir sind hier am Rande von einem Dorf. Man darf dich hier nicht finden.“
Shen fauchte laut. „Nur mich nicht – oder auch euch nicht?“
Liang nahm einen extrem tiefen Atemzug, der seiner Lunge wehtat. Er war kurz davor wie am letzten Abend in Tränen auszubrechen. Doch er beherrschte sich noch im letzten Augenblick. Er wollte eine Szene vermeiden. Nicht nur um Shens Wut zu drosseln, sondern auch um zu verhindern, dass seine Frau noch in Verzweiflung ausbrach. Schließlich fiel ihm nichts anderes ein als zu sagen: „Möchtest du etwas essen?“
Im Nachhinein kam Liang diese Aussage völlig lächerlich vor, was sein Sohn auch sofort anprangerte.
„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Vater?“
Darauf erwiderte Liang nichts. Er wollte nichts mehr sagen. Für ihn war die Diskussion beendet. Shen kannte diese Geste von seinem Vater nur zu gut. Aber ihm gedemütigt den Rücken zuzukehren, diesen Gefallen wollte er ihm nicht tun. Stattdessen ging der weiße Pfau rückwärts aus dem Zimmer, wobei er seine Eltern gar nicht aus den Augen ließ. Da war nichts von Gegenliebe was er ihnen in seinem Blick entgegen brachte. Es war Verachtung. Einfach nur verächtliche Verachtung. Schließlich verschwand er aus dem Lichtpegel und seine Eltern blieben mit ihrem Elend allein zurück.
Plötzlich hörten sie wie die Tür aufgerissen wurde und jemand nach draußen lief.
„Shen!“
Sofort rannte Ai zur offenen Tür. Doch als sie auf der Terrasse stand, war Shen nicht mehr zu sehen. Bestürzt schlug sich die Pfauenhenne die Flügel vor dem Schnabel. „Oh nein.“
Im nächsten Moment war auch Liang neben ihr und starrte fassungslos nach draußen in die dunkle Nacht. Sein Blick wanderte zum Himmel. Es fielen immer noch vereinzelte Regentropfen, doch er wusste, dass sich das Wetter nicht ewig halten würde.
Ai drückte sich an ihm und begann zu weinen. Beruhigend streichelte ihr Mann über ihren Rücken. Sie hatten geahnt, dass es so kommen würde. Aber was sollten sie jetzt machen?

„Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass ein Albino-Pfau keine große Bedrohung darstellen könnte, wie ein Tiger, ein Panda, ein Nashorn oder ein anderer bedeutender Kung-Fu-Meister. Aber eben diese Fehleinschätzung ist die Essenz vom Bösewicht Lord Shen: Er ist ein mysteriöses, unberechenbares, hinterhältiges Wesen, das versteckt Waffen unter seinen Federn trägt, sowie eine Einstellung, dass ihm in der Vergangenheit zutiefst Unrecht getan wurde.“* - (The Art of Kung Fu Panda 2, Seite 47)


 

* frei übersetzt


 

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7. Ein alter Feind


„Shen!“, hörte er sie noch rufen. Doch er ignorierte ihr Flehen. Ohne Plan und Ziel rannte die weiße Gestalt des Pfaus durch die Bäume. Er mied bewusst die Häuser des Dorfes. Zwar wollte er nicht als Feigling gelten, doch eine Konfrontation mit Gegnern konnte er im Moment nicht gebrauchen. Er wollte allein sein. Einfach nur allein sein. Alles um ihn herum kam ihm so surreal vor. Es war ihm, als würde er durch einen Traum stolpern, aus dem er verzweifelt den Ausgang suchte. Doch im Inneren wusste er, dass das alles Realität war.
Keuchend kam er an einem Baum zu Stillstand. Er lehnte sich dagegen und rang nach Luft.
Er hatte so sehr gehofft, nie wieder ihre Gesichter sehen zu müssen. Nicht solange er auf der Erde war und mit Stolz hätte sterben können. Stattdessen kam er sich vor wie ein gedemütigter Hund. Er hatte nichts vorzuweisen, womit er prallen konnte. Nichts womit er zeigen konnte, dass er mit allem recht gehabt hatte.
Tränen stiegen ihm in die Augen. Zornig schlug er mit der Faust auf den Waldboden.
Das war so unfair! Das war so unfair!
Keuchend kniete er im feuchten Laub. Seine Fingerfedern krallten sich in die Erde. Schließlich hob er entschlossen den Kopf.
Er brauchte einfach einen neuen Plan. Es musste einen geben. Seine Eltern sollten nur nicht denken, dass er an allem Schuld hatte. Er musste es einfach beweisen.
„Alles eine Lüge!“, fauchte er. „Sobald ich meinen Körper wieder vollständig bewegen kann, werde ich Rache an denen nehmen, die mir das angetan haben.“
Er grinste. Ja, er würde jeden Einzelnen von ihnen martern für seine Niederlage! Jeden!
Plötzlich hob er den Kopf. Sein sensibles Gehör vernahm Stimmen. Irgendwo zwischen den Bäumen brannte ein Lagerfeuer. Wer konnte das sein? Shen war nicht unbedingt neugierig, doch als er kurz das Jaulen eines Wolfes hörte, wurde er doch hellhörig. Waren das vielleicht seine Leute? Was war mit ihnen eigentlich nach seinem „Tod“ passiert? Hatte man sie aus der Stadt gejagt, oder einen Teil davon verhaftet? Oder sogar hingerichtet?
Mühsam erhob er sich und ging mit teilweise schwankenden Schritten auf das Feuer zu. Dort erkannte er zwei Gorilla-Gestalten.
Es mussten seine Leute sein.
Shen sah an sich herunter. Klebte noch Blut auf seinem Hemd? Vielleicht umso besser. So konnte er etwas Eindruck schinden. Er wischte sich die Blätter von der zerrissenen Robe, die ihm am Stoff haften geblieben waren und strich seine Federn glatt. Anschließend steckte er seine Flügel unter die Ärmel, wie die Lords es stets zu tun pflegten und schritt mit hoch erhobenem Haupt über das Gras auf das Feuer zu.
„Guten Abend, Gentlemen“, grüßte er in die Runde.
Einem der Gorillas fiel fast die Kinnlade runter, als er seinen ehemaligen Chef auf sich zukommen sah. „L-Lord Shen?“
Jetzt tauchte auch ein Wolf im Licht auf. „Sie hier? Wir dachten Sie wären tot.“
Shen setzte ein selbstsicheres Grinsen auf. „Tut mir leid euch enttäuschen zu müssen. Das war nur Strategie.“
Wieso hatte er eigentlich nicht gleich daran gedacht, statt sich in den Tod reißen zu lassen? Die Wahrsagerin würde sich wundern, dass ihre Verheißung völlig falsch gewesen war.
Der Pfau ließ seinen Blick schweifen. Er zählte ungefähr fünf Gorillas, und sieben Wölfe. Direkt vor dem Lagerfeuer saß noch eine weitere Gestalt. Vermutlich auch ein Wolf, zumindest von der Struktur her. Dennoch war sie ungewöhnlich groß. Sogar noch größer als die von Wolf-Boss.
Der Lord räusperte sich. „Nun? Lagebericht. Was ist eigentlich vorgefallen, während meiner Abwesenheit?“
In diesem Moment drehte sich die große Gestalt am Feuer zu ihm um. Shen erstarrte von seiner stolzen Haltung ins blanke Entsetzen.
Das war kein Wolf, sondern ein Komodowaran.
Entsetzt riss Shen die Augen auf.
„Xiao Dan?“, hauchte er fassungslos.
Der Komodowaran blickte den weißen Pfau verwundert an. Allerdings ohne den Schrecken im Gesicht. Die Echse trug eine vergoldete Rüstung und sogar eine Art Dolch zierte das Ende von ihrem langen Reptilienschwanz.
„Lord Shen?“ Der Waran schien selber nicht zu wissen, was er sagen sollte. „Das… das ist aber eine Überraschung.“
Shens Gesicht nahm schlagartig einen aggressiven Ausdruck an und er wich etwas zurück. „Was willst du hier?!“, fuhr der weiße Pfau ihn an. „Man hat dir verboten das Land je wieder zu betreten!“
Zuerst stand Xiao Dan völlig verdattert da. Schließlich schien er endlich Ordnung in seinem Kopf geschaffen zu haben und begann gehässig zu lachen. „Tja, für mich ist die Frist abgelaufen. Besonders nach deinem Ableben, und das Ableben von diesem Nashorn.“
Shen fauchte wie eine giftige Schlange. „Ich dachte, meine Familie hat dir klipp und klar deutlich gemacht, dich nie wieder in Gongmen blicken zu lassen! Du solltest nie wieder hierherkommen!“
Beide sahen sich an. Dann stieß der Waran ein amüsiertes Zischeln aus. „Ha! Dachtest du wirklich, ich würde mich auf ewig von zwei Hühnern abschrecken lassen? Nur wegen diesen Kung-Fu-Meister-Puppen konnten wir die Stadt nie einnehmen. Auch nicht nach dem Dahinscheiden der bunten Gänse. Doch dank deiner Leute hatten wir etwas mehr Spielraum für eine Invasion…“ Doch dann verfinsterte sich die Miene der Echse. „Bis dieser fette Panda alles verhunzt hat.“
Shen hob die Augenbrauen. „Ein Panda sagst du?“ Sein Magen krampfte sich zusammen. Es ärgerte ihn zwar, dass ausgerechnet sein schlimmster Feind diese Schuppenträger in die Flucht schlagen konnte. Dennoch war er halbwegs froh darüber, dass es Xiao Dan auch diesmal nicht gelungen war die Stadt Gongmen zu vernichten. Und man sah dem Komodowaran-Anführer an, dass er über seine Niederlage nicht gerade erfreut war. Doch trotz allem ließ er es sich nicht nehmen, den Pfau etwas zu hänseln.
„Dennoch war unser wieder versuchter Sturz der Stadt ganz allein dein Verdienst“, führte er mit einem breiten Grinsen aus.
Shen hob mit säuerlicher Geste die Augenbrauen. „Mein Verdienst?“
Xiao Dan kicherte. „Mit deinem Eindringen in der Stadt hast du uns die Gelegenheit geben, auf die wir x-Jahre lang gewartet haben. Allerdings waren deine Waffen zu mächtig. Dafür, dass der Panda dich beseitigt hat, na ja, fast beseitigt hat, haben wir die Gelegenheit der Verwirrung genutzt, um die Stadt zu erobern. Deine Leute waren ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver gewesen.“
Das verwirrte den weißen Pfau für einen Moment und veranlasste ihn in die Gesichter seiner ehemaligen Gefolgsleute zu schauen.
Shens Flügel begannen leicht zu zittern. Nicht vor Angst, sondern vor Wut. „Wie konntet ihr es wagen euch mit dem schlimmsten Feind Gongmens zu verbünden?!“
Einer der Wölfe trat vor. „Tja, vielleicht weil er gut bezahlt.“
Shen wollte ihm einen Schlag ins Gesicht verpassen, doch einer der Gorillas erkannte sein Vorhaben und versetzte dem Pfau einen harten Hieb in die Rippen. Stöhnend sank Shen auf die Knie, aber nur für ein paar Sekunden. Sofort war er wieder auf den Beinen und stierte grimmig in die Runde. „Das ist Meuterei!“
Xiao Dan lachte. „Das ist Strategie. Im Chaos bietet sich immer die Gelegenheit. Du musst zugeben, unser Plan war diesmal besser als früher. Nicht umsonst, nennt man uns die geborenen Eroberer.“
Shen durchbohrte ihn mit giftigen Blicken. „Ihr seid nur Zerstörer!“, fauchte er. „Ihr wollt Gongmen nur zerstören.“
„War das nicht auch dein Plan gewesen?“, konterte Xiao Dan bissig.
Shen knurrte laut. „Mein Plan war Eroberung und Macht. Keine sinnlose Zerstörung ohne Ziel und Plan. Es war mein Bestreben, mich unvergesslich zu machen, während man eure stümperhafte Hirnlosigkeit schon bald wieder vergessen wird!“
Im nächsten Moment zog Xiao Dan sein langes gebogenes Schwert hervor, das Shen bei dem Anblick erst mal zum Verstummen brachte. Dem Komodowaran gefiel das sofort und hielt dem weißen Pfau die scharfe Klinge weiter vor. Shen senkte den Kopf und wich zurück wie eine aggressive Katze.
Der Waran lachte bei dieser Geste. „Noch immer dasselbe kleine Küken von damals, was?“
Shen fauchte wütend. „Das wirst du nicht wagen.“
Xiao Dans Grinsen wurde immer breiter. Langsam ging er auf den ehemaligen Prinzen zu. Und mit jedem Schritt wich Shen noch weiter zurück, bis sein Rückzug von einem hinter ihm stehendem Gorilla abgebremst wurde. Doch noch ehe Shen wieder woanders ausweichen konnte, packte der große Affe ihn an den Schultern und hielt ihn fest.
„HEY!“, schrie Shen ihn an und versuchte sich aus seinen starken Griffen zu befreien. „Ich bin euer Meister! Ihr habt mir zu gehorchen!“
Xiao Dan lachte laut. „Das ist jetzt meine Truppe. Du bist nur eine Witzfigur.“
Shen unterdrückte einen Schrei, als der Gorilla Druck auf seine zierlichen Knochen ausübte.
„Von dir lassen wir uns gar nichts mehr sagen“, grunzte das beharrte Ungetüm.
Am liebsten hätte Shen ihn hier und jetzt das Fell über die Ohren gezogen, doch zu seinem Entsetzen tauchten jetzt noch mehr Komodowarane aus dem Hintergrund auf. Einige von ihnen trugen schwarze Hemden mit rotem Gürteln um die Hüften, andere wiederum waren ähnlich gepanzert wie Xiao Dan, nur nicht in Gold.
Verzweifelt suchte Shen nach einer Möglichkeit sich zu verteidigen, doch er trug keine Messer mehr in seinem Gefieder. Alle hatte er beim Panda verschossen. Er hatte noch nicht mal sein Lanzenschwert bei sich. Nicht einmal ein bisschen Schießpulver. Und eine Verteidigung im Nahkampf war mit seinen frischen Wunden praktisch unmöglich.
„Tja, du wolltest ein Denkmal?“, höhnte Xiao Dan. „Fein, wir kommen deiner Bitte gerne nach und werden jetzt dir ein Denkmal machen lassen. Allerdings als befiederter Kadaver in der ödesten Provinz.“ Doch dann schien er zu überlegen. „Aber du könntest uns eventuell vielleicht noch nützlich sein.“
Shen hob angespannt die Augenbrauen.
„Deine Waffen sind äußerst effektiv“, meinte der Waran anerkennend. „Vielleicht könntest du uns ein paar davon machen. Deine Wölfe waren so frei und haben uns schon ein paar kleinere davon zukommen lassen.“
Shen sog scharf die Luft ein. „Ich arbeite nicht mit solchem Abschaum wie euch!“, konterte er entschlossen.
Dem Waran juckte diese Beleidigung überhaupt nicht. Er schob sein Schwert noch weiter vor, sodass sie Shens Schnabelspitze berührte. Shen wagte kaum zu atmen. Alles was er nur tun konnte war in Xiao Dans grinsendes Gesicht zu starren.
„Ehrlich gesagt“, meinte der Komodowaran belanglos, „habe ich auch nichts anderes von dir erwartet.“
Er verstärkte den Druck der Klinge auf Shens Schnabel. Der Pfau war jetzt schon soweit zurückgewichen, dass sein Kopf gegen den Bauch des Gorillas drückte.
Der Waran lachte. „Tja, dein Papi wird dich diesmal nicht mehr retten können. In dem Fall werden wir dir verhelfen, ihm noch schnell hinterher zu folgen.“
Plötzlich traf den Waran ein gewaltiger Schlag von der Seite. Ein Schatten hatte ihn mit voller Wucht ins Gesicht getreten, die die Echse ein paar Meter wegschleuderte. Sofort nahm sich der Schatten den Gorilla vor und versetzte ihm einen harten Hieb, die das große Tier zu Fall brachte.
Als der Schatten für eine Sekunde zum Stillstand kam, erkannte Shen die Gestalt eines Pfaus. Doch noch ehe er was sagen konnte, stieß der Pfau ihn zur Seite.
„SCHAFF IHN WEG! SCHAFF IHN WEG!“, schrie Liang.
Im nächsten Moment spürte Shen Flügel um sich, die ihn wegzogen. Kurz darauf sah er in das bittende Gesicht seiner Mutter. Doch noch bevor sie ihn aus der Gefahrenzone zerren konnte, schaute Shen nochmal zurück, wo Liang jeden Angreifer mit Flügeln und Füßen abwehrte. Überall wo er konnte verteilte er Schläge. Ein Wolf stürzte sich mit Schild und Schwert auf ihn. Doch Liang schlug ihm das Schutzschild aus den Pfoten und zerkratze sein Gesicht mit den Krallen seiner Füße.
Xiao Dan hatte sich inzwischen wieder erholt. Wütend schwang er sein Schwert und stürzte sich auf den Eindringling. Doch Liang wich ihm geschickt aus und trat ihm ins Brustschild, die den Waran erneut wegstieß.
Als Liang sich nach dem nächsten Angreifer umsah, hielt der Komodowaran verwundert inne. „Lord Liang?”
Doch sofort sprang der Pfau auf den Gorilla. Dieser brüllte auf und wollte sich mit fliegender Faust auf den Lord stürzen. Liang wich dem Schlag aus, sodass die Faust nicht ihn, sondern unglücklicherweise Xiao Dan traf. Die Schlagkraft des Zentner schweren Affen schleuderte den Anführer jetzt x-Meter weit über die Baumwipfel.
Wölfe, Gorillas und Komodowarane waren so geschockt von dem plötzlichen Abflug ihres Bosses, dass sie für einen Moment wie betäubt da standen. Doch als sie sich wieder besannen, war der Pfau schon verschwunden.

„Geht es dir gut?“, erkundigte Ai sich besorgt, nachdem sie Shen ein gutes Stück weit mit sich gezogen hatte.
„Es geht mir gut!“, fuhr Shen sie unwirsch an.
„Bist du ganz sicher, Junge…?“
„MIR GEHT ES GUT!“ Wütend stieß er Ai von sich. In diesem Moment tauchte auch Liang keuchend neben ihr auf.
„Wie konntest du mich nur so blamieren?!“, fuhr Shen ihn an. „Ich wäre auch mit ihm alleine fertig geworden!“
Lord Liang war zwar noch sehr kurzatmig, doch er ging sofort auf die Konversation ein.
„Ach…wirklich?“, japste er mit strengem Unterton. „Dann waren wir wohl… etwas… zu früh da gewesen, oder?!“
„Bitte, bitte!“, ging Ai dazwischen. „Streitet euch nicht!“
Ihr Blick fiel auf ihren Sohn. „Shen, wir wollten nur verhindern, dass er dir wehtut.“ Sie ging auf ihn zu. Doch Shen wich ihr erneut aus.
„Ich bin kein kleines Kind mehr!“, schnauzte er sie an.
Ai seufzte schwer. „Wir wollen dich doch nur beschützen…“
„Verdammt nochmal! Ich hab den Schnabel voll von eurem Schutz! Merkt ihr denn nicht, dass ich die ganzen Jahre versuche von euch loszukommen?!“
Stille entstand. Ai sah ihn traurig an. Shen konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen. Genauso wenig wie die tadelnden Augen von seinem Vater, weshalb er ihnen trotzig mit verschränken Flügeln den Rücken zuwandte.
Mittlerweile hatte Liang wieder soweit seine Kräfte gesammelt und sah sich nach hinten um. „Ich glaube kaum, dass sie unserer Spur folgen können. Es wird bald regnen.“
Nach einer kurzen Denkpause ging er zu Shen und wies mit dem Flügel ihn an ihm zu folgen. „Bis zur Hütte ist es nicht mehr weit. Komm mein Sohn.“
Liang hatte gerade ein paar Schritte nach vorne getan, als Shens nächste Worte ihn erstarren ließen.
„Ich dachte, ich bin nicht mehr dein Sohn“, erinnerte Shen ihn eisig an damals.
Langsam drehte sich Liang zu ihm um. Shen hatte die Flügel in die Hüften gestützt und sah ihn kalt an. „Hast du das vergessen?“
Ais Blick wanderte zwischen den beiden Pfauen besorgt hin und her. Sie befürchtete wieder einen Konflikt. Schließlich wandte Liang sich gedemütigt ab. Als Shen ihn weggehen sah, wandte auch er sich ab.
Ai beobachtete wie Shen etwas vom Weg abbog.
„Shen, wo willst du hin?“
„Lass mich in Ruhe!“
„Ai lass ihn“, hörte sie Liang leise reden. „Mach es nicht noch schlimmer. Er muss sich erst einmal wieder beruhigen.“
Am liebsten hätte Ai was dagegen eingewendet, doch dann fielen auf einmal mehrere Regentropfen vom Himmel. Der Regen konnte sich nicht mehr länger zurückhalten und öffnete ungehemmt seine Schleusen.

Besorgt schaute Lady Ai aus dem Fenster. Draußen war es dunkel und auch der Regen war stärker geworden. Shen saß immer noch unter einem Baum an derselben Stelle, an dem sie ihn zurückgelassen hatten. Liang hatte sich schon ins Bett gelegt. Der Kampf von vorhin hatte ihn ziemlich geschafft. Ai prüfte nochmal, ob er schlief. Dann holte sie sich einen Regenschirm und huschte durch die Tür nach draußen.

Der Regen prasselte ununterbrochen auf das undichte Blätterdach des Baumes nieder, unter dem der weiße Pfau sich zusammengekauert hatte. Er merkte nur kurz auf, als er ein leises Rascheln im Gras und langsame Schritte vernahm.
„Shen, deine Verbände werden nass“, sagte Ai besorgt. „Möchtest du nicht langsam reinkommen?“
Doch der weiße Pfau schwieg. Niedergeschlagen senkte die Pfauenhenne den Blick. „Wenn du reinkommst, ich hab auf dem Stuhl einen frischen Mantel hingelegt. Denn kannst du dann anziehen. Okay?“
Wieder erhielt sie keine Antwort. Mit traurigem Blick ging Ai wieder ins Haus zurück.

Ai horchte auf, als jemand die Tür öffnete. Sie lauschte. Schlurfende Schritte schleiften über den Boden. Sie hielten kurz an, dann gingen sie weiter, bis sie mit einem Mal verstummten. Lady Ai ließ sich wieder auf ihr Kissen sinken, als sie das Rascheln einer Decke hörte. Shen hatte sich wieder in die Koje hinterm Vorhang niedergelassen. Wenigstens etwas, was der Pfauenhenne für heute Abend etwas Ruhe schenkte. Zumindest solange sie nicht wieder an Xiao Dan denken musste. Er hatte schon vielen Jahren versucht Shen zu töten. Alle der Pfauenfamilie wollte er hinrichten…

Vor knapp 40 Jahren…

Die Lady von Gongmen sah sich verschreckt um. Auf dem Hof des Palastes lagen überall die zerstreuten Körper der Komodowarane. Dicht vor ihr bäumten sich schützend die drei Kung-Fu-Meister auf. In ihrer Mitte stand der Lord der Stadt Gongmen. Lord Liang war verletzt, aber er lebte. Allmählich kam wieder Bewegung unter den am Boden liegenden Echsen. Einer in goldener Rüstung wagte sich sogar nahe an die Palaststufen, auf der die Meister mit dem Lord sich aufgestellt hatten.
„Verlasst die Stadt und kommt nie wieder!“, forderte der blaue Pfau die gefallenen Krieger.
Xiao Dan fauchte ihn wütend an. Als Meister Donnerndes Nashorn drohend seinen Hammer schwang, wich die Echse zurück.
„Na schön. Heute magst du gewonnen haben“, stieß der Komodowaran mit gepresster Stimme hervor und hob die Faust. „Aber irgendwann, das schwöre ich dir, bekommen wir die Stadt Gongmen!“ Sein Blick wanderte hoch zur Pfauenhenne, die auf dem obersten Treppenabsatz stand. Gierig fixierte der Komodowaran-Anführer sie. „Und wer weiß, vielleicht fangen wir sogar mit deinem Sohn an!“
Erschrocken drückte Lady Ai das Bündel in ihren Flügeln enger an sich. Das weiße Küken fiepte ängstlich. Es weinte immer noch.
„Verschwindet!“, brüllte der verwundete Pfau und wies zum Tor.
Auch die Kung-Fu-Meister rückten weiter vor.
Die Echsen sammelten sich. Fauchend standen sie nochmal aufrecht, dann huschten in rasender Geschwindigkeit davon.


Lady Ai zitterte bei dieser Erinnerung und grub ihre Fingerfedern in Liangs Nachthemd. An wen immer sie auch ein Gebet richtete, so hoffte sie, dass es bei irgendjemanden Erhörung fand. Ihrem Sohn durfte nichts passieren.

„Dieser verdammte Pfauen-Clan!“, fluchte Xiao Dan und rieb sich die immer noch schmerzende Reptilienschnauze.
Auch die anderen rieben sich die blauen Flecken und die Wölfe leckten ihr Fell.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ihn ein anderer Komodowaran. „Wenn die wieder im Land sind, dann hauen wir besser wieder ab.“
Xiao Dan drehte sich blitzschnell um und packte seinen Kumpanen brutal am Kragen. „Niemand macht hier den Rückzieher!“, fauchte er wütend. „Das haben wir schon vor 40 Jahren getan! Nein.“ Er ließ ihn los und grinste. „Damals hatten sie ihre Kung-Fu-Babysitter in der Nähe gehabt.“ Sein Blick wanderte in den Wald. „Hier draußen aber sind sie ohne Schutz.“ Der Komodowaran-Anführer kicherte gehässig und strich über sein langes gebogenes Schwert. „Perfekt für uns.“
„Wozu das denn?“, wunderte sich ein Waran. „Die haben doch keine Stadt mehr, die wir ihnen abnehmen können.“
Xiao Dan überkam ein gemeines Kichern. „Mag sein. Dennoch würde ich zu gerne ihre Leichen hängen sehen.“ Belustigt betrachtete er sein Spiegelbild auf seinem Säbel. „Wie sagt man doch so schön: Rache verjährt nie.“


Also ab hier treffen Kung Fu Panda 2 Film und Videospiel aufeinander. Xiao Dan ist der Hauptbösewicht des KFP 2 Videospiels. Nachdem Sieg über Shen versucht er Mithilfe von Shens verbliebenen Leuten und seinen Komodowaran-Soldaten die Stadt Gongmen einzunehmen. In dieser Geschichte wird er eine größere Rolle einnehmen, weil er in diesem Fall ein Erzfeind der Pfauenfamilie darstellen wird. Shen kennt ihn noch, als er ein kleines Küken gewesen war. Mehr Hintergrundinformationen werden erst im Laufe der Geschichte preisgegeben.

„Mein Herz ist tief durchdrungen von Kummer und Wut. Wie konnten meine eigenen geliebten Eltern mich dazu auffordern meinen vertrauten Familiensitz zu verlassen? Warum sollten sie mich aussortieren wie einen gewöhnlichen Gegenstand?“* - (Kung Fu Panda 2, Mad Libs, Word Game Book, “The Exile Files, by Shen”)

 

* frei übersetzt
 
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8. Böses Erwachen


Ai wachte am nächsten Tag als Erste auf. Sofort stieg sie aus dem Bett und schlich zu Shens Bettlager rüber. Zu ihrer Enttäuschung lag die neue Robe immer noch auf dem Stuhl im Esszimmer. Er hatte die neue Robe nicht angezogen. Sachte schob sie den Vorhang der Abstellkammer zur Seite. Shen lag auf dem Bauch und schlief. Seine kaputte weiße Robe hatte er einfach auf den Boden geschmissen und er lag jetzt wieder unbekleidet im Bett.
Mit einem lächelnden Kopfschütteln hob Ai das schmutzige Kleidungsstück vom Boden auf. In Augenblicken wie diesen kam er ihr immer noch vor wie ein Teenager. Die Pfauenhenne wollte ihn nicht wecken. Sie schob die Vorhänge leise wieder zu und ließ ihn schlafen.

Es herrschte nicht gerade die perfekteste Stimmung am Esstisch, als das Ehepaar ihr Mahl einnahm. Liang war ziemlich in sich gekehrt und redete heute nicht viel.
Ai drängte ihn nicht zu einem Gespräch, dennoch konnte sie eine Frage nicht zurückhalten.
„Denkst du, die werden nach uns suchen?“, fragte sie leise.
Der Pfau schaute nur kurz auf, dann seufzte er. „Ich befürchte, ja. Und es wäre nicht anders zu erwarten.“
Nachdenklich schaute Ai auf ihr Essen. „Und was sollen wir jetzt machen?“
Liang erhob sich. „Auf jeden Fall sollten wir uns erst mal ruhig verhalten.“ Er begab sich ans Fenster und spähte nach draußen. „Wegen Shen müssen wir sowieso jetzt vorsichtig sein. Wir verlassen das Haus jetzt nur noch im Ausnahmefall.“
Er drehte sich zu ihr um. „Reichen unsere Vorräte noch?“
Ai schaute in die Küche. „Für mehrere Tage bestimmt. Aber woher sollen wir wissen, wie lange sie sich in der Umgebung noch aufhalten?“
Liang senkte seinen Blick. „Ich weiß noch nicht, was wir in ferner Zukunft tun sollen. Wichtig ist, was wir an jedem Heute bewerkstelligen können.“ Er schwieg einen kurzen Moment. „Alles andere müssen wir abwarten.“
Ai nickte verständnisvoll und nippte an ihrem Tee.

Den Rest des Vormittags verbrachten die beiden Pfauenvögel still und wenig aktiv. Liang säuberte die Küche, während Ai Shens weiße Robe erneut wusch und die Risse vernähte. Sie war sich zwar nicht sicher, ob er es wieder anziehen würde, aber wenn, dann sollte es wenigstens halbwegs gepflegt aussehen. Nachdem sie damit fertig war, schüttelte sie es aus und betrachtete es nachdenklich. Es würde wohl noch lange dauern bis die Blutflecken verblassten. Seufzend faltete sie es zusammen und dachte nach, was sie als nächstes machen könnte. Liang war kurz ums Haus gegangen, um das Feuerholz kleinzuhacken.
Ais Blick wanderte zum Vorhang. Shen war immer noch nicht aufgestanden. Ob er Hunger hatte, aber es nicht sagen wollte?
Schließlich gab sich die Pfauenhenne einen Ruck. Sie wollte sich wenigstens nach seinem Wohlbefinden erkundigen. Sie könnte ihm ja auch eine Suppe warm machen, vielleicht regte das seinen Appetit an.
Im nächsten Moment kam Liang wieder durch die Tür. In den Flügeln hielt er ein paar kleingehauene Baumstämme.
„Du siehst immer noch müde aus“, meinte Ai besorgt.
Liang wich ihrem Blick aus. „Nur wegen gestern Abend.“
Er ging schnell an ihr vorbei und lud das Holz in der Küche neben dem Ofen ab. Ai folgte ihm.
„Du solltest dich trotzdem ausruhen“, riet sie ihm. „Wenigstens für ein Weilchen. Ich kann Shen in der Zwischenzeit was zu essen anbieten.“
Liang rieb sich übers Gesicht. „Meinetwegen. Er will mich wohl eh nicht sehen.“
Als er ins Schlafzimmer gehen wollte, hielt Ai ihm an der Schulter fest und sah ihn eindringlich an.
„Es war nicht deine Schuld gewesen“, beharrte sie.
Liang legte seinen Flügel auf ihren, doch er schob ihn weg und ging ins Bett. Traurig sah Ai ihm nach.

Die Suppe war schnell gemacht. Ai dekorierte nochmal alles mit frischen Kräutern. Sie war sich halbwegs sicher, dass Shen diesem unmöglich widerstehen konnte.
Mit der dampfenden Schüssel in den Flügeln verließ sie die Küche, stellte sie aber dennoch auf den Esszimmertisch ab, um zuerst nach Shen zu sehen.
Der weiße Pfau schlief tatsächlich immer noch. Er lag auf der rechten Seite und hatte sich tief in die Decke gehüllt.
„Shen?“, flüsterte sie. „Bist du wach?“
Sachte fasste sie ihn an der Schulter. Doch kaum hatte sie ihn berührt, zuckte Shen stark zusammen und begann zu zittern.
„Lass… mich…“ murmelte er dumpf.
Dieses Verhalten war Ai völlig neu.
„Shen, was ist los?“, fragte sie besorgt. Sie befühlte seinen Kopf. Fieber hatte er nicht, wie auch? Vögel konnten kein Fieber bekommen, aber er zitterte extrem.
„Shen, schau mich mal an.“
Sie versuchte ihn umzudrehen, doch der Pfau weigerte sich und stieß sie sogar weg.
„L-lass mich i-in Ruhe!“, stotterte er.
Ai gefiel das gar nicht. Schnell rannte sie zu ihrem Mann ins Schlafzimmer.
„Liang!“ Sie warf sich neben ihm aufs Bett und rüttelte ihn an der Schulter. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihm!“
Sofort erhob sich der Pfau und folgte ihr zu Shens Bett. Shen, der die Worte seiner Eltern nur teilweise vernommen hatte, drehte sich auf den Rücken und zog die Decke höher.
„Lasst mich doch in Ruhe!“, rief er als er seinen Vater neben sich stehen sah.
„Jetzt sei doch nicht so unvernünftig“, tadelte Liang ihn und versuchte die Bettdecke zur Seite zu ziehen. Doch Shen warf sich auf die andere Seite. Er wollte ihn nicht näherkommen lassen. Doch Liang fiel noch was anderes auf. Shens Mundschleimhäute war ziemlich blass.
„Shen?“, fragte Liang im ernsten Tonfall. „Hast du Schmerzen?“
Shen schüttelte heftig den Kopf, doch er zitterte immer noch stark bei jeder Bewegung.
Liang verengte die Augen. „Shen, wenn du mich nicht nachsehen lässt, dann reiß ich dich aus dem Bett!“
Ai war etwas erschrocken über Liangs harte Worte, doch sie zeigten wenigstens Wirkung.
Shen schielte verbittert zu seinem Vater. „Ist mir doch auch egal…“
Er lockerte seinen Griff um die Decke, sodass der Pfauenvater sie hochheben konnte. Sofort fiel sein Blick auf die Verbände. Sie waren noch feucht und teilweise schmutzig vom ganzen Regenwasser.
Nachdem Liang die Bettdecke vollständig entfernt hatte, setzte er sich neben das improvisierte Bett und schob ein wenig den Verband am Bauch zur Seite. Was er da drunter sah, hatte er nie sehen wollen. Die Wunde war extrem gerötet und an einigen Stellen aufgegangen. Ai erkannte sofort, dass das nicht normal war und hielt sich geschockt die Flügel vor dem Schnabel. Liang untersuchte sofort die anderen Wunden, die teilweise auch etwas ungewöhnlich gerötet waren.
„E-es- zieh-t“, bibberte Shen, der immer noch ohne Decke im Bett lag. Zitternd drehte er sich auf die Seite. Er umarmte sich selber und zog sogar seine Beine an.
Liang stand sofort auf und legte Shen seine Decke wieder drüber. Dann schob er Ai hastig zur Seite. Die Pfauenhenne spürte die extreme Anspannung ihres Mannes. Beide sahen sich entgeistert an. Dann senkte Liang kurzfristig den Blick.
„Ich hol den Arzt“, sagte er schließlich mit fester Stimme.
„Nein!“ Shen richtete sich auf und packte seinen Vater protestierend am Hemd. „K-keinen Arzt, keinen Arzt mehr!“
Doch keiner von beiden achtete auf sein Betteln. Ihre Gedanken waren nur dabei, wie sie einen Arzt bekommen sollten.
„Du meinst „unseren“ Arzt?“, fragte Ai.
Liang nickte. „Genau den meine ich.“
Ai sah ihn zweifelnd an. „Hältst du es für klug ihn nach all den Jahren wieder ins Vertrauen zu ziehen? Er weiß bis heute nicht einmal, wo wir wohnen.“
„Einen anderen können wir nicht holen. Er kennt unsere Familie sehr gut.“ Sein Blick fiel auf seinen Sohn. „Und auch Shen.“
Ai griff mahnend nach seinem Flügel. „Shen hasst ihn, das weißt du.“
Liang hielt inne. Der große Wutausbruch von Shen war ihm immer noch tief in Erinnerung. Er hatte den Arzt aus dem Haus gejagt, und hätte ihn bestimmt noch umgebracht…
Der Pfau schüttelte den Kopf. „Eine andere Wahl haben wir auf die Schnelle jetzt nicht. Er ist sehr gut, ich kenne die anderen Ärzte nicht. Und wir wissen nicht, wer von ihnen den Mund halten wird, wenn er erfährt, dass Shen noch am Leben ist.“
Ai musste einsehen, dass es nicht anderes ging. „Na gut, aber was ist, wenn Xiao Dan dich erwischt?“
„Ich kann nicht anders“, wehrte Liang ab und warf ihr einen harten Blick zu. „Oder willst du, dass er stirbt?“
Darauf wusste Ai vor lauter Angst nicht mehr zu antworten, weshalb Liang nach einem langen Mantel griff und ihn sich überzog.
„K-kein A-arzt“, stieß Shen mühsam hervor und erhob sich in seinem Bett. „K-keinen Arzt!“
Liang verengte die Augen und ging zu seinem Sohn rüber. „Shen, du bist extrem schwach…“
Die Wut in Shens Augen darauf traf den Pfauenvater eiskalt.
„I-ich b-in nicht me-hr d-das k-kleine K-küken!“, fauchte der weiße Pfau. Seine Atmung hatte sich inzwischen beschleunigt. „I-ich bin stark!“
Liang versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben und atmete tief durch. „Shen, deine Wunden brauchen eine Behandlung…“
„D-dann lass mich doch sterben!“, schrie Shen ihn an. „W-wolltest d-du das nicht schon immer?“
Diese Worte fühlten sich für Liang so an, als würde man ihn über eine Kante in den Abgrund stoßen. Doch er beherrschte sich noch im letzten Moment nicht nochmal zusammenzubrechen. Dennoch konnte er die aufsteigenden Tränen in seinen Augen nicht zurückhalten, weshalb er sich schnell abwandte und zur Tür ging.
Ai begleitete ihn. „Pass auf dich auf“, mahnte sie ihn eindringlich.
Liang antwortete nichts. Stattdessen öffnete er die Tür, sah sich schnell um, dann verschwand er nach draußen. Besorgt sah Ai ihm nach. Der Himmel war zwar teilweise bewölkt, aber es war heller Tag. Ob er es überhaupt unentdeckt bis zum Arzt schaffte?
Die Pfauenhenne sah noch wie Liang im Wald verschwand, dann schloss sie schnell wieder die Tür. Ihr Blick wanderte zu Shen, der immer noch im Bett saß, mit gebeugtem Körper. Er konnte sich kaum noch oben halten.
Besorgt ging sie auf ihn zu. „Shen, leg dich hin. Du musst dich schonen...“
„I-ich bin nicht schwach!“, keifte der Pfau sie an.
Ai wusste einfach nicht, was sie noch machen sollte und hob ihre Flügel zu einer beruhigenden Geste. „Shen, dein Vater hatte es damals nicht so gemeint… Er hatte sich nur Sorgen um dich gemacht…“
Ihr blieb der Satz im Hals stecken, als Shen sich plötzlich aus dem Bett erhob und durch das Zimmer laufen wollte. „I-ich bin stark!“
Doch kaum hatte der geschwächte Pfau ein paar Schritte gemacht, fiel er taumelnd nach vorne und fiel auf den Boden.
„Shen!“ Sogleich eilte seine Mutter zu ihm und legte ihre Flügel auf seinen Oberkörper. „Shen! Bist du in Ordnung…?“
Doch der weiße Pfau schaffte es sich etwas zu heben und stieß sie zur Seite. „L-lass mich endlich i-in Ruhe! Ich k-komm a-lleine…“
Shen wollte aufstehen, doch dann schwankte er erneut und brach zusammen. Verzweifelt sah Ai zu wie ihr Sohn sich auf dem Boden krümmte. Er hatte so starke Schmerzen. Seiner Mutter stiegen die Tränen in die Augen. Zitternd beugte sie sich über ihn und hielt ihn an den Schultern. „Komm wieder ins Bett. Komm wieder ins Bett“, bat sie eindringlich.
Behutsam hob sie Shens Kopf. Zu ihrer Bestürzung musste sie feststellen, dass er ebenfalls nun Tränen in den Augen hatte. Ai sagte nichts dazu. Sachte hob sie den weißen Pfau und drückte ihn an sich. Egal ob draußen Warane lauerten oder Shen selber mit dem Tod rang, die Pfauenhenne war nur zu seinem entschlossen: Nichts und niemand auf der Welt würde ihr ihren Sohn wegnehmen.

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LordShenFan Am 26.06.2021 um 11:45 Uhr
Hi du kennst mich bereits schon auf Wattpad und Fanfiktion.de die dich halt sehr oft anschreibt und dir Musik für die Geschichten die du schreibst vorgeschlagen hat. Freue mich auch hier auf das nächste Kapitel.
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BuchTraumFaenger (Autor)Am 26.06.2021 um 19:20 Uhr
@LordShenFan XD Ich les auch gern solche Themen, leider gibt es davon so wenige auf Deutsch, da muss man sich dann im englischsprachigem Raum behelfen.
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LordShenFan Am 26.06.2021 um 18:03 Uhr
@BuchTraumFaenger Bitte ja bin halt ne richtige Leseratte. Liebe das Lesen und vor allem wenn es um KFP2 geht oder generll KFP
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BuchTraumFaenger (Autor)Am 26.06.2021 um 13:07 Uhr
Hi, wow, du kommst ja viel herum. :-D Aber danke, für dein fleißiges Kommentieren. Und für deine Musikvorschläge habe ich immer gerne ein offenes Ohr. :-)
Ein neues Kapitel für diese Geschichte kommt wahrscheinlich nächste Woche, aber mal schauen.
Danke für dein Feedback. :-)

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Kapitel: 8
Sätze: 1.966
Wörter: 23.029
Zeichen: 132.657

Kurzbeschreibung

Wenn die Liebe von Eltern über alles in der Welt hinausgeht. ~ Shens Eltern haben ihren eigenen Tod vorgetäuscht und tun alles um ihren Sohn vor dem dunklen Pfad zu retten. (Eine Geschichte mit Lord Shen und seinen Eltern während und nach KFP2.) [Anlässlich zum 10. Jubiläum des Kung Fu Panda 2 Films]