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Der letzte Sieg

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20.11.21 12:09
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
1. Böse Vorahnung


Vor ihr stand eine Gestalt. Um ihn herum war es dunkel und kalt. Schnee fiel von Himmel herab. Aber der Schnee war nicht weiß. Er war schwarz. Ascheflocken aus dunklen Wolken. Rund herum Feuerlichter wie aus weiter Ferne.
Sie kniff die Augen zusammen, um mehr Details von dieser fremden Gestalt zu erkennen. Aber die Person hatte ihr den Rücken zugekehrt. Zögernd trat sie näher heran. Sehr langsam und vorsichtig. Als sie sie fast erreicht hatte, streckte sie ihren Huf aus.
Plötzlich breitete die Figur ihre Flügel aus. Der Vogel wurde größer. Seine Federn sahen verbrannt aus, als hätte ihn eine Feuerwand getroffen.
Die Frau wich zurück. Die Augen des Vogels brannten wie Feuer. Er begann zu fliegen. Sein langer Federschwanz schwang in Fetzen.
Die Frau hielt den Atem an, als der Vogel die Gestalt eines Pfaus annahm.
„Wer ist das?“, fragt sie sich im Stillen.

Shen, bist du das… oder jemand anderes?
Der fliegende, verbrannte Pfau fing ihren Blick auf und stürzte sich mit einem lauten Pfauenschrei auf sie.

Völlig erschrocken öffnete sie die Augen. Schnell setzte sich die alte Ziege in ihrem Bett auf.
War das ein Traum?
Mit zittrigen Hufen befühlte sie die Decke.
Nein, sie lebte nicht in einem Traum. Aber diese Bilder, die sie da vorhin gesehen hatte waren ein Traum gewesen. Ein Albtraum.
„Großtante?“, fragte eine Männerstimme nach ihr. „Alles in Ordnung?“
Ein kleines Schaf im dunkellila Pyjama betrat den Raum und sah sie besorgt an.
„Nein, Ling. Es war nur…“ Sie blicket sich um. Aber alles im Zimmer war so wie bevor sie zu Bett gegangen war.
„Nur was?“, hackte ihr Großneffe nach.
Die Wahrsagerin seufzte erleichtert.
Es war nur ein Traum. Nur ein Traum.
„Nichts“, sagte sie. „Geh wieder ins Bett. Es war nur das Essen von heute Abend.“
Ling legte den Kopf schief, aber dann zuckte er die Achseln. „Na gut, dann gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Er verschwand. Sie versuchte wieder einzuschlafen, aber sie konnte keine Ruhe finden. Schließlich stand sie auf und trat ans Fenster, von wo aus sie einen schönen Überblick über die Dächer der Stadt Yin Yan hatte - der neuen Heimatstadt von Lord Shen.
Sie schloss die Augen. Wieder diese Bilder des verbrannten Pfaus.
Nein, es war nur ein Traum, es war nur ein Traum.

 

Hinzufügen möchte ich an dieser Stelle, dass jede Art von Vorahnungen in diesen Geschichten nicht auf Vorhersagen oder Botschaften aus dem Universum basieren. Generell besitzen Tiere ein feines Gespür für bevorstehende Gefahren, die sich hier in Form von schlechten Träumen und geplagten Gefühlen äußern.

2. Der farblose Garten


Die ersten Sonnenstrahlen berührten sanft die Erde wie es der Frühling niemals hätten besser machen können. Die Stadt Yin Yan lag friedlich eingebettet zwischen den Bergen des Mianyang Gebirges. Die Baustellen um die Häuser waren fast verschwunden und die Arbeiten an ihrem Aufbau so gut wie abgeschlossen. Nach einem kalten Winter kehrten die ersten warmen Wochen ein und an einigen Stellen sprossten Frühlingsblumen zwischen Felsen hervor.
In diesem Jahr kam der Frühling wesentlich früher als im Vorjahr. Aber das konnte einer Person nur recht sein, die gerade durch die Privaträume der Palastkorridore schlich. Vor einer Tür hielt sie an und öffnete diese so leise wie möglich. Anschließend ging sie auf Zehenspitzen durch den Raum, wo sich ein großes Bett an der Wandseite befand. Die eine Hälfe war leer, aber auf der anderen lag eine schlafende Gestalt.
Die eingeschlichene Person lächelte bei diesem Anblick. Er war schon recht früh an diesem Morgen aufgestanden, stets darauf bedacht gewesen sie nicht zu wecken. Jetzt war er nach einer Weile wieder zurückgekehrt und huschte zu der schlafenden Frau im Bett rüber. Er hielt den Atem an, als er die Pfauenhenne betrachtete. Sie war schön. Sogar wenn sie schlief und er ihre silbernen Augen nicht sehen konnte. Sachte beugte er sich zu ihr runter und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann verließ er still und leise schnell wieder das Zimmer.
Kaum war die Tür zu, begann die Pfauenhenne zu blinzeln und schlug die Augen auf. Mit einem wohlbehaglichen Stöhnen drehte sie sich auf die andere Seite und fühlte neben sich. Aber die andere Seite des Bettes war leer.
Überrascht hob sie den Kopf. Derjenige, der sonst jeden Morgen neben ihr lag, war nicht mehr da. Stattdessen zierte ein Stück Papier das Kopfkissen.
Zögernd nahm sie es und las: „Ich warte auf dich im Süd-Hof.“
Noch immer etwas verschlafen rieb sie sich den Kopf und schien etwas verwirrt. Sonst erlaubte er ihr nie in den Süd-Hof zu gehen. Doch trotz ihrer Zweifel vertraute sie dennoch darauf, dass er es ernst meinte und stieg aus dem Bett.
Nachdem sie sich eine frische Robe übergezogen hatte, verließ sie den Raum und stieg die Gänge runter bis sie zu einem der vielen Ausgänge des Palastes kam, der in den Süd-Hof führte.
Sie kniff die Augen zusammen, als das helle Morgenlicht sie etwas blendete. Wie immer bestand ihre Welt nur aus schwarz-weißen Farben. Manchmal verfluchte sie ihre Farbenblindheit, aber andere Dinge im Leben glichen diesen Fehler wieder aus.
Während sie einen mit Kies bestreuten Weg entlangging, sah sie sich immer wieder suchend um. Er wollte hier auf sie warten, aber wo?
Ihr Blick fiel nach vorne. Sonst durfte sie nie hierher. Sie hatte nicht nach dem Grund gefragt. Wenn er etwas nicht sagen wollte, dann drängte sie ihn auch nie weiter.
Sie reckte den Hals. Von hier aus verlief der Weg zu einer freien Fläche, die Monate zuvor noch aus Steinplatten bestanden hatte. Aber jetzt stand etwas ganz anderes da. Sie kniff erneut die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können.
Ein Knirschen hinter ihr ließ sie aufhorchen. Sie erschrak, als sich zwei Flügel über ihre Augen legten.
Doch als sie ein sanftes „Guten Morgen“ hörte und er sich an ihren Rücken schmiegte, beruhigte sie sich schnell wieder.
„Guten Morgen“, hauchte sie mit einem Lächeln zurück und umfasste seine Flügel auf ihrem Gesicht.
Dann drehte er sie zu sich um und beide sahen sich an.
„Warum so geheimnisvoll?“, fragte Yin-Yu und strich dem weißen Lord über die Flügel, die sie immer noch an der Taille festhielten.
Shen lächelte. „Warte es ab. Schließ die Augen.“
Sie tat es. Sie vertraute ihm blindlings. Anschließend nahm er sie an den Flügel, drehte sie erneut um und führte sie den Weg runter. Sie gab ihr bestes nicht in die Versuchung zu kommen zu blinzeln. Er sollte nicht von ihr enttäuscht sein.
Nach einer Weile hielt er an, sie ebenfalls.
Er ließ sie los.
Sie verharrte.
„Öffne sie.“
Mit Anspannung schlug sie die Augen auf und musste sich die Flügel vor den Schnabel halten. Sie befanden sich auf einem gepflegten kleinen Platz. Rund herum standen Steinskulpturen von Pfauen, fein geschnittene Bäume in allen möglichen Formen und dazwischen entweder verzierter Kies, der in Wellen ausgestreut schöne Muster auf dem Boden ergab, oder Pflanzen, die zwar keine Blüten trugen, dafür war es noch zu kühl, aber selbst deren Blätter wundersame Muster besaßen. Etwas weiter weg führte eine kleine Brücke über einen künstlich angelegten Bach und einen kleinen Teich.
Sie war so von dem Blick gefangen, dass sie kaum seine Flügel auf ihren Schultern spürte und er sie sanft massierte.
„Alles Gute zum Hochzeitstag.“
Sie drehte sich zu ihm um. Sie war immer noch nicht in der Lage einen Ton von sich zu geben.
Schmunzelnd kam Lord Shen mit seinem Gesicht näher. „Hattest du wirklich gedacht, ich würde unseren Hochzeitstag vergessen?“
„Nein, nein“, sagte sie schnell. „Ich hatte nur nicht mit so einem schönen Geschenk gerechnet.“
Wieder ließ sie ihren Blick schweifen, während Shen mit seinem Flügel um sich wies.
„Die Steine besitzen keine Farben. Jeder soll alles so sehen wie du es siehst. Niemand soll sich dir überlegen fühlen.“ Er deutete auf eine Gruppe von Pflanzen. „Sogar die Blumen sind was Besonders. Sobald sie blühen entscheidet nicht die Farbe, sondern ihre Form. Aber du wirst sie erst im Sommer bewundern können. Und im Winter kannst du dich weiterhin an der Architektur der Skulpturen und Stein-Verzierungen erfreuen.“
Yin-Yu konnte nicht anders und fiel ihm um den Hals. Der Lord zuckte zusammen, als er Tränen auf seinem Hals fühlte. Dabei drückte sie sich feste an ihn.
Der Lord verlangte kein gesprochenes „Danke“ von ihr, dennoch hauchte sie es aus tiefsten Herzen aus. „Danke.“

Es dauerte eine Weile bis sie den Garten wieder verließen und in den Palast zurückkehrten. Kaum waren sie in einer der großen Hallen angekommen, wurden sie auch dort bereits von anderen erwartet.
Yin-Yu war nicht sonderlich überrascht, als ihre Kinder Xia und Sheng ihr entgegenkamen und sie herzlich umarmten.
„Herzlichen Glückwunsch“, gratulierten sie.
„Ich danke euch“, entgegnete ihre Mutter überwältigt.
Erst als sie sich aus ihren Umarmungen gelöst hatten, traten sie zu ihrem Vater ran. Allerdings mit einer etwas zurückhaltenden Geste.
„Auch dir Vater“, begann Xia. „Wir wünschen euch alles Gute.“
Sie verneigte sich, was auch Sheng tat. Der weiße Lord erwiderte die Verbeugung und legte einem jeden seinen Flügel auf ihre Flügel. Es fiel ihm immer noch etwas schwer sie als seine Kinder zu betrachten. Er hatte sie erst vor einem Jahr kennengelernt und waren immer noch manchmal wie Fremde für ihn. Dennoch gab er sich die größte Mühe sie in sein Herz einzuschließen.
„Vielen Dank“, sagte er.
Eigentlich hatte er vorgehabt nicht so formell zu wirken, aber er konnte sich einfach nicht vor den Augen anderer überwinden sie zu umarmen.
Doch die beiden Geschwister nahmen es ihm nicht übel und traten beiseite, um den anderen ebenfalls die Gelegenheit zu geben dem Paar ihre Glückwünsche auszusprechen, wobei es nicht viele waren. Genauer genommen nur zwei, die aus der Wahrsagerin und ihrem Großneffen Ling bestand.
Ling machte den Anfang und verneigte sich respektvoll. „Ich wünsche euch ein zufriedenes und glückliches Leben weiterhin in diesem Reich.“
Das verheiratete Paar lächelte dankbar, nur Yin-Yu sprach ein Wort. „Hab vielen Dank auch für deine treuen Dienste.“
Als nächstes trat die alte Ziege an die beiden heran und nahm jeden von ihnen einen Flügel in den Huf. „Ich wünsche euch alles Gute für die Zukunft.“
Shen hob die Augenbrauen. „Zukunft?“
„Das ist doch nur so eine Redensart“, fügte Ling schnell hinzu.
Seine Großtante nickte ihm dankbar zu. Doch das beruhige Shen nicht unbedingt. Ihm war nicht verborgen geblieben, wie feste sie seinen Flügel gedrückt hatte, als sie diese Worte ausgesprochen hatte.
„Ist etwas…?“
Doch die Ziege lächelte ihn nur an.
„Macht einfach das Beste aus eurem Leben“, fügte sie hastig hinzu und ließ von ihnen ab. „Ich denke, ihr habt heute viel zu besprechen.“
„Inwiefern?“, wollte Yin-Yu wissen.
„Nun“, begann Shen. „Da heute ein besonderer Tag für uns ist, werden wir den ganzen Tag alleine miteinander verbringen.“
„Alleine?“
„Außer heute Abend. Da gibt es nochmal ein schönes Feuerwerk zur Krönung für den Tag.“
Er nahm ihre Flügel in seine und sah sie an, als ob er etwas von ihr erwarten würde. „Und?“
Sie sah ihn fragend an. „Was?“
Jetzt schien der Pfau verwirrt und legte den Kopf schief. „Nun, ich dachte… was hast du… für heute geplant?“
Auf einmal kicherte sie und umfasste sein Gesicht. „Dachtest du, ich würde vergessen dir was für unseren Hochzeitstag zu schenken?“
Shen kniff skeptisch die Augen zusammen. „Nun… nicht unbedingt. Ich dachte nur…“
Sie beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ich zeig’s dir heute Nacht.“
Überrascht sah er sie an. „Heute Nacht? Warum nicht jetzt?“
Yin-Yu schaute verlegen zu Boden. „Nun, es ist etwas sehr… Privates.“
Shen hob verwundert die Augenbrauen. „Oh, okay, aber haben wir das nicht schon öfter gemacht?“
Sie lächelte. „Es ist ein besonderes Geschenk.“
Der Lord musste einsehen, dass es keinen Zweck hatte sie weiter auszufragen. „Na gut.“
Dann nahm er sie an den Flügel und führte sie von den anderen weg. „Das Frühstück nehmen wir in unserem Zimmer ein und am Abend ein Abendessen für uns allein.“
Sie kuschelten sich aneinander. Die anderen sahen ihnen mit Freuden nach.
Nur Ling bemerkte als Einziger wie seine Großtante dem Paar besorgt nachsah. Seine Verwunderung steigerte sich, als er beobachtete wie sie leicht den Kopf schüttelte.
Es war nur ein Traum.

3. Ein besonderes Geschenk


Etwas nervös strich sich der weiße Lord die Federn am Hals und Kopf glatt. Er stand in einem der Palastkorridore, wo jede Menge Spiegel die Wände zierten.
Es war früh in der Nacht. Nachdem Lord Shen und Lady Yin-Yu ihr gemeinsames Dinner beendet hatten, verbrachten sie ihre Zeit damit das angekündigte Feuerwerk zu bewundern. Nach den letzten Feierlichkeiten zogen sie sich in ihr Schlafzimmer zurück. Doch noch bevor Yin-Yu ein Wort sagen konnte, äußerte Shen noch einen kleinen Spaziergang machen zu wollen und verließ eilig wieder das Zimmer.
Der weiße Lord seufzte. Er war nicht so stolz auf seine Farbe wie sein Vater es tat. Aber wem kümmerte es? Er war halt was ganz Besonderes, wie es seine Mutter manchmal ausgedrückt hatte.
Er nahm einen tiefen Atemzug und betrachtete sich erneut im Spiegel. „Okay“, sagte er zu sich selbst und legte die Fingerspitzen seiner Flügel aneinander. „Was immer sie auch von dir verlangt, sei du selbst, sei du selbst. Du machst das nicht zum ersten Mal.“
Natürlich hatten sie in letzter Zeit die Nächte oft miteinander mit Bett verbracht, aber was für eine Art besonderes Geschenk wollte sie ihm heute geben? Er konnte sich das gar nicht erklären. Was erwartete sie von ihm?
„Dad?“
Shen wirbelte herum. Xia war wie aus dem Nichts aufgetaucht und schien ihren Vater schon eine ganze Weile zu beobachten.
„Was machst du da?“, fuhr sie mit ihrer Frage fort.
„Äh… gar nichts. Ich…“ Er schüttelte schnell den Kopf. „Was machst du eigentlich hier? Wieso bist du noch nicht im Bett?“
„Dad, ich bin über 18. Ich muss nicht mehr früh ins Bett.“
„Wie auch immer. Deine Mutter und ich möchten gerne unsere Ruhe haben.“
Xia verdrehte die Augen. „Ja, ja. Hab schon verstanden. Ich muss ins Zimmer verschwinden, damit du und Mutter eure Erwachsenenspiele spielen könnt.“
Shen errötete extrem unter seinen Federn. Aber dann schüttelte er den Kopf. „Geh in dein Zimmer!“
Mit einem spöttischen Lächeln wandte Xia sich ab. „Natürlich, wie immer. Ich wünsche euch einen schönen Hochzeitstag.“
Sie lachte, als ihr Vater den Schnabel dabei verzog. Doch die junge Frau wollte ihn nicht wütend machen und lief schnell davon.
Shen sah ihr verdattert nach. Dann schnaubte er. „Kinder.“

Langsam näherte sich Shen Yin-Yus und seinem Privatraum. Er nahm vorher noch einen tiefen Atemzug, bevor er die Tür öffnete. Die Pfauenhenne saß vor einem Spiegel auf einem Stuhl und kämmte ihre Federn.
Mit einem sanften Lächeln schloss der Pfau die Tür hinter sich und ging auf sie zu. Sie sah ihn im Spiegel, weshalb sie sich nicht umdrehte. Ihre Haltung versteifte sich, als er seine Flügel von hinten um sie legte und ihren Hals küsste.
„Du bist schön genug“, gurrte er und streichelte über ihren Körper.
Sie schloss genießerisch die Augen und schmiegte sich ihm entgegen. Dann stand sie auf und nahm seine Flügel. „Komm, ich muss dir was sagen.“
Sagen? Shen wusste nicht was er davon halten sollte und grübelte was sie wohl damit meinte. War das vielleicht ein neues Codewort für eine besondere Sache?
Als sie ihn rüber ans Bett führte, schien sich seine Vermutung zu bestätigen, weshalb er sich nicht sträubte. Kaum waren sie am Bett, setzte sie sich auf die eine Seite, während Shen vor ihr gegenüber Platz nahm. Yin-Yu schien etwas unruhig zu sein, was Shen zunächst verwunderte. Sie war doch sonst nie so schüchtern, wenn sie ihre besonderen Momente miteinander hatten. Im Gegenteil. Manchmal war sie sogar wilder als er.
„Nun, wir haben in letzter Zeit viele Nächte schlaflos miteinander verbracht“, begann sie zögernd. „Und es waren schöne Momente. Erinnerst du dich?“
Er lächelte. „Ja.“
Dann lehnte er sich nach vorne und drücket sie sanft aufs Bett, sodass sie auf dem Rücken lag und er über sie. Er küsste sie zuerst auf den Schnabel dann weiter runter zu ihrem Hals. Ein Schnurren entkam ihr und der weiße Lord meinte sicher zu sein, ihr besonderes Geschenk erraten zu haben.
Doch im nächsten Moment begann sie ihn von sich weg zu drücken. „Shen?“
„Jaaaa?“ Er konnte nicht aufhören sie zu küssen.
„Shen, ich muss dir was sagen…“
„Jaaa.“
„Nein, nein.“ Sie hob ihre Flügel und schob ihn weg. „Ich muss dir was sagen.“
Zutiefst überrascht sah Shen auf sie herunter. „Mir was sagen? Kann das nicht warten?“
Er war kurz davor sich wieder zu ihr runter zu beugen, doch sie hielt ihn oben.
„Nein, es ist wichtig.“
Etwas enttäuscht kletterte er von ihr runter und rückte seine Robe zurecht.
„Na gut, was möchtest du mir sagen?“
Seine Verwirrung steigerte sich, als sie seine Flügel in ihre nahm und sanft ihre Fingerfedern an ihnen rieb. Dabei sah sie ihn so warm an, dass es ihm schon beinahe unheimlich war.
„Shen?“
„Ja?“
„Schatz.“
So langsam wurde Shen misstrauisch. „Was ist?“
Mit einem nervösen Lächeln unterbrach sie das Streicheln auf seinen Flügeln. „Ich… ich bin schwanger.“

4. Der verlorene Helm


„NEIN! DAS DARF NICHT WAHR SEIN!“
Fassungslos starrte Po auf das kleine Podest.
Leer! Das Podest war leer!
Aber der Helm hatte doch noch vor kurzem dort gestanden.
Panisch sah sich der Panda nach allen Seiten um. Shifu würde einen Anfall kriegen, wenn der Helm, der gerade erst letzte Woche hier im Jade-Palast in der Ruhmeshalle eingetroffen war…
Der Panda fuhr herum. Irgendetwas war zu Boden gefallen. Er schaute in die Richtung, wo eine umgeworfene Metall-Rüstung lag. Und die Personen, die diese Rüstung aus Versehen zu Fall gebracht hatten, standen da wie Wachsfiguren.
Für mehrere Sekunden waren alle wie eingefroren, bis der Panda es endlich kapierte.
„Fung!“
Hastig versteckte der Krokodil-Anführer den Helm hinter seinem Rücken. „Und Tschüss!“
Damit verschwand er zusammen mit seinen Banden-Mitgliedern schnell durch die halboffene Tür.
Sofort hechtete der Panda hinterher. „Hey! Gib den Helm zurück!“
„Sorry, ich brauchte einen neuen Helm“, rief Fung im Rennen nach hinten. „Mein Alter ist kaputt gegangen.“
„Das ist der Helm von General Sàshuǎng!“, rief Po hinterher.
Das Krokodil lachte. „General Sàshuǎng ist tot! Wird ihn doch wohl kaum stören, wenn sich jemand anderes darum kümmert.“
Sie waren kaum aus dem Tor raus, da stolperte das Krokodil gegen ein anderes Krokodil und der Helm flog im hohen Bogen nach vorne, runter den Berg über die Stufen.
Geschockt sah Fung hinterher. „Mein Hut!“
„General Sàshuǎngs Hut!“, verbesserte Po im Vorbeirennen.
Doch so leicht wollte sich der Krokodil-Anführer seinen neuen Helm nicht wegnehmen lassen und beide preschten vor. Po berührte den Helm gerade mit der Fingerspitze, wurde von Krokodil Fung jedoch sofort zu Boden gerissen. Der Hut prallte an der Hand ab und machte einen weiteren Bogen, wo er munter den Berg runtersegelte.

Ohne dass es jemand wusste, flatterte auf halber Höhe des Berges ein schwarzer Vogel mühsam hoch.
„Ich bin solche Strecken gar nicht mehr gewöhnt“, japste er.
Plötzlich kam etwas in rasender Geschwindigkeit auf ihn zugeschossen und stülpte sich über ihn. Die Krähe krächzte laut auf, als der Helm sie mit nach unten riss. Po und Fung hingegen waren immer noch auf Helm-Jagd und hatten die eingefangene Krähe im Helm noch gar nicht bemerkt, sodass Po dem Helm mitsamt Krähe einen gewaltigen Kick versetzte, als dieser beinahe auf die Stufen aufgeschlagen wäre.
„Der gehört mir!“, schrie Fung.
„Nein!“, verbesserte Po ihn entschieden. „Der gehört in die Ruhmeshalle der Helden…!“
„Jetzt nicht mehr!“ Fung kickte den Helm als nächstes und so ging das die ganzen Treppen runter weiter, bis sie endlich unten am Dorf gekommen waren.
Beim nächsten Handgemenge wurde der Helm erneut hoch in die Luft geschleudert. Mit offenen Tatzen rannte Po hin und her und versuchte dem Helm aufzufangen, wurde aber im nächsten Moment von zwei Krokodilen zur Seite gestoßen. Der Helm landete in Fungs Krallen, während die ebenfalls von Himmel herabfallende Krähe im Maul seines Kumpels landete, der vor lauter Verwunderung den Kiefer aufgemacht hatte.
„Upps, ich glaub, mir ist da was zwischen die Zähne geflogen.“
Po rannte vor und kickte ihm in den Magen. Das Maul des Krokodils klappte auf und Po griff beherzt hinein und zog die Krähe heraus.
„Entschuldige mich kurz, Kumpel.“ Sachte setzte er den benommenen schwarzen Vogel auf einen Stein ab. „So, und jetzt zu…“
Po blieb der Satz im Halse stecken. Der Platz war leer. Und die Krokodil-Bande verschwunden.
„Hey!“
Sofort nahm Po wieder die Verfolgung auf, während die Krokodil-Bande triumphierend durch die Straßen rannte.
„Meiner!”, rief Fung begeistert und hielt den Helm hoch. „Meiner, meiner, mein…“
„Denkst du.“
Die Krokodil-Bande erstarrte, als sich die Furiosen Fünf ihnen in den Weg stellten.
Fung war der Erste, der die Sprache wiederfand. „Äh, wir dachten, ihr wärt…“
„Super, Leute!“, rief Po ganz aus der Puste. „Das war Super Timing. Also rück den Helm raus!“ Po nahm erneut eine Kampfhaltung ein. „Oder wollt ihr euch mit uns anlegen?“
Dazu hatte Fung heute keine Lust und warf den Helm wütend auf den Boden. „Verdammt!“
„Macht doch nichts“, beruhigte ihn das Krokodil Gahri. „Dann suchen wir eben woanders einen neuen Hut.“
Mit einem Schlag hatte sich Fung wieder beruhigt. „Ja, vielleicht sogar einen schöneren als der hier.“
Damit zog die Krokodil-Bande diskutierend davon.
Erleichtert hob Po den Helm des Sàshuǎng auf. „Danke, Leute. Das war ganz schön knapp gewesen. Aber warum seid ihr so früh wieder von der Besprechung mit Shifu zurück?“
Tigress zuckte leicht die Achseln. „Vielleicht, weil er vermutet hat, dass du etwas Hilfe benötigst.“
Po verzog den Mund. „Es wundert mich, dass ich nicht mit dabei sein durfte. Worum ging es eigentlich bei dieser Besprechung?“
„Nur ein paar Kleinigkeiten“, antwortete Monkey schnell. „Nichts Besonderes. Immerhin war es doch ganz gut, dass du im Jade-Palast aufgepasst hast. Sonst wäre der Helm weg gewesen.“
„Oh ja, der Helm.“
Stolz hielt Po den Helm über den Kopf. Doch seine Freunde sahen ihn erschrocken an.
„Po, der Helm sieht ein bisschen“, meldete sich Monkey zögernd. „Wie soll ich sagen? Etwas benutzt aus.“
„Wie jetzt?“ Schnell hielt Po sich den Helm vor die Augen und betrachtete ihn eingehend. Und in der Tat hatte einer der Zacken an der Seite der Helmöffnung einen deutlichen Riss.
„Oh, das könnet man vielleicht reparieren“, stotterte Po. „Das ist doch nur ein kleiner Sprung.“ In diesem Moment brach die Zacke ab. „Ein sehr, sehr kleiner sichtbarer Sprung.“
Schnell hob Po das Teil wieder auf, wurschtelte in einer Haus-Ecke herum und kitete die Zacke mit einer Art Teig wieder an.
„Seht ihr! So gut wie neu! Das wird bestimmt keiner merken.“
„Was soll man nicht bemerken?“
Po fiel fast der Helm aus der Tatze, als wie aus dem nichts Shifu neben ihm aufgetaucht war.
„OH, Meister Shifu! Och, ich meine… gar nichts soll man… das war doch alles nur ein…“
In diesem Moment räusperte sich jemand. Alle Augen drehten sich zu der Krähe um.
„Wer ist das?“, fragte Mantis.
„Oh, das… äh… das ist…“ Doch diesmal musste Po passen. „Keine Ahnung.“
Die Krähe schien sich wieder gut erholt zu haben von der stürmischen Dorf-Begrüßung und verneigte sich höflich. „Mein Name ist Takeo und ich…“
„Takeo?“ Wurde er von Po unterbrochen. „Das ist aber kein chinesischer Name, oder?“
Wieder räusperte sich der Vogel. „Meine Familie stammt aus Japan, aber geboren wurde ich in China.“
„OH, alles klar.“
„Ich habe eine Nachricht für den Drachenkrieger“, fuhr die Krähe schnell fort.
„Das bin ich!“ Po deutete auf sich selber.
Die Krähe kniff einen kurzen Moment die Augen zusammen, so als würde sie den vorgestellten Drachenkrieger misstrauisch beäugen. Doch dann zuckte sie die Achseln. „Na schön. Ich habe hier einen Brief aus der Stadt Yin Yan.“
„Yin Yan“, wiederholte Po gelassen. Doch dann spitzte er die Ohren. „Yin Yan?! Oh! Ist etwas passiert? Ein Angriff? Ein Erdbeben? Sowas passiert ja ständig…!“
Ohne mit der Wimper zu zucken holte Takeo ein eingerolltes Papier hervor und hielt es dem Panda hin. „Wieso liest du es dir nicht erst mal durch?“
Po hielt inne. „Oh, ja, ja, natürlich.“
Er nahm die Buchrolle und öffnete sie.

5. Die Einladung


„DAAAAAD!“
Mr. Ping fiel fast das Messer aus dem Flügel. Der Gänserich war gerade dabei ein paar Rettiche zu hacken, als Po wie aus dem Nichts in die Küche durchs Fenster geschrien hatte.
„Po! Um Himmels Willen, was ist passiert?!“
„Ich hab eine Einladung bekommen! Ich hab eine Einladung bekommen!“
Po sprang über den Küchentisch, schnappte sich Mr. Pings Flügel und hüpfte mit ihm durch die Küche. Der Gänserich verstand überhaupt nichts mehr.
„Po? Was ist denn los?“
Endlich kam Po zum Stillstand mit seinem wilden Tanz. „Ich sagte doch, ich hab eine Einladung gekriegt.“
„Eine Einladung?“ Mühsam befreite sich Mr. Ping aus den Griffen seines „Sohnes“. „Was denn für eine Einladung?“
„Zu einem Geburtstag. – Na ja, Halb-Geburtstag oder Fast-Geburtstag.“
„Für wen?“
„Die Namen kenne ich noch nicht. Sie haben noch keinen auswählen können. Jedenfalls nicht solange sie nicht geschlüpft sind…“
„Also jetzt mal langsam, langsam, Po“, zügelte Mr. Ping die Begeisterung des Drachenkriegers. „Jetzt erzähl erst mal alles ganz von vorne…“
Po nahm einen lauten tiefen Atemzug. „Okay, also… ähm.“ Jetzt musste auch Po erst mal seine Gedanken sortieren, bevor er weitersprach. „Also, alles hat damit heute angefangen, dass ich den Helm von General Sàshuǎng wieder einfangen musste. Dabei ist mir ein schwarzer Vogel über den Weg geflogen, der eigentlich aus Japan stammt, oder genauer gesagt seine Familie, aber in China aufgewachsen ist. Sein Name ist Takeo und er hat mir diese Einladung von ihr übergeben.“
„Von wem?“
„Von Yin-Yu. Erinnerst du dich noch an sie?“
Mr. Ping lächelte. „Wie könnte ich das alles vergessen.“
In diesem Moment kam Pos Begeisterung wieder zurück. „Ja! Sie hat mir einen Brief geschrieben! Sie meint, ich wäre eingeladen worden, zu dem bevorstehenden Geburtstag ihrer Kinder!“
Mr. Ping musste diesen Satz erst einmal verdauen. „Bevorstehender? Kinder?“
„Ja!“ Mit diesem Jubel schnappte sich der Panda wieder den Gänserich und wirbelte mit ihm herum. „Sie hat letzten Monat die Eier gelegt. Und sie werden bald schlüpfen. Und ich soll dabei sein!“
Allmählich begriff Mr. Ping. „Oh, Po! Das ist ja wundervoll!“
Das Herumgehüpfte ging solange weiter, bis Mr. Ping etwas anderes einfiel. „Wie hat Shen darauf reagiert?“
Po hielt abrupt inne. „Äh, Shen?“
„Ja, ja. Der werdende Vater“, belehrte ihn Mr. Ping und lachte auf. „Als ob er nicht schon längst Vater wäre. In dem Fall ein nochmal werdender Vater.“
Der Panda ließ den Gänserich los und las sich den Brief nochmal durch. „Äh, von Shen? Davon schreibt sie nichts. Nur, dass sie sich über meine Anwesenheit freuen würde.“
„Nur sie?“ Mr. Ping hob die Augenbrauen. „Heißt das, er würde sich nicht über dich freuen?“
Po zuckte ratlos die Achseln. „Ich weiß es nicht. Sie erwähnt Shen mit keiner Silbe.“
Er bemerkte Mr. Pings besorgten Gesichtsausdruck und lächelte ihm aufmunternd zu. „Aber keine Sorge. Bestimmt freut er sich darüber, er kann es nur nicht so zeigen… Du weißt schon. Er kann sowas einfach nicht.“
Damit gab Mr. Ping sich ausnahmsweise mal zufrieden und fing wieder an zu lächeln. „Na hoffentlich wollen sie dich nicht als Babysitter einstellen.“
„Als Babysitter?“ Po hob überrascht den Kopf. „Meinst du das ernst?“
„Na ja, Po, also ich könnte mich dich sehr gut als Babysitter vorstellen“, scherzte Mr. Ping und hantierte in ein paar Töpfen. „Immerhin kannst du sehr gut mit Kindern umgehen. Und wer weiß…“ Mit einem schelmischen Schmunzeln wandte sich der Gänserich wieder an die Küchentheke und schnibbelte das Gemüse weiter. „Und wer weiß… Vielleicht findest auch du mal jemanden, den du sehr gerne magst. Und dann wirst auch du mal Kinder haben, und dieser wird dann vielleicht eines Tages das Restaurant übernehmen.“
Po war da weniger begeistert. „Aber Dad. Könntest du dir das wirklich vorstellen? Eine Küche voller lauter hungriger kleiner Pandas?“
Mr. Ping erstarrte. „Äh, vielleicht sollten wir diese Pläne noch verschieben“, meinte er schließlich. „Kümmern wir uns erst mal um andere.“
„Also darf ich die Einladung als angenommen betrachten?“
Panda und Gänserich sahen verwundert zum Fenster, wo die Krähe Takeo stand.
Po räusperte sich. „Aber natürlich. Ich werde mich sofort auf den Weg machen.“
„Wieder mal ohne uns?“
„Oh, Leute.“ Zerknirscht versteckte Po den Brief hinter seinem Rücken, als ihn die vorwurfsvollen Blicke der Furiosen Fünf trafen, die jetzt ebenfalls in der Küche aufgetaucht waren. „Das… das dauert doch nicht lange. Ist doch vielleicht nur für ein paar Tage.“
„Ich denke, es gefällt ihnen nicht, dass du wieder ganz allein mit ihm bist“, meinte Shifu direkt, der neben den Fünf eintrat.
„Mit Lord Shen?“ Seufzend starrte der Panda auf den Brief. „Aber sie hat nur mich eingeladen. Und außerdem…“ Den restlichen Teil des Satzes sprach er ganz genuschelt und leise weiter. „… denke ich nicht, dass er gerne meine Freunde sehen möchte.“
Innerlich gab der Panda sich eine Ohrfeige. Er mochte es nicht so über seine besten Freunde zu reden. Aber Shen hatte die Fünf nicht gerade in bester Erinnerung.
„Tut mir echt leid, Leute“, entschuldigte sich Po schnell. „Ich wünsche, ich könnte euch mitnehmen.“
„Ist schon gut, Po“, meinte Monkey, obwohl man ihm anhörte, dass es ihm ebenfalls nicht so passte. „Da können wir halt nichts machen.“
„In dem Fall“, meldete sich Takeo zu Wort. „Werde ich die bevorstehende Ankunft des Drachenkriegers in Yin Yan kundgeben.“
Noch etwas von der Rolle sah Po ihn an. „Wie… oh… äh… ja.“
Die Krähe verneigte sich, dann flatterte sie davon.
Ein paar Sekunden danach blieb es erst einmal still, bis Mr. Pings Füße eilig die Küche verließen. „Ich pack dir was zu essen ein, Po!“

Kaum hatte man im Dorf mitbekommen, dass Po eine Reise antrat, hatten sich so viele Bewohner wie möglich versammelt, um ihm alles Gute zu wünschen. Von daher dauerte es fast eine Stunde bis Po endlich vom Letzten Abschied nehmen konnte und zum Schluss zum Meister und seinen Freunden gelangte.
Kaum stand er vor ihnen, suchte er nach Worten. „Also, tja, ich… ich geh dann mal… also, alles Gute…“
„PO!“ In diesem Moment kam Mr. Ping mit einem Rucksack auf ihn zu gerannt. „Ich hab dir alles Nötige eingepackt. Und sogar das hier.“
Verwundert betrachtete Po ein paar Panda-Spielfiguren in Mr. Pings Flügeln.
„Dann noch das hier.“ Als nächstes hielt der Gänserich eine ganze Schachtel Tee hoch. „Dann noch das hier, ein paar Früchte und ein paar Süßigkeiten…“
„Dad!“, unterbrach ihn Po. „Findest du nicht, dass das nicht etwas zu viel wird…“
„Na und? Zu so einem Anlass nimmt man immer Geschenke mit! Und vergiss nicht ihnen meine besten Glückwünsche zu übergeben…“
„Keine Sorge, das mache ich“, ging Po ihm dazwischen und nahm den vollbeladenen Rucksack an sich.
„Po.“ Überrascht drehte Po sich zu Tigress um, die ihn besorgt ansah. „Pass auf dich auf.“
Etwas unwohl schulterte sich der Panda den Rucksack über. „Hey, da ist doch nichts dabei. Nur ein kleiner Ausflug, nichts weiter.“
Er umarmte sie. Ebenso die anderen.
Vor Shifu allerdings beließ er es bei einer Verneigung. „Verzeiht mir, Meister, dass ich euch jetzt verlassen muss…“
„Po, das geht schon in Ordnung“, beruhigte ihn der Meister.
Po nickte dankbar. „Danke, Meister. Also dann, alles Gute. Wir sehen uns.“
Damit war Po zur Abreise bereit. Er hatte gerade mal ein paar Meter hinter sich, als ihn Mr. Ping noch was nachrief. „Ach, Po! Po! PO!“
Verwundert drehte sich der Panda um. „Ja, Dad?“
„Das hab ich bei der ganzen Aufregung vergessen zu fragen. Wie viele Eier sind es denn?“
„Vier.“
Dann folgten heftiges Gewinke und Verabschiedungsrufe. Nur Shifu wirkte ziemlich in sich gekehrt. Zögernd traten die Furiosen Fünf näher zu ihm heran.
„Meister?“, begann Tigress. „Denkt Ihr, es könnte das sein, was Ihr uns heute Morgen gesagt…“
Meister Shifu hob die Hand. „Ich sagte nur, dass ich etwas Böses erahne. Aber vielleicht hat es auch nichts damit zu tun.“
„Bis bald!“, hörten sie Po von weitem rufen.
Nachdenklich sah Shifu ihn an. Er konnte sich nur nicht erklären, weshalb er das Gefühl hatte, dass Po sogar sehr bald wieder zurückkommen würde.

6. Schweigsam und angespannt


Der Schnee war an vielen Stellen bereits geschmolzen. Insgesamt war es ganz anders als Po seine erste Reise nach Yin Yan angetreten hatte. Da war es extrem schwierig gewesen die Berge zu durchqueren vor lauter Schnee. Zudem war er damals mit Xia zusammen unterwegs gewesen, sodass es wenigstens nicht so langweilig gewesen war. Glücklicherweise ging es diesmal ganz schnell. Und kaum war er im Mianyang Gebirge angekommen, sprang er schon beinahe übermütig auf dem Pfad durch die Berge. Er konnte es kaum abwarten am Ziel zu sein. Vor allem weil ihm so viele Fragen durch den Kopf rasten. Wie würden die Kinder aussehen? Ob sie genauso werden wie ihr Vater, oder ihre Mutter? Würde es dort was Tolles zu essen geben? Was speiste man wohl im Palast?
Pos Träumereien wurden jäh unterbrochen, als er an zwei bekannten Gestalten ankam.
„Heyho, wie geht’s denn so?“, grüßte er die beiden Böcke, die vor dem Hügel den Weg zur Stadt bewachten. Diese begegneten ihm nur mit geringschätzigen Blicken.
„War ja klar“, meinte einer von ihnen.
Po kicherte. „Oh, ich sehe, wir kennen uns noch. Tja dann… Keine Sorge, ich finde den Weg schon alleine, Kumpel.“
Damit lief er trällernd an den Wachen vorbei. Niemand hinderte ihn daran, was Po etwas wunderte. Aber offensichtlich schien jeder von seinem Kommen zu wissen.
Als er endlich den letzten Hügel erklommen hatte, erhielt er von dort einen herrlichen Blick auf Yin Yan. Die ganzen Baustellen waren verschwunden und es erstrecket sich eine schöne Stadt. Frisch gebaut, als wäre sie wie aus dem Boden gestampft aus dem Untergrund emporgekommen.
Als er sich endlich von diesem Anblick gelöst hatte, erinnerte er sich wieder an den Grund seiner Anreise. Schnell lief er den Hügel runter bis er zu dem Tor ankam, das diesmal offenstand. Alles sah noch wie damals aus, bis auf das geschäftige Treiben im Stadtinneren. Den kaum war die Stadt fertig, kehrte damit auch ein Stadt-Alltag ein. Dichte Straßen, Rikschas, Händler, Geschäfte und besonders überall Leute. Die meisten davon waren Schafe, Widder oder Böcke. Alles drängte sich so dicht, dass Po regelrechte Schwierigkeiten hatte durchzukommen.
„Hey, dürfte ich mal…“ Mühsam zwängte sich Po zwischen zwei Widdern durch, die allerdings selber kaum vorwärtskamen. Hilflos wedelte der Panda mit einer Tatze nach oben, als würde er im Wasser stecken.
Plötzlich flatterte etwas über den Panda und ließ sich auf einer Stange am Haus nieder.
„Sieh an, sieh an“, krächzte eine Stimme über ihn. „Ich hab doch gewusst, dass ich was gesehen habe.“
Überrascht sah Po zu Takeo hoch. „Hey, schön dich zu sehen! Könntest du mir sagen, wo es nochmal genau zum Palast geht? Man sieht ja die Stadt vor lauter Stadt nicht mehr.“
Die Krähe nickte. „Ich bring dich dort hin. Folge mir einfach nach.“
Damit flatterte er davon in eine kleine Gasse. Mühsam wuselte sich der Panda aus der Menge und folgte ihm. Es ging durch schmale Straßen und Seitenwege, sodass sie die vollen Straßen umgehen konnten, bis sie an der Palastmauer ankamen, die im Innenteil der Stadtfläche den Palast umgab. Die Stadt war, wie er es von damals kannte, streng bewacht. Widder und dergleichen patrouillierten auf den Mauern, schenkten dem Panda aber wenig Beachtung. Es kam Po wie eine Ewigkeit vor den großen Paradeplatz zu überqueren, bis er endlich die bekannten Treppenstufen erreicht hatte. Takeo hatte sich auf einer Fahnenstange niedergelassen und beobachtete mit Kopfschütteln wie der Panda keuchend die Stufen hochstieg.
„Gleich geschafft“, schnaufte der Panda. „Gleich geschafft.“
Endlich war er oben angekommen und ließ sich auf die Seite fallen. „Yeah! Oben!“
Doch er verschnaufte nur einen kurzen Moment. Dann stand er auf und lief zur Tür. Er klopfte solange bis sich endlich ein kleines Mini-Fenster öffnete. Der Türsteher fiel fast nach hinten, als der Panda durchs Fenster rief.
„HALLO! Ich bin…“ Sofort rief Po sich seine Beherrschung zurück und stellte sich höflich auf. „Der Drachenkrieger bittet um Einlass. Ist es erlaubt einzutreten?“
Das Schaf, das sich wieder von dem Begrüßungswirbel des Pandas erholt hatte, sah ihn nur gelangweilt an.
Po versuchte ihm auf die Sprünge zu helfen. „Drachen-krieger. Verstanden?“
„Haben Sie eine Einladung?“, erkundigte sich das Schaf.
Po dachte kurz nach. Dann fiel ihm der Brief wieder ein. „Äh, ja. Hier ist er… Äh, Moment kurz.“
Damit schulterte Po seinen Rucksack ab und wühlte darin herum. „Uno momento… der war doch hier irgendwo… bestimmt wieder ganz unten. Extrem weit unten… Aha! Das ist er ja!“
Fröhlich wedelte der Panda mit dem Brief vor der Nase des Türstehers. Dieser warf nur flüchtig einen Blick drauf, dann schob er dem Panda einen ganzen Stapel Papiere zu.
„Füllen Sie diese Formulare aus“, kommentierte das Schaf trocken. „Name, Alter, Herkunft, Familienstand, Familienstammbaum, Lebenslauf, Geburtsdatum, Geburtsort, Beruf…“
„Ey, geht das nicht etwas schneller?“, fragte Po etwas erbost. „Bis ich diesen Kram fertig habe, ist der kommende Geburtstag ja schon vorbei…“
„Po?“
Im nächsten Moment schob jemand den Türsteher am kleinem Tür-Fenster weg und eine Pfauenhenne tauchte auf.
„Xia?“, fragte Po überrascht. „Bist du das?“
Doch statt einer Antwort öffnete jemand die große Tür und die junge Pfauenhenne rannte ihm entgegen.
„Xia!“
„Po!“
Beide fielen sich um den Hals, bis Po sie sachte von sich schob, um sie genauer zu betrachten. „Hey, bist du gewachsen?“
Xia lachte kurz auf und stieß den Panda von der Seite an.
Die Begrüßung endete kurzfristig, als Po jemand anderen noch in der Tür stehen sah.
„Oh, hi!“
Sheng verneigte sich. „Willkommen, Drachenkrieger.“
Po winkte ab. „Ach, wieso denn so formell? Gib mir Fünf!“
Für einen Moment sah sich der gescheckte weiß-grün-blaue Pfau unsicher um. Doch dann schwang er sich hoch und beide gaben sich einen Handschlag.
Der Panda nickte ihm anerkennend zu. „Ich sehe, du hast geübt, oder?“
„Na ja.“ Sofort nahm Sheng wieder eine würdevolle Haltung ein. „Zumindest solange keiner hinsieht.“
Erwartungsvoll blickte Po sich um. „Wo ist eure Mutter?“
„Sie ist bei den Eiern“, antwortete Xia.
„Oh, ja, klar. Und…“ Erwartungsvoll sah Po sich um. „Und er?“
„Er?“ Allmählich dämmerte Xia, wen der Panda meinte. „Er hatte keine Zeit dich zu empfangen. Aber wir treffen ihn bestimmt drinnen. Komm mit.“
Gemeinsam traten sie ein, unter den mürrischen Blicken des Türstehers.
„Du musst entschuldigen“, begann Xia. „Er hat erst gestern bei uns angefangen mit der Arbeit.“
Po lächelte. „Ach, das ist schon okay. Was ist denn in letzter Zeit alles passiert?“
Xia zuckte die Achseln. „Och, nicht fiel. Aber du hast doch bestimmt viel mehr zu erzählen.“
Po kicherte. „Hättest du Interesse über eine Geschichte mit einem Helm?“
Während Po mit Xia und Sheng durch die Gänge des Palastes spazierten, bemerkte keiner den Schatten, der ihnen unbemerkt folgte und sie ganz genau beobachtete.

Die beiden Geschwister führten den Panda durch die schönen dekorierten Säle. Kam es Po nur so vor, oder war es diesmal ausgeschmückter als bei seinem letzten Besuch? Vielleicht weil jetzt mehr Frauen im Palast anwesend waren.
„Okay, da wären wir“, verkündete Sheng und hielten vor einer Zimmertür an.
Für Po war diese Ankündigung eine schiere Erleichterung. „Gut, meine Füße sind nämlich schon ganz heiß gelaufen.“
Sachte schob Xia die Türen auf. Im Raum stand ein großes Bett. Und im Bett saß Yin-Yu. Die Pfauenhenne lag oder saß mehr auf vielen Decken. Als sie den Panda sah, erhob sie sich etwas. „Oh, willkommen.“
Überschwänglich hob der Panda die Tatze. „Hi! Oh Mann, ich war ja so überrascht… also von der Einladung natürlich! Dass sowas kommen würde, davon war ich ja nicht überrascht. Ich meine, nicht dass es unvorhergesehen wäre.“
Die Pfauenhenne lächelte. „Ich freue mich dich hier zu sehen.“
„Oh.“ Po verneigte sich respektvoll. „Tausend Dank.“
Dennoch wunderte ihn immer noch etwas. „Äh, darf ich etwas fragen?“
Yin-Yu nickte. „Frag ruhig.“
„Wo ist denn… der Vater?“
„Hier.“
Po erschrak so extrem, dass er aufschrie, als er die bekannte Stimme so dicht hinter sich gehört hatte. Mit klopfendem Herzen hielt sich der Panda an die Brust. „Meine Güte! Dich so dicht anzuschleichen. Ich hätte einen Herzinfarkt kriegen können.“
Shen verengte gefährlich mit Argwohn die Augen.
„Hattest du einen Grund beunruhigt zu sein?“, fragte er misstrauisch, dass man meinen könnte es stünde ein entflohener Häftling vor ihm.
„Wieso?“ Po wusste nicht was er von diesem eisigen Willkommen halten sollte, weshalb Yin-Yu versuchte die Lage zu entspannen.
„Was er damit sagen möchte, ist, dass er sich schon gefragt hat, ob du überhaupt kommen würdest.“
Der Panda lächelte verschmitzt. „Aber weshalb denn? Zu so einem Anlass würde ich sogar sämtliche Kriege ausfallen lassen. Sowas erlebt man doch nur einmal im Leben.“
Er kicherte heiser und wich ein kleinwenig vom weißen Lord weg, der ihm immer noch kalt beobachtete. Schließlich legte Po die Handflächen aneinander und blickte Yin-Yu erwartungsvoll an.
„Tja, also… der Grund weshalb wir hier sind… oder ich hier bin… also… darf ich mal schauen?“
„Oh, natürlich.“ Sie stand auf und schob ein paar Decken beiseite.
Ehrfürchtig beschaute sich der Panda die vier Eier in den nestförmigen Decken. „Wow, also, das ist echt… Sie sind wunderschön. Hört man denn schon was da drinnen?“
Die Pfauenhenne lächelte „Ab und zu treten sie.“
„Oh, kann man da überhaupt dann noch schlafen?“ Er kicherte heiter, verstummte aber sofort wieder, als Shen erneut keine Miene verzog. Dann beugte er sich etwas nach vorne, um vielleicht doch etwas aus den Eiern zu hören, merkte aber auch wie Shen gleichzeitig näher an ihn heranrückte.
„Äh… haaallloooooo?“, raunte der Panda zaghaft. Doch dann fiel ihm was anderes auf, als er eine schwarze chinesische Markierung auf einem der Eier bemerkte.
„Was ist das denn hier?“
„Die Eier wurden durchnummeriert“, klärte Xia ihm auf. „Mum wollte unbedingt festhalten, wer zuerst wann auf die Welt gekommen ist.“
„Obwohl es doch eher darauf ankommt, wer zuerst schlüpft“, fügte Sheng hinzu.
Stichelnd schielte Xia zu ihm rüber. „Das musst ausgerechnet du sagen. Du bist nur eine Minute vor mir geboren.“
„Ach so, da wäre noch was“, ging Po schnell dazwischen und öffnete geschwind seinen Rucksack. „Ich hab euch noch was mitgebracht…“
Der Panda erstarrte sofort, als ein Federmesser vor sein Gesicht gehalten wurde, was der weiße Pfau in einer Blitzgeschwindigkeit aus dem Flügel gezogen hatte. Alle starrten Shen erschrocken an. Der Pfau entspannte sich erst wieder, als Po langsam eine Tee-Schachtel aus dem Rucksack hervorholte.
„Nur ein paar Geschenke“, murmelte Po kleinlaut. „Von meinem Dad.“
Der weiße Lord verengte nur noch einmal ganz kurz die Pupillen, dann steckte er das Messer wieder ein.
„Ich denke, wir sollten jetzt essen gehen“, schlug Yin-Yu hastig vor.
„Oh ja, ich hab einen Bärenhunger“, stimmte Po begeistert mit ein. „Einen richtigen Panda-Hunger. Nein, einen großen Kung-Fu-Hunger.“
„Fein, dann gehen wir“, meinte Xia und schob den Panda zur Tür.
Auch Yin-Yu verließ ihren Liegeplatz und schob ein paar Decken über das Gelege.
„Darfst du sie denn alleine lassen?“, fragte Po, als sie durch die Tür waren.
„Ab und zu kann ich schon aufstehen“, meinte die werdende Mutter. „Immer im Bett essen ist auch nicht immer ein Vergnügen.“
„Oh, ja, verständlich.“
Gemeinsam verließen sie das Zimmer. Shen folgte ihnen als Letzter.

Im Schlafzimmer wurde es still, bis auf eine Bewegung in einer verborgenen Ecke. Eine kleine, dunkle Gestalt schob etwas die Vorhänge beiseite. Ihr Blick war auf das Gelege im Bett fixiert, wagte aber nicht ihr Versteck zu verlassen.
Noch ist es nicht soweit. Die Wachen sind noch zu aufmerksam. Aber heute Nacht soll es passieren.

„Na dann wird sich ja hier so einiges ändern, oder?“ Der Panda drehte sich lächelnd zu Shen um, doch dieser hob nur den Schnabel hoch und schritt an ihm vorbei. Verwundert sah Po ihm nach. „Ein wenig… steif heute, oder?“
„Er ist nur etwas angespannt“, beruhigte ihn Yin-Yu.
„Oh ja, sind ja schließlich seine ersten Kinder… also… Geburt meine ich.“
Die Pfauenhenne seufzte etwas wehmütig. „Ja, allerdings.“
Po bemerkte einen leichten traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht und versuchte etwas anderes zu fragen. „Und? Wie hat er reagiert?“
Po bemerkte nicht, wie er aufgeregt die Handflächen aneinanderrieb.
Yin-Yu hielt an, legte die Flügel zusammen und wich seinem Blick aus. „Nun… es war… er war…“

Ein paar Wochen vorher…

Mit einem nervösen Lächeln unterbrach sie das Streicheln auf seinen Flügeln. „Ich… ich bin schwanger.“
Ihr Griff um seine Flügel wurde fester. Doch dann erschrak sie, als Shen sich von ihr zurückzog, nahm aber sofort wieder ihre Flügel in seine.
Unsicher sah die Pfauenhenne ihn an. „Freust du dich nicht?“
Also ob der Pfau gerade aus einem Black-Out erwacht wäre, so klang auch jetzt seine Stimme ziemlich orientierungslos. „Doch, doch… es ist nur…“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Ich freu mich! Ich freu mich wirklich!“
Er lächelte, doch seine Augen konnten nicht lügen. Yin-Yu schien das genau zu erkennen. Doch noch bevor sie ihn darauf ansprechen konnte, sprang Shen plötzlich vom Bett. Anschließend zog er sie ebenfalls von dort runter und hob sie hoch.
„Oh, halt, halt!“, rief sie. „Wir müssen jetzt ganz vorsichtig sein.“
„Vorsichtig?“ Er ließ sie wieder runter. „Oh ja. Natürlich.“
Kaum hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen, sahen sie sich kurz schweigend an. Es fiel ihr schwer seinen Blick zu definieren. Es war eine Mischung aus Ernst, leichter Freude, aber auch Verunsicherung und… Sie konnte es nicht genau beschreiben. Angst? Dabei konnte sie sich nicht darüber beklagen. Als sie Xiang das erste Mal davon berichtet hatte, dass sie schwanger war, hatte dieser es nur mit einem schlichten, neutralen „Gut“ abgetan. Von Emotionen und dergleichen war da keine Spur gewesen. Er war kalt wie ein Eisblock geblieben. Auch nach der Eiablage.
„Schatz?“ Shens Stimme holte sie wieder aus ihren düsteren Gedanken zurück. „Ist alles in Ordnung?“
Behutsam strich der weiße Lord ihr übers Gesicht. Hastig umfasste sie seinen streichenden Flügel.
„Doch, es ist alles in Ordnung. Und du bist nicht enttäuscht?“
„Weshalb sollte ich?“
„Na ja, du hast dir so viel Mühe gegeben, den Garten zu gestalten und zu bauen. Während ich nicht viel…“
Er unterbrach sie, indem er seine Fingerfedern auf ihren Schnabel legte.
„Es ist viel mehr als das, was ich erhofft hatte.“
Offensichtlich wollte er nicht mehr weiter darüber drumherum reden und schloss sie in seine Schwingen.
„Nein“, fuhr er sanft fort. „Ich werde dich und deine Kinder immer beschützen.“
Yin-Yu wusste nicht, ob sie darauf etwas erwidern sollte. Doch Shen ließ ihr keine Gelegenheit darüber nachzudenken, sondern begann sie sanft am Rücken, dann über den Bauch zu streicheln.


„Äh, alles in Ordnung?“
Yin-Yu blinzelte irritiert. „Was? Oh. Oh ja. Er hat es gut aufgenommen. Er freut sich.“
Po sah sie noch einen kurzen Moment unsicher an. Doch dann lächelte er. „Dann ist es ja gut.“

Inzwischen hatte sich die Sonne gesenkt. Bald würde sie unter gehen. Die Wahrsagerin hatte sich auf der Terrasse des Palastes zurückgezogen und beobachtete schweigend den Sonnenuntergang.
„Großtante?“, rief ihr Großneffe Ling ihr zu, der gerade zu ihr rausgerannt kam. „Die anderen wollen zu Abendessen. Möchtest du nicht mit uns essen?“
Doch die Ziege wandte den Blick nicht von der sterbenden Sonne ab. „Ling. Ich fühle Schmerzen.“
Ihr Großneffe sah sie geschockt an. „Fühlst du dich nicht wohl? Möchtest du dich hinlegen?“
In diesem Moment senkte die Ältere den Blick und auch ihr Körper sank ein wenig zusammen. „Ich fühle Schmerzen in diesem Haus.“
Unsicher sah das kleine Schaf auf den Palast, konnte sich aber nicht erklären, weshalb sich seine Großtante so aufregte. Alles sah so aus wie immer.

7. Kalt-warmes Abendessen


„Ich hatte echt nicht bemerkt wie er im Helm gesteckt hatte.“ Po musste bei diesem Satz lachen.
Sie saßen alle an einem großen Tisch im Speisesaal. Der Panda kam nicht umhin um ein paar von seinen Abenteuern zu erzählen und vollführte die Geschichte vom gestohlenen Helm noch einmal. „Und dann hab ich ihn weggekickt. Oh. Ich hoffe, er nimmt es mir nicht übel. Übrigens, netter Vogel.“ Damit nahm er eine Schüssel voll Suppe und trank sie aus.
Yin-Yu lächelte. Sie teilte mit ihrem Mann Shen die eine Seite des Tisches, während Xia und Sheng ums Ecken neben ihr saßen. Po saß ihnen gegenüber. Sehr zum Ärger von Shen, dem die Gegenwart des Pandas überhaupt nicht zu gefallen schien. Die ganze Zeit, seit sie das Abendessen begonnen hatten, hatte er kein Wort gesprochen. Obwohl Po ihm immer wieder ein Lächeln zuwarf, erwiderte der weiße Lord es kein bisschen. Yin-Yu bemühte sich so gut wie möglich die Gespräche am Tisch abzufangen.
„Oh ja“, begann sie, als Po so heiter über Takeos Missgeschick berichtete. „Er hatte schon viele Jahre in der Stadt von Xiang als Bote gedient.“
Po ließ die Schüssel sinken. „In der Stadt von Xiang?“
Die Pfauenhenne nickte. „Ja, nachdem niemand von meiner oder seiner Familie die Stadtverwaltung übernahm, hatte Takeo sich eines Tages hier nach Arbeit erkundigt. Da er ein zuverlässiger Bote ist, haben wir ihn schließlich eingestellt. Seine Familie hatte es nicht leicht gehabt Fuß in China zu fassen.“
„Kann ich gut verstehen“, meinte Po und griff zu einer Schüssel Reis.
Shen kniff die Augen zusammen. Wieso hatte er sich nur dazu überreden lassen, diesen Panda einzuladen? Immer wenn er ihn sah, überkam ihm ein dunkler Schatten. Oder war das alles nur ein böser Traum gewesen?

Ein paar Wochen zuvor…

Es ging dem weißen Pfau einfach nicht aus dem Kopf, weshalb die Wahrsagerin ihm so feste die Flügel gedrückt hatte, als sie ihnen für ihre Zukunft viel Glück gewünscht hatte. Dafür kannte er sie zu gut. Es war einfach nicht ihre Art etwas ohne Grund zu sagen und anzudeuten. Das wurde ihm besonders dann klar, als Yin-Yu ihre Schwangerschaft bekanntgegeben hatte. Sollte das das Glück für die Zukunft sein? Ein paar Tage waren seitdem schon vergangen und Shen ließ der Gedanke einfach nicht los. Er musste mit der Wahrsagerin darüber reden. Und wenn er es aus ihr herauszwingen musste.
Der Lord kam gerade an ihrem Zimmer an, als er hörte, wie sie sich mit ihrem Großneffen unterhielt. Shen wollte eigentlich nicht lauschen, doch als er das Wort „Zukunft“ vernahm, spitzte er dann doch die Ohren und blieb vor der geschlossenen Tür stehen.
„Wenn du dir so sicher bist, dass es kein Blick in die Zukunft gewesen war“, hörte er Ling sagen. „Weshalb machst du dir dann solche Sorgen? Ich hab auch nicht immer gute Träume.“
Die Wahrsagerin seufzte. „Ich weiß es auch nicht, Ling. Irgendetwas störte mich. Dieses angesenkte Federkleid. Und seitdem hab ich so ein schreckliches Gefühl. So als ob irgendetwas Furchtbares auf uns zukommen würde.“
Ihr Großneffe stieß laut die Luft aus. „Ach Tante, was soll denn schon passieren? Wenn du dir so unsicher bist, wieso wirfst du dann nicht einfach einen Blick in die Zukunft?“
„Nein, das kann ich nicht!“, wehrte sie ab. „Ich habe mir geschworen, nie wieder in die Zukunft zu blicken. Ich will nicht wieder dafür verantwortlich sein, ein Unglück heraufzubeschwören. Ich fühl mich immer noch mitschuldig, dass dafür ein ganzes Panda-Dorf daran glauben musste. Wenn nur nicht dieses unheilvolle Gefühl wäre. Irgendetwas Schlimmes liegt in der Luft.“
Der Pfau konnte ihren Gehstock auf dem Boden klappern hören. Ihre Schritte waren äußerst schwerfällig.
„Nein“, murmelte die Wahrsagerin wehmütig. „Ich kann einfach nicht. Ich kann es nicht noch einmal erleben. Ich kann es nicht.“


Shen blinzelte. Am Tisch waren Xia und Sheng gerade zu der Diskussion übergegangen, ob es Jungen oder Mädchen werden würden.
„Also eine Schwester wird doch auf jeden Fall dabei sein“, meinte Xia bissig und verschränkte die Flügel.
„Ich darf doch wohl auch um einen Bruder bitten, oder?“, meinte Sheng gekränkt.
Po nahm ein Stäbchen zur Hand und tippte damit gegen eine Schüssel. „Hey, Leute.“
Die Blicke der beiden Geschwister wanderten zu ihm rüber.
„Ist einem von euch überhaupt schon mal der Gedanke gekommen, dass es vielleicht vier Mädchen oder vier Jungen werden könnten?“
Zuerst herrschte Stille. Dann schlug Xia auf den Tisch. „Mum! Ich will eine Schwester!“
„Ich will einen Bruder!“, fiel Sheng ihr ins Wort.
Ihre Mutter lächelte. „Tut mir leid, aber das hab ich nicht zu entscheiden. Auch nicht euer Vater.“
Alle Blicken wanderten zu Shen. Jeder erschrak förmlich, als sie seinen eiskalten Blick bemerkten. Po ran irgendwie ein kalter Schauer über den Rücken und versuchte es mit einem netten Kommentar. „Habt ihr euch eigentlich schon Namen überlegt?“
Shens Augen verengten sich. „Ist das alles was dir dazu einfällt?!“
Es wurde still am Tisch. Shen wurden die Blicke aller Umsitzenden lästig. Er erhob sich und verließ den Raum.
„Ähm, vielleicht sollten wir jetzt zu Bett gehen“, schlug Yin-Yu vor.
„Das ist eine sehr gute Idee“, stimmte Po ihr zu und stand auf.
„Xia, könntest du ihm sein Zimmer zeigen?“, fragte die Lady.
Ihre Tochter nickte. „Okay.“
Dann verließ auch ihre Mutter eilig den Speisesaal.

Mit heftigem Schwung stieß Shen die Türen zum Schlafraum auf. Zu seiner inneren Erleichterung lag das Gelege unverändert in den Decken. Schweigend blieb er im Raum stehen und merkte erst wieder auf, als er Schritte hinter sich vernahm. Er hörte sie näherkommen. Dann blieb sie stehen.
Nach ungefähr einer halben Minute begann sie zu reden. „Warum, Shen?“
Der weiße Pfau drehte sich noch nicht zu ihr um. „Du weißt, es gefällt mir nicht, dass du ihn zu uns eingeladen hast.“
Die Pfauenhenne seufzte tief. Shen sog die Luft ein, als sie ihre Flügel auf seine Schultern niederließ. „Ich bin mir sicher, dass er ihnen nichts tun wird.“
Er stieß sie von sich. „Du kennst ihn nicht so gut wie ich!“, schmetterte er ihre Worte ab und ging erst in einem Kreis, bevor er sich zu ihr umwandte.
Behutsam hob sie ihre Flügel. „Ich weiß ja, was du von ihr gehört hast“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort, als ihr wieder einfiel wie Shen ihr von den Worten der Wahrsagerin berichtet hatte. Beide hatten sich geschworen nichts voreinander zu verheimlichen. Und irgendwie bereute Shen jetzt diesen Eid. „Aber sie hatte den Panda mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht hat es ja alles nichts zu bedeuten.“
Doch Shen war da nicht so überzeugt und blickte verunsichert auf die Eier.
Schon fast flehend kam sie auf ihn zu und umfasste sein Gesicht.
„Bitte beruhige dich“, bat sie ihn. „Versuche wenigstens ruhig zu bleiben.“
Sie streichelte seine Wangen. Schließlich nahm der Pfau einen tiefen Atemzug. „Na schön.“
Etwas erleichtert gab sie ihm einen Kuss. Anschließend ließ sie sich auf den Decken nieder.
„Möchtest du dich nicht auch ins Bett legen?“
Doch Shen schüttelte den Kopf. „Ich werde heute Abend Wache halten.“
Yin-Yu wollte etwas erwidern, doch sie kannte ihn gut genug, dass er sich durch nichts davon abhalten lassen wollte. Also ließ sie ihn.
Niemand bemerkte den dunklen Schatten, der sich in einer dunklen Ecke des Zimmers aufhielt und das Ehepaar beobachtete.

„Also, das ist dein Zimmer“, verkündete Xia.
Aufgeregt sah Po sich um. Das Zimmer war zwar nicht sonderlich groß, aber auch hier waren die Möbel schön geschnitzt und dekoriert. An der Seite prangerte ein schönes gemütliches großes Bett und ein paar Tische und Vasen. Einige hatten sogar Kirschblüten als Inhalt. Und auch das Fenster bot einen schönen Ausblick.
„Wow, da traut man sich ja nichts anzufassen“, scherzte Po und strich über einen vergoldeten Tischrahmen.
Xia nickte. „Ja, selbst im Gästezimmer haben wir nicht gespart.“ Doch dann musste sie laut gähnen. „Ich glaube, ich gehe jetzt auch ins Bett.“
„Oh ja, klar“, meinte Po verständnisvoll. „War ja auch ein langer Tag gewesen.“
Das Mädchen nickte. „Ja, dabei bin ich normalerweise nie so schnell müde.“
Po kicherte. „Wir werden alle nicht jünger.“
Xia grinste bissig und versetzte ihm einen Seitenkick. „Also dann, gute Nacht.“
„Gute Nacht, Xia.“ Po winkte ihr zu, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann streckte sich der Panda auf dem Bett aus und starrte an die Decke.
„Mm, eigentlich bin ich nicht so richtig müde…“
Im nächsten Augenblick begann er zu schnarchen.

8. Extrem schwerer Diebstahl


Allmählich kehrte Ruhe im Palast ein. Po schlief tief und fest in seinem Zimmer. Auch alle anderen lagen in ihren Betten. Sogar die Wahrsagerin, obwohl sie wie so oft einen unruhigen Schlaf hatte, sehr zum Leidwesen ihres Großneffen.
Insgesamt hatten alle einen schnellen Schlaf. Auch Yin-Yu war in nur wenigen Minuten weggeknickt. Und sogar Shen, der direkt neben ihr stand, musste schon mehrere Male gähnen. Wehleidig schüttelte er den Kopf. So müde war er eigentlich selten. Es fiel ihm schwer die Augen offen zu halten. Das war nicht normal.
Er versuchte sich abzulenken. Doch egal was er tat, er nickte immer wieder etwas ein. Schließlich gewann die ungewöhnliche Müdigkeit über seinen Geist die Oberhand und er sank neben dem Bett auf den Boden.

Po schlief so tief und fest, dass er die quietschende Tür gar nicht mal bemerkte, die sich langsam auftat. Eine kleine, dunkle Gestalt huschte hinein, doch der Panda merkte nicht mal annährend auf. Wie ein Schatten duckte sich die kleine Gestalt neben das Bett und wedelte mit etwas über der Nase des Pandas. Po musste kräftig niesen und war sofort, wenn auch noch schlaftrunken, wach.
„W-was… hatschi!“ Hastig wischte er sich über die Nase. „Muss der Staub hier drinnen sein… oder die Blüten.“
Er hielt inne, als er meinte etwas durch die Tür flitzen gesehen zu haben.
„Hallo?“ Zögernd verließ der Panda das Bett. „Ist da jemand?“
Er rubbelte sich übers Gesicht. Doch die leisen Schritte im Gang vor der Tür waren keine Einbildung.
„Ist da jemand?“
Po fand es äußerst merkwürdig, dass ihm keiner antwortete.
War es vielleicht ein Geist?
Schnell sprang der Panda aus dem Bett und rannte zur Tür. Der Gang war leer. Doch dann sah er noch um die Ecke etwas verschwinden.
„Hey! Wird das hier ein Mitternachts-Versteck-Spiel, oder was?“
Po war zwar müde, doch dieses seltsame Verhalten hatte ihn neugierig gemacht. Vielleicht war es ja ein Schlafwandler, der wieder zurück ins Bett geführt werden musste. Auf Zehenspitzen schlich der Panda den Korridor runter.

Sachte schlich die kleine, schwarze Gestalt an dem weißen Herrscher vorbei, der tief und fest auf dem Boden schlief.
Das Schlafmittel hat seine Wirkung nicht verfehlt, dachte er.
Er konnte jetzt ohne Probleme seine Arbeit vollziehen. Vorsichtig schob er die Pfauenhenne etwas beiseite und nahm ein Ei nach dem anderen heraus, die er anschließend in einen Korb legte.

Po kam es irgendwie merkwürdig vor. Es war extrem ruhig im Palast. Vielleicht sogar zu ruhig. Und als er an zwei Wachposten vorbeikam, die im Flur Wache schoben, wusste er auch weshalb. Die zwei Widder schliefen, was Po extrem verwunderte.
„Hey! Seit wann schläft man den auf dem Wachposten?“
Doch keiner der Wachen wachte auf. Selbst als Po ihnen vors Gesicht wedelte.
„Halloo?“ Als auch das nichts brachte, zuckte der Panda die Achseln. „Muss ja ein sehr harter Tag gewesen sein.“
Er hielt inne. Er stand jetzt nicht mehr weit von Shens und Yin-Yus Zimmer. Aber die Tür stand offen.
Weshalb ließ jemand die Tür um diese Zeit offen? Für Frischluft war das etwas zu zugig.
„Die Ärmste. Die erkältet sich ja noch“, dachte Po und ging schnell zur offenen Tür, um sie zuzumachen. Doch kaum stand er im Türrahmen, blieb er wie angewurzelt stehen.

Nachdem er das letzte Ei im Korb verpackt hatte, rückte er seinen dunklen Umhang enger über sich, der nicht nur seinen Körper, sondern auch fast seinen ganzen Kopf bedeckte. Niemand durfte ihn erkennen.
„Hey, was machen Sie da?“
Die vermummte Gestalt drehte sich um. Doch kaum hatte sie den Panda erblickt, flatterte sie auf, schnappte sich den Korb und flog mit ihm in den Krallen nach draußen durchs Fenster.
„HEY, Moment!“ Po stürmte nach vorne, doch die kleine Vogelgestalt hatte schon abgehoben und segelte nach draußen. Völlig aufgeregt sah der Panda sich im Zimmer um. Das Erste was ihm klar wurde war, dass die Eier nicht mehr da waren. Doch noch seltsamer war, dass keiner der Eltern aufgewacht war.
Hastig beugte er sich zu dem weißen Lord runter, der immer noch auf dem Boden lag. „Shen?! Shen! SHEN!“
Doch so sehr er den Pfau auch schüttelte, er wachte einfach nicht auf.
„Okay, okay“, sagte der Panda zu sich selbst. „Ganz ruhig bleiben. Oder doch nicht ruhig bleiben?“
Für den Panda stand sofort fest, dass das hier eine Entführung war. Sofort rannte er wieder zum Fenster. Der Vogel war schon ein kleines Stück über der Stadt, schien aber etwas Schwierigkeiten zu haben, weil er nicht nur einen Umhang, sondern auch noch den Korb schleppen musste.
Po zog die Augenbrauen zusammen. Dann sprang er auf das Fenstersims und sah sich nach dem nächstbesten Ort zum Springen um. Nicht weit von ihm entfernt hing eine Fahne. Ohne weiter zu Zögern sprang er raus und schwang sich an der Fahne in einem gewaltigen Sprung zur Mauer rüber. Dort kam er mit einer harten Landung auf. Doch in Erwartung von Wachen aufgehalten zu werden, blieb weiterhin alles ruhig. Po schenkte dieser ungewöhnlichen Situation keine Beachtung und schaute über die Mauer auf die Stadt. Der Vogel mit dem Korb war noch in Sichtweite. Mit dem nächsten Sprung schwang sich der Panda aufs nächste Hausdach und von dort rannte er weiter von Dach zu Dach, immer dem Vogel hinterher und holte ihn mehr und mehr ein.
Als er meinte ihn fast erreicht zu haben, schwang er sich auf einen Holzmast, spannte ihn, dann ließ er los. Die Wucht schleuderte den Panda wie eine Rakete durch die Luft. Der Vogel mit dem Korb hatte schon die Außenmauer der Stadt erreicht. Po streckte seine Arme aus. Seine Fingerspitzen berührten fast den Korb, doch es reichte nicht aus. Die Schwerkraft zog ihn wieder nach unten. Mit lautem Schrei segelte der Panda zu Boden, schaffte es aber gerade noch den Aufprall mit einer grandiosen Haltung abzudämpfen.
Hastig sah er sich um. Er befand sich jetzt vor dem Stadttor. Doch auch hier waren die Wachen tief und fest am Schlafen.
Ungläubig schüttelte der Panda den Kopf. Doch für eine genauere Untersuchung blieb keine Zeit. Panisch suchte er den Himmel ab. Er hatte ihn aus den Augen verloren. Wo war der Dieb? Oder genauer gesagt, der Entführer.
So schnell er konnte raste er den Hügel hoch. Als er endlich dort oben angekommen war, blieb er wie angewurzelt stehen.
An der Stelle, wo normalerweise die zwei Wachen standen, lagen nur zwei Schatten. Und auch die schliefen tief und fest.
So langsam bekam Po es richtig mit der Angst zu tun. Der Schock breitete sich in ihm noch weiter aus, als er wieder den dunklen fliegenden Schatten sah.
Mit weitaufgerissenen Augen sah er zu wie der Vogel über einer gähnenden Schlucht in den Bergen schwebte. Unmöglich konnte er ihn darüber verfolgen.
Doch gerade als Po ihm etwas zurufen wollte, öffnete der Vogel die Krallen. Wie von Sinnen stieß Po einen lauten Schrei aus und sprang bis zum Rande des Abhangs. Hilflos musste er zusehen wie der Korb in der Schlucht verschwand. Das Verschwinden des Vogels bekam er gar nicht mehr mit. Ungläubig starrte der Panda in die Dunkelheit.
Das darf nicht sein! Das kann nicht sein!

9. Zerbrochen


Mit einem lauten Schrei schlug Shen gegen eine Säule. Es hatte mehr als eine Stunde gedauert bis er wieder ansprechbar war. Nicht zuletzt dank der Wahrsagerin, die ihm und seiner Familie ein schnelles mutmachendes Mittel gegeben hatte. Jetzt standen alle in einer der vielen Hallen. Nur mit Mühe konnte Po ihm klar machen, dass er es niemals wagen würde sich ohne Erlaubnis dem Gelege zu nähern.
„Shen, es war nicht seine Schuld gewesen“, versuchte die Wahrsagerin es erneut. „Ich habe selber gesehen wie er versucht hat ihn zu stellen.“
„Ja“, fügte Po hinzu. „Wie gesagt, es war diese verhüllte, fliegende Figur gewesen.“
Po brach ab, als Shens Flügel extrem zu zittern begann. Jeder konnte sehen, dass wäre die Wahrsagerin nicht in dem Raum, er hätte den Panda in Stücke gerissen.
Yin-Yu saß nicht weit von ihnen, war aber immer noch ziemlich benommen vom Schlafmittel. Dennoch hatte sie längst bemerkt, dass ihre ungeborenen Kinder nicht mehr da waren. Xia stand neben ihr und hielt sie an den Flügeln fest. Auch sie war von der ganzen Sache extremst betroffen.
„Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung“, meinte sie ruhig, obwohl sie sich selber nicht sicher war. Es war eigentlich unmöglich, dass die Eier einen solchen Fall überlebt haben könnten. Dennoch hatte man veranlasst, das Gelände abzusuchen.
Shens schneidender Blick brachte sie sofort wieder zum Schweigen. Wut und Verzweiflung hatten den Pfau innerlich längst zerfressen, dennoch fand er die Beherrschung nicht daran zugrunde zu gehen.
In diesem Moment kamen ein paar Widder in den Saal. Shen sah sofort auf. Doch zu Überraschung aller schien seine Stimme gestorben zu sein. Stattdessen mussten die Widder ihren Bericht beginnen.
„Mein Lord, das ist alles, was wir gefunden haben.“ Mit diesen Worten hielt er ihm in einem Korb etwas hin. Shen rannte sofort zu ihm vor. Doch was er im Korb vorfand,waren nur leere Eierschalen.
Yin-Yu sprang urplötzlich auf und stürzte sich nach vorne. Ein einziger Blick genügte ihr, um die chinesischen Zeichen-Markierungen zu entdecken. Mit einem weinenden Aufschrei wandte sie sich kurz ab, wobei sie ihr Gesicht verdeckte. Doch in selbem Augenblick warf sie sich auf den Korb und umarmte ihn, als wäre es eine lebende Person. Shen stand neben ihr und war erst außer Stande sich zu bewegen. Dann legte er langsam einen Flügel auf ihre bebende Schulter. Außer ihrem Schluchzen war im Raum nichts zu hören. Die Luft im Saal war erdrückend. Als könnte man nicht mehr atmen.
Po war in sich zusammengesackt. Er konnte selber nicht fassen, dass die Kinder, die bald das Licht der Welt erblicken sollten, nicht mehr da sein sollten. Sie waren einfach nicht mehr da. Das kam ihm so unrealistisch vor. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, in der Hoffnung aus einem Albtraum aufzuwachen.
Doch was danach passierte machte ihm auf brutale Art und Weise klar, dass es überhaupt kein Traum war. Denn im nächsten Moment drehte sich der weiße Pfau zu ihm um. Po konnte den herannahenden Messer-Geschossen gerade noch ausweichen und sich hinter einer Säule verstecken.
„DU VERFLUCHTE KREATUR!”, brüllte der Lord.
Erschüttert lugte Po um die Ecke. „Was hab ich denn getan? Ich hab doch versucht sie zu retten.“
Erneut hagelte es eine Ladung Federmesser und der Panda war erneut gezwungen in Deckung zu gehen.
„Du hast dieses Unglück heraufbeschworen!“, schrie Shen ihn weiter an. „Ich hätte dich nie in mein Haus lassen sollen!“
Po presste sich gegen die Säule. Er konnte Shens Wutausbruch nicht übelnehmen, dennoch befürchtete er, Shen könnte in seiner Wut jetzt völlig durchdrehen. Seine Befürchtung schien sich zu bewahrheiten, als der Pfau plötzlich neben ihm auftauchte.
Erschrocken wich Po zurück. „Nein, bitte beruhige dich!“
Doch Shen schien völlig den Verstand verloren zu haben und stürzte sich auf den Panda. Doch noch ehe er ihn erreichen konnte, stieß ihn jemand zur Seite. Der Pfau rutschte über den Boden und kam an einer Wand zu Stillstand. Keuchend richtete er sich auf und blickte in die Gesichter seiner Kinder, die sich schützend vor dem Panda stellten.
Zuerst sah es so aus, als würde der Pfau wieder angreifen, doch als Xia und Sheng ihre Flügel hoben, sank er wieder auf den Boden, als würde er erst jetzt das Ganze begreifen.
Eine Weile sprach niemand ein Wort. Shen blieb keuchend so liegen, bis er sich mit gekrümmter Haltung wieder erhob. Anschließend lehnte er sich mit dem Flügel gegen die Wand und starrte auf den Boden.
Schließlich nahm er einen tiefen Atemzug. „Verlasse sofort mein Haus!“
„Vater, bitte…“ Xia verstummte, als ihr Vater seinen Flügel hob, was sie zum Schweigen brachte.
„Verlasse mein Haus“, wiederholte er mit fester Stimme. „Und komm nie mehr wieder!“
Mit schweren, langsamen Schritten verließ er den Saal, dicht gefolgt von einem harten Zuschlagen einer Tür.
Es wurde still im Raum. Sogar Yin-Yu hatte aufgehört zu weinen, dennoch brachte sie immer noch kein Wort heraus. Sie lag auf den Boden, immer noch den Korb fest umklammert und schien irgendwie geistesabwesend zu sein. Eilig ergriff ihre Tochter die Initiative und beugte sich zu ihr runter.
Po blickte um sich und wusste nicht, was er jetzt machen sollte.
Schließlich ergriff die Wahrsagerin das Wort. „Po, geh einfach“, sagte sie. „Es bringt nichts ihn noch wütender zu machen. Vielleicht kommt er drüber hinweg.“
Der Drachenkrieger merkte zwar, dass sie stark daran zweifelte, doch im Moment fiel ihm jetzt auch nichts Besseres ein. Mit hängenden Schultern begab er sich Richtung Ausgang. Unterwegs kam er an Yin-Yu und Xia vorbei. Er hielt kurz an und warf ihnen einen traurigen Blick zu.
„Po“, sagte Xia ihm noch nach. „Es war nicht deine Schuld gewesen.“
Doch das konnte Po jetzt auch nicht mehr aufmuntern. Und dass man den Schuldigen nicht dafür verantwortlich machen konnte, da ihn keiner identifizieren konnte, geschweige denn eine Beschreibung folgen konnte, deprimierte ihn nur noch mehr.
Nachdem er seine Sachen gepackt hatte, verließ er mit schweren Schritten den Palast. Während er über den großen Platz wanderte, merkte er nicht wie ihn ein Augenpaar vom Dach aus beobachtete. Die dunkle Gestalt wartete noch eine Weile, dann schwang sie sich in die Luft und flog in die Berge.

10. Anders als geplant


Es dämmerte ein bisschen, als die schwarze Gestalt an einer bestimmten Stelle im Gebirge ihr Flugtempo drosselte. Vor einer Höhlung in einem Berg landete sie. Dort ließ sie sich auf einem Stein nieder und sah sich um.
„Wo warst du solange?“, fragte ihn eine dunkle Stimme schroff.
Der schwarze Vogel zog den Kopf ein. „Es hat ein Problem gegeben. Die Eier sind in den Bergen kaputt gegangen.“
Eine schnelle Bewegung entstand in einem Schatten. „Was redest du da, Takeo?!“
Der schwarze Vogel wich etwas zurück. „Man hatte mich verfolgt. Dabei ist es dann passiert.“
Plötzlich sprang ihn eine Gestalt an. Die Krähe schrie auf, als ihn eine Kralle am Hals zu Boden riss und ihn dort festhielt. Grimmig stierte die Gestalt ihn mit ihren blauen Augen an, die einen blauen Pfau gehörten.
„Ich wollte die Eier eigenhändig zerstören!“, fauchte er.
„Mein Herr“, meldete sich eine andere Stimme hinter ihm zu Wort. „Ihr braucht ihn noch.“
Kurz darauf tauchte ein Ochse hinter ihm auf. Der blaue Pfau richtete sich auf, die Kralle immer noch auf der Kehle der Krähe gedrückt. Doch dann dachte er nach. „Nun ja. Das Ergebnis wäre ohnehin dasselbe gewesen. Wenn auch ein bisschen ärgerlich für mich.“
Er ließ von dem am Boden liegenden ab und schritt näher an den Abhang der Höhlung, von wo man einen guten Ausblick auf das Gebirge hatte. Sein dicker Mantel bedeckte einen Teil seines Körpers, aber sein schönes blaues Federkleid kam dennoch in der leichten Morgensonne zur Geltung.
Schließlich schmunzelte er. „Nun, ich nehme doch mal an, er hat den Panda in der Zwischenzeit hinrichten lassen, oder?“
Das Schweigen ließ den blauen Pfau verstummen. Dann drehte sich um.
„Was ist?“, fragte er ungehalten.
Takeo schluckte schwer. „Er musste die Stadt nur verlassen.“
Hastig wich er einem Schlag aus.
„Ich dachte, du hättest jedem ein Schlafmittel verpasst!“, schrie der Pfau ihn an. „Es sollte so aussehen, als hätte dieser Panda die Eier zerstört!“
Die Krähe zog den Kopf nur noch enger ein. „Bei ihm schien das nicht gewirkt zu haben. Er hatte mich beim Stehlen erwischt.“
Der Pfau kreischte vor Wut und schmetterte den schwarzen Vogel zu Boden. Anschließend zuckte er ein Messer und hielt es ihm nahe an die Kehle. Dabei sah er ihn so grausig in die Augen, dass es jedem einen kalten Schauer über den Rücken laufen konnte.
„Wärst du nicht noch nützlich für meine Pläne, würde ich dir jetzt den Kopf abschlagen.“ Er drückte die Kralle enger auf den Hals. „Du fliegst jetzt zur Stadt zurück und machst so weiter wie wir es besprochen haben. Du hast mir damals in meiner Stadt treu gedient. Verspiel nicht meine Gnade für dich! Versagst du wieder, dann erhältst du eine Rente, die du im Reich der Toten verbringen kannst.“
Die Krähe nickte und flog hastig davon. Mit giftigem Blick schaute der Pfau ihm nach.
„Stehen deine Leute bereit, Guo?“, fragte er den Ochsen.
Dieser nickte. „Ja, wir können jederzeit angreifen.“
Der blaue Pfau lächelte kalt. „Sie sollten sich bereithalten. Es sieht ganz so aus, als könnten wir alsbald zur nächsten Phase meines Plans übergehen.“
Der Ochse Guo erwiderte darauf nichts. Auch nicht als der blaue Pfau sich hämisch die Flügel rieb.
„Zuerst seine Stadt, und danach seine gesamte Familie.“ Er lächelte kalt. „Nichts soll mehr an ihn erinnern.“

11. Die Suche nach der Schuld


Es fiel Xia extrem schwer die Zimmertür ihrer Eltern zu öffnen. Wobei es noch nicht mal von zwei, sondern nur von einer Person besetzt war. Sie holte nochmal tief Luft, dann klopfte sie zaghaft an. Es kam keine Antwort, was sie auch erwartet hatte. Leise öffnete sie die Tür und spähte hinein. Ihre Mutter saß auf dem Bett, ihr Blick Richtung Fenster gewandt und erwecket den Eindruck, als ob sie für den Rest ihres Lebens in dieser Stellung verharren wollte. Zögernd trat ihre Tochter näher an sie heran.
„Mutter?“, fragte sie leise.
Die Pfauenhenne regte sich nicht, aber ein sachtes „Mmm?“ war zu hören.
„Wir wollen Mittagessen. Möchtest du auch was essen, oder soll ich es dir aufs Zimmer bringen?“
Doch ihre Mutter schüttelte den Kopf, was soviel heißen sollte, dass sie keinen Hunger hatte. Xia hatte das eigentlich erwartet, aber ewig konnte das nicht so weitergehen.
„Mutter.“ Damit stellte sie sich vor sie und legte ihre Flügel auf die Flügel ihrer Mutter. „Das geht nun schon seit zwei Tagen so. Du musst etwas essen.“
Doch ihre Mutter schien sie kaum wahrzunehmen. „Später. Nicht heute.“
Niedergeschlagen verließ ihre Tochter wieder das Zimmer. Kaum hatte sie die Tür hinter sich verschlossen, kam Sheng ihr im Gang entgegen.
„Und?“
Xia schüttelte den Kopf. „Mutter hat es sehr mitgenommen, aber Vater macht mir noch mehr Sorge.“ Stöhnend lehnte sie sich gegen die Zimmertür. „Er verschanzt sich in seinem Arbeitszimmer. Er isst nichts, will niemanden sehen. Ich mach mir Sorgen, dass er sich noch etwas antut, oder jemand anderen.“
Ihr Bruder seufzte. „Was sollen wir denn machen?“
Eine Weile schwiegen die beiden Geschwister, bis Xia ihren Flügel auf seinen legte. „Mutter muss mit ihm reden.“
Sheng sah sie entsetzt an. „Sie kann doch selbst kaum reden. Wenn sie Vater jetzt auch noch so sieht. Ich glaube, daran würde sie zerbrechen.“
„Vielleicht. Aber vielleicht können andere sie dazu überreden. Ich werde die Wahrsagerin und Xinxin dazu ermuntern sich mit ihr etwas zu unterhalten.“
„Hältst du das wirklich für klug?“, fragte ihr Bruder zweifelnd. „Warum soll es eigentlich nur Mutter tun? Wäre es nicht das Beste, wenn wir für sie einspringen?“
Xia senkte ihren Blick. „Vielleicht… vielleicht bedeuten wir ihm nicht so viel wie Mutter.“
Shengs Augen weiteten sich. „Glaubst du das wirklich?“
„Er kennt uns doch kaum“, wandte Xia ein und stieß sich von der Tür ab. „Im Gegensatz zu Mutter. Er kennt sie besser. Und er liebt sie auch mehr. Von daher denke ich… hat sie mehr Einfluss auf ihn.“
Damit wandte sie sich ab und lief den Gang runter, während Sheng ihr schweigend hinterher sah.

Im Arbeitszimmer war es dunkel. Kein Licht brannte. Alle Fenster waren verriegelt und verschlossen. Kein Licht drang hindurch, obwohl es gerade in der Abenddämmerung war. Der weiße Lord hatte sich in die hinterste Ecke des Zimmers zurückgezogen und hatte sich, seitdem er den Panda vor die Tür gesetzt hatte, nicht mehr von der Stelle gerührt. Nur ab und zu wurde seine Schweige-Phase von Weinen und Schlafen unterbrochen. Den Rest der Zeit verbrachte er nur damit in die Dunkelheit zu starren. Auf Anklopfen und Rufe reagierte er nicht. Und reinkommen konnte eh keiner, weil er auch noch die Tür verschlossen hatte. Er wollte einfach nichts und niemanden sehen. So war es nicht verwunderlich, dass er nicht reagierte, als jemand an der Tür klopfte.
„Shen?“ Erst als Yin-Yus Stimme hinter der Tür zu ihm hindurchdrang blickte er auf. „Shen? Darf ich reinkommen?“
Er schwieg.
„Könntest du mir wenigstens ein Lebenszeichen von dir geben?“, fuhr ihre Stimme fort.
Ein Seufzen entkam ihm. „Geh weg.“ Er wollte sie nicht sehen.
„Wenn du mich nicht sehen willst, kann ich wenigstens mit dir kurz reden? Vor der Tür?“
Etwas wehleidig erhob er sich von seiner Sitzposition. „Was soll das bringen? Geh einfach.“
„Ich brauche aber jemanden zum Reden“, beharrte sie.
„Was willst du?“ Je schneller er es hinter sich hatte, desto schneller konnte er wieder allein sein.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, fuhr Yin-Yu fort. „Ich wollte nur sicher gehen, dass du dir nichts antust.“
„Warum sollte ich?“
„Weil du seit Tagen nichts mehr gegessen hast.“
„Du doch auch nicht.“
„Woher weißt du das?“
Shen schwieg einen kurzen Moment. „Ich weiß es eben.“
„Dann solltest du auch wissen, dass ich heute wieder etwas gegessen habe.“
„Wie kannst du nur etwas essen?!“ Wütend schlug der weiße Pfau gegen die Wand.
Hinter der Tür trat kurzfristig eine Stille ein. „Wir können nicht ewig so weitermachen, Shen. Das hätten unsere Kinder auch nicht gewollt…“
„WOHER WILLST DU DAS WISSEN?!“, brüllte er. „Du hast sie doch nie gekannt!“
„Shen, ich weiß wie du dich fühlst. Und ich verlange auch nicht, dass du einfach darüber hinwegsiehst. Alles was ich dir nur sagen möchte ist, dass ich dich bitten möchte, nicht zu riskieren, dass ich dich verliere.“
„Mein Leben geht dich gar nichts an!“ Shen stiegen die Tränen in die Augen.
Er konnte hören wie sie sich gegen die Tür lehnte. „Shen. Mach bitte nicht denselben Fehler wie damals in Gongmen.“
Der weiße Pfau horchte auf. „Wie meinst du das?“
„Die Wahrsagerin hat mir einiges erzählt, was damals in der Stadt Gongmen passiert war. Ich verstehe nur eines nicht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Wieso wolltest du damals sterben?“
Shen meinte sein Herz würde aussetzen.
„Wolltest du damals nur alles oder gar nichts?“
Der weiße Lord stand in der Dunkelheit. Völlig alleine. Womit hatte diese Wahrsagerin ihr nur den Kopf verdreht?
„Kannst du es mir nicht sagen?“, fuhr sie fort.
Shens Krallen gruben sich in den Boden. Schmerzen von damals waren wieder in ihm spürbar.
„Entweder ich musste gewinnen oder ich musste sterben!“, schrie er. „Da gab es keine andere Möglichkeit für mich! Entweder ich starb für meinen Sieg, oder man hätte mich hingerichtet. Und ich hatte auch keinen Grund nach meiner Niederlage weiter zu leben.“ Er brach kurz ab. „Oder für irgendjemanden.“
Wieder herrschte eine Schweigeminute, bis Yin-Yu das Schweigen unterbrach. „Als ich damals noch mit Xiang verheiratet war, erging es mir ähnlich. Aber ich hatte keinen so großen Lebensgeist wie du. Dein Chi ist stark. Ich konnte meinen Lebenswillen nur aufrechterhalten, weil ich meine Kinder hatte. Wären sie nicht gewesen – dann wäre auch ich tot. Aber weißt du… So aussichtlos auch alles sein mag, so hoffte ich immer auf einen Ausweg. Nur… versprich mir nur, dass ich nicht mit dir streben muss, wenn du nicht mehr bist.“ Sie hatte Mühe ihr Weinen zu unterdrücken. Anscheinend waren ihre seelischen Kräfte schon so gut wie aufgebracht. „Und auch vor allem – vergrabe deinen Frieden nicht mit anderen.“
„Es war seine Schuld gewesen!“
„Das ist nicht wahr und du weißt das. Du willst nur eine Erklärung für deinen Schmerz haben. Hauptsache es war nur nicht deine Schuld.“
„War es meine Schuld?“
„Nein. Aber versprich mir nur, dass du ihm nicht den Frieden vor die Füße wirfst. Er hat dich damals gerettet. Denn sonst wären wir nicht hier.“ Yin-Yu verbarg das Gesicht in den Flügeln. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie hatte einen Fehler gemacht. Innerlich hoffte sie, dass Shen es nicht auffangen würde. Doch sie waren wie eines. Und Shen hatte diesen Gedanken leider aufgefangen.
Der weiße Pfau nahm einen tiefen Atemzug. „Ich wünschte, ich wäre damals umgekommen. Dann wäre mir das hier erspart geblieben.“
Yin-Yu sank zusammen. Dass das Gespräch in diese Richtung hinauslief hatte sie nie wollt. Aber es war passiert.
„Alles wäre mir erspart geblieben!“
Sie hörten ihn im Zimmer auf und ab rennen und gegen die Wände schlagen.
„Shen, bitte…“
„Geh, geh!“, schrie er.
Yin-Yu bemühte sich noch etwas zu sagen, doch Shen ließ sie einfach nicht zu Wort kommen. „GEH! Geh einfach! Lass mich alleine! Geh, geh, geh!“
Eilig lief sie davon, während Shen seine Flügel gegen das verriegelte Fenster presste. Alles brannte in ihm wie das Feuer seiner Waffen. Einen Schmerz, den er nicht einfach so rausreißen konnte wie ein Messer in seiner Brust. Er stieß einen Schrei aus. Nie wollte er etwas an sich heranlassen. Weder sie noch sonst jemand anderen. Wieso hatte er das zugelassen? Warum konnte er nicht allem entkommen? War es nicht wie Licht, als sie ihn wieder in seiner Liebe geküsst hatte? Wie der Phönix wiedererwachen würde. Der sich in die Luft schwang. Da war eine Zukunft gewesen.
Eine Zukunft…

Einen Tag nach dem Hochzeitstag…

Die Sonne ging auf, doch es war noch zu früh am Morgen. Doch das kümmerte die beiden nicht. Shen lag im Bett, seinen Rücken gegen ein Kissen gelehnt, während Yin-Yu neben ihm lag.
„Wir müssen uns noch Namen ausdenken“, murmelte sie.
Shen strich ihr übers Gesicht und hob ihr Kinn an, sodass sie ihm ins Gesicht sah.
„Hast du denn schon einen?“, fragte er.
Sie lächelte. „Ich wüsste schon einen, denn ich gerne hätte.“
Shen hob die Augenbrauen. „Für einen Jungen, oder für ein Mädchen?“
Sie schmiege sich an ihn, wobei sie ihm zuflüsterte: „Wenn es soweit ist, werde ich es dir sagen.“
Er ließ sich zu ihr runtersinken und die beiden drücken sich aneinander.
„Willst du es mir nicht jetzt schon sagen?“, bettelte er.
Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Erst wenn es da ist.“
„Kannst du mir nicht schon einen Tipp geben?“, bat er.
Sie kicherte, als er ihr über den Rücken rieb. „Wenn du es in den Flügeln hältst, werde ich es dir sagen.“


Mit einem Schrei schlug er gegen das Fenster. Die Bretter zerbrachen in tausend Stücke. Im nächsten Moment sprang der Lord nach draußen und rannte über die Dächer. Über die Mauer, weiter über die Stadt. Die Stadtleute, denen er unterwegs begegnete, beachtete er überhaupt nicht. Er wollte nur weg. Er flog und rannte in einer solchen Geschwindigkeit durchs Stadttor und von dort immer weiter in die Berge. Er raste so schnell, als wollte er das Universum durchbrechen. Er hatte kein Ziel. Keine Ahnung wohin er lief. Irgendwann, nur irgendwann zwang ihn seine brennende Lunge anzuhalten. Doch noch bevor er zum Stillstand kam, schlug er gegen eine Schneewand, die die Frühlingssonne noch überlebt hatte und löste eine kleine Berglawine aus. Mit einem donnernden Krachen rollte die Schneemasse herab und versank irgendwo in einer Schlucht. Kaum war der letzte Schneedonner verklungen, brach er auf einem Felsen zusammen. Er hatte keine Kraft mehr. Nicht einmal zum Schreien. Alles was er noch konnte war zu atmen. Und die Zeit um ihn herum lief weiter. Ohne, dass er sie beeinflussen konnte.

12. Die gefallene Stadt


Eine ganze Strecke von dem kraftlosen, weißen Pfau entfernt, aber dennoch in Sichtweite, saß eine andere Gestalt auf einer Plattform und beobachtete ihn. Er war von weitem auf die donnernde Lawine aufmerksam geworden und blicke fast mit Genugtuung auf den ehemals stolzen Lord herab.
„Sollen wir ihn umlegen?“, fragte Guo.
Der blaue Pfau schüttelte den Kopf. „Nein, er ist genau da, wo ich ihn haben wollte. Besser hätte es gar nicht laufen können.“
Er wandte sich ab. „Nein, er wird erst zu mir kommen, wenn ich es will. Und er wird zu mir kommen müssen.“
Guo ließ ihn an sich vorbeigehen und kratzte sich hinterm Ohr. „Ich verstehe aber noch nicht so ganz den Sinn von deinem Plan.“
„Ihr Leben zu zerstören. Das ist mein Plan.“ Der blaue Pfau legte die Flügel zusammen und sein Blick verfinsterte sich. „Selbst wenn ich dafür mit meinem Leben bezahlen muss.“

In der Zwischenzeit war es Abend geworden. In der Stadt wurde es ruhiger, nur im Palast war es unmöglich Ruhe zu finden.
Yin-Yu hatte sich nach der Auseinandersetzung nicht zurück in ihr Zimmer, sondern in einem der vielen Aufenthaltsräume begeben. Die Wahrsagerin, ihre Vertraute Xinxin und ihre beiden Kinder waren die Einzigen, die ihr Gesellschaft leisteten. Viel wurde nicht geredet. Hauptsächlich war es Yin-Yu, die sich Vorwürfe machte und die anderen sie trösten mussten.
„Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen mit ihm zu reden“, murmelte sie.
„Denkst du, wir sollen ihn suchen?“, fragte Xia. Denn mittlerweile wussten alle, dass Shen die Stadt fluchtartig verlassen hatte.
Doch die Wahrsagerin schüttelte den Kopf. „Shen darf man zu nichts zwingen. Er muss alleine damit fertig werden.“
Xia war da skeptisch. „Und wie lange kann das dauern?“
Darauf konnte ihr niemand eine Antwort geben.

Niemand ahnte, dass sich außerhalb des Stadtgebietes eine Armee bereit machte. Eine Armee von mindestens 200 Mann und mehr. Nicht gerade sonderlich viel, um eine Stadt zu überfallen, doch für seinen Plan reichte es völlig.
Der Ochse Guo war sich da noch nicht ganz so sicher. „Und du bist dir sicher, dass es funktionieren wird?“
Der blaue Pfau schmunzelte. „Laut Takeo leben noch nicht so viele Soldaten in seiner Stadt. Und wenn er dann noch einige der Soldaten ausschaltet und wie besprochen ihre Waffen unschädlich macht, wird es ein Leichtes sein.“ Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. „Und dann wird der Rest ein Kinderspiel.“

„Also ich bin müde für heute“, meldete sich Sheng und musste ungehemmt gähnen.
Seine Mutter nickte ihm zu. „Ja, es war eine harte Woche für uns alle.“ Sie erhob sich von ihrem Platz aus mehreren Kissen. „Vielleicht kommt euer Vater bald wieder.“
„Hoffentlich auch mit besserer Laune“, hoffte Xia, was sie aber sehr leise aussprach.
Sheng wollte gerade die Tür öffnen, als diese plötzlich aufgerissen wurde und zwei Widder hereingestürmt kamen.
„Lady Yin-Yu! Wir werden angegriffen!“
Jeder Anwesende im Raum sah sie zunächst erschrocken an.
„Wie meint ihr das?“, fragte die Pfauenhenne vorsichtig.
Doch dann wurde sie von lauten Schreien von draußen unterbrochen. Sie eilte mit den anderen ans Fenster. Dort sahen sie gerade wie fremde schwarzgekleidete Ochsen über die Mauer stürmten. Jeder der sich ihnen in den Weg stellte, schlugen sie nieder.
„Warum verteidigt niemand die Mauer?!“, fragte Yin-Yu völlig schockiert.
„Die Kanonen funktionieren nicht!“, meldete der Wächter.
„Was soll das heißen, sie funktionieren nicht?“, hackte Xia empört nach.
Doch weitere Fragen blieben aus. Im nächsten Moment entstand ein Tumult draußen im Gang. Zwei weitere große Ziegen kamen ins Zimmer gestürmt. Doch noch ehe einer von ihnen ein Wort sagen konnte, wurden sie von Ochsen k.o. geschlagen.
Die zwei Widder versuchten noch auf Abwehr zu gehen, doch auch sie wurden sofort niedergeschlagen. Kurz darauf rannten mindestens vier schwarzgekleidete Ochsen rein.
Yin-Yu, Xia und die Wahrsagerin zwängten sich in die hinterste Ecke des Zimmers. Nur die Füchsin Xinxin verbarg sich unter den Kissen. Und Sheng hatte nicht die Absicht sich zu ergeben, sondern griff die Eindringlinge sofort mit einem Sprung an.
Doch dann tauchte urplötzlich ein anderer Ochse auf und schleuderte den jungen Pfau gegen die Wand. Yin-Yu eilte sofort zu ihm. Doch der darauffolgende Schreck wurde dadurch nicht gemildert, als sie erkannte, wer da noch in den Palast eingedrungen war.
Während sie sich über ihren Sohn beugte, der stöhnend am Boden lag, sah sie den Angreifer eingeschüchtert an.
„Lange nicht gesehen, was?“ Guo schien über ihre Reaktion nicht verwundert zu sein. „Aber dein Sohn ist echt noch nicht gut für einen Kampf.“
Er lachte. Normalerweise hätte Xia so einen bestimmt ausgeschimpft, doch Guos Erscheinen ließ in keinem der Anwesenden etwas Gutes erahnen. Und diese Befürchtung bewahrheitete sich prompt.
„Ach übrigens“, fuhr Guo fort. „Da will dich jemand vor der Stadt sprechen. Wenn du willst, dass niemanden noch etwas passiert, dann würde ich dir raten mich zu begleiten.“

Um sie herum waren Schreie. Doch keinem blieb die Gelegenheit, diesen Schreien zu folgen. Yin-Yu wurde zusammen mit Xia, Sheng und der Wahrsagerin, begleitet von mehreren Söldnern durch die Stadt gezerrt. Hier und da brannte ein Haus. Wegen der Dunkelheit der Nacht konnte niemand genauer sagen, wie groß der Schaden war. Ein paar Male wurde sie brutal nach vorne gestoßen. Das Ganze ging so lange, bis sie sich knapp einen Kilometer vor der Stadtgrenze befanden. Dann wurde die Pfauenhenne einfach auf den Boden geworfen. Doch noch ehe sie sich wiederaufrichten konnte, ließ sie eine Stimme erstarrten. „Ah, Yin-Yu, meine Liebe. Wie schön dich nach einem Jahr wiederzusehen.“
Sie hatte zwar gehofft, diese Stimme nie wieder hören zu müssen. Doch als sie ihren Kopf hob, stand nur wenige Schritte vor ihr der Mann, den sie nie wiedersehen wollte.
Xiang grinste, als sich ihre Blicke trafen. Sofort wich die Pfauenhenne zurück und stieß gegen ihre zwei Kinder. Auch sie waren zutiefst bestürzt. Dem blauen Pfau hingegen schien ihre Angst zu gefallen. Unbewusst drückte Yin-Yu ihre Kinder enger an sich.
„Wenn du uns töten willst, dann töte nur mich! Aber lass die beiden gehen!“, rief sie.
Xiang schmunzelte spöttisch. „Ganz schön vorlaut geworden innerhalb der kurzen Zeit, und der Ton gefällt mir nicht.“
Er machte einen Schritt vor, doch weiter ließen seine ehemaligen Kinder nicht zu und stellten sich schützend vor sie.
Sein Blick wanderte zwischen den beiden Geschwistern mit höhnischer Mimik.
„Was willst du hier?!“, keifte Xia ihn an.
„Solltest du nicht im Gefängnis sitzen?“, schloss Sheng sich ihr an.
Der blaue Pfau zuckte die Achseln. „So viele Fragen, ohne mich darum um Erlaubnis zu bitten. Gut erzogen hat man euch während meiner Abwesenheit wirklich nicht. Aber bitte. Antworten sollt ihr bekommen. Aber die können wir auch unterwegs besprechen.“
„Was soll das heißen?“, fragte Xia mit fester Stimme.
Doch im nächsten Moment wurden sie von mehreren Ochsen gepackt, während Xiang seine Aussage erläuterte. „Das heißt, dass wir einen kleinen Ausflug machen werden – als Ex-Familie.“

13. In Trümmern


„Meister Shen! Meister! Meister!“
Shen blinzelte. Erst jetzt spürte er wie er fror. Zitternd richtete er sich auf. Er lag auf dem Boden. Um ihn herum nur dreckige Felsen. Tau lag auf seinen Federn. Der Lord stöhnte. Sein Kopf tat ihm furchtbar weh. Er sah sich um. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel hellte schon ein wenig auf. Sein Blick wanderte an sich runter. Seine Robe war teilweise mit Schmutz behangen und etwas aufgeschürft.
„Meister Shen!“
Er horchte auf. Eine einsame Stimme in den Bergen rief seinen Namen. Oder bildete er es sich nur ein? Als die Stimme immer wieder nach ihm rief musste er zu dem Schluss kommen, dass er nicht träumte. Und damit kamen auch alle anderen furchtbaren Erinnerungen zurück.
„Meister!“
Der weiße Pfau schaute auf, als er eine Bewegung auf einem schmalen Pfad wahrnahm. Es war das kleine Schaf Ling. Der Großneffe der Wahrsagerin.
Mit einem tiefen Seufzer wollte der Lord sich abwenden, doch kaum hatte das Schaf ihn gesichtet, rannte es schnurstracks auf ihn zu. „Meister! Mein Lord! Endlich habe ich Euch gefunden!“
„Was willst du, Ling?“ Shen war überhaupt nicht danach mit jemanden zu reden. „Lass mich doch einfach allein.“
„Aber Meister! Es ist etwas Schreckliches passiert.“
Der Lord senkte den Blick. „Wie schlimm kann es denn noch werden?“
Der Pfau rechnete überhaupt nicht damit, dass der Tod seiner Kinder noch überstiegen werden konnte, aber das, womit Ling rausplatzte war selbst das zu viel.
„Man hat die Stadt überfallen!“, stieß Ling atemlos hervor.
Shen meinte zunächst, er habe sich verhört und bat um Wiederholung. „Was?“
„Sie wurde überfallen! Man konnte sie nicht aufhalten. Und…“ Das Schaf wagte kaum es auszusprechen. „Ihre Frau und die Kinder sind verschwunden.“
Ling kam nicht mehr dazu das Verschwinden seiner Großtante noch zu erwähnen. Denn im nächsten Moment sprang der Lord über ihn hinweg und raste davon.

Die Sonne warf gerade ihre ersten Strahlen über die Berge, als Shen endlich die Stadt erreichte. Die Morgenstrahlen schienen ihm klar zeigen wollten, was da vor ihm lag. Und das was er sah, verschlug ihm den Atem.
Über Yin Yan stiegen überall Rauchsäulen auf. Die Feuer waren zwar gelöscht, konnten die Schäden aber nicht beheben. Trotzdem schien der Schaden nicht so ganz immens zu sein. Die Angreifer hatten wohl nicht die Absicht oder nicht die Zeit gehabt alles in Schutt und Asche zu legen. Der Lord achtete nicht auf das, was um ihn herum geschah. Ihm beschäftigte nur ein Gedanke. So schnell er nur konnte bahnte er sich seinen Weg bis zum Palast. Dieser wies nicht so starke Beschädigungen auf wie in der Stadt selber, dennoch würden die Reparaturen lange benötigen, um alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu bringen.
Die Stadtmauer und die Palastmauer wiesen an einigen Stellen Löcher auf. Doch das kümmerte Shen überhaupt nicht. Kaum hatte er den Paradeplatz erreicht, kam ihm Xinxin entgegengerannt.
„Oh, mein Herr!“ Wehmütig warf sich die graue Füchsin vor ihm nieder.
„Was ist hier passiert?“, fragte Shen ohne Umschweife.
„Man hat uns angegriffen“, berichtete Xinxin. „Die Waffen an den Mauern hatten nicht funktioniert. Der Palast wurde gestürmt und…“
„Wer war es gewesen?“, wollte Shen sofort wissen.
Die graue Füchsin verbarg ihr Gesicht in den Pfoten. „Den Eindringling erkannte ich sofort, aber was er als Nachricht hinterließ, war viel schlimmer.“
Sie erhob sich und ergriff Shens Flügel, was den Lord nur noch mehr Angst einjagte. Normalerweise war Xinxin jemand mit Anstand, aber das war auch für sie zu viel, und sprach nur einen Namen aus: „Xiang.“
Shens Gesicht erfror. Sie konnte nicht sagen, was ihm durch den Kopf ging. Er riss sich von ihr los und ging ein paar Schritte über den Platz.
Die Füchsin sah ihm reumütig von hinten an.
„Wo hat man sie hingebracht?“
Shens monotone Worte ließen sie erstarren. „Mein Herr, es ist unmöglich, dass Sie dort…“
„WO?!!!!!!!“
Shen brüllte so laut und schlug mit der Faust auf den Boden, dass die Steinplatten unter ihm in einem weitem Umkreis Risse bekamen und zerbrachen.
Xinxin schluckte schwer. „Nach Gongmen.“

14. Zu allem entschlossen


„Ab hier legen wir eine Rast ein!“ Die Truppe hielt nach Xiangs Befehl an.
Es war bereits in der Abenddämmerung. Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs, aber die Berge waren schon nicht mehr zu sehen. Nur eine flache Waldlandschaft, bis auf ein paar hohe bewachsene Felsen, die hier und da aus dem Boden herausragten.
Nachdem das Lager aufgeschlagen war und die Nachtwachen verteilt waren, zog sich Xiang auf einer kleinen Anhöhe zurück und betrachtete den dunkler werdenden Horizont.
Guo gesellte sich nach einer Weile zu ihm.
„Bist zur Stadt ist es nicht mehr sehr weit“, waren Xiangs Worte an ihn.
„Und was ist, wenn er uns einholt?“, fragte der Ochse hinter ihm.
Xiang schmunzelte. „Dafür ist unser Vorsprung zu groß. Und selbst wenn… dann soll mir das nur recht sein.“
Es folgte eine kurze Pause.
„Und du bist sicher, dass du das durchziehen willst?“, fragte Guo unsicher.
Xiangs Haltung verkrampfte sich. „Er wird für alles, was er mir genommen hat genauso leiden wie ich.“
„Und ich dachte, du gibst ihr die Schuld.“
„Mmpf, ihr auch. Aber ihr kann ich nicht so viel wegnehmen wie ihm. Und außerdem…“ Er drückte die Handflächen seiner Flügel ganz eng aneinander. „… wird sie schon früh genug bestraft werden.“
Er spürte Guos Blick im Rücken und blickte genervt zu ihm nach hinten. „Jetzt lass das alles mal meine Sorge sein. Beim Erfolg wirst du noch früh genug deinen Tribut erhalten.“
„Das will ich hoffen. Die Leute hier haben sich nicht umsonst bestechen lassen, um bei dieser Aktion mitzumachen. Das wir vor vielen Monaten aus dem Arbeitslager ausgebrochen sind, war schon Risiko genug gewesen. Wenn man uns erwischt…“
„Bis dahin werden wir längst alles erledigt haben“, schnitt Xiang ihm das Wort ab. „Jetzt red nicht weiter, sondern mach einfach deine Arbeit.“
Damit verließ Guo den Platz und marschierte rüber zu seinem Zelt.

Knapp in der Mitte des Lagers verharrten Yin-Yu und die anderen in einem Käfig. Sie froren ein wenig und zwängten sich dicht aneinander.
Xia und Sheng schliefen fast, nur Yin-Yu blieb wach und beobachtete wie die alte Ziege in einer Ecke saß und die Augen geschlossen hatte. Yin-Yu wollte sie nicht stören. Ihr war sowieso nicht nach reden zumute. Ihre einzige Hoffnung galt nur Hilfe von draußen. Gleichzeitig plagte sie die Angst, dass er zu viel riskieren würde. Und diese Gefahr würde nicht nur von Xiang ausgehen.

„Meister! Meister!“ Völlig verzweifelt rannte das kleine Schaf hinter dem Lord her. „Geht nicht dorthin! Ihr wisst was Euch dort erwartet!“
Erbost stieß Shen Ling zur Seite. „Das weiß ich selber! Ich weiß es die ganze Zeit.“
„Ihr dürft nicht dahin!“ Krampfhaft packte Ling ihn am Hemd.
„Hör auf damit!“, schimpfte Shen und riss sich los. „Du bist genauso schlimm wie deine Großtante!“
Sie befanden sich irgendwo auf einem Pfad in den Bergen. Shen hatte sich sein Schwert umgebunden und war geradewegs auf dem Weg nach Gongmen, was Ling gar nicht behagte.
„Aber Meister… Sollten nicht wenigstens ein paar mit Ihnen gehen?“
„Er erwartet, dass ich alleine komme“, wimmelte der Lord ihn ab.
„Aber was soll aus der Stadt werden, wenn Euch etwas passiert?“
Shen hielt inne. Sie standen jetzt in der Nähe eines Abhanges, wo es weiter ins Tal unterhalb des Gebirges ging.
Shen seufzte tief. „Falls ich nie wieder zurückkommen sollte, werdet ihr die Stadt übernehmen.“
Er drehte sich zu Ling um. Dann legte er die Flügel zusammen und verneigte sich. „Leb wohl.“
Dem kleinem Schaf stiegen die Tränen in die Augen, während Shen sich an den Rand des Abhangs begab.
„Tu mir den Gefallen“, hört er Shen noch sagen. „Was immer auch passiert…“ Er sah Ling fest an. „Lass es den Panda nie erfahren.“
Mit diesen Worten stieß der Pfau sich von der Klippe ab und segelte den Berg mit einem Pfauenschrei herab.
Das kleine Schaf sah ihm betrübt nach. Zu gerne hätte er den Drachenkrieger benachrichtigt. Aber vielleicht hatte dieser ja gerade selber Probleme.

15. Besucher aus dem Norden


Mit leisen, schweren Schritten stieg Mr. Ping die Treppe hoch. Doch das Zimmer im Dach war mit Brettern vernagelt. Zaghaft klopfte er dagegen.
„Po? Po-oo-o?“ Doch niemand antwortete. „Sag doch wenigstens ein kleines Wort.“
„Geh weg“, kam es dumpf hinter der Barrikade, was Mr. Ping teilweise aufatmen ließ.
„Ich hab dir dein Lieblingsessen gemacht.“
„Keinen Hunger“, wehrte Po ab.
Enttäuscht entfernte Mr. Ping sich wieder. Als er in die Küche kam, betraten gerade seine Freunde den Raum.
„Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Tigress.
Mr. Ping seufzte auf. „ Seit er wieder zurück ist hat er sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Ich komme einfach nicht zu ihm durch. Er isst nichts, er spricht nicht. Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll!“
„Vielleicht sollten wir ihn etwas aufheitern“, schlug Monkey vor.
„Und womit?“, fragte Crane.
„Ach, Entschuldigung.“ Verwundert drehten sich alle zu einem Schwein um, welches durch die Küchentür gekommen war. „Aber gehören diese Leute zu euch?“
Das Schwein deutete zum Eingang des Restaurants. Alle schauten aus dem Fenster. Ihnen blieben die Münder offen.
Das Tor und die Terrasse waren voller Ochsen. Sie trugen dicke Felle, und sahen schwer bewaffnet aus. Die Fünf dachten sofort an einen Überfall und nahmen zur Vorsicht eine Kampfhaltung ein. Doch im nächsten Moment drängte sich einer durch die ganzen Ochsen nach vorne.
„Habt ihr ihn gefunden, oder was?“ Der darauf erscheinende Ochse war am dicksten mit Fell bekleidet und schien der Anführer dieser Armee zu sein.
„König Wang?“ Mr. Ping war so überrascht, dass er einfach durch das Fenster der Küche nach draußen auf die Terrasse sprang.
„Ah, über ein Jahr nicht mehr gesehen“, grüßte ihn Wang.
Mr. Ping verneigte sich respektvoll vor dem Hunnenkönig. „Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches?“
König Wang kratzte sich am Kopf. „Tja, das ist eine schwierige Sache… Wo ist der Drachenkrieger? Ich muss mit ihm reden.“
„Oh, der ist im Moment…“ Mr. Ping wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. „Der ist im Moment etwas unpässlich. Er muss etwas verarbeiten.“

In Pos Zimmer war es stockdunkel. Sogar das Fenster hatte er verriegelt. Der Panda lag auf seinem Bett und wollte niemanden sehen. Er war so weit weg mit seinen Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie jemand draußen an der Wand hochkletterte und sich am Fenster zu schaffen machte. Plötzlich wurde das Fenster aufgestoßen und etwas Schweres landete auf dem Zimmerboden.
Po war so erschrocken, dass er aufschrie. Am Ende schrien beide. Dann wurde dem Panda bewusst, dass er doch ein Kung-Fu-Kämpfer war. Aus dem Reflex heraus holte er aus und schlug zu. Der Schatten vor ihm fiel gegen die Wand und warf ein paar Regale um.
Noch immer aufgeregt stand Po auf seinem Bett, während die große Person vor ihm sich wiederaufrichtete. „Ist das ein chinesischer Kung-Fu-Brauch?“
Po hielt verwundert inne. „König Wang?“
„Drachenkrieger.“ Mühsam stand Wang auf, während Po erst mal seine Gedanken sortieren musste. „Was machen Sie denn hier?“
„Nun, ich habe den weiten Weg angetreten, um eine wichtige Angelegenheit zu besprechen.“
„Echt?“ In diesem Moment meldete sich Pos Magen zu Wort. „Uh, vielleicht sollten wir das bei einem Essen besprechen.“

Die anderen hoben die Köpfe, als über ihnen ein lautes Knacken ertönte. Im nächsten Moment wurden die Holzbretter vom Dachboden weggerissen und Po rannte die Stufen runter. Dicht gefolgt von Wang. Seine Freunde sahen ihn überrascht an. „Po?“
„Hey, Leute! Das ist König Wang. Er war dabei gewesen, als Shen und ich in die Burg…“ Er hielt inne. Erst jetzt schien es zu ihm durchgedrungen zu sein und bekam gleich daraufhin wieder ein trauriges Gesicht.
„Was ist eigentlich passiert?“, erkundigte sich der Hunnenkönig.
Betrübt strich Po mit dem Fuß über den Boden. „Ach, das ist eine vermurkste, verzwickte Geschichte.“

„Hier, Po.“ Mit einem warmen Lächeln stellte Mr. Ping seinen Sohn eine Schüssel auf den Tisch. „Du bist doch nur noch Haut und Knochen.“ Dann wandte er sich an die Soldaten. „Meine Güte, so viele Kunden hatte ich ja noch nie gehabt.“
Po seufzte tief. „Tja, so war das gewesen.“ Lustlos rührte er in der Schüssel herum. Er saß mit seinen Freunden und Wang an einem Tisch, während er seine Leidensgeschichte in Yin Yan erzählte.
„Das ist wirklich sehr bedauerlich“, meinte Wang mitfühlend.
„Ja, wenn wir doch wenigstens wüssten, wer das getan hat.“ Damit nahm der Panda die Schüssel und leerte sie aus, während Monkey ihm beruhigend auf die Schulter klopfte.
„Aber warum sind Sie hier?“, wollte Mantis von Wang erfahren.
„Ach ja!“ Jetzt schien es Wang wieder eingefallen zu sein. „Xiang ist ausgebrochen.“
Po verschluckte sich fast an der Suppe. „Was?!“
„Zusammen mit ein paar seiner manipulierten Soldaten. Und das schlimmste ist“, fuhr Wang fort und schlug mit der Faust auf dem Tisch. „Wir haben es erst vor ein paar Wochen erfahren, und noch schlimmer, er ist schon vor vielen Monaten ausgebrochen und keiner hat etwas davon bemerkt.“
„Und jetzt sind Sie hier, weil Sie vermuten, dass er… Moment mal.“ Po dachte kurz nach. „Wieso denn hierher?“
König Wang lächelte verlegen. „Nun, in seiner Stadt ist er nicht gefunden worden. Und Yin Yan liegt eine Ecke weiter weg als das Tal des Friedens, und wollte unterwegs einen kleinen Abstecher machen. Außerdem wollte ich schon immer gerne den Ort sehen, wo der Drachenkrieger geboren wurde.“
Po räusperte sich. „Na ja, eigentlich bin nicht hier geboren worden, nur aufgewachsen. Aber was ist, wenn Xiang es auf Shen abgesehen haben könnte?“
„Nur keine Sorge“, winkte Wang ab. „Ich habe bereits einen Flugboten dorthin geschickt, damit er sich dort umsieht. Und außerdem habe ich so das Gefühl, dass ich die Hilfe des Drachenkriegers sogar benötigen könnte.“
Wie aufs Stichwort landete in diesem Moment ein Adler auf dem Dach des Restaurants.
„König Wang“, grüßte er.
„Wing-Xing?“ Wang schien überrascht zu sein. „So schnell schon wieder zurück?“
Der Adler verneigte sich. „Ich musste eilen, weil ich nichts Gutes zu berichten habe. Die Stadt, in die Ihr mich geschickt habt, wurde überfallen.“
Alle sprangen auf. „Wie bitte?!“
„Was ist passiert?“, wollte Wang wissen, während Wing-Xing mit seinem Bericht fortfuhr. „Nun, nach all dem was ich herausgehört habe, geschah es durch Xiang und seine mitgeführte Armee.“
Po sank auf den Stuhl, sprang aber sofort wieder auf. „Was ist mit Shen und seiner Familie?!“
Der Adler legte die Flügel zusammen. „Er hat einen Teil von ihnen verschleppt, und soweit man mir erzählt hat, ist Shen ihnen nach.“
Jetzt interessierte Po nur noch eine Frage. „Wohin?“
„Zu einer Stadt namens Gongmen.“

16. Auf wackeligem Boden


Gongmen hatte sich nur langsam von den ganzen Schäden erholen können. Alles, außer der Palast der Flammen, stand wieder so wie früher. Dennoch hatte man den Palast nicht aufgegeben. Die ersten paar Stockwerke standen bereits wieder, wenn auch nur halbfertig. Aber bewohnbar war das Baugerüst noch lange nicht, weshalb die Kung-Fu-Meister, Meister Tosender Ochse und Meister Kroko, es vorzogen das Quartier neben dem Palast zu beziehen. Nur ab und zu kamen sie an dem großen Vorplatz vorbei, wo eine große Statue von Meister Donnerndes Nashorn den Platz zierte. Ebenso wie auch an diesem Nachmittag.
„Willst du noch den ganzen Tag die Statue ansehen?“, erkundigte sich Meister Kroko.
Meister Ochse schnaubte. „Wenn ich damit jemanden ins Reich der Toten schleudern könnte, dann ja.“
Sein Kollege seufzte tief. „Du kannst es ihm einfach nicht verzeihen.“
„Kannst du das denn?!“, fuhr Meister Ochse ihn an.
Das Krokodil zog den Kopf ein. „Nein, natürlich nicht. Aber damit holen wir ihn auch nicht wieder zurück.“
Schnaubend wandte sich Meister Ochse von ihm ab und sah wieder zur Statue hoch. Meister Kroko wurde das Ganze allmählich langweilig und wandte sich zum Gehen. „Na ja. Ich bin im Quartier, wenn du mich brauchst…“
Er hielt abrupt inne. Zuerst meine er eine Halluzination zu haben und rieb und kniff die Augen mehrere Male zusammen. Doch was er dort am Eingang an der Treppe über den Platz sah, verschlug ihm fast den Atem. Noch immer nach Luft schnappend, tippte er Meister Ochse auf den Rücken.
Mister Ochse grunzte wütend. „Verdammt nochmal! Wenn du gehen willst, dann geh doch!“
„Aber, aber… aber… aber…“
Allmählich ging Meister Ochse das Gestotter seines Freundes auf die Nerven. „Was ist denn?“
„Da, da… da vorne.“
Endlich drehte sich der Ochse um, während das Krokodil nur nach vorne deutete.
Und erst jetzt fiel es auch ihm auf. „Was zum…?“
Auf den Treppen stand eine Gestalt, die den beiden nur allzu vertraut war. Dennoch war irgendetwas anders an ihr.
„Ist das etwa… oder ist er es nicht?“, stammelte Meister Kroko noch sichtlich verwirrt.
„Das ist nur ein Trick!“
Noch ehe Meister Kroko ihn davon halten konnte, packte sich Meister Ochse einen großen Stein, der für den Wiederaufbau des Palastes verwendet wurde und schleuderte ihn auf die Gestalt, die ein ganzes Stück noch von ihnen entfernt stand. Diese reagierte blitzschnell.
In einer Anmut und Geschwindigkeit lenkte der Pfau das Geschoss ab und schleuderte es zurück auf die zwei Kung-Fu-Meister. Beide duckten sich und der Stein krachte gegen ein Teil des Baugerüstes des Palastes, das krachend in sich zusammenbrach. Mit offenen Mündern starrten sie auf das Malheur. Zum Glück arbeitete gerade niemand auf der Baustelle.
Ihre Blicke wanderten zurück auf den blauen Pfau, der in gebückter Haltung mit einem Flügel auf dem Boden lauerte. „Nicht gerade eine feine Art seine Gastfreundschaft zu zeigen.“
Anhand der Stimme konnte Meister Ochse jetzt nur vermuten, dass es nicht Shen war, was Meister Kroko nur bestätigte.
„Das scheint nicht er zu sein. Und ich dachte, er hätte sich eingefärbt.“
„Wie bist du an den Wachen vorbeigekommen?“, schnauzte Meister Ochse den fremden Pfau an. Es war ihm völlig egal, was der Eindringling wollte, aber auf Pfaue war er generell in letzter Zeit nicht gut zu sprechen.
„Wer?“, fragte der blaue Pfau und erhob sich. „Ach, die. Die legen wohl gerade eine Mittagspause ein. Aber dennoch hast du ein sehr rüdes Benehmen.“ Er strich sich seine Robe glatt. „Aber wie auch immer.“
Dann ging er mit langsamen Schritten weiter auf die zwei Meister zu. „Ich stehe etwas unter Zeitdruck, weshalb ich euch bitten möchte, euch sofort zu ergeben und die Stadt mir zu überlassen.“
Meister Ochse meinte nicht richtig zu hören. „Was sollen wir?!“
Meister Kroko hingegen verwirrte diese Aufforderung nur noch mehr. „Passiert uns das jetzt mit jedem Pfau, der zu uns kommt?“
Doch Meister Ochse wurde sofort zum rasenden Stier und zeigte nur seine Faust. „Mach gefälligst das du wegkommst, oder wir rupfen dir die Federn!“
Der blaue Pfau verzog spöttisch den Schnabel. „Tz, also so ein rüdes Verhalten, das wäre sogar für einen Müllarbeiter zu unwürdig.“
Zornig stürmte der Ochse auf ihn los, doch der blaue Pfau Xiang wich ihm immer wieder geschickt aus und wehrte ihn sogar ab.
„Ich an eurer Stelle würde besser kapitulieren“, forderte Xiang in einem Moment des Stillstandes.
Doch Meister Ochse holte aus, der Pfau wich abermals seinem Schlag aus, was dem Pfau ein böses Fauchen entlockte. „Tz, wie ihr wollt.“
Er hob den Flügel. Es vergingen nur wenige Sekunden. Plötzlich erschütterte eine Explosion die Luft. Die Augen der beiden Meister wanderten in die Ferne, wo am äußersten Rand der Stadt, Häuser in einer Rauchwolke einstürzten. Ein Geschrei erhob sich unter den dort lebenden Tieren.
„Wie ihr seht“, kommentierte Xiang ohne Bedauern, „habe ich schon Vorbereitungen getroffen.“
Fassungslos sahen Meister Ochse und Meister Kroko zu, wie Xiang sich vor ihnen hinstellte, als wäre überhaupt nichts gewesen.
„Eure Stadt steht auf wackeligem Boden“, spottete der Pfau. „Die ganzen Wochen haben meine Leute damit verbracht, die Stadt mit Schießpulver zu bestücken. Unterhalb der Stadt ist alles mit Sprengpulver ausgelegt.“
Meister Kroko entwich die Farbe aus dem Gesicht und starrte unter sich auf den Boden, was Xiang nur ein kaltes Lächeln hervorrief. „Mit jedem Widerstand lasse ich eine weitere Ladung hochgehen. Fügt ihr euch, gebe ich der Stadt genug Zeit sich zu evakuieren, und werde euch, eventuell, laufenlassen.“
Beide sahen ihn sprachlos an. Meister Ochse mehr vor Wut, Meister Kroko zeigte sich geschockt. Schließlich gaben sie nach.
Über Xiangs Schnabel huschte ein gemeines, siegessicheres Lächeln. „Fein, wir verstehen uns.“
Er gab erneut ein Zeichen. Diesmal aber für seine Soldaten, die hinter den Mauern gewartet hatten und die Meister umzingelten.
„Führt sie ab!“, befahl Xiang kalt. „Sollten sie sich weigern oder wehren zögert nicht Ladung 2 zu sprengen. Und es ist mir völlig egal, wie viele Leute dort leben.“
Gehorsam taten die schwarzgekleideten Ochsen, was der Pfau verlangte, während Guo sich neben Xiang platzierte. „Ging ja leichter als ich gedacht habe.“
Der blaue Pfau schmunzelte. „Und es wird noch leichter. Jetzt müssen wir nur noch warten bis der Hauptgast eintrifft. Dann werden wir ihm einen gebührenden Empfang bereiten.“

17. Einreiseverbot


„Po? Was hast du vor?“
Der Panda war wie vom Blitz getroffen aufgesprungen und zum Ausgang des Restaurants gerannt.
„Na wohin wohl?“, beantwortete er Manits’ Frage. „Er darf da gar nicht hin! Und wenn da jetzt auch noch ein gefährlicher blauer Vogel auf ihn wartet mit einer Armee, dann muss man doch was dagegen tun.“
„Hältst du das wirklich für klug?“, zweifelte Viper. „Überlass es doch den Hunnen. Immerhin ist Xiang aus ihrem Gefängnis ausgebrochen.“
„Und außerdem“, fügte Monkey hinzu. „Wäre er wohl kaum erfreut, dich dort zu finden.“
Pos Augen verengten sich. „Das mag zwar sein, aber ich muss dort hin.“
„Wieso?“, hackte Tigress nach. „Nur weil du unbedingt meinst, wieder etwas gut machen zu müssen? Es war nicht deine Schuld gewesen.“
Der Panda ließ die Schultern sinken. Mit einem Plums setzte er sich auf den Boden und starrte ratlos vor sich hin.
„Wenn ich mich mal einmischen darf“, meinte Wang. „Ich persönlich hätte nichts dagegen, den Drachenkrieger an meiner Seite zu haben.“ Er gab Po einen kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter. „Ich kenne Xiang länger als ihr glaubt. Allein schon seine Familie war nicht gut auf uns zu sprechen gewesen. Immerhin sind wir schon seit Generationen Nachbarn. Sein Vater verstarb recht früh. Und seine Mutter – war zwar schön und sehr beherrscht. Mit ihr hatten wir die wenigsten Probleme, als sie die Stadt ihres Mannes übernahm. Doch sie verschwand unter mysteriösen Umständen. Man erfuhr nie, was aus ihr geworden war. Da war Xiang noch ein Teenager gewesen, als er dann die Thronfolge übernahm.“
„Also ist es ja dann beschlossene Sache“, unterbrach Po und stand auf.
„Dann kommen wir aber mit“, meinte Monkey entschlossen.
„Mitkommen?“ Po blieb der Mund offen. „Das müsst ihr nicht tun.“
„Po, hier geht es nicht nur um einen Zweikampf“, belehrte ihn Tigress entschieden. „Ihr werdet Verstärkung brauchen.“
Po warf Wang einen fragenden Blick zu. Dieser zuckte die Achseln. „Ich hab nichts dagegen.“
Etwas aufgeregt wippte Po von einem Bein auf das andere. „Na dann. Los geht’s!“
„Po!“, rief Mr. Ping ihm vom Restaurant aus nach. „Ich pack dir noch was zu essen ein!“
„Shifu muss auch noch davon erfahren“, fügte Mantis hinzu.
„Das mache ich“, bot Crane sich an.
„Hier, Po!“ Sofort kam Mr. Ping mit einem vollgestopften Rucksack auf ihn zugerast. „Das hier sollte für die nächsten paar Tage reichen. Und pass gut auf dich auf.“
„Das werde ich schon, Dad.“ Sie umarmten sich.
In diesem Moment wurden sie von König Wangs Ruf abgelenkt. „Moment mal!“
Alle sahen zu König Wang, der neben einem Verkaufsstand stehen geblieben war.
„Ist das ein Drachenkrieger-Fan-Artikel-Shop?“, fragte er.
Das Schwein, welches der Stand gehörte, nickte. „Äh, ja.“
„Ich kaufe alles!“
Dem Schwein fiel fast die Kinnlade runter. „Das wird das Geschäft meines Lebens.“

18. Elternschatten


In der Zwischenzeit war Xiang mit Guo und ein paar anderen in das Quartier der Meister vorgedrungen, wo auch sämtliche Unterlagen der Stadt Gongmen lagerten.
„Nette Einrichtung“, meinte Xiang trocken. „Aber nicht gerade sehr geschmackvoll.“
Sein Blick wanderte zu einem großen Bild an der Wand hoch.
„Das scheinen seine Eltern zu sein“, meinte Guo.
Xiang rieb sich über den Schnabel. „Scheint so.“
Guo betrachtete das Bild nachdenklich. Besonders Shens Vater studierte er eingehend.
„Er sieht aus wie du“, meinte er schließlich.
Xiang winkte abfällig mit dem Flügel. „Ach, mein Vater sah viel besser aus. Genauso wie ich.“
Ehrergiebig strich er sich über seine Federn. Dann schwang er harsch seine Robe herum. „Verbrennt es! Alles!“
„Alles?“, fragte Guo nach.
„Natürlich“, bestätige Xiang düster. „Nichts soll mehr von der Stadt übrigbleiben, oder denkst du, ich hab nur zum Spaß schonmal das ganze Sprengpulver ausgelegt? Zuerst vernichten wir die Inneneinrichtung und danach jagen wir später die ganze Stadt in die Luft. Aber erst wenn er tot ist. Zusammen mit seiner Brut.“
„Was ist eigentlich mit meinem Lohn?“, fragte Takeo, der sich auf eines der Regale niedergelassen hatte.
„Takeo, du kannst dich nützlich machen indem du ein paar Sachen verbrennst!“, befahl Xiang schroff.
„Verbrennen?“
„Ja, verbrennen! Kehrt alles zusammen und dann raus damit!“

Es dauerte nicht lange und man hatte im Hinterhof des Palastes eine Art Scheiterhaufen aufgestapelt, bestehend aus sämtlichen Stadtdokumenten und Wertgegenständen.
Während die Soldaten damit beschäftigt waren die Sachen rauszutragen, nahm Xiang sich die Zeit ab und zu einen Blick in ein paar Papiere zu werfen. Das meiste war für ihn uninteressant. Nur bei den persönlichen Dokumenten der Familie verweilte er ein bisschen länger. Besonders bei den Pergamenten der Stadtgeschichte.
„Eine nette Sippe hat ihn da hervorgebracht“, meinte Xiang geringschätzig und warf die nächste Buchrolle einfach in eine Ecke. „Erst verhätscheln sie ihn und dann werfen sie ihn einfach vor die Tür. Eine nette Familie.“
Er ging ans Fenster und sah hinaus auf den Platz, wo man damit begonnen hatte den bereits großen Papierhaufen anzuzünden.
Guo gesellte sich zu ihm. „Na ja, aber nach alldem was ich so gehört habe, sollten sie ihn geliebt haben. Zumindest soll das gerüchteweise so in der Stadt kursieren.“
Xiang schnaubte. „Blödsinn sowas.“
Es folgte eine Pause, die Guo langsam unangenehm wurde. Murmelnd entfernte er sich. „Na ja, zumindest scheint er gute Eltern gehabt zu haben. Im Gegensatz zu deiner Mutter…“
Er hielt erschrocken inne. Zögernd drehte er sich zum Pfau um, der auf einmal wie eingefroren war. Plötzlich begannen seine Flügel zu zittern. Noch ehe Guo etwas sagen konnte, packte der Pfau einen Stuhl und warf ihn nach dem Ochsen. Guo konnte gerade noch ausweichen.
„ICH WILL NICHTS MEHR VON IHR HÖREN!“, brüllte Xiang ihn an. „NIE MEHR! HAST DU VERSTANDEN?!“
In seinem Gesicht spiegelte sich Wut und Angst. Doch dann schien er wieder seine Fassung gefunden zu haben und kehrte dem Ochsen den Rücken zu.
„Nie wieder.“ Seine Stimme verfiel in ein heiseres, zittriges Flüstern.
Reuevoll erhob sich der Ochse. „Es tut mir leid. Ich hab doch nur laut gedacht. Hätte doch sein können, dass du deshalb so einen Hass auf Frauen hast.“
Blitzschnell drehte sich der Pfau zu ihm um, wobei er ihn drohend anstierte. „Noch ein Wort, und du kannst dein Blut vom Boden aufwischen!“
Guo zog den Kopf ein. Der Pfau sah aus als könnte er jeden Moment jemanden umlegen. Doch der Pfau beherrschte sich erneut und wich seinem Blick aus.
„Was stehst du hier noch so herum? Mach dich nützlich. Hau einfach ab!“
Hastig verließ Guo den Raum. Es wurde still. Nur von draußen waren die Flammen im Hof zu hören, die gierig das Papier verzerrten. Eine Wärme lag in der Luft, trotzdem fror der Pfau innerlich. Er lehnte sich gegen die Wand und umarmte sich selber. Ein eiskalter Schauer ging ihm durch Mark und Bein, als würde jemand seine kalten Fingern nach ihm ausstrecken.
„Du bist doch mein braver Junge, oder?“
Ihre Fingerfedern krallten sich mahnend in seinen Nacken. Sie lachte.

Geschockt betrachtete er seine Flügel. Er meinte Blut unter den Federn zu spüren.
Nein, das war nur Einbildung!
Wieder hallte ihr Lachen in seinen Ohren. Stöhnend hielt er sich den Kopf und sank zu Boden. Ihre Stimme, und ihr Lachen. Dieses teuflische Lachen von ihr. Wie sehr er es doch gehasst hatte.
Auf einmal sprang er auf und schleuderte einen Tisch mit brutaler Wucht gegen die Wand. Krachend zerschellte das Holz in tausend Stücke.
Keuchend kniete der Pfau auf den Boden.
Du kontrollierst mich nie wieder!

19. Zerrissen


Wütend rüttelte Xia an den Gitterstäben. „Verdammt!“
Der Käfig, in dem sie sich zusammen mit Sheng und der Wahrsagerin befand, stand in einem abgelegenen Raum. Nur ihre Mutter war nicht mehr bei ihnen. Sie trat nochmal gegen die Stäbe, dann wandte sie sich entrüstet ab.
„Lass doch“, meinte Sheng, der sich auf dem Boden des Käfigs niedergelassen hatte. „Das bringt uns jetzt auch nichts.“
„Du willst doch auch hier raus, oder etwa nicht?!“, fuhr seine Schwester ihn an.
Sheng hob die Augenbrauen und verkrampfte sich in seinem Schneidersitz.
„Du hat es doch selber gehört“, mahnte ihr Bruder sie ruhig. „Sollten wir versuchen auszubrechen, dann tun sie Mutter noch etwas an.“
Seufzend lehnte Xia mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe. „Was wird er nur mit ihr anstellen?“
Sheng atmete einmal tief ein und aus. „Umbringen eher weniger. Dafür ist sie eine viel zu gute Geisel für ihn.“
Das Mädchen sank zu Boden. „Du denkst also auch, dass wir nicht gut wären?“
Ihr Bruder sah sie überrascht an. „Was meinst du damit?“
Xia setzte sich auf und starrte an die Decke durch die Stäbe. „Dass er Mutter lieber mag als uns.“
„Wieso stellst du dir überhaupt so eine Frage?“
„Hast du dich das noch nie gefragt?“
Sheng schwieg und wollte das Thema wechseln, weshalb sein Blick zur Wahrsagerin wanderte, die in einer Ecke des Käfigs saß und etwas im Huf hin und her schwenkte.
„Was ist das?“, fragte er neugierig.
Die Ziege hielt das kleine Objekt etwas höher. Es war eine blaue Feder.
„Woher hast du die?“
„Sie ist mir in der vergangenen Nacht vom Wind zu mir geweht worden“, antwortete sie ruhig, was Xia nur ein Schnauben entlockte.
„Jetzt hat er auch schon Federausfall? Verschon mich bloß damit!“
Wütend schnappte sie sich die blaue Feder, warf sie zu Boden und trat einmal drauf.
Seelenruhig sah die Wahrsagerin sie an. „Du hasst ihn, nicht wahr?“
Xia drückte mit dem Fuß noch mehr auf die Feder. Dann wandte sie sich einfach ab, verschränkte die Flügel und stierte durch die Gitterstäbe. Nachdenklich hob die Wahrsagerin die blaue Feder wieder auf, die von Xia völlig zerzaust worden war. Sheng beobachtete wie die Ziege die Federkiele wieder gerade strich. Dann wanderte sein Blick wieder zu seiner Schwester, die sich innerlich zu quälen schien.
„Ich weiß, wozu er in der Lage ist“, platzte es aus ihr heraus. „Wann immer er konnte, hatte er sie schikaniert. In der Nacht schloss er sie in ihrem Zimmer ein. Er selber schloss auch seine eigene Zimmertür ab. Sogar uns schloss er ein. Wenn er üble Laune hatte, dann ließ er seine Wut an ihr aus.“ Sie umarmte sich selber. „Ich will gar nicht daran denken, was er jetzt in seiner Wut macht.“
Sheng erhob sich von seinem Sitzplatz, ging auf sie zu und streichelte über ihre Schultern. „Soweit wird es bestimmt nicht kommen.“
Sie schob seine Flügel weg. „Das kannst du gar nicht wissen.“
Ihr Bruder seufzte, doch dann drehte er sie um, sodass sie ihm ins Gesicht schaute.
„Das wird nicht passieren“, sagte er eindringlich. „Weil er es nicht zulassen wird.“
„Du meinst Vater?“ Sie senkte den Blick. „Was soll er schon tun können?“
Entschlossen fasste Sheng sie an den Schultern. „Er wird kommen. Glaub mir, er wird kommen.“
Xia stieß ein Schluchzen aus. „Ich will es ja glauben, aber ich hab Angst.“
Schnell umarmte er sie, bevor sie ins Weinen ausbrauch. Er selber wusste sich auch keinen Rat, weshalb er sie nur über den Rücken streichelte. Die Wahrsagerin beobachtete die beiden mit betrübtem Blick, dann wanderte ihr Blick wieder auf die blaue Feder in ihrem Huf.

Shen öffnete die Augen. Es war ihm, als würde etwas nach ihm rufen. Oder bildete er es sich nur ein? Er rieb sich über seine wunden Füße. Er hatte den ganzen Weg über keine Pause eingelegt. Jetzt stand er auf einem Hügel. In der Mittagssonne erstrahlte die Stadt Gongmen in ihrem Glanz.
Der weiße Pfau seufzte wehmütig. Dieser Anblick erinnerte ihn an damals, als er das erste Mal nach seiner Verbannung wieder zurückgekehrt war. Es war eine Ansammlung aus gemischten Gefühlen. Er kam als Feldherr zurück, mit großen Plänen und einer Wut, die er kaum bändigen konnte. Heute war es das Gegenteil. Er war weder erfolgreich gewesen, noch hatte er einen Plan. Er wusste nur, dass er sie da rausbekommen wollte. Die Frage war nur wie. Xiang war nicht so dumm und würde sie ihm freiwillig zurückgeben. Er musste damit rechnen, dass er mehr als nur seine Familie bedrohen wollte. Das war für ihn kein Spiel mehr.
Shen ließ seinen Blick über der Stadt schweifen. Der Palastturm war bis auf knapp ein Drittel wiederaufgebaut worden. Ansonsten hatte sich an der Stadt nichts verändert. Bis auf eines, was seine Aufmerksamkeit erregte. Ein paar leichte Rauchsäulen stiegen über einem Teil der Stadt empor, was mehr als ungewöhnlich war.
Um kein Risiko einzugehen, besorgte er sich einen alten langen Mantel, der ihm sogar bis über die Schwanzfedern reichte, und schlich sich in die Nähe, wo der Qualm in den Himmel aufstieg. Dort liefen ihm immer wieder ein paar Stadtleute entgegen, die entweder damit beschäftigt waren Trümmer zu beseitigen oder Verletzte zu bergen. Alle standen noch so unter Schock, dass niemand Shen Beachtung schenkte oder fragte, was er als Fremder hier zu suchen hatte. Der weiße Pfau verbarg sein Gesicht tief in den dunklen Mantel und hielt ein Schaf an, dass an ihm vorbeigerannt kam.
„Was ist hier passiert?“, erkundigte er sich.
„Alle Häuser sind eingekracht“, japste das Schaf völlig panisch. „Sie sollten besser von hier verschwinden, Fremder! Es geht das Gerücht um, dass die ganze Stadt in die Luft gehen könnte!“
Damit lief es einfach davon. Aber dies genügte Shen völlig, um den Ernst der Lage zu verstehen und zu erahnen, was der blaue Pfau ausgeheckt hatte.
Shen entfernte sich etwas von der Unglücksstelle, setzte sich auf eine Holzbank und dachte angestrengt nach. Blindlings in die Falle zu laufen wäre verkehrt. Er musste einen Schritt vorausplanen und er wusste auch schon, was er zu tun hatte.

20. Die Rache des Unterdrückten


Ihr tat der Hals weh. Der Strick, der sie daran hindern sollte wegzulaufen, war nicht gerade locker gezogen worden. Sie war allein. Der Raum an sich war leer und kalt. Vermutlich eine Art Abstellkammer in einem der Gebäude in Palastnähe. Yin-Yu hockte an einem Holzbalken, an der sie mit festen Seilen angebunden worden war. Wegen dem zusätzlichen Strick um ihren Hals war es für sie unmöglich den Kopf zu bewegen.
Ihr Blick wanderte hoch zur Decke. Alles tat ihr weh, egal ob innen oder außen. Sie fühlte sich einfach elend. Es tröstete sie zwar, dass er ihr noch nichts getan hatte, aber sie befürchtete, dass er nicht mehr lange warten würde, das zu tun.
Sie erstarrte im nächsten Moment, als sie Schritte vernahm, die hinter der Tür zu hören waren. Die Pfauenhenne hielt den Atem an, als die Tür aufgeschlossen wurde. Licht fiel in den dunklen Raum. Yin-Yu saß gefesselt mit dem Rücken zur Tür. Vermutlich hatte er sie absichtlich in diese Position gefesselt, damit sie ihm nicht direkt ins Gesicht sehen konnte. Er kannte sie gut genug, dass er ihr damit extrem gut Angst einjagen konnte.
Eine Weile blieb alles ruhig. Sie sah den Schatten, der auf die Wand ihr gegenüber fiel. Sie wusste, er war da.
Schließlich trat er ein. Ihre Haltung verkrampfte sich. Schon seit ihrer ersten Begegnung hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er sie hasste, wenn nicht sogar verfluchte. Seine Gegenwart war für sie immer der Schatten des Unheils. Egal zu welcher Tageszeit. Ihr gegenüber war er immer kalt gewesen. Sogar in der Hochzeitsnacht verhielt er sich so, als wäre das nur alltägliche Routine. Im Gegensatz zu Shen, der sie innig verehrt hatte.
Die Schritte verstummten. Er stand jetzt neben ihr, aber so, dass sie ihn nur schwach aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte.
„Schon eine ganze Weile her, dass wir zusammen alleine waren, ist es nicht so?“ Er schmunzelte spöttisch. Sie hörte wie er seinen Flügel nach ihr aussteckte und auf ihrer Schulter niederließ. Ein Zittern durchfuhr sie, als er seine Fingerfedern etwas an ihr rieb.
„Ein Jahr ist zwar kurz, aber zu lang für mich“, fuhr er mit monotoner Stimme fort. „Aber ich nehme an, dass du dich in dieser Zeit gut amüsiert hast, nicht wahr?“
Er verstärkte seinen Griff auf ihrer Schulter, was ihr ein Aufkeuchen entlockte.
„Bitte, lass die Kinder gehen!“, bat sie. „Mit mir kannst du machen was du willst. Aber lass sie gehen!“
„Ach ja.“ Seine Finger gruben sich in sie hinein. „Bei deiner Orgie mit ihm hast du, so wie ich gehört habe, Erfolg gehabt.“ Er massierte seine Flügespitzen weiter in ihre Schulter. „Bedauerlich, dass es so tragisch damit enden musste.“
Yin-Yu keuchte unter einem leisen Wimmern. Die Wunde des Verlustes war noch viel zu frisch, als dass sie hätte darüber reden können. Aber aus Xiangs Mund hörte sich alles wie eine Morddrohung an.
Zu ihrer Erleichterung, aber auch aus Schock, ließ er sie los und trat ihr gegenüber. Ihr blieb nichts anderes übrig als zu ihm hochzuschauen, da sie den Kopf wegen dem Strick um ihren Hals nicht senken konnte.
Xiang legte die Flügel zusammen und sah sie mit neutralem Gesichtsausdruck an. „Ich vermute mal, dass tut weh, oder?“
Sie schluckte schwer. „Warum redest du davon?“
Der blaue Pfau zuckte die Achseln. „Ach, vermutlich, weil ich etwas dabei nachgeholfen habe.“
Sie sah ihn erschrocken an. Doch Xiang grinste nur. „Ich habe veranlasst deine Brut zu vernichten.“
Für einen Moment war Yin-Yu wie betäubt. Sie war wie versteinert. Als es endlich zu ihr durchdrang konnte sie nur ein ungläubiges „Nein“ hauchen. Doch Xiang nickte nur und Yin-Yu konnte nicht anders als anzufangen zu weinen. Ihr war als würde man ihr das Herz zerschneiden. Doch der blaue Pfau zeigte keinerlei Reue.
„Nun reg dich doch nicht so auf. Sie haben bestimmt nicht viel gespürt. Und es war vielleicht Mühe für gar nichts. Aber ich musste dir eine Lektion erteilen.“
Yin-Yu hörte ihm gar nicht mehr zu. Aber Xiang schien es im Moment auch egal zu sein und kümmerte sich nicht weiter um das Wehklagen seiner Ex-Frau, die wie verloren gefesselt dasaß und nicht mehr ein noch aus wusste aus ihrer Trauer.
„Glaub mir“, sagte er mit gleichgültiger Stimme. „Genauso tat mir die Demütigung weh, die du mir bereitet hast.“
Er sah sie an, aber sie hatte nur die Augen geschlossen und ließ ihren Tränen freien Lauf, doch das kümmerte dem Pfau herzlich wenig.
„Oh, wie habe ich doch den Tag verflucht“, fuhr er unbarmherzig fort. „Und ich kann dir sagen, es waren seit unserer Trennung keine angenehme Zeit gewesen. Mir tun heute noch die Füße weh von der ganzen Arbeit im Arbeitslager. Arbeit, die weit unter meiner Würde lag.“ Er legte die Spitzen seiner Fingerfeder aneinander. „Aber ich habe stets mir ausgemalt, wie ich dich dafür bestrafen könnte. Und dein Nachwuchs kam mir da gerade recht. Schmerz für Schmerz. Die inneren Schmerzen habe ich dir schon zugefügt. Jetzt musst du ihn nur noch äußerlich spüren.“
So langsam hatte Yin-Yu sich wieder etwas gefasst und schaffte es wieder ein paar Worte zu formulieren. „Warum? Warum tust du das? Ich habe dir nie was getan!“
Xiang beugte sich zu ihr runter und umfasste ihr Gesicht, wobei er sie mit leichtem Vorwurf ansah. Anschließend ließ er seinen Flügel hinter ihren Kopf gleiten und sah ihr dabei kalt in die Augen, bis ein Lächeln über seinen Schnabel huschte.
„Ihr Frauen tut so harmlos.“ Plötzlich bohrten sich seine Fingerfedern durch ihre Kopffedern. „Aber das seid ihr nicht!“
Noch ehe Yin-Yu einen Laut von sich geben konnte, stieß sie einen erstickten Schrei aus, als er seine Fußkralle vorschnellte und ihren Kehlkopf drückte. Panik stieg in ihr hoch, als er sie ein wenig zu würgen begann. Sie bekam Angst er würde sie ersticken, doch dann ließ er wieder locker, seinen Flügel immer noch ihren Kopf haltend, doch dann bohrten sich stattdessen seine Krallen durch ihre Halsfedern.
„Hör auf, hör auf!“, flehte sie.
Sie befürchtete, er könnte sie blutig kratzen, doch er ließ sie los. „Na schön, bestraft wirst du später sowieso noch genug.“
Mit diesen Worten zog er ein Messer hervor und schnitt ihre Fesseln durch. Weinend sank sie zu Boden. Anschließend umkreiste er sie wie ein Raubtier. Ohne Rücksicht packte er sie am Hals und zog sie hoch. Dabei ließ er das Messer an ihrem Hals und zu ihrer Kleidung runterwandern.
„Nun schau mich endlich mal an!“, fuhr er sie an. „Ich bin immer noch dein Ex-Mann.“
Wütend ritzte er einen Teil ihrer Kleidung auf. Wimmernd hielt sie sich schützend die Flügel vor sich. „Nein! Das kannst du mir nicht antun!“
„Oh, nur keine Sorge“, beruhigte Xiang sie in einem unheilvollen Ton. „Das ist nicht das, was ich im Sinn habe. Ich habe eine ganz andere Rolle für dich vorgesehen.“
Er warf sie von sich und sie landete erneut unsanft auf dem Boden. Anschließend setzte er einen Fuß auf ihren Rücken und verlagerte sein gesamtes Gewicht auf ihre Lunge. Japsend rang sie nach Luft. Sie hätte zwar genug Kraft um sich zu wehren, doch Xiangs Psychoterror lähmte sie noch mehr als seine burtalen Handgreiflichkeiten. Gebieterisch sah er auf sie herab und achtete darauf, dass sie ihn ansah.
„Du wirst morgen nicht mehr da sein!“, drohte er eisig. „Und er auch nicht!“

21. Im Kreuzfeuer


Still und leise wiegte sich die Ziege hin und her. Sie saß allein im Käfig und suchte innerlich nach Halt. Die ganze Ungewissheit war für sie kaum zu ertragen. Immer wieder fragte sie sich, wie der Tag wohl zu Ende gehen würde. Ständig haderte sie mit sich selber in die Zukunft zu schauen, aber ihr innerer Widerstand schob ihr immer einen warnenden Keil vor ihr Vorhaben.
Plötzlich hob sie den Kopf. Da war ein Geräusch. Es kam von der Tür. Wie das Kratzen eines Messers. Hastig erhob sie sich und starrte nach vorne. Jemand machte sich am Schloss zu schaffen. Unter dem Türschlitz bewegte sich ein Schatten. Ein knackendes Geräusch ließ die Tür aufspringen. Die Ziege war zuerst erschrocken, als sie eine Vogelgestalt im Türrahmen erblickte. Erst als sie ein Federmesser aufblitzen sah, fiel ihr eine Last von der Seele.
„Shen!“
Ohne ein Wort ging der Pfau auf den Käfig zu und zerstörte das Vorhängeschloss.
„Wo sind die anderen?“, fragte er, ohne sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen.
„Du bist ja ganz schmutzig“, stellte die Ziege besorgt fest und schob die Käfigtür auf. „Wo warst du gewesen?“
Sie hob einen Zipfel von Shens Robe auf und versuchte einen Fleck wegzuschrubben.
„Lass das!“ Wütend entzog Shen ihr seine Kleidung. „Ich habe nur einen Spaziergang im Untergrund gemacht. Oberhalb war es mir etwas zu überfüllt. – Wo sind die anderen?!“
„Soweit ich weiß, hat er alle auf der Baustelle untergebracht, wo der Palast stand - den du damals zerstört hast.“
Es klang wie ein Vorwurf, den sie aber nicht bekräftigen wollte. Es gab jetzt Wichtigeres.
„Aber er wird dich nicht an sie heranlassen“, mahnte ihn die Wahrsagerin, als Shen wieder durch die Tür rennen wollte. Doch dann drehte sich Shen um und rammte sein langes Schwert in den Holzboden.
„Dann muss er erst über meine Leiche schreiten!“, fauchte der weiße Pfau.
Die Ziege seufzte wehmütig. „Shen, ich bin mir sicher, dass es ihm noch nicht einmal was ausmachen würde zu sterben – zumindest nachdem er sein Ziel erreicht hat.“
„Woher willst du das wissen?“
Sie sah auf die blaue Feder, die sie immer noch im Huf hielt. „Ich fühle das.“
„Sehr aufschlussreich“, knurrte Shen sarkastisch. „Bringt die ganze Parodie aber auch nicht weiter.“
Mit diesen Worten zog er das lange Schwert wieder heraus und wandte sich ab.
„Viel Glück, Shen“, sagte ihm die Wahrsagerin nach. „Ich hoffe das Beste - für euch beide.“
Shen blieb stehen und sah sie wütend an. „Wie kannst du so etwas sagen?!“
Über ihr huschte ein kaum sichtbares, schüchternes Lächeln. „Vielleicht, weil er mich etwas an dich erinnert.“
Shen zog die Augenbrauen zusammen, unterließ aber eine weitere Diskussion und verließ sie unter seinem inneren Zorn.

Es war ein Leichtes für Shen sich unbemerkt an die Baustelle des Palastes heranzuschleichen. Er kannte jeden Millimeter, der sich seit seiner Kindheit in sein Gehirn eingebrannt hatte.
Die Baustelle war knappe drei Stockwerke hoch. Weiter waren die Bauarbeiten noch nicht gekommen, da es schon schwere Arbeit gewesen war, die Trümmer des alten Gebäudes fortzutragen. Shen überkam ein schauderhaftes Gefühl, als er sich daran erinnerte, wie er mit seinen Kanonen den Palast bombardiert hatte, nur um den Panda mit seinen Gefolgen zu vernichten.
„Dieser Panda“, knurrte Shen, schluckte aber seinen alten Zorn wieder herunter. Er konnte es sich jetzt nicht leisten sich damit abzulenken. Seine Gedanken waren nur auf eines ausgerichtet.
Es wunderte Shen, dass obwohl die Ziege ihm gesagt hatte, Xiang würde sich in diesem unfertigen Gebäude aufhalten, so gut wie keine Wachposten zu sehen waren. Wieso ließ sein Rivale das Haus unbewacht? Doch Shen blieb keine andere Wahl. Er war allein. Er konnte niemanden um Hilfe bitten. Mit Ausnahme von der Wahrsagerin… aber nein, ihre Hilfe wollte er schon gar nicht. Theoretisch hätte er auch das Gebäude in Brand setzen können, aber damit würde er nur seine Familie gefährden. Er wusste nicht, wo und in welchen Zustand sie sich befanden. Einen kurzen Moment bedauerte Shen es wirklich, dass er auf sich alleine gestellt war. Aber es war seine Angelegenheit.
Der weiße Pfau hangelte sich an dem Baugerüst hoch und erklomm die oberste Etage. Von hier aus konnte er den ganzen Hof überblicken, und er wunderte sich einen kurzen Moment über die große Statue von Meister Donnerndes Nashorn. Doch für eine Analytik blieb ihm keine Zeit. Schnell huschte er an der Innenwand entlang, wo ihn Dunkelheit umgab. Die Holzböden für die Etagen waren nur halbfertig, sodass er nicht extra die Treppe nehmen musste. Doch kaum war er im zweiten unfertigen Stockwerk angelangt, stieg ihm ein brennender Geruch in die Nase. Es roch wie nach Metall. Nach heißem Metall.
Der Lord kniff die Augen zusammen. Es war stockdunkel im Baustellengebäude, was Shen aber nicht viel ausmachte. Wenn die Bauarbeiter sich an das Original gehalten hatten, dann kannte er jeden Balken und jede Biegung. Nur der verbrannte Geruch war ungewöhnlich.
Plötzlich blieb Shen wie vom Donner gerührt stehen. Nicht weit von ihm entfernt glomm in der Mitte des Gebäudes ein rotes Licht. Und davor stand eine kaum sichtbare Gestalt. Es war nur ein dunkler Schatten, der sich nicht bewegte. Schritt für Schritt schlich sich Shen näher an die Person heran. Es war die Silhouette eines Pfaus. Shen wollte gerade sein Federmesser ziehen, als plötzlich…
„Das würde ich bleiben lassen an deiner Stelle“, hielt ihn eine Stimme an und der andere Pfau hob mahnend den Flügel. Shen erstarrte. Langsam drehte Xiang sich zu ihm um. Im roten Licht erschien sein Federkleid fast violett. „Ich habe dich schon erwartet. Zwar etwas spät, aber besser als nie.“
Shen fauchte laut. „Nenn mir einen Grund, weshalb ich deinen Leichnam nicht über meine Tür aufhängen soll!“
Xiang kicherte. „Du bist ein Spaßvogel, muss ich schon sagen. Aber lassen wir doch einfach den Vorhang fallen.“
Im nächsten Moment fielen zu beiden Seiten des blauen Pfaus dicke Tücher herab, sodass sie den Blick ins Gebäudeinnere freigaben. Links und rechts hingen zwei Ketten von der Decke des zweiten Stockwerkes herab, an deren jeweiliges Ende etwas drin gebunden war.
„DAD!“ Als Xia ihren Vater erkannte, schwang sie mit Sheng hin und her. Beide Geschwister waren aneinander gekettet und hingen kopfüber. Auf der anderen Seite hing ihre Mutter auf die gleiche Art und Weise gefesselt. Nur sah sie etwas anders aus. Shen kniff die Augen zusammen. Die Pfauenhenne war mit irgendetwas überzogen, nur war es wegen des roten Lichtes nicht sofort zu erkennen. Erst als sich die Augen des Pfaus an das irritierende Spektakel gewöhnt hatten, erkannte er, dass sie mit weißer Farbe überzogen war, die noch teilweise von ihr heruntertropfte. Sie sah aus, als hätte man sie in einen Farbeimer getunkt.
Xiang bemerkte Shens verwirrten Gesichtsausdruck und kicherte heiser. „Ich würde mal sagen, jetzt passt ihr gut zusammen, nicht wahr?“
Shen zitterte vor Wut, doch noch ehe er sich auf den hämisch Lächelnden stürzen konnte, hob Xiang mahnend die Schwingen. „Na, na, na. Wenn du mich tötest, muss ich sie fallen lassen.“ Er deutete unter seine Füße, wo er auf zwei Kettenenden stand. Shens Blick wanderte nach unten. Unter den Gefangenen brodelte jeweils ein Kessel mit heißem, geschmolzenem Metall.
Xiang rieb sich scheinheilig die befiederten Hände. „Tja, was jetzt? Wen soll ich fallen lassen?“ Er lockerte etwas die Kette, an der Yin-Yu angebunden war. „Entweder dein Flittchen. Oder deine zwei Sprösslinge?“
Shens Blick wanderte zwischen den gefangenen Pfauen, doch für so ein Spiel war er kaum bereit. „Dann kämpfe doch gegen mich!“
Xiang schmunzelte. „Ist ein nettes Angebot.“ Er legte die Flügel geruhsam zusammen und senkte kurz seinen Blick, bevor er ihn anschließend wieder ruckartig hob. „Aber ich spiele nach meinen Regeln!“ Er sprang auf und flatterte nach oben.
Shen stieß einen Schrei aus, als die Ketten davonschlitterten und die Gefangenen fielen. Der weiße Pfau warf sich nach vorne und bekam die beiden Ketten gerade noch zu fassen. Schnell zog er daran und hob die drei gefesselten Vögel dadurch mehr von der glühend heißen Masse weg.
Entspannt sah Xiang zu, wie der weiße Pfau sich bemühte die beiden Ketten zu halten, um zu vermeiden, dass sie in die Kessel fielen. Langsam stolzierte er auf einem der Dachbalken entlang.
„Meinetwegen kannst du solange dort stehen bleiben bis an dein Lebensende“, spottete er. „Aber da auch meine Zeit begrenzt ist, werde ich dir natürlich gerne nachhelfen.“
Er tätschelte sachte in die Flügel und sofort tauchten mehrere schwarzgekleidete Hunnensoldaten auf. Es waren bestimmt mehr als 30. Xiang schnippte einmal mit den Fingerfedern. Jemand schoss einen Pfeil ab, der Shen nur ganz knapp verfehlte.
Xiang lachte. „Jetzt kannst du dabei zusehen, wie du deine ganze Familie umbringst. Es sei denn, du entscheidest dich für einen von ihnen. Wen willst du opfern?“
Wütend stemmte Shen die Beine in den Boden, und sah dennoch von Xia und Sheng zu Yin-Yu rüber.
„Dad! Du musst das nicht tun!“, schrie Xia ihm zu.
Shen schnaubte laut und sein ganzer Zorn war nur noch auf Xiang gerichtet. Dieser ließ sich von Shens Wut nicht beeindrucken.
„Wir sind uns irgendwie ähnlich. Meinst du nicht auch?“, säuselte Xiang kalt. „Wir haben dieselbe Denkweise. Ich mag dich nicht. Du magst mich nicht.“
„In diesem Punkt sind wir uns wenigstens einmal einig“, knurrte Shen bösartig.
Xiang lächelte kalt. „Dann wirst du auch wohl meine Gedanken nachvollziehen. Ich werde dich ausradieren. Wenn du tot bist, werde ich die Überreste deiner Stadt in Schutt und Asche verwandeln. Sie werden zu Staub zerfallen wie du. Nichts wird mehr von dir übrigbleiben. Weder du, noch deine Nachkommen.“ Er warf Shen einen eisigen Seitenblick zu. „Dein erstes Pack hab ich ja schon bereits ins Jenseits befördert.“
Shen zog kräftig an den Ketten und richtete sich drohend auf. „Was willst du damit sagen?“
Xiangs Blick wanderte kurz zu Yin-Yu, die ein lautes Schluchzen von sich gegeben hatte. „Da dein Weib eh kaum in der Lage ist, was zu sagen, werde ich statt ihrer die Antwort geben.“
Mit diesen Worten segelte der blaue Pfau auf den Holzboden auf der anderen Seite gegenüber von Shen und winkte mit dem Flügel jemanden zu sich. Kurz darauf flatterte etwas Schwarzes durch die Luft und landete knapp über Xiang auf einem Balken.
Shen hielt kurz den Atem an, als er Takeo erkannte. Der Rabe verneigte sich entschuldigend. „Es war nicht meine Absicht gewesen, jemanden zu verletzen…“
„Lass das Gesülze“, unterbrach Xiang ihn. „Du hast nur meinen Befehlen zu gehorchen. Dazu bist du verpflichtet.“
Takeo nickte reuevoll. „Ja, Sir.“
Xiang rümpfte abfällig den Schnabel, ließ es jedoch bei einer weiteren Rüge.
„Takeo war so freundlich und hat mir etwas Arbeit abgenommen“, klärte Xiang auf. „Er hat nicht nur dafür gesorgt, dass deine Wachen einen guten Schlaf hatten, sondern auch…“ Er machte absichtlich eine Kunstpause. „… dir etwas die Kindererziehung erleichtert hat. Mal ehrlich. Ein paar Kinder weniger auf der Welt stört doch keinem, oder?“
Xiang unterbrach sich selber. Der weiße Pfau auf der anderen Seite sah aus, als könnte er ihn in der Luft zerreißen. Etwas kleinlaut senkte Xiang den Blick. „Das wolltest du wohl gerade nicht hören, oder?“
Plötzlich stieß der weiße Lord einen Schrei aus. Er zog die Ketten mit sich weiter nach hinten. Dann holte er zwei Federmesser hervor, rammte sie in den Boden, wo sie die beiden Ketten festhielten.
Shen hatte jetzt freie Bahn. Er schleuderte die nächsten Messer auf Xiang. Doch noch ehe die scharfen Geschosse den Rivalen erreichten, prallten die Messer ab, wie an einer unsichtbaren Wand. Dann zersplitterte etwas vor dem blauen Pfau.
Xiang lachte. „Das hab ich mir fast gedacht.“ Er ging ein paar Schritte auf die zerkratzte unsichtbare Wand zu und strich sachte darüber. „Im Grunde müsste ich dir danken. Dafür, dass ich im Arbeitslager war, traf ich auf eine ganze Reihe kluger, wenn auch schmutziger, Kreaturen, die aber sehr erfinderisch waren und aus Sand ein Material erschufen, dass man bis jetzt noch nicht entdeckt hat. Man muss es nur heiß einschmelzen und man kann daraus alles kreieren was man will. Auch Wände. Ich war so frei und hab die Formel etwas verfeinert. Es ist fast unzerstörbar.“ Er rieb mit den Fingerfederspitzen über das zersplitterte feste Glas.
Shen stand da und bebte vor Zorn. Das fiese Grinsen von Xiang trieb ihn in die blankste Wut. Er warf noch mehr Messer. Das Glas zersprang gefährlich mehr, aber es hielt der brutalen Behandlung weiterhin stand.
Xiang lehnte sich lächelnd nach vorne. „Oh, wie schade. Du hast deinen Joker verspielt. Ich hab dir die Wahl gelassen. Jetzt verlierst du beides.“
Einer der Soldaten sprang vor und kappte die Kette an der Xia und Sheng hingen. Shen sprang vor, erreichte den Balken und bekam die Kette zu fassen noch bevor die beiden Kinder in die heiße Metallmasse fielen.
„Oh!“ Xiangs Stimme klang fast schon mitleidig. „War ja klar. Dann verabschiede dich von ihr. Guo. Schenk ihr, ihr Geleit.“
Der Ochse Guo, der sich auf den Holzbalken über Yin-Yus Kette geschwungen hatte, holte mit einer Axt aus.
„NEIN!“
Blitzschnell rammte Shen ein Federmesser in den Balken und fixierte die Kette von Xia und Sheng. Anschließend stürzte er sich auf den Ochsen. Doch noch ehe er ihn erreichen konnte, traf den weißen Pfau etwas von der Seite und schleuderte ihn durch die Luft. Shen krachte gegen die nächste Holzwand und fiel stöhnend zu Boden.
Xiang schüttelte missbilligend den Kopf. „Wie kann man nur so blind sein? Schaffst du es nicht mal mehr etwas auszuweichen?“
Shen wollte sich aufrichten, doch der frische Schmerz lähmte seinen Körper komplett. Doch seine Wut im Gesicht war immer noch da.
Der blaue Pfau zuckte die Achseln. „Jünger wird der Tag auch nicht. Guo. Lass sie fallen.“
„NEIN! MUTTER!“ Xia und Sheng schrien hysterisch auf, als der Ochse mit einem erbarmungslosen Knacken die Kette durchtrennte. Yin-Yu schloss nur die Augen und übergab sich innerlich dem Tod, während sie fiel.
Plötzlich durchbrach etwas die nächste Holzwand, fing die fallende Pfauenhenne im freien Fall und riss sie auf den nächsten Balken.
Dort legte die Person die in Ketten liegende Pfauenfrau ab und hob triumphierend die Fäuste.
„Hey! Eine Portion Drachenpower gefällig?“
Für einen Moment herrschte Stille. Po lächelte verschmitzt und sah Xiang herausfordernd an. „Damit hast du jetzt nicht gerechnet, was?“
Xiang schnaubte. „Ich hab eine Abneigung gegenüber unangemeldeten Besuch.“
„Ach ja?“ Spöttisch schwenkte Po die Arme. „Und was willst du jetzt dagegen tun?“
Xiangs Augenbrauen verengten sich. „Schmeißt ihn raus!“
Sofort kamen die schwarzen Soldaten angestürmt, doch im nächsten Moment trafen fünf weitere Figuren auf die Bildfläche und schlugen mit den Fäusten um sich. Gleichzeitig tauchten jetzt andere Hunnensoldaten auf, die die gegnerische Armee in die Schranken wies.
Po war inzwischen schnell zu Shen geeilt, aus Sorge er könnte Schäden von dem Aufprall davongetragen haben. Doch Shen hatte sich bereits wieder erholt und blickte den Panda wütend an.
„Panda! Wie kannst du es wagen einfach so hier…!“
„Ja, ja, ja“, unterbrach Po und hielt ihm den Schnabel zu. „Du kannst mich später totquatschen. Jetzt sollten wir hier erst mal Klarschiff machen.“
Er wehrte den ersten Soldaten ab und Shen kämpfte sich sofort durch, um Yin-Yu zu befreien. Tigress und Monkey hatten bereits Xia und Sheng von der Kette genommen und mischten anschließend ordentlich mit.
Kaum hatte Shen Yin-Yu erreicht befreite er sie von der Kette. Die Pfauenhenne war noch etwas verstört und die weiße Farbe klebte an ihrem Federkleid.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Shen besorgt und umfasste ihr Gesicht.
„Mir fehlt nichts“, keuchte sie. „Ich… ich fühl mich nur…“
Shen umarmte sie schnell, bevor sie anfing zu weinen.
Xiang unterdessen stand zuerst völlig teilnahmslos da. Mit so viel gegnerischem Widerstand hatte er jetzt nicht gerechnet. Schon gar nicht, als auf einmal eine riesige Kreatur neben ihn sprang.
„Xiang!“ Der blaue Pfau zog jetzt doch etwas den Kopf ein, als König Wang sich vor ihm aufbäumte. „So leicht entgehst du jetzt nicht deiner Strafe!“
Xiang schnaubte. „Das werden wir ja noch sehen!“
So schnell konnte Wang nicht den Pfau packen, da flatterte dieser auch schon hoch hinaus durch die nächste offene Lücke im Dach. Vorher drehte er sich noch einmal um, gleichzeitig sah Shen zu ihm rauf. Ihre Blicke trafen sich für einen Bruchteil. Doch dieser genügte, um nur ein einziges Wort zu signalisieren, was Xiang einen Angstschauer durch den Körper jagte.
Tod.

22. Konfrontation zweier Kriegsherren


Kaum hatte der blaue Pfau das „Dach“ des unfertigen Palastes erreicht, blickte er sich hastig um. Als er sein Ziel ausfindig gemacht hatte, verlor er keine Zeit. Er stieß sich ab und segelte mit einem Pfauenschrei über die Mauer und über die Dächer. Kurz darauf schoss auch Shen durch die Planken und sah seinen Rivalen Richtung Oststadt fliegen. Wutschnaubend band sich der Lord sein langes Schwert um und jagte ihm hinterher.
Xiang hörte laute Flügelschläge und drehte sich kurz um. Der weiße Lord war ihm dicht auf der Flugbahn. Xiang knurrte laut. Das war zwar alles nicht Teil von seinem Plan gewesen, aber er hatte noch einen Plan B - wie immer.
Noch ehe Shen den Flüchtenden erreichen konnte, ließ dieser sich geschwind zwischen den Häusern in einer Gasse nieder und huschte davon. Mit einem lauten Aufprall kam Shen auf einem Dach zum Stehen und hielt sein Schwert in Angriffsstellung. Seine roten Augen suchten die Straße ab. Doch vom blauen Pfau war nichts mehr zu sehen.
Schnaubend glitt Shen vom Dach eines Laternenladens herab und verharrte dort vorerst in geduckter Stellung auf dem Boden. Er lauschte. Da war kein Laut. Die Straßen waren leer. Die Bewohner hatten in ihrer Panik vor neuen Explosionen die Stadt bereits verlassen.
Nach ein paar Sekunden erhob sich der weiße Lord und schritt langsam an den Häusern entlang.
„Feige bist du auch noch?!“, schrie Shen die Gassen runter. „Na schön! Atme meinetwegen noch ein paar Sekunden länger. Einen kurzen Tod wirst du aber nicht haben!“
Eine Phase der Stille folgte.
„Findest du das wirklich fair?“, meldete sich eine Stimme.
Shen kniff die Augen zusammen und stierte auf eine wenige Meter von ihm entfernte Ecke, wo er seinen Rivalen vermutete.
„So ganz einfach jemanden ohne einen anständigen Kampf zu erlegen?“, fuhr Xiang mit kleinlauter Stimme fort, allerdings mit einem spöttischen Unterton.
Der weiße Lord preschte vor und sprang um die Ecke, doch die Gasse war leer. Vor Zorn begann sein Pfauenschwanz zu zittern.
„Was verstehst du schon von Fairness?!“, fauchte er und sah sich erneut um. „Eigentlich müsste ich deine Flügel abhacken und dich lebendig aufhängen!“
„Och ja“, redete Xiang in einer anderen Ecke weiter. „Okay, es war nicht gerade nett von mir, deine Bälger so rüpelhaft zu bestatten. Aber dennoch… Denn falls du es noch nicht kapiert haben solltest, das hier ist mein Sieg.“
Shen stieß ein abfällig Schnauben aus. „Woher willst du nicht wissen, dass es nicht meiner wird?“
Es wurde kurz still. „Willst du wirklich so sein wie ich? Du bist von mir nicht mal die Hälfte.“
Shen nahm eine Bewegung an einem anderen Ende der Straße wahr.
Ihre Blicke trafen sich. Xiang stand da, seine Flügel zusammengefaltet und betrachtete den weißen Lord in aller Ruhe. „Warum belassen wir es nicht dabei und du ergibst dich freiwillig?“
Der blaue Pfau grinste, was Shen eine Wut hochtrieb. Er holte mit dem Schwert aus und wollte es auf Xiang niedersausen lassen. Doch im nächsten Moment fühlte er einen harten Schlag auf den Kopf und er sank bewusstlos zu Boden.
Xiang schmunzelte. „Gute Arbeit“, lobte er und kickte das Schwert weg, dass Shen dabei fallengelassen hatte.
Zwei schwarzgekleidete Ochsen-Soldaten tauchten auf und packten den ohnmächtigen Lord.
„Bindet ihn dort fest“, befahl Xiang und deutete an eine Säule von einem Geschäft.
Die Soldaten machten sich sofort daran ein Seil um den Pfau zu binden und drückten ihn dann gegen die Säule. Dort banden sie seine Flügel nach hinten und auch seine Füße fixierten sie feste. Nach getaner Arbeit winkte der blaue Pfau seine Gefolgsleute weg. „Ihr könnt euch entfernen. Ich werde jetzt die Ladung entzünden.“
Die Soldaten verneigten sich, dann verschwanden sie schnell. Mittlerweile hatte der blaue Lord zwischen ein paar Kisten eine lange Zündschnur hervorgeholt. Er legte das Ende auf einer der Kisten ab und ging zu dem gefangenen weißen Lord zurück, der langsam wieder zu sich kam. Als er endlich wieder blinzelte, schüttelte Xiang missbilligend den Kopf.
„Dummes Küken. Anscheinend kapierst du gar nichts mehr. Tja, man sollte sich nie so mitreißen lassen. Das müsste man doch vom Krieg her genau wissen.“ Er wandte sich kurz lachend ab, dann sah er wieder auf den weißen Pfau. „Apropos Krieg, die ganze Stadt liegt unter Schießpulver. Das heißt, ich kann jeden Teil dieses Häusergartens jederzeit in die Luft jagen. Und du, wirst mit ihnen abheben.“ Er lachte heiser, während Shen in verbittert anstierte. „Betrachte es als Gnade. Du stirbst dort, wo du geboren wurdest. Das ist doch mal ein netter Tod, oder?“
Er machte einen großen Sprung nach hinten und griff nach der Lunte, die mit dem Schießpulver unter den Häusern verbunden war.
„Ich wünsch dir einen schönen Flug in den Himmel!“ Damit entzündete er die Lunte, erhob sich und ließ den weißen Pfau in seiner misslichen Lage allein.
Xiang flog solange über die Häuser, bis er sich sicher war, in der nächsten sicheren Zone zu sein. Dort ließ er sich auf einem der Hausdächer nieder und wartete auf den großen Knall. Die Lunte war nicht sehr lang. Es würde nicht lange dauern bis zur Explosion.
Er wartete. Eine Minute, zwei Minuten…
„Was…?“ Xiang legte die Stirn in Falten. Warum passierte nichts?
„Wartest du auf ein Feuerwerk?“
Erschrocken drehte sich Xiang um, als er die Stimme des weißen Kriegsherrn hinter sich hörte. Shen stand eine Stufe höher auf einem Dach und stierte auf den blauen Pfau herab.
Zuerst verstand Xiang gar nichts mehr. „Wie bist du…?“
„...so schnell rausgekommen?“ Shen hob die Schnabelwinkel an. „Das durchschneiden der Seile war leicht.“ Er hob eines seiner Federmesser. „Nur die Vorarbeiten waren etwas schwieriger gewesen.“
Xiang wich etwas zurück.
„Während du auf mich gewartet hattest“, fuhr Shen mit fester und dunkler Stimme fort, „hab ich den Tag damit verbracht, die Lunten in der Stadt zu verlegen. Ich kenne jeden Winkel und jedes Versteck in der Stadt. Auch den Untergrund, wo du die Pulverfässer lagerst. Dabei hab ich bei jeder Schießpulver-Ladung die Zündschnüre gekappt und woanders platziert.“ Ein bitter-kaltes Lächeln huschte ihm über den Schnabel. „Das heißt, dass nur ich in der Lage bin die Sprengladungen zu aktivieren. Du bist in der Stadt nur noch Dekoration. Für deine Pläne hast du dir die falsche Stadt ausgesucht.“
Er sah mit großer Genugtuung zu wie Xiang etwas bleich um den Schnabel wurde. Fassungslos stand er da, während Shen seine Fingerfedern knackte und seine Krallen in die Dachziegel grub.
„Also, wo waren wir vor wenigen Minuten stehengeblieben?“ Er zog sein langes Schwert hervor. „Oh ja.“ Der weiße Lord betrachtete sein Spiegelbild im Metall. „War da nicht die Rede von einer Reinigungsaktion?“
Xiang sprang zur Seite und wollte wegfliegen. Doch Shen reagierte blitzschnell und knallte den Schwertgriff brutal in Xiangs Rücken. Der blaue Pfau rauschte zu Boden, konnte sich aber gerade noch zur Seite rollen, noch bevor Shen ihn mit seinem Schwert erdolchen konnte. Doch Xiang blieb keine Zeit zum Flüchten. Immer wieder griff Shen ihn an und er musste immer wieder ausweichen. Wenn er mal versuchte wegzufliegen, stellte sich ihm der weiße Lord in den Weg.
Schließlich blieb Xiang nichts anderes übrig als sich zu verteidigen und griff nach einer Stange, die eigentlich für das Halten von Kochkesseln verwendet wurde. Das brachte ihm zwar keine große Überlegenheit im Krampf, verhinderte aber so einen fatalen Schlag der scharfen Klinge. Allerdings nicht ewig. Shen war so mit Wut geladen, dass er zu sämtlichen Mitteln griff, um den blauen Lord in seiner Verteidigung zu schwächen. Als er ihm eine Ladung Sand ins Gesicht warf, reichte dieser unaufmerksame Bruchteil. Xiang schrie laut auf, als das scharfkantige Metall seinen Flügel traf. Shen hielt kurz Inne, als sein Rivale kurz in die Knie ging und sich den verletzten Flügel hielt. Er hätte ihn auch sofort jetzt den Rest in sein Herz rammen können, aber er wollte keinen schnellen Tod für ihn. Er wollte ihn leiden sehen. Solange er konnte.
Xiang zog seine befiederte Hand wieder nach vorne, die voller Blut war. Während er auf die rote Farbe starrte, begann er zu Zittern und seine Augen weiteren sich vor Horror. Doch der Schnitt auf seinem Flügel entfachte jetzt auch in ihm eine Wut.
„Es wundert mich, dass du soviel für diese Schlampe übrig hast!“, keifte er und griff erneut nach der Stange und schlug mehrere Male auf den weißen Pfau ein, der sein Schwert wie ein Schutzschild über sich hielt. Beim nächsten Schlag stieß er Xiang weg und ließ ihn erneut aufschreien, als auch noch sein anderer Flügel einen Schnitt kassierte.
Der blaue Lord ließ wieder die Stange fallen und hielt sich beide Flügel. Die Wunden waren zwar nicht tief, dennoch sah es furchtbar aus auf seinem reinen blauen Federn. Und auch sein Hemd saugte sich mit der roten Farbe voll. Ohne Reue schwang der Lord sein Schwert vor, wo die Spitze wenige Millimeter vor Xiangs Hals zum Stillstand kam. Ernüchtert wich Xiang ein paar Schritte rückwärts.
Beide starrten sich an. Jeder mit demselben vernichtenden Gedanken, wie Feuer und Wasser. Jeder wollte den anderen auslöschen. Hätten Blicke töten können, jeder von ihnen wäre längst zu Asche zerfallen.
Xiang zog etwas den Kopf ein und begann laut und stoßweise zu atmen.
„Ich an deiner Stelle, würde besser aufpassen, dass sie dich nicht heimlich im Bett erdolcht, wenn du schläfst“, keuchte er und stieß ein kehlig heiseres Kichern aus, wobei er seine blutbeschmierten befiederten Hände zeigte. „Denn sowas kann jederzeit passieren.“
Die Augen des blauen Pfaus weiteten sich und er sah aus, als hätte er Atemnot. Er hielt sich kurz an der Kehle und schnappte nach Luft. Doch das alles hielt nur einen kurzen Augenblick. Dann flitzte er davon.
Shen stieß einen Schrei aus und kickte seine gesamte Energie gegen Xiang. Der blaue Lord wurde mit gewaltiger Wucht gegen eine Hauswand geschleudert, die krachend in sich zusammenfiel. Nachdem sich der Staub verzogen hatte, brachte Shen eine weitere Wand zum Einsturz. Die Wand sauste knapp neben Xiang auf den Boden, erwischte aber seine Beine. Der blaue Pfau schrie vor Schmerz auf. Er versuchte sich aus dem schweren Steingeröll herauszuziehen, doch sein Fuß war eingeklemmt.
Ohne weiter auf den gefallenen Pfau zu achten, ging Shen an ihm vorbei und hob etwas versteckt hinter einem Fass vom Boden auf. Entsetzt sah Xiang zu wie Shen die Zündschnur hochhielt.
„Jetzt ist es mein Sieg.“ Er holte ein Streichholz hervor. „Wenn du ins Reich der Toten gelangst, schwöre ich dir, ich werde dich dort weiterjagen.“
Er setzte die Schnur in Brand. Anschließend ließ Shen die Lunte fallen, um sich aus dem Staub zu machen. Doch Xiangs Krampfgeist war noch lange nicht gebrochen. Neben sich erblickte er ein paar Seile. Schnell griff er danach und warf sie wie ein Lasso nach dem weißen Pfau. Die erste Schlinge legte sich um Shens Hals, die ihn wieder nach unten riss. Xiang zog kräftig und schlang die nächsten Schlaufen um die Flügel, dann um die Beine. Shen fiel zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder auf und versuchte sich loszureißen.
„Wenn ich untergehe!“, schrie Xiang ihn an. „Dann gehst du mit mir mitunter!“
Shens Blick fiel auf die Lunte. Doch das Feuer war schon längst in der Erde verschwunden. Er konnte sie nicht mehr löschen. Die neue Lunte war zwar länger, aber ewig konnte er keine Zeit gewinnen. Er versuchte seine Federmesser im Flügel zu erreichen, doch Xiang schlang immer mehr Seile um ihn, sodass er sich gar nicht mehr bewegen konnte. Egal was er machte, er konnte einfach nicht an die Messer ran. Schließlich blieb ihm nur noch eine Möglichkeit. Er warf sich nach vorne auf Xiang. Doch dieser wehrte ihn mit den Flügeln ab und verteilte ordentliche Hiebe auf den weißen Lord.
„Im Jenseits können wir ruhig weitermachen!“, brüllte Xiang. „Aber dein Flittchen wird dann nichts mehr von dir haben!“
„Shen? Shen?“
Der weiße Lord sah überrascht auf, als die vertraute Gestalt eines bekannten Pandas auftauchte. Als Po Shen wohlauf sah, atmete er erleichtert auf. „Puh, ich hab schon gedacht, es wäre schlimmer…“
„PANDA! HIER FLIEGT GLEICH ALLES IN DIE LUFT!“, brüllte Shen ihn an.
Po erstarrte. „Oh, das ist natürlich nicht so gut.“
Ängstlich sah er zu wie Shen an den Seilen riss, die Xiang immer noch eisern festhielt.
„Nur keine Sorge!“, rief Po. „Im Tauziehen war ich Klassenbester.“
Doch noch ehe er an den gefesselten Pfau Hand anlegen konnte, bewarf Xiang den Panda mit Steinen.
„Autsch, hey, hey!“
In Shen stieg die Panik hoch. Nach seiner Berechnung war die Lunte schon über die Hälfte durch. Es wären jetzt nur noch Sekunden bis zur Explosion.
In diesem Moment sah Po etwas auf dem Boden aufblitzen. Shens Schwert. Po überlegte nicht lange und schnappte es sich. Dann nahm er Anlauf und ließ das scharfe Kriegsinstrument auf die Seile niedersausen.
Als Xiang sah, was der Panda vorhatte, war es schon zu spät.
„NEiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii!!!!!!!!“
Die Seile rissen. Shen fiel nach hinten und spürte nur noch wie er von einer großen Person mitgerissen wurde. Der Rest ging in einem ohrenbetäubenden Knall zugrunde.

23. Rauchwolken


Erschrocken sahen die Freunde auf. Tigress war die Erste, die sich aus dem Gemenge erhob. Mittlerweile hatten sie die feindliche Armee unter Kontrolle bekommen, als auf einmal der Boden unter ihren Füßen erzitterte.
„PO!“ Tigress nahm einen gewaltigen Sprung und landete auf der Palastmauer. In der Ferne waren unter lautem Poltern und Stöhnen Häuser zusammengekracht und verschwanden in einer dichten Staubwolke. Die vier anderen hechteten ihr nach und starrten ungläubig nach vorne.
„Po war doch nicht etwa dort, oder?“, fragte Viper ängstlich.
Im nächsten Moment spürten die Furiosen Fünf laute Flügelschläge neben sich. Xia und Sheng waren nun ebenfalls auf der Palastmauer gelandet. Beide überkam ein ungutes Gefühl.
„Vater?...“ Xia blieben die restlichen Worte ihrer Frage im Halse stecken. Jeder hatte mitbekommen, dass Shen Xiang gefolgt war. Die Explosion konnte nur von einem von beiden verursacht worden sein. Sheng stellte seinen Pfauenkamm auf und versuchte im dichten Rauch in der Ferne etwas zu erkennen.
„Was ist passiert?!“
Alle starrten erschrocken auf Yin-Yu. Die Pfauenhenne war immer noch über und über mit halb angetrockneter weißer Farbe überzogen, die ihr ganzes Gefieder verklebt hatte. Zwar war sie im Fliegen extrem eingeschränkt, was sie aber nicht davon abgehalten hatte zu ihnen hochzukommen.
„Mutter, ich weiß es nicht“, versuchte Xia ihre Sorge herunterzuspielen, womit sie aber keinen Erfolgt hatte.
„Ich werde jetzt nachsehen!“ Mit diesen Worten sprang Tigress von der Mauer und raste von einem Dach aufs nächste zur Unfallstelle. Ihre Freunde folgten ihr so schnell sie konnten.
Sheng flog ihnen sofort hinterher. Xia wollte ihm nach, bis ihr ihre Mutter wieder einfiel. „Mutter, du bleibst hier.“
„Nein! Ich muss wissen, was passiert ist!“
„Du kannst nicht in diesem Zustand flie…“
Doch ihre Mutter stieß sie einfach beiseite und fegte über die Hausdächer hinweg, wenn auch etwas mit unbeholfenen Flügelschlägen. Zuerst sah Xia ihr nur verwundert hinterher. Dann erhob sie sich ebenfalls in die Luft, direkt auf die noch verbliebene Staubwolke zu.

„Po!? Po!! Po!“ Immer wieder riefen die Fünf ihren Freund. Sie waren am Rande des Trümmerfeldes angekommen und suchten fieberhaft nach einem Lebenszeichen.
„VATER!“, riefen jetzt auch Sheng und Xia.
Und auch ihre Mutter konnte ein hilfloses Rufen nicht unterdrücken. „Shen!“
Jeder trug Hoffnung und tiefste Sorge mit sich herum. Besonders die extreme Stille um sie jagte ihnen einen kalten Schauer über den Rücken. Zudem war die Sicht wegen des noch aufgewirbelten Staubes recht niedrig. Man konnte gerade mal ein paar Meter klarsehen.
Während einer Ruf-Pause drängte sich die Gruppe zusammen und lauschte. Wieder war da nur Stille, als hätte die Welt nach dem Knall vor lauter Schreck die Luft angehalten.
„Leute.“
Alle Gesichter drehten sich nach links, wo in einer Staubwand die Umrisse einer großen Gestalt sichtbar wurde, die sich mühsam vorwärtsbewegte.
„Könnte mal jemand die Feuerwehr rufen?“, keuchte die Stimme weiter. „Ich glaube, da hat jemand in der Küche was anbrennen lassen.“
Hustend fiel die Person zu Boden, die sich als ein Panda und ein Pfau entpuppten.
„PO!“ Sofort fielen die Freunde ihrem Panda-Freund um den Hals, während die drei Pfauenvögel sich auf die unbewegliche Gestalt von Shen warfen.
„Shen! Shen!“ Xia und Sheng ließen ihre Mutter vor. Mit zittrigen Flügeln richtete sie Shens Kopf auf. Doch nach einigem Keuchen kam auch der weiße Lord langsam wieder zu sich. Blinzelnd sah er zu Yin-Yu hoch, was ihm eine große Last von den Schultern nahm, alle wohlbehalten zu sehen. Noch etwas benommen nahm Shen ihren Flügel in seinen. Nach so viel extremer Aufregung, die er nicht jeden Tag erleiden musste, war ihre Anwesenheit in Dreck und Staub die reinste Erholung.
„Habt ihr die Explosion gesehen?“, unterbrach Pos aufgeregte Stimme den Moment der Wiedervereinigung. „Mann, das war vielleicht laut gewesen.“ Theatralisch putzte er sich sein Ohr. „Ich glaub, ich werde noch eine ganze Weile halbtaub herumrennen.“
Die Fünf konnten ein erheitertes Lachen nicht unterdrücken.
„Drachenkrieger?!“
Alle hoben überrascht die Köpfe. Im nächsten Moment tauchten nicht nur König Wang, sondern auch die Wahrsagerin auf.
„Shen, es geht dir gut!“, stellte die Ziege erleichtert fest.
Schnell erhob sich der weiße Pfau und klopfte sich den Staub von der Kleidung. „Ich wüsste nicht, weshalb du dich um mich Sorgen machen musst.“
„Davon hab ich gar nichts gesagt“, meinte sie mit einem Schmunzeln.
Shen hielt inne. „Du hast es aber gedacht.“
„Aber wir haben uns Sorgen gemacht!“, fiel Xia ihm ins Wort.
Shen war ihr nicht böse und seufzte mit einem Lächeln. „Hauptsache euch ist nichts passiert.“
Xia senkte den Blick. Sie war den Tränen nahe, unterdrückte sie aber noch rechtzeitig. Die Augen des weißen Lords glitten über seine Familie. Sheng sagte nichts, doch sein Blick verriet eine friedliche Ruhe und sein Vater nickte ihm dankbar zu für seine schweigende Geste. Doch dann konnte er es nicht mehr zurückhalten und breitete die Schwingen aus, die er dann um alle drei schlang. Er konnte sie zwar nicht ganz schließen, aber es genügte jeden vollkommen. „Ich bin nur froh, dass ich euch nicht verloren habe.“
„Vater.“ Xia und Sheng erwiderten die ungewohnte Umarmung sofort, nur Yin-Yu zögerte etwas.
Doch noch bevor jemand sich darüber wundern könnte, stellte Wang eine Frage, die bis jetzt noch keiner gestellt hatte. „Wo ist Xiang?“
Alle drehten sich um, wo immer noch Spuren der Explosion in den Himmel aufstiegen. Betrübt stand Po auf. „Ich hab leider nichts mehr machen können. Dafür war die Zeit zu knapp gewesen.“ Sein Blick wanderte zu Yin-Yu. „Tut mir leid.“
Die Augen der Pfauenhenne wanderten zu Boden. Shen merkte wie sie zitterte und legte einen Flügel über ihre Schulter.
Tigress hatte da weniger Verständnis. „Vielleicht ist es so für ihn am besten.“
„Wir werden uns um seinen Leichnam kümmern“, meinte Wang schließlich. „Wäre das okay für Sie?“
Damit meinte er Yin-Yu. Die Pfauenhenne sah zu ihm auf, dann nickte sie ihm zu. Hastig strich sie sich über den Kopf. „Tut mir leid. Das ist heute alles so viel…“
„Das kann ich mir vorstellen“, meldete sich die Wahrsagerin zu Wort und sah sich in der Runde um. „Ich finde, wir ziehen uns in die Residenz zurück. Dort könnt ihr euch ausruhen. Und vielleicht auch etwas waschen.“
Po sah an sich runter. „Ist heute schon Sonntag?“

Die Residenz, genauer gesagt eine Gast-Residenz, befand sich direkt neben der Palastmauer. Sie war einst eine Art Gästehaus gewesen, wenn der Palast mal mehr als nur ein paar Besucher gehabt hatte, wie zum Beispiel für große Feste. Jetzt stand sie hauptsächlich leer. Seit dem Tod von Shens Eltern gab es kaum noch farbenfrohe lustige Feste in der Stadt.
Po und Shen hatten jeweils getrennte Zimmer, wo sie sich von dem Staub befreien konnten. Po war schneller fertig als Shen, da der Lord eine Vollreinigung bevorzugte. Was bei seinem Status wohl zu erwarten gewesen war. Für Po hingegen reichte nur mal kurz ein nasser Schwamm und Hose ausklopfen. Kaum war er mit seiner Schnell-Reinigung fertig, stürmte er aus dem Raum und lief zur großen Küche, wo er seine Freunde vermutete. Auf halbem Wege kam ihm die Wahrsagerin entgegen. In den Hufen hielt sie eine zusammengefaltete silberne Robe.
„So schnell fertig, großer Krieger?“, erkundigte sie sich amüsiert.
Po wirbelte auf dem Absatz herum und ging rückwärts weiter. „Oh, ja. Ich muss die Küche inspizieren. Könnten ja noch ein paar böse Buben herumlungern. Bis dann!“ Dabei lockte ihn nur sein knurrender Magen in die Speisekammer. Denn den ganzen Wanderweg über nach Gongmen hatte er so gut wie gar nichts mehr gegessen. Zumindest nicht für Panda-Verhältnisse.
Schmunzelnd setzte die alte Ziege ihren Weg fort und hielt vor einer Zimmertür an, wo Shen sich aufhielt. Sie klopfte sachte an, dann öffnete sie die Tür und spähte hinein. „Bist du fertig?“
Im Raum entstand eine blitzschnelle Bewegung. Shen war gerade aus einer Wanne gestiegen. Wütend riss er ein langes Tuch von der Halterung und warf es sich schnell über sein triefend nasses Gefieder.
„Kannst du nicht warten?!“, schimpfte er.
Sie kicherte und trat ein. Es war keine Absicht von ihr gewesen, ihn so zu überrumpeln. Vielleicht hatte sie auch irgendwie eine instinktive Sorge gehabt, dass er vielleicht umgekippt wäre. Als kleines Kind war ihm das ziemlich häufig passiert. Seine Schwächeanfälle waren sogar eine Weile lang chronisch. Jetzt war er erwachsen, was ihr aber nie so richtig in Fleisch und Blut überging. Irgendwie war er für sie immer noch wie ein hilfloses Kind, dass nicht wusste, welche Richtung es gehen sollte.
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich schnell. „Ich hab nicht nachgedacht.“
Mürrisch rubbelte Shen sich seine Federn trocken. Es musste eine Krankheit von älteren Leuten sein, jeden Mann mittleren Alters noch als Kleinkind anzusehen.
„Ich hab dir was mitgebracht.“ Damit legte sie die silberne Robe auf einen Tisch ab.
Verwundert betrachtete Shen das Kleidungsstück. „Woher hast du die her?“
Die Ziege legte die Hufe zusammen. „Es stammt aus deinem Kleiderschrank. Von damals.“ Sie senkte den Blick. „Bevor du die Stadt verlassen musstest. Deine Eltern hatten sie nach deiner Abreise immer noch aufbewahrt.“
Schweigend nahm er sie mit noch feuchten Fingerfedern und betrachtete sie nachdenklich. Sie hatte noch nicht mal Mottenspuren. Ob sie vielleicht sogar ab und zu einen Blick drauf geworfen hatten, nur um zumindest etwas von ihm in der Nähe zu haben?
Er schüttelte schnell den Kopf, als die Wahrsagerin ihn beobachtete und zog sie sich hastig über. Sie passte perfekt.
Eine Weile wusste keiner von beiden was sie sagen sollten und die Ziege nahm ihm den Anfang ab. „Deine Frau ist zwei Zimmer weiter. Falls du mit ihr reden willst.“
Shen seufzte und strich sich einen Ärmel glatt. „Es wundert mich, warum sie nicht mit mir zusammen ein Bad genommen hat.“ Er unterbrach sich. Ärgerlich sah er auf die Ziege, der ein leichtes Lächeln über den Mund geglitten war.
„Das ist privat! Okay?!“, fauchte Shen sie an.
Die Ziege drehte sich um. „Also wenn du sie fragen willst, dann frag sie.“
Damit ging sie zur Tür raus. Shen blieb noch einen Moment an derselben Stelle stehen, dann verließ auch er den Raum. Von dort ging er zwei Türen weiter und hielt erst mal inne. Nachdem er sich ein paar Worte zurechtgelegt hatte, klopfte er an.
„Yin-Yu? Ich bin‘s. Kann ich reinkommen?“ Er lauschte. Doch zu seiner Verwunderung erhielt er keine Antwort. War sie vielleicht schon rausgegangen?
Er klopfte nochmal, dann schob er die Tür auf. Im Zimmer standen ebenfalls eine große Badewanne und Badezeug, aber ohne eine Person darin. Shen wollte schon wieder kehrt machen, als sein Blick etwas in einer Ecke auffing. Zuerst meinte er, es wäre nur ein Berg von Kleidung. Doch dann erkannte er eine Pfauendame, die sich in einem Badehandtuch eingewickelt hatte.
„Schatz, was ist los?“ Schnell kam er näher. Erst jetzt schien Yin-Yu ihn bemerkt zu haben und hob ruckartig den Kopf. In ihrem Gesicht hingen noch ein paar Klümpchen weiße Farbe. Sie hatte versucht die Farbe aus ihren Federn herauszuschrubben. Das Badewasser war vollständig weiß. In Shen stieg wieder die Wut hoch. Am liebsten hätte er Xiang noch nachhaltig das Herz rausgeschnitten.
„Nicht so wichtig“, wehrte Yin-Yu ab und wischte sich über die Wangen. Aber es war nicht nur Badewasser, dass ihr Gesicht nass gemacht hatte.
Shen zog die Augenbrauen hoch. „Du hast geweint. Weshalb?“
Die Pfauenhenne zog sich das Badehandtuch enger um ihren Körper.
„Es war meine Schuld“, flüsterte sie.
„Schuld?“ Zuerst verstand Shen nicht, was sie damit meinte. „Wobei sollst du Schuld haben?“
Sie sah zu ihm auf. Sie war wieder kurz davor in Tränen auszubrechen.
„Ich hätte ihn nicht am Leben lassen sollen…“ Ihre Stimme brach mit einem leisen Schluchzer ab.
Allmählich verstand der weiße Pfau was sie meinte und neigte sie zur ihr hinunter. „Nein, es war nicht deine Schuld gewesen. Er war es. Er war es gewesen.“
Erneut vergrub Yin-Yu ihr Gesicht in den gebeugten Flügeln. Shen kniete sich vor sie und legte seine Flügel auf ihre Schultern. Doch er schwieg zuerst und umarmte sie innig.
„Er war doch mein Ehemann“, hörte er ihre dumpfe weinerliche Stimme unter dem Gefieder.
Er begann ihr über den Rücken zu streicheln. „Ich weiß.“
Er intensivierte seine Umarmung. Innerlich erging es ihm nicht anders. Er wollte seine Gedanken nicht aussprechen, dafür tat es Yin-Yu.
„Wäre er schon vor einem Jahr tot gewesen“, wimmerte sie unter wiederholten starken Atemzügen. „Dann wäre das alles nicht passiert.“
Shen kniff die Augen zusammen. Im Grunde war es eine Wahrheit, was sie sagte, aber dennoch…
Er holte tief Luft und umfasste ihr Gesicht, welches er mit festen, aber behutsamen Griffen anhob.
„Hör mir zu“, begann er und sah ihr streng in die Augen. „Egal was du getan hast, alles Unheil hat nur er verursacht. Unschuldig ist das Wasser, aber der Wind ist es, der es aufwühlt.“ Er presste seine Stirn auf ihre. „Es war nur er gewesen. Nur er. Du warst nur sein Opfer. Was er ausgenutzt hat.“
Er fühlte wieder ihre Tränen, die auf den Boden tropften. Instinktiv verstärkte er seine Handgriffe auf ihrem Gesicht. „Es war nur er.“
Sie unterdrückte ihr Weinen. Und er spürte das. Dennoch fand sie noch die Kraft ihre Flügel auf seinen Schultern zu legen und beide verharrten in der Kopf an Kopf sitzenden Position.
„Hey! Seht mal, was man mir gerade gegeben hat!“ Im nächsten Moment schwang die Tür auf und Po sprang ins Zimmer. Als er die beiden Vögel zusammen in einer Ecke sitzen sah, erstarrte er sofort und verfiel in eine zerknirschte Haltung. „Oh, Oh, tut mir leid, tut mir leid, ich wollte nicht stören…“
„Panda! Bist du völlig verrückt!“, schrie Shen ihn an und riss seine Frau schnell hoch. Hastig löste sich Yin-Yu aus Shens Umarmung und wischte sich die verbliebenen Tränen aus dem Gesicht.
„Nein, nein du störst nicht“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Ich gehe jetzt besser. Ich denke, ihr hab noch etwas zu besprechen.“
Damit ging sie an dem noch betretenen Panda vorbei und verließ den Raum. Als Po in das wütende Gesicht von Shen blickte, wollte er schnell den Rückzug antreten. „Tja, ich… ich geh besser auch…“
„Panda! Was willst du?!“
Reumütig rieb Po sich die Finger. „Äh, na ja… das hat mir ein Soldat gegeben.“ Damit holte er etwas langes Metallisches hervor. Es war Shens Schwert. Für einen ganz kleinen Moment vergaß der Pfau seinen Ärger. Doch dann besann er sich wieder auf das rüpelhafte Eintreten des schwarz-weißen Pelzballs und ging auf ihn zu.
Po lächelte gequält. „Es hat die Explosion unbeschadet überstanden…“
Mit einer schnellen Flügelbewegung riss Shen es ihm aus der Tatze.
Po schämte sich immer noch für sein Benehmen und ging einen Schritt zurück. „Tja, wozu sowas doch gut ist.“
Der weiße Lord kniff zornig die Augen zusammen. Dann drehte er ihm den Rücken zu und sah zum Fenster.
„Wenn du nichts anderes zu berichten hast“, begann Shen schließlich nach einer brutalen Schweigeminute. „Dann kannst du ja wieder gehen.“
Po wäre dieser Aufforderung eventuell sofort nachgekommen, würde ihm da nicht doch noch etwas schwer auf der Seele liegen, was er sofort loswerden wollte. „Hör zu, wenn du immer noch… wenn du mich immer noch hasst, dann wollte ich… Ich wollte nur sagen, dass…“
Shen sah ihn nicht an, sondern starrte weiterhin aufs Fenster.
Schließlich hielt Po es nicht mehr länger aus und stieß einen tiefen wehmütigen Seufzer aus. „Ich hab versucht sie zu retten. Es tut mir leid. Aber… ich hätte wohl besser aufpassen sollen. Hätte ich gewusst, dass Xiang in der Nähe gewesen wäre, ich hätte ihn sofort Dingfestgemacht.“
„Woher weißt du eigentlich davon, Panda?“, hackte Shen verbittert nach.
„Ähm… also, das war wieder…“
„Sie?”
Po nickte. Sehr wohl wissend, dass damit nur die Wahrsagerin gemeint sein konnte.
„Warum überrascht mich das nicht?“, knurrte der weiße Lord. Er spießte das lanzenartige Schwert auf den Boden auf und drückte die Stirn gegen den Schwertgriff.
„Sind wir wieder…?“ Po schluckte schnell das Wort „Freunde“ hinunter. „Äh… ist wieder Frieden… zwischen uns?“
Shens Augen wanderten leicht zu ihm nach hinten. Er hing wie in der Luft. Zum ersten Mal hatte er in seinem Gefühlchaos keine Antwort. In diesem Moment klopfte jemand gegen den Türrahmen, da die Tür noch offenstand und König Wang betrat das Zimmer.
„Oh, Wang, hey, Kumpel!“, grüßte Po.
Doch diesmal erwiderte der Hunnenkönig nicht den Gruß, was Po extrem überraschte. Stattdessen ging er mit festen Schritten an dem Panda vorbei und platzierte sich neben den Lord. Shen hob desinteressiert den Kopf. Dann beugte sich Wang zu ihm vor und flüsterte ihm etwas zu. Ruckartig stand Shen da mit geradem Rücken.
„Äh… was ist los?“, erkundigte sich der Panda.
Zuerst schwieg der weiße Herrscher. Dann drehte er sich langsam zum Panda um. Auf seinen Augen lag eine Finsternis mit einer tiefen Falte auf der Stirn.
Verunsichert schaute Po von einem zum anderen.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Po besorgt.
Doch Shen stieß ihn einfach zur Seite und rauschte durch die Tür nach draußen. Mit einem Fragezeichen im Gesicht sah Po ihm nach, dann wanderten seine Augen zum Hunnenkönig, der mehr als düster dreinschaute.
„Was ist denn passiert?“, wiederholte Po seine Frage.
König Wang räusperte sich kurz, bevor er die Antwort gab. „Xiang hat überlebt.“

24. Eine lebendige Leiche


Yin-Yu sah überrascht auf, als sie Shen in das Zimmer hereinkommen sah, in das sie sich zurückgezogen hatte. Es war mehr ein kleiner Aufenthaltsraum mit ein paar Stühlen und Tischen. Alles in allem war die Gast-Residenz mehr Holzverkleidet und besaß wenig Komfort, was ihr aber nichts ausmachte.
Die Pfauenhenne zog ihren Umhang hoch, der aus weiß-blauer Seide bestand und ging ein paar Schritte auf ihren Ehemann zu.
„Habt ihr schon alles geklärt?“, erkundigte sie sich.
Doch Shen sagte nichts. Er starrte sie nur an, was Yin-Yu zutiefst verunsicherte. „Ist etwas passiert?“
Sie konnte den Gesichtsausdruck des weißen Pfaus nicht klar deuten. Es war eine Mischung aus versteckter Wut und verlorener Ratlosigkeit.
„Shen, was ist los?“, wiederholte sie ihre Frage. Diesmal etwas nachdrücklicher. Erneut hüllte sich der weiße Pfau in Schweigen. Stattdessen ging er auf sie zu und nahm ihre Flügel in seine. „Xiang lebt noch.“
Mit Anspannung beobachtete er wie sich ihre Augen weiteten. Sie starrte ihn fassungslos an. Dann knickten ihre Beine ein. Shen fing sie noch rechtzeitig auf und führte sie zu einem Stuhl, wo sie sich niederließ. Nachdem sie mehrere Male tief durchgeatmet hatte, sah sie zu ihm auf.
„Wie schlimm ist es?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
Shen senkte den Blick. „Ich weiß es nicht.“

„Schlimm?“ Damit konnte Po nichts anfangen. „Wie schlimm? Schlimm im Sinne von sehr schlimm, halb schlimm, wenig schlimm, ein bisschen schlimm, extrem schlimm, fifty-fifty oder 50 % oder was?“
Doch der Hunnenkönig konnte als Antwort nur die fellbehangenen Achseln zucken. „Ich weiß es nicht. Der Stadtdoktor und unser Militärarzt sind noch bei ihm.“
„Was soll das heißen?“
Beim Klang von Yin-Yus Stimme im Raum, drehten sich der Hunnenkönig und der Drachenkrieger geschockt zur Tür. Man sah der Pfauendame an, dass sie die Nachricht zutiefst erschüttert hatte. Shen stand neben ihr und hielt sie an den Schultern fest. Wohl um sicher zu gehen, dass sie nicht umkippte.
Verlegen rieb sich der große Ochse den Nacken. „Ehrlich gesagt, Madame, besitze ich keine Kenntnis über seinen Allgemeinzustand. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt in der Lage ist…“
„Dann gehen wir doch am besten sofort hin“, mischte Po sich ein, dem das ganze Rätselraten auf den Magen schlug. War die Gefahr doch noch nicht vorüber? Nach der Explosion hatte er sich auf Feierlaune eingestellt. Doch jetzt schien sich alles nur noch ungewollt in die Länge zu ziehen.
Zum Glück ging König Wang sofort auf seinen Vorschlag ein. „Wenn ihr wollt. Wir finden ihn auf der Ostseite der Stadt. Der Arzt musste wegen der Explosion sein Quartier wechseln.“
Damit drängte er die anderen aus dem Raum in den Flur. Doch kaum waren sie die ersten Stufen runter, fiel Po noch etwas ein.
„Das muss ich sofort den anderen sagen“, murmelte er und rannte zur Küche.

Die Wahrsagerin hatte sich eine Schüssel mit heißem Wasser über einer Feuerstelle im Kamin fertiggemacht. Anschließend stellte sie den Topf auf die Arbeitsfläche des Küchentisches ab und machte sich daran den Tee für die Freunde fertig zu machen.
Tigress, Viper, Monkey, Crane und Mantis saßen zusammen auf einer Seite des Esstisches, während Sheng und Xia auf der gegenüberlegenden Seite Platz benommen hatten. Jeder hatte einen Teller Reis oder Suppe vor sich stehen, aber niemand schien so richtigen Hunger zu haben. Jeder warf dem anderen einen zögerlichen Blick zu. Vor allem Tigress schien nicht zu wissen, was sie von den beiden Kindern von Shen halten sollte. Ihr letzter Besuch in Gongmen hatte nur eine düstere Wolke in ihrer Erinnerung hinterlassen. Es mit einem gegenteiligen Gefühl zu verbinden, war ihr da völlig fremd.
Xia rührte lustlos mit ihrem Essenstäbchen im Reis. Sheng warf ihr ab und zu seinen prüfenden Blick zu. Irgendetwas beschäftigte die junge Pfauenhenne und es war ihm klar, dass es entweder etwas mit Shen oder mit Xiang zu tun hatte. Der junge Pfau zog die Augenbrauen zusammen, als seine Schwester ein paar Mal heftiger in das weiße Körnergericht stach. Schließlich hielt Viper es nicht mehr länger aus.
„Also, ich finde es schön euch mal kennenzulernen“, begann sie und schob sich den nächsten Löffel Suppe in den Mund.
Sheng zwang sich zu einem Lächeln. „Es freut uns ebenso. Wir haben schon viel von euch gehört. Nicht wahr, Xia?“
Xia hob erschrocken den Kopf. „Wie? Oh, ja, natürlich.“
„Po hat auch sehr viel von euch erzählt“, fügte Monkey heiter hinzu.
Der blaugrün-weiße Pfau hob die Augenbrauen. „So? Na dann hoffe ich, dass es was Aufmunterndes war. Das können wir in letzter Zeit alle brauchen.“ Er legte seinen Flügel über seine Schwester.
„Ach ja.“ Viper legte ihren Löffel beiseite. „Es tut uns leid. Natürlich sprechen wir für euch unser Beileid aus.“
Crane, Mantis und Monkey nickten ihr zustimmend zu. Nur Tigress neigte sachte den Kopf für ihre stille Anteilnahme an den Tod der ungeborenen Geschwister. Im Hintergrund stieß die Ziege einen leisen Seufzer aus, während sie das Wasser in die Teeblätter goss.
„LEUTE!“ Wie der Blitz sprang Po in die Küche. Alle sahen erschrocken auf. Keuchend stützte sich der Panda auf dem Küchentisch ab. „Leute! Ihr erratet nie was passiert ist.“
Tigress war die Erste, die den Mund aufmachte. „Sind noch mehr Sprengladungen hochgegangen?“
„Xiang hat… er lebt noch!“, antwortete Po abgehackt.
Sheng und Xia sprangen sofort auf.
„Wie kann das sein?“, fragte die Pfauenhenne entgeistert.
Sheng beschäftigte was anderes. „Was sagt Mutter dazu? Und Vater?“
„Die… die sind gerade mit Wang auf dem Weg zu ihm“, plapperte Po und wedelte aufgeregt mit den Armen. „Vielleicht sollten wir mit… ich meine, dorthin gehen.“
Der Panda musste gar nicht auf eine Antwort warten, denn im nächsten Moment waren alle auf den Beinen und drängten Po aus der Küche. Stille kehrte ein. Schweigend stellte die Ziege den Topf beiseite. Dann griff sie in ihrem Mantel und eine blaue Feder kam zum Vorschein. Sachte drehte sie sie ein paar Mal herum, dann legte sie sie auf dem Tisch ab. Traurig starrte sie darauf. Im nächsten Moment tauchten Bilder ihres Traumes wieder vor ihren inneren Augen auf.
Der verbrannte Pfau.

Das Haus, in das sich der Arzt zurückgezogen hatte, lag am Rande des zerstörten Stadtviertels. Es wies zwar ein paar Risse in der Wand auf, war aber nicht einsturzgefährdet. Po und die anderen holten den Hunnenkönig und das Pfauenpaar gerade ein, noch bevor sie das Haus betreten konnten. Als beide Gruppen aufeinandertrafen, warf sich Xia in die Flügel ihrer Mutter.
„Ist alles okay mit dir?“, erkundigte sich ihre Tochter.
Doch Yin-Yu schien selber nicht zu wissen, wie sie sich fühlen sollte. „Ich weiß nicht… Ich weiß im Moment gar nichts.“
Mitleidig wandte sich Wang dem Hauseingang zu. „Ich sehe nach, ob wir reindürfen.“
Damit verschwand er im Haus und betrat einen kleinen Vorraum. An einem Tisch saß ein Schaf und schrieb gerade etwas auf. Als es den König hereinkommen sah, erhob er sich sofort und verneigte sich. „Oh, König Wang. Sie sind recht schnell wieder zurückgekommen…“
Er hielt inne. Verwundert drehte Wang sich zur Tür, zu der der Arzt hinstarrte, wo gerade ein Pandakopf hereinschaute.
Wang seufzte und wandte sich wieder an den Arzt. „Dürfen wir reinkommen?“
Das Schaf winkte mit dem Huf. „Reinkommen ja, aber weiter weiß ich nicht…“
„Wir dürfen rein!“, rief Po hinter sich.
Der Arzt wich ein paar Schritte zurück, als so viel Volk auftauchte. Als er Lord Shen und Lady Yin-Yu eintreten sah, verneigte er sich höflich. „Oh, Lord Shen. Lange nicht mehr gesehen. Ich sehe, Ihre Gesundheit scheint Ihnen gnädig zu sein.“
„Was ist jetzt mit ihm?“, unterbrach Shen ihn etwas ungehalten. Doch auch Yin-Yu schien es nicht mehr länger zu ertragen. „Ja, wie geht es ihm?“ Eine ängstliche Anspannung lag in ihrer Stimme.
Das Schaf senkte den Blick. „Der Militärarzt ist noch bei ihm. Er schließt gerade die Operation ab.“
Shen merkte, wie die Pfauenhenne leicht schwankte, fasste sich aber sofort wieder, um sicher stehen bleiben zu können.
„Hat er was verloren?“, hauchte sie.
„Nein, noch nicht“, antwortete der Arzt. „Noch nicht. Wir wissen noch nicht, ob wir etwas amputieren müssen…“
Wang räusperte sich laut, was den Arzt dazu zwang seine Diagnose zu unterbrechen. In diesem Moment wurde ein Vorhang zur Seite gezogen und ein dünner Affe in Hemd und Hose betrat den Raum. Seine blutverschmierte Operationskleidung versteckte er schnell hinter einem Schrank, als er die ganzen Leute erblickte. Anschließend verbeugte er sich. „Mein König.“
„Wie sieht es aus, Doktor?“, fragte Wang schnell.
Doch der Militärarzt antwortete nicht sofort. Stattdessen griff er nach einer Flasche, die irgendwo im Regal stand und nahm einen ordentlichen Schluck daraus. Dabei ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen und schien sich im Kopf die passenden Worte für einen guten Satz rauszusuchen. Schließlich schlenderte er zu seinem Stuhl und ließ sich dort erschöpft nieder. „Ich hab schon vieles im Krieg gesehen, aber das hier…“
Er nahm einen erneuten Schluck aus der Flasche. Dann stellte er sie beiseite und klatsche einmal laut in die Hände, als hätte er etwas extrem Wichtiges zu verkünden.
„Also, wir wissen nicht, ob er das heute noch packt. Muss ich ganz ehrlich sagen.“ Er lehnte sich zurück. „Ich hab zuerst gedacht, man bringt mir was fürs Leichenschauhaus vorbei, aber kein verbranntes Stück Fleisch, wo noch die Herzmuskulatur drin arbeitet.“
Er sah die anderen erwartungsvoll an.
Schließlich war es Yin-Yu, die sich vorwagte. „Dürfen wir ihn sehen?“
Der Affe sah sie verdutzt an. „Wollen Sie nicht lieber gehen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will ihn sehen.“
Der Militärarzt schob die Unterlippe vor und sein Blick wanderte zum weißen Lord. Von dem wusste er, dass er mit Kriegen und allem was als Resultat Unangenehmes daraus hervorkam vertraut war, aber bei ihr, war er sich nicht so sicher. Doch dann zuckte er die Achseln. „Bitte, wenn Sie sich den Anblick unbedingt antun wollen. Obwohl ich Ihnen das nicht unbedingt empfehlen würde.“ Er deutete mit einem Kopfnicken zum Vorhang, der den Türeingang zum Nebenraum verdeckte. „Einfach da durch.“
Yin-Yu sah zu Shen. Dieser nickte und nahm sie an den Flügel. Po reckte neugierig den Hals, wollte sich aber nicht vordrängeln und ließ die beiden gehen. Vorsichtig trat das Pfauen-Ehepaar durch den Vorhang. Der Raum war abgedunkelt. Nur spärliches Licht schien durch die dichten Stoffstücke an den Fenstern. Am Ende des Zimmers stand ein Bett in dem ein Individuum lag, welches aber kaum zu erkennen war. Der Lord merkte, wie Yin-Yu sich verkrampfte und überlegte, ob er wieder kehrtmachen sollte. Doch dann gab sich die Pfauendame einen Ruck und beide gingen auf das Bett zu.
Hätte der Lord den Pfau zuvor nicht gesehen, hätte er nicht erraten können wie er aussehen würde. Das Federkleid war teilweise verbrannt und verkohlt. Einige Stellen am Hals waren mit Blut verklebt. Der Rest steckte in Bandagen und blutigen Verbänden. Sogar die Füße, die den meisten Schaden davongetragen zu haben schienen, waren dick eingepackt. Über den Augen hatte man ein Tuch ausgebreitet, vermutlich um die verbrannten Augenlider zu kühlen.
Eine Weile schwiegen beide. Er sah wirklich wie tot aus. Langsam beugte sich Yin-Yu nach vorne und berührte zögernd den einbandagierten Flügel. Plötzlich durchzuckte es den Bettlägerigen wie ein elektrischer Schlag. Shen riss Yin-Yu vom Bett weg. Keine Sekunde zu früh. Im nächsten Moment schlug der totgeglaubte Pfau um sich, wobei das Tuch über seinen Augen herunterrutschte. Shen drückte Yin-Yu an sich, doch Xiang schien nicht zu wissen wo er war oder was er tat. Er schien noch nicht mal zu merken, dass jemand mit ihm im Raum stand. Stattdessen wandte er sich unter panischem Zucken und stieß ein schmerzerfülltes lautes Stöhnen aus. Doch dann setzte er sich in der nächsten Sekunde auf und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Dabei riss er weit die Augen auf, die sich panisch umsahen.
„Oh, schon ein Lebenszeichen?“, kam es von nebenan, die dem Militärarzt gehörte. „Das ging aber schnell.“
Im nächsten Moment sprang der Affe ins Zimmer und stürmte ans Bett seines Patienten. Xiang hatte inzwischen aufgehört um sich zu schlagen, keuchte aber so laut, wie nach einem Wettrennen. Der Militärarzt griff dem Pfau an die Schultern. Doch Xiang schlug ihn beiseite, als hätte der Arzt Feuer an den Händen. Er wollte irgendetwas schreien, doch alles was er zustande brachte, war ein gurgelndes krächzendes Röcheln.
„Na mal ganz ruhig“, redete der Arzt auf ihn ein. „Ich würde nicht reden. Die Luftröhre ist teilweise durchbohrt, aber noch gut intakt…“
Sein Satz wurde von einem markerschütternden Wimmern unterbrochen. Xiang fasste sich an den Hals und warf sich von einer Seite auf die andere.
Der Arzt sah zu den beiden Pfauenvögeln und versuchte zu lächeln. „Nur keine Sorge. Das ist ganz normal. Da hab ich im Krieg schon Schlimmeres gesehen.“
Shen hatte genug und schob Yin-Yu zur Tür. Der Militäratzt hattes es inzwischen geschafft, den schwer zugerichteten Pfau wieder aufs Bett zu drücken. Doch dann, für einen kurzen Augenblick, schien Xiang einen klaren Kopf zu haben. Trotz rasender Schmerzen gelang es ihm seinen Kopf zu heben, um dem weißen Lord ins Gesicht zu sehen, ohne dabei die Kontrolle über seine Augen zu verlieren. Fast drei Sekunden hielten beide den Blickkontakt. Shen verengte die Augen. Xiang tat es ihm gleich. Dann krampfte der blaue Pfau unerwartet zusammen und sank auf dem Bettlager zusammen. Sein Brustkorb hob und senkte sich so stark, als ob es ihm schwerfiel seine Lunge mit Luft zu füllen. Jetzt trat auch der Stadtdoktor ein. Shen wollte nicht weiterzusehen und verließ den Raum, wobei Xiangs klagendes Wimmern ihm weiter bis nach draußen verfolgte.
Im Vorzimmer war Yin-Yu in die Flügel von Xia gesunken. Die anderen wollten sie nicht mit Fragen bombardieren und schwiegen betroffen.
Schließlich war es Wang, der sich traute etwas zu sagen. „Ich finde, wir sollten besser gehen. Hier können wir eh nichts mehr tun.“
Xia nickte ihm zu. „Natürlich. Komm Mutter.“
Po und Sheng waren die Letzten, die im Vorzimmer übrigblieben und Shen, der noch zurückgeblieben war, denn der Stadtdoktor kam gerade wieder zurück. Als das Schaf an Shen vorbei wollte, hielt Shen ihn fest.
„Ihre Meinung?“, fragte der weiße Lord monoton, aber düster.
„Wie meinen, mein Lord?“, fragte das Schaf unsicher.
„Wird er überleben?“
Po und Sheng sahen sich betroffen an, während das Schaf mit dem Huf auf dem Boden schabte. „In meiner gesamten Karriere als Arzt, hab ich noch nie einen Patienten wie ihn gehabt. Und zum ersten Mal in meinem Leben hab ich keine Antwort auf so eine Frage. Nachdem man ihn zu mir gebracht hat… Ich dachte wirklich, er würde jeden Moment sterben.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage! Wird er überleben?!“
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein, mein Lord. Ich weiß es nicht. Es ist möglich, dass er heute stirbt. Oder morgen. Seine Chancen zu Überleben sind klein, aber nicht unmöglich, denke ich mal,… Glaube ich.“
Knurrend wandte sich Shen von dem Arzt ab. Po und Sheng machten ihm respektvoll Platz. Von Shen ging eine eisige Kälte aus, die wie harte Schneeflocken einer donnernden Lawine glich.

25. Meine dunkle Seite


Xia hatte sich mit ihrer Mutter in der Küche der Gast-Residenz zurückgezogen, wo die alte Ziege ihr einen Beruhigungstee reichte. Als König Wang ebenfalls in der Küche erschien, bat Yin-Yu ihre Tochter sie alleine zu lassen. Sie wusste, dass der Hunnenkönig etwas besprechen wollte, was nicht für die Ohren eines jungen Mädchens bestimmt war. Und Wang nahm kein Blatt vor dem Mund, dennoch fiel es ihm schwer die Frage zu stellen, auf die er aber sofort eine Antwort brauchte.
„Also?“, hackte er nach. „Was soll mit ihm geschehen?“
Yin-Yu sah zum Hunnenkönig auf. Dann schüttelte sie heftig den Kopf und starrte in ihre Teetasse. „Diesmal liegt die Entscheidung nicht nur bei mir.“
Wie aufs Stichwort stand plötzlich Shen im Türrahmen.
Der Hunnenkönig sah beide abwechselnd an. Dann nickte er. „Na schön. Aber trifft eure Entscheidung möglichst bald.“
Mit einem höflichen Kopfnicken verabschiedete er sich und verließ die Küche. Auch die Wahrsagerin zog es vor den Raum zu verlassen und ließ das Ehepaar allein. Yin-Yu sah zuerst nicht auf und blickte in das gefärbte Teewasser.
Schließlich ging Shen auf sie zu. Wieder blieb ihr Blick gesenkt. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der weiße Lord neben ihr zum Stillstand kam. Er legte einen Flügel auf ihre Schulter. Yin-Yu schloss die Augen, als sich seine Fingerfedern auf ihr verkrampften. Er wollte es nicht sagen, aber sie verstand ihn völlig.
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Pfauenhenne war nicht in der Lage für die Seele ihres Ex-Mannes zu flehen. Shen schien das genau zu wissen und beugte sich etwas zu ihr runter. Anschließend wanderte sein Flügel zu ihrem Gesicht und strich ihr über die Wange. Und ohne ein Wort ging er wieder. Schweigend blieb Yin-Yu auf dem Stuhl sitzen. Eine Weile blieben ihre Augen geschlossen. Als sie sie wieder öffnete tropften ihr die Tränen ins Teewasser.

Po hatte sich in eine stille Ecke im Hof zurückgezogen und kaute genüsslich ein paar Kekse. Nachdem Xia mit Yin-Yu in die Küche gegangen waren, hatte er sich noch hastig etwas aus dem Vorratsraum geholt für einen Snack für Zwischendurch. Und vor allem um den ganzen Horror von vorhin so schnell wie möglich zu vergessen.
Nachdenklich schaute er zum Himmel hoch. Es war später Nachmittag. Müde reckte er sich und schluckte den letzten Krümmel hinunter. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ sich faul auf dem Boden sinken.
Eine kleine Weile döste er vor sich hin. Erst als er eine Bewegung wahrnahm, hob er den Kopf. Im Schatten des Hofes überquerte eine weiße Gestalt den Platz. Po schenkte ihm keine weitere Beachtung. War doch klar, dass es Shen war. Wer war sonst so weiß? Po schmunzelte über diesen Gedanken. Doch als er in der Abendsonne etwas aufblitzen sah, hob er dann doch den Kopf etwas höher. Shen trug sein Lanzenschwert mit sich über der Schulter.
Verwundert stand der Panda auf. Wieso war der Pfau bewaffnet? Die Schlacht war doch gewonnen. Oder musste er es spazieren führen, um den Stadtleuten seine Macht zu demonstrieren?
Unsicher beobachtete Po weiter, wie Shen die Stufen der Gast-Residenz runterging und in der nächsten Stadtstraße verschwand. In Po machte sich ein unangenehmes Gefühl breit. Kurzentschlossen rannte er die Stufen runter und blickte um die Ecke. Shen war noch nicht weit. Er ging recht langsam. So langsam, dass es einen erschrecken konnte.
Nachdem der Panda sich innerlich einen Ruck gegeben hatte, lief er dem weißen Pfau hinterher.
„Äh, Shen, wo willst du hin?“, fragte er.
Doch Shen sagte nichts, sondern ging einfach unbeirrt weiter die Straße runter.
„Äh, Shen? Hat dein Gehör von der Explosion Schaden genommen, oder hast du mich nicht verstanden?“
Wieder erhielt er keine Antwort, nur eine Fortsetzung von Schritten.
So langsam wurde Po dieses Schweigen unheimlich. Entschlossen packte er den Lord am Ärmel. „Shen, was ist los?!“
„Steh mir nicht im Weg, Panda!“, fauchte der Lord ihn an und stieß ihn weg.
Po zog die Augenbrauen zusammen. „Was hast du vor?“
Wieder setzte der Pfau seinen Weg fort. Diesmal allerdings in einem schnelleren Tempo.
Jetzt wurde Po richtig ungehalten. Ärgerlich sprang er dem Pfau vor die Füße. „Was hast du vor?!“
„Etwas was ich schon vor einem Jahr hätten tun sollen!“
Mit großen Augen betrachtete Po das Schwert in Shens Flügel. „Du hast doch wohl nicht etwa vor ihn…“
Er beendete den Satz nicht, sondern sah Shen nur an. Doch der Lord hob den Kopf und der Panda fand die Bestätigung seiner Befürchtungen.
„Nein, Shen! Du hast doch nicht etwa vor ihn… oder doch?“
„Was soll ich vorhaben, Panda?“
Po schluckte schwer. „Du hast doch wohl nicht vor ihn zu töten?“
Shens Augen verengten sich zu bösen Schlitzen, die auf Pos flehendes Gesicht trafen.
Plötzlich stieß der weiße Pfau ihn gegen die Wand und flitzte davon. Schwindelig rotierte der Bär um seine eigene Achse. Dann als er endlich wieder die Balance gefunden hatte, raste er ebenfalls die Straße runter.

Keuchend schaute Shen hinter sich. Die Straßen waren noch leer. Die Stadtleute befanden sich noch außerhalb der Gebäude. Zumindest solange bis das Schießpulver vollständig aus der Stadt entfernt wurde. Und das konnte dem ehemaligen Herrscher der Stadt Gongmen nur recht sein. Denn so würde niemand den Todesschrei hören. Schnell bog er um die nächste Hausecke. Es trennten ihn nur noch wenige Gassen von seinem Ziel. Doch kaum hatte er die vorletzte Straße hinter sich, fiel ihm ein Schatten vor die Füße.
„Autsch! Diese blöden Dachziegel. Man kann einfach nicht gescheit auf ihnen drauf rumrennen.“
„Panda! Ich sagte doch, du sollst mir aus dem Weg gehen!“
Mühsam rappelte Po sich auf. „Nein, Shen. Das kannst du nicht tun! Du kannst nicht einfach jemanden niederstrecken, der hilflos ist.“
„Es ist mein gutes Recht!“
„Ach, wirklich?!“
Diesmal war es Po, der wütend zurückkonterte, rief sich aber sofort wieder seine Gelassenheit zurück. Er durfte Shen nicht noch wütender machen, als er schon war.
„Willst du es dir nicht nochmal überlegen?“, versuchte der Panda es mit gefasster Stimme.
Shens Flügel krampften sich um den Schwertgriff. „Dafür ist es zu spät.“
Po verengte die Augen. „Und ich dachte, du hättest dich geändert.“
„Ich bin nicht wie du, Panda! Lass mich endlich durch!“
Shen sprang über den Panda. Doch Po bekam den Pfau noch am langem Federschwanz zu fassen. Shen fiel nach vorne und landete unsanft auf dem Boden.
„Du verdammter Narr!“
Zornig schwang der Pfau sein Schwert nach dem Panda. Doch diesmal ließ Po sich nicht davon ins Bockshorn jagen. Geschickt wich er dem scharfen Metall aus, zog ordentlich den Bauch ein, schwang nach unten und bekam das Schwert am Griff zu fassen. Wie angewurzelt hielt Shen inne, während der Panda unbeirrt seine Waffe festhielt.
„Zwing mich nicht dir weh zu tun, Panda!“
„Shen, dazu hast du keine Berechtigung…!“
„Oh, doch, Drachenkrieger. Die hat er.“
Überrascht sah Po auf. Wang war aufgetaucht und sah mit neutralem, aber festen Blick auf die beiden Streithähne herab.
„Ich habe gerade meine Einwilligung gegeben“, fuhr der Hunnenkönig fort.
„Du auch, Wang?“ Verwundert ließ Po Shens Schwert los.
Der große befellte Ochse verschränkte die Arme.
„Es liegt nicht in meiner Hand an ihm ein Urteil zu vollstrecken“, meinte der Hunnenkönig eisig und sein Blick fiel dabei auf Shen. „Xiang hatte bereits seine Begnadigung erhalten. Das war milde genug. Wäre er in meinem Gericht gewesen, hätte er schon vor einem Jahr die Todesstrafe erhalten.“
Po blieb der Mund offen. Dachte er jetzt die Explosion hat allen, außer ihm, das Gehirn verwirrt?
„Aber… aber…“ Verzweifelt suchte der Panda nach Worten und rubbelte sich heftig über den Kopf.
„König Wang!“
Alle drei schauten verwundert auf, als zwei Ochsen-Soldaten auf sie zu gerannt kamen.
„Er ist weg!“
Jetzt war es Wang der völlig verwirrt dreinschaute. „Weg? Wie weg?“
Der erste Soldat nahm eine stramme Haltung ein und zuckte die Achseln. „Einfach weg. Wir wollten gerade auf Eure Anweisung hin unseren Militärarzt von Ihrem Urteil in Kenntnis setzen, als wir dabei feststellen musste, dass der Verurteilte das Krankenbett unbemerkt ohne Vorwarnung verlassen hat.“
Wang wusste gar nicht, was er sagen sollte. Po erging es ähnlich und musste selber erst mal seine Gedanken sortieren. Nur Shen machte ein Gesicht wie Donnergewitter.
Endlich schaffte es Wang wieder einen klaren Satz zu formulieren. „Er kann unmöglich weit gekommen sein. So verletzt wie er war. Dazu war er überhaupt nicht in der Lage.“
„AAHHH!“
Alle fuhren erschrocken zusammen. Shen hatte mit einem lauten Aufschrei sein Lanzenschwert in den Boden gerammt, dass die Steinplatten unter ihm zersplitterten.
„Sucht ihn!“, schrie er. „Findet ihn! FINDET IHN! SOFORT!“
Obwohl die Soldaten gar nicht unter seiner Führung standen, machten sie sich sofort daran die Gegend abzusuchen. Sogar Wang hielt es für das Beste sich bei der Suche zu beteiligen. Denn Shen war so in Rage, dass jeder schnell den Kürzen zog. Mit Ausnahme von Po. Dieser sah nur mit fast schon traurigem Blick auf den Lord herab, der sich keuchend auf seiner Waffe abstützte.
Der Lord bemerkte den Vorwurf in Pos Augen und schnitt mit seinem donnernden Antlitz den Blickkontakt des Pandas. Es war wie, wenn eine Feuerbrunst auf eine ruhende Wasserquelle traf. Po versuchte mit aller Mühe die Ruhe zu bewahren. Doch das konnte Shen nicht friedlich stimmen.
Schließlich zog der Lord scharf die Luft ein. „Ich kann ihm nicht vergeben.“
Po zog die Augenbrauen zusammen. „Ach, aber ich, oder? Wie damals bei dir?“
Mit diesem Argument hatte der Kampfherr gerechnet. Mit voller Wucht schlug er mit dem Schwertgriff auf den schon kaputten Asphalt.
„Denkst du, es ist so einfach?! Einfach so, alles zu vergessen?“
Po holte tief Luft. „Denkst du, es ist mir super leichtgefallen?“
Erschrocken wich er Shens Schwert aus und verfehlte den Panda nur knapp an ein paar Kopfhaaren.
„Er hat es nicht anders verdient!“, fauchte der weiße Lord.
„Das haben all die anderen auch über dich gesagt“, versuchte Po es erneut. „Erinnerst du dich noch, damals im Verlies?“
Mit düsterem Blick wandte der Lord sich von ihm ab. Sein Lanzenschwert presste er fest in seinen Flügeln. „Er muss dafür büßen.“
Po schüttelte den Kopf. „Shen, dein Schmerz macht dich blind. Denkst du, danach wird es besser?“
„Er darf nicht mehr leben!“
„Hast du denn nichts dazugelernt?“
„ICH BIN NICHT WIE DU!“
Mit einem Mal wurde es gespenstisch still zwischen den beiden. Po stand weiterhin fassungslos da, während Shen ihm den Rücken zugekehrt die Stirn gegen die Metallklinge drückte.
Schließlich drang sich der Lord dazu durch etwas zu sagen. Wenn auch mit leiser, zittriger Stimme. „In all diesen Wochen, spürte ich in mir wieder die dunkle Seite.“
Pos Ärger wandelte sich in tiefe Bestürzung. Er hatte es zwar geahnt, dennoch hatte er stets das Beste gehofft. Doch er wollte ihn nicht unterbrechen, sondern ließ Shen einfach weiterreden.
„Eine dunkle Seite, die ich nie von mir wegbekomme.“ Endlich drehte Shen sich zu ihm um. Eigentlich hatte Po Tränen erwartet. Doch Shen gelang es erstaunlich gut, nicht in Emotionen zu verfallen. Stattdessen stand er da, mit verhärteten Gesichtszügen, ohne eine Spur von Trauer oder sonstigen Gefühlen.
„Wir sind verschieden“, fuhr er fort. „Das wird sich nie ändern.“
Wieder entstand ein Schweigen, begleitet von einem ununterbrochenen gegenseitigen Anstarren, welches Shen langsam unangenehm wurde.
„Ach, Panda“, wisperte Shen. „Es mag wohl daran liegen, dass dein Sinnen nach Vergeltung deshalb nicht so stark ist, weil es schon so lange zurückliegt. Und in so weite Ferne gerückt ist.“
Po kniff die Augen zusammen. Eine schweigsame Geste, dass er diesem nicht zustimmte.
Shen seufzte wehmütig. Er wandte sich ab, doch dann drehte er sich wieder zum Panda um und winkte ihn zu sich heran. „Kommt, Panda. Es wird Zeit, dir etwas zu zeigen.“

26. Eine Lektion in Sachen Vergeben


Die Sonne hatte sich in der Zwischenzeit dem Horizont zugeneigt. Dennoch war es schon düster, denn Wolken hatten den restlichen hellen Teil des Tages verhangen, was in Po ein unheimliches Gefühl hervorrief. Dennoch zögerte er nicht dem Lord bis an den Hafen zu folgen, wo sie ein kleines Boot bestiegen. Es war zuerst etwas schwierig den Bootshalter, ein kleiner Hase, dazu zu überreden, den verbannten Prinzen und den Drachenkrieger zu fahren. Als Po ihm versicherte, dass das in Ordnung sei, fügte sich der Hase der Aufforderung und es blieb erspart, dass Shen noch sein Lanzenschwert als Machtwort benutzen musste.
Die ganze Fahrt über schwiegen beide. Po ließ sich auf den hintersten Teil des Bootes nieder, während Shen mit angespannter Haltung den Blick nach vorne gerichtet hielt. Irgendwie erinnerte es den Panda an die Szene, wo Shen mit seinen Kriegsschiffen die Stadt Gongmen verlassen wollte. Nur waren hier diesmal keine Waffen im Spiel. Mit Ausnahme von seinem Schwert.
Po seufzte tief und ließ die Schiffsfahrt teilnahmslos über sich ergehen. Zuerst fuhr das Boot am Hafen, dann an bewachsenen und verwilderten Ufern vorbei. Ab und zu gab Shen flüsternde Anweisungen, die er manchmal mit dem Anstupsen auf der Schulter des Bootsführers mit seiner Lanzenspitze verdeutlichte. Schließlich bogen sie in einen Fluss ein. Als Po das merkte, wurde er etwas unruhig. Wohin trieb es den ehemaligen zukünftigen Herrscher der Stadt Gongmen?
Allmählich ahnte der Panda etwas und erhob sich langsam. Shens Augen wanderten leicht zu ihm nach hinten, sagte jedoch nichts. Schließlich wies Shen an das Boot ans Ufer zu steuern. Dort legten sie an und Shen stieg aus. Po tat es ihm gleich und gemeinsam durchquerten sie einen spärlich bewaldeten Wiesenweg.
Zuerst ließ der Drachenkrieger wenig interessiert seinen Blick schweifen. Außer Wald und Wiese gab es hier nichts.
Plötzlich hielt er inne, als er sich das Gras genauer beschaute. Die Erde war an einer Stelle schnurgerade und danach wurde der Boden wässrig und matschig.
Po bückte sich und schob das Gras etwas zur Seite. Es war Reis. Reisgras von einem Reisfeld. Jedoch ein ziemlich verwildertes Reisfeld. War das etwa…?
Ruckartig erhob sich der Panda und wollte nach vorne stürmen. Doch dann musste er mitten im Rennen abbremsen, weil Shen nur einen Meter vor ihm zum Stillstand gekommen war. Po blieb auf einem Fuß stehen und taumelte balancierend nach hinten.
„Autsch! Iggit.“ Angeekelt rieb Po sich den Dreck vom Rücken und sah zu Shen auf. Dieser hatte ihm wieder den Rücken zugewandt und schien wie versteinert zu sein.
„Kommt dir das bekannt vor, Panda?“, fragte er leise und gefühlskalt.
Mühsam rappelte Po sich auf und sah sich um. Zuerst sah er nur trübes Wetter über einem teilweise mit Bäumen bestückten Wiesenfeld. Doch dann erkannte er verlotterte, heruntergekommene Holzhütten.
Po riss die Augen auf.
Das Panda-Dorf.
Sein Dorf.
Po schluckte schwer. „Hier war ich doch schon mal gewesen.“ Er zog den Kopf ein. „Allerdings als ich vor über einem Jahr nach Gongmen kam… damals, als du mich mit der Kanone abgeschossen hattest… hierher… also, weißt du?“
Shen schwieg. Er sah auf die verbliebenen Überreste des Dorfes herab. Das letzte Mal war er vor über 20 Jahren hier gewesen. Seitdem hatte er keinen Fuß mehr in diesen Ort gesetzt.
„Aber nicht das“, flüsterte er heiser.
Po wusste nicht, was er meinte. Doch Shen erläuterte keine Details und setzte sich wieder in Bewegung, wobei er den Panda wieder einen Wink mit seinem Flügel gab und Po folgte ihm mit einigem Abstand.
Die Atmosphäre lag schwer auf dem einst so schönen kleinen Panda-Dorf. Sie gingen langsam, als wollten sie die Toten nicht stören. Shen hob nur ab und zu leicht den Kopf und ließ die Augen abwechselnd zur Seite wandern. Er erinnerte sich noch wie er hier einfiel. So vieles hatte sich vor langer Zeit hier abgespielt. Es lag noch so viel Tod in der Luft, dass er meinte, ihn spüren zu können. Seine Flügel pressten sich zitternd um den Griff seines langen Schwerts. So viel Blut klebte daran noch fest, obwohl es nicht mehr zu sehen war.
Der Lord schnitt mit dem Schwert über einen Grashalm. Damals lag noch Schnee auf den Wiesen und die Flächen waren mit Eis überzogen. Shen schloss kurz die Augen. Das Gras streichelte seine Füße und ließ ihn willkommen, ohne Dornen. Eine sanfte Ruhe, ohne kaltes Eis. Im Gegensatz zu dieser Nacht, wo der Schnee sein weißes Federkleid unscheinbar werden ließ, so hob sich Shens Gestalt jetzt kontrastreich vom Grünen ab, als käme er nicht von dieser Welt.
Po kniff die Augen zusammen. Einmal blitzte ein Bild vor ihm auf. Shen, wie er mit lautem Schreien die Wölfe antrieb. Ein Pfauenschrei, der durch die Nacht grellte. Jetzt schwieg der weiße Lord. Keine rote Farbe des Feuers erhellte mehr sein Federkleid. Nur Dunkelheit und Stille, wie die Asche nach dem Feuer. Die Glut war kalt und erloschen. Es war eine Ruhe wie nach einem fast vergessenen Sturm.
Nachdem sie das letzte verfallene Haus passiert hatten, bogen sie in den Wald ein.
„Wo gehen wir hin?“, fragte Po.
Der Pfau entfächerte seinen Pfauenschwanz. Erschrocken wich Po etwas zurück. Doch der Lord antwortete nicht, sondern wies mit seinem Lanzenschwert in den Wald. Anschließend schulterte er sein Schwert wieder über und ging zwischen den Bäumen hindurch. Misstrauisch sah Po ihm nach. Konnte er ihm trauen?
Er schaute noch einmal hinter sich, dann seufzte er tief und ging dem Pfau hinterher. Shens weiße Gestalt wanderte zwischen den Bäumen wie ein Geist. Doch sein Gang schien nicht ohne Ziel zu sein. Er schien den Weg sogar genau zu kennen. Po hielt es für das Beste erst mal zu Schweigen und gemeinsam gingen sie eine ganze Strecke bis sie zum Waldrand kamen, wo ein Hügel runterführte.
Der Panda blieb kurz stehen. Irgendwie meinte er diese Gegend schon mal gesehen zu haben. Er wollte gerade etwas fragen, als er merkte, dass Shen bereits wieder im Wald verschwunden war. Widerstrebend folgte der Panda ihm erneut. Der Spaziergang ging noch ein paar Meter, dann blieb der Lord unerwartet stehen. Auch Po hielt an. Dann drehte sich der weiße Pfau zu ihm um. Sein Gesicht wirkte wie Stein.
„Hier war es.“
Verwundert schaute der Panda hinter ihm. Sie befanden sich auf einer kleinen mit Gras bewachsenen Lichtung.
„Was war hier gewesen?“, fragte er.
Shen drückte mit beiden Flügeln den Griff seines Lanzenschwertes in den feuchten Waldboden. „Hier habe ich deine Mutter getötet.“
Pos Augen weiteten sich. Doch Shen zeigte keine Gefühlsregung. Stattdessen wies er mit seinem weißen Flügel erneut auf die Waldlichtung auf eine bestimmte Stelle. „Sie fiel dort hin.“
Der Lord ließ den Panda nicht aus den Augen und beobachtete seine Reaktion. Po stand da wie festgewachsen, unfähig sich zu rühren und starrte fassungslos nach vorne.
„Willst du nicht das Grab deiner Mutter besuchen, Panda?“
Schweigend und ein wenig betäubt setzte der Drachenkrieger sich in Bewegung und schritt vorsichtig über das Gras. Es war unvorstellbar, dass hier vor über 20 Jahren mal eine Pandamutter tot hier gelegen hatte. Was war wohl aus ihrem Körper geworden? Hier befand sich nichts. Nicht mal Knochen. Ob sie jemand nach dem Massaker gefunden und begraben hatte? Oder war sie längst von wilden Tieren beseitig worden?
Tief betroffen ließ der Panda sich auf dem Waldboden nieder, als versuchte er ihre verbliebene Aura zu spüren, wobei er mit den Handflächen über die Grashalme strich.
Shen hatte sich immer noch nicht von der Stelle gerührt und ließ seinen Blick auf den Panda ruhen.
„Wie seine Mutter“, dachte er. Genau an derselben Stelle.
(Rückblende)
Die Wölfe waren schnell, aber der junge Lord sprintete ihnen gekonnt hinterher. Nie hätte er gedacht, mit Wölfen auf die Jagd zu gehen. Es durfte keine Überlebenden geben. Der Wald war hier zu Ende. Wo war der geflohene Panda?
Ein Heulen.
Eine Bewegung im Wald.
Der Schrei einer Frau.
Ein Wolf sprang an seine Seite. Wies ihn in eine bestimmte Richtung.
Pfeilschnell huschte er zwischen den Baumstämmen hindurch. Kalte Schneeflocken strichen ihm über das Federkleid. Es war eine Nacht wie für eine kalte Hinrichtung geschaffen.
Eine Lichtung tauchte auf. Ein großer Panda, umzingelt von Wölfen hielten sich dort auf.
Sein nächstes Opfer.
Eine Frau.
Der weiße Pfau hob sein Lanzenschwert. Die Wölfe zogen sich etwas zurück und machten ihrem Heerführer respektvoll Platz.
Die Pandafrau sank auf die Knie. Er wusste nicht mehr, was sie genau gesagt hatte. Er blendete einfach alles aus. Er wollte kein Mitleid in sich aufkommen lassen. Mitleid war eine Schwäche. Genauso wie Vergeben.
Vergeben.
(Rückblende Ende)

Shens Flügel verkrampften sich um sein Schwert. Der Todesschrei hallte ihm immer noch in den Ohren.
Wieder wanderte sein Blick auf den Panda, der immer noch auf dem Boden hockte. Anschließend wanderte sein Blick auf sein Lanzenschwert. Der Panda stand ganz allein mit ihm im Wald. In dem Zustand, in dem sich der Panda gerade befand, könnte er ihn ohne Mühe zur Strecke bringen. Ein Plan, den er schon vor über einem Jahr in die Tat umsetzen wollte.
Shens Fußkrallten gruben sich in den Boden. Mit einer harschen Bewegung und unheilvollem Zischen zerschnitt der Lord mit dem scharfen Kriegsinstrument die Luft.
„Fällt es dir immer noch so leicht zu vergeben, Panda?!“, herrschte er ihn an.
Zuerst reagierte Po nicht. Erst nach ein paar Sekunden hob er langsam den Kopf. Der Lord drückte seinen freien Flügel auf seine Brust. Irgendetwas tat ihm dort weh, wusste aber, dass es kein körperliches Leid war. Er ballte die Fingerfedern zu einer Faust. Irgendetwas tief in ihm krampfte sich zusammen.
„Es schmerzt. Nicht wahr?“ Jeder Ton in seiner Stimme war wie ein Steinschlag. „Wir durchleben beide denselben Schmerz. Jeder auf seine Weise.“
Endlich schaffte es der Panda seinen Kopf in seine Richtung zu drehen. Shen kniff teuflisch und düster die Augen zusammen. In Pos Augen hatten sich ein paar Tränen gebildet. Dem Lord schnürte etwas die Kehle zu, doch seine Wut überwand alles in ihm.
„Bist du immer noch bereit mir zu vergeben?“, zischte der Lord mit erstickter Stimme weiter. „Was ist, wenn ich dir sagen, dass ich sie mit derselben Waffe getötet habe?“ Er hielt sein Lanzenschwert hoch, das er anschließend knallhart auf den Boden stemmte. „Denkst du wirklich, deine Mutter könnte mir verzeihen?“
Erneut folgte eine Pause, wo niemand ein Wort sagte. Pos Blick blieb wie zuvor traurig, während Shen immer ungehaltener wurde. Es brodelte in ihm so hitzig wie die Lava eines Vulkans. Er wusste einfach nicht, worüber er genau so einen Zorn verspürte. Über sich? Über andere? Über die Zukunft? Das Universum? Das alles nicht so gekommen war, wie er es sich immer gewünscht hatte? Warum war er so geboren?
Er stieß einen lauten Schrei aus und schwang sein Schwert erneut um sich.
„Vielleicht schreit sie sogar gerade zu dir!“, keifte er. „Willst du sie denn nicht rächen?!“ Er presste die kalte Klinge gegen seine Stirn. „Der Drang den Schmerz zu lindern ist stark. Verstehst du jetzt was ich meine, Panda?“
Shen wich ein paar Schritte zurück. Po war aufgestanden. Nach einer Phase des Stillstands, ging er auf den Pfau zu. Mit jedem Schritt ging Shen rückwärts. Sein Schwert hielt er vor sich. Erwartete er einen Angriff?
„Wenn du mich jetzt töten willst, Panda, dann lass mich zumindest zuerst meinen Racheakt vollstrecken!“ Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich. „Lass mich noch den Verräter zur Strecke bringen!“ In Shens Stimme lag immer noch Verbitterung. Aber auch irgendwie Angst. Doch dann erhob er sich so stolz wie ein Pfau nur eine stolze Haltung nur zeigen konnte. „Denn das ist Gerechtigkeit!“
Plötzlich sprang Po ihn an. Shen hätte ihn vielleicht erstechen können, doch irgendetwas fror seine Bewegung ein. War es nur Gerechtigkeit, dass der Panda seine Mutter rächen wollte? Der Lord schaffte es gerade noch sein Lanzenschwert wie ein Schild vor sich zu halten. Doch Po drückte es ihm runter und schlang seine Arme um ihn.
Zuerst befürchtete Shen der Panda wollte ihm das Rückgrat brechen. Er stieß einen Pfauenschrei aus, hielt sein Schwert aber weiterhin mit festem Griff in beiden Flügeln, sodass es zwischen ihnen eingedrückt wurde. Doch der umarmende Griff verletzte den Pfau nicht. Stattdessen umschlossen sie ihn nur und der Kopf des Pandas ruhte auf seiner Schulter.
Vergeblich versuchte der Pfau sich herauszuwinden. „Was tust du da?!“
„Ich habe dir damals schon vergeben“, stieß Po mühsam hervor. „Zwing mich nicht diesen Schwur zu brechen.“
Er verstärkte seine Umarmung, als versuche er das scheußliche Gefühl nach Rache damit zu vertreiben. „Vergib lieber mir, dass ich dich damals nicht von der Kanone weggerissen habe.“
Shen zuckte zusammen. „Wovon redest du da?“
„Davon, dass ich weggelaufen bin, als die Kanone auf dich fiel. Das war sehr egoistisch von mir gewesen. Ich hätte dich retten sollen. Es tut mir leid.“
Shen stand da wie betäubt. „Warum sagst du das?“
„Weil es nicht gerecht war. Ich bin der Drachenkrieger. Und es ist meine Aufgabe jeden in Not zu helfen und zu schützen. Bei dir hab ich es vermasselt. Tut mir leid.“ Er strich dem Pfau über den Rücken. „Bitte, vergib mir.“
Stille fiel. Während Po den Pfau immer noch umarmt hielt, seine Augen dabei geschlossen und auf ein Wort von seinem Gegenüber hoffte, fühlte Shen sich wie in einem toten Körper.
Vergib mir.
Noch nie hat ihm jemand darum gebeten. Nur Flehen um Gnade oder aus Angst, dass er jemanden verschonen sollte. Wer hat ihm mal darum gebeten, dass er jemanden vergab?
Dem Pfau durchzuckte ein Schock. Der Panda weinte. Tränen tropften ihm auf die Schulter. Normalerweise hätte er ihn angewidert von sich gestoßen, doch es rief in ihm etwas anderes hervor. Eine körperliche Geste wie, wenn ihm jemand das Herz öffnete. Ein Zitternd durchfuhr seinen Körper. Mit bebenden Flügeln umklammerte er sein Schwert, dann ließ er es fallen und es landete im Gras. Eine Weile stand er noch teilnahmslos da. Doch dann hob er seine Flügel, die sich sachte auf den Panda niederließen. Als Po seine Flügel spürte, schob er seine Arme in der Umarmung weiter hoch. Schließlich begann der Lord seine Fingerfedern auf dem Fell des Pandas zu bewegen.
Schwarz und Weiß.
Das Weiß war fast identisch mit seinem. Das er das nie zuvor bemerkt hatte.
„Ach, Panda.“
Er kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete verschleierten Tränen ihm die Sicht.
Alles von damals war irgendwie vergessen.
Ein leichter Wind wehte durch die Bäume und streichelt ihm die Tränen aus dem Gesicht. Der Pfau sah auf. Eine Ruhe umgab die Lichtung. Als würde das Universum sie beruhigen wollen.
Er senkte den Blick und Weinen war alles, was die Stille noch erfüllte.

27. Unter der kalten Gnade eines Lords


Sie wussten nicht wie lange sie an dieser Stelle verweilten, doch irgendwann hielt Shen die Umarmung nicht mehr länger aus. Er schob den Panda sachte, aber auch bestimmt, von sich. Po war ihm deswegen nicht böse. Als beide wieder knapp einen Meter voneinander entfernt standen, schien ihnen erst jetzt wieder bewusst zu werden, weshalb sie eigentlich hierhergekommen waren. Doch der Lord wollte nichts Weiteres hören oder sagen. Wortlos hob er sein Lanzenschwert wieder auf und beide gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Die ganze Bootsfahrt über schwiegen beide. Po wagte keine Fragen zu stellen. Shen wollte mit seinen Gedanken einfach alleine sein. Dass der Panda selbst am Sterbeort seiner Mutter ihn nicht angefallen hat, hatte ihn doch sehr verwirrt. Und um das in seinem Gedanken-Universum einzuarbeiten, würde es noch eine ganze Weile dauern.
Im Hafen von Gongmen stiegen sie wieder ab. Der Bootsführer verlangte zum Glück keine Gebühr, sodass Shen seine Gedanken in Ruhe weiter mit sich tragen konnte. Po folgte ihm mit langsamen Schritten. Die Sonne war inzwischen schon so tief, dass sie den Horizont in ein milchiges Rot tauchte.
Unterwegs kamen sie an dem zerstörten Stadtteil vorbei. Doch Shen schenkte dem Trümmerfeld keine Beachtung. Auch Po hielt besser den Mund. Stattdessen rief eine andere Stimme zu ihnen rüber, gefolgt von einem schrillen Pfiff.
„Hey!“
Beide drehten die Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Es war Wang. Er stand auf einer umgestürzten Hauswand und winkte sie zu sich rüber. „Hier drüben! Wir haben ihn!“
Po rutschte das Herz in die Hose. Ängstlich sah er zu Shen, der auf seinem Lanzenschwert gestützt immer noch an Ort und Stelle stand. Er schien unschlüssig zu sein. Doch dann schwang er sein Schwert mit festem Griff und ging auf den Hunnenkönig zu. Doch noch ehe er den Mund aufmachen konnte, schaltete sich Po schnell ein. „Oh, gut, habt ihr ihn Dingfest gemacht?“
Wang schnaubte. „Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Der kommt sowieso nicht weit.“
Er deutete mit einem Nicken zur Seite. Panda und Pfau folgten seinem Kopfzeig. Etwas weiter weg kroch etwas über den Schutt. Jedoch so langsam, dass es sich kaum von der Stelle bewegte. Mit jeder Bewegung begann das Wesen zu zittern. Po musste mehrere Male die Augen zusammenkneifen, um die verbrannte Gestalt von Xiang nur annährend erkennen zu können. Der verunstaltete Pfau gab sich alle Mühe sich mit seinen verletzten Flügeln vorwärtszubewegen. Doch so sehr er sich auf bemühte, er kam höchsten mit jedem Kriechen nur einen Zentimeter weit. Wenn überhaupt. Selbst eine Schnecke wäre schneller als er.
Po seufzte mitleidig. Er erinnerte sich, wie er sich mal die Tatze verbrannt hatte. Und das war nicht gerade eine angenehme Erfahrung gewesen. Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als Shen sich in Bewegung setzte und auf dem kriechenden, mehr liegenden Pfau, zuging. Po war kurz davor ihm zu folgen, doch ein mahnender Wink von Wang ließ ihn verharren.
Mit langsamen Schritten marschierte Shen über die Trümmer. Es war ein heilloses Durcheinander, die hauptsächlich aus zersplitterten Hauswänden und Dachziegeln bestand. Als er nur noch knapp drei Meter von Xiang entfernt war, merkte er, wie der verbrannte Pfau innehielt. Shen verengte die Augen. Jetzt trennten sie nur noch wenige Zentimeter voneinander.
Xiang drehte sich nicht um. Er spürte den vernichtenden Blick im Rücken. Mühsam und keuchend stützte er sich auf seinen beschädigten Flügeln ab und senkten den Kopf. Es sah fast schon so aus, als machte er sich dafür bereit, dass der weiße Lord ihm den Messerstich in den Rücken verpasste.
Shen schwang etwas sein Lanzenschwert, sodass es ein sirrendes schauriges Geräusch in der Luft erzeugte. Es wunderte ihn, dass sein Rivale sich überhaupt noch aufrichten konnte. Es war nicht ersichtlich wie schwer sein innerer Körper wirklich beschädigt war.
Auf einmal warf Xiang sich nach vorne und versuchte weiter zu kriechen.
Shen hob die Augenbrauen. Plötzlich warf er ein Federmesser, das sich durch die angesenkte Robe des ehemaligen blauen Pfaus bohrte. Das verbliebene Kleidungsstück war teilweise mit den Federn verschmolzen, sodass der Arzt es noch nicht vollständig entfernten konnte. Neben den umgebundenen Bandagen, war dies noch das letzte was Xiang am Leib trug. Als Xiang merkte, dass der Lord ihn mit dem Messer auf den Boden festgenagelt hatte, versuchte er sich loszureißen, wobei sein Zittern sich nur noch verstärkte. Aber seine Kräfte waren zu extrem aufgebraucht, als dass er die volle Leistung hätte aufbringen können.
Shen, der immer noch mit verengten Augen auf Xiang herabblickte, hob den Fuß und drückte ihn auf den Rücken seines kampfunfähigen Gegners. Xiang rang laut nach Luft, versuchte oben zu bleiben, doch für den weißen Pfau war es ein Leichtes ihn mit dem Bauch auf den Boden zu drücken. Xiang knickte unter der niedrigen Last einfach zusammen.
Ein weiterer erstickter Schrei entkam den gefallenen Lord, als Shen seine Krallen in seinen Rücken grub. Dann riss er ihn zur Seite und Xiang rollte auf den Rücken. Und noch ehe er etwas anderes machen konnte, drückte Shen seinen Fuß jetzt auf Xiangs Brustkorb. Der schwarze Pfau sog scharf die Luft ein. Es fiel ihm schwer zu atmen. Vergeblich versuchte er sich zur Seite zu rollen. Shen übte zwar wenig Druck auf ihn aus, doch das genügte um Xiang an Ort und Stelle zu fixieren. Als Shen schließlich sein Schwert vor sich hielt, unternahm der andere Pfau alles Mögliche die Flügel oder die Beine zu heben, um ihn wegzustoßen. Doch alles was er zustande brachte, war nur ein mickriges Zucken der Gliedmaßen. Die Klinge wanderte zu seinem Hals. Xiang wandte sich unter dem Fuß des weißen Lords, stets die Schwertspitze im Auge behaltend, die allmählich zu seiner Kehle wanderte. Es trennten jetzt nur noch ein paar Millimeter, um seinen Kehlkopf zu zerstören, der ohnehin schon bereits beschädigt war.
Als Po das sah, wandte er sich ab. Er konnte Shen nicht zwingen, aber gleichzeitig konnte er es auch nicht mitansehen. Einzig Wang beobachtete die Szenerie.
Ein lauter schriller, schmerzerfüllter Pfauenschrei zerriss die Luft, dicht gefolgt von einem wimmernden Jammern.
Po kniff die Augen feste zusammen. Das Wimmern wurde zwar etwas leiser, klang aber in seinen Ohren immer noch furchtbar genug, dass sich in ihm sämtliche Haare sträubten.
Ein paar Sekunden später hörte er Schritte, die auf ihn zukamen. Zögernd blickte Po neben sich. Shen war gerade dabei mit seinen weißen Fingerfedern über die Klinge seines Schwertes zu wischen, die etwas blutig war. Po sah ihn mit großen Augen an.
„Was hast du getan?“, hauchte er.
„Ich habe ihm die Flügelsehnen durchtrennt“, antwortete Shen tonlos. Anschließend wanderte sein Blick zum Panda. „Das ist meine milde Bestrafung.“
Po blieb der Mund offen. Doch Shen schenkte ihm keine weitere Beachtung, sondern wandte sich König Wang zu.
„Jetzt könnt ihr euch um ihn kümmern“, bemerkte der Lord abfällig. „Er ist in deiner Hand. Tu mit ihm, was du für richtig hältst.“
Damit entfernte sich der weiße Lord. Po sah zu Wang hoch, der ihm mit verschränkten Armen hinterher sah.
„Was willst du jetzt mit ihm machen?“, erkundigte Po sich vorsichtig.
„Erst einmal wegsperren“, antwortete Wang mürrisch und winkte die Wachen zu sich. Dann deutete er hart auf den am bodenliegenden wimmernden Pfau. „Schafft ihn weg! Ich habe zwar keinen Respekt vor ihm, aber seid dennoch etwas vorsichtig mit ihm. Nicht das er noch auseinanderfällt.“
Unter den Blicken von Wang und Po, zerrten die Soldaten den immer noch winselnden Pfau mit sich mit, der sich unter ihren Griffen vor Schmerzen wandte. Po gab sich Mühe nichts dazuzusagen. Schweigend entfernte er sich von dem Ort, ständig immer noch den Schmerzensschrei im Hinterkopf.

Der Rückweg in die Gast-Residenz war mühsam. Zumindest für Po. Während Shen mit dem Lanzenschwert auf der Schulter durch die Gassen schritt, schlurfte der Panda mehr als das er ging.
„Heißt das, er wird nie wieder fliegen können? Falls er überleben sollte?“, fragte Po zaghaft.
„Vielleicht“, antwortete Shen gleichgültig. „Wenn doch, dann wird das eher schmerzhaft.“
Auf der Treppe der Gast-Residenz hielt er kurz inne und drehte sich zum Panda um. Beide sahen sich an. Po machte einen geknickten Eindruck, während Shen ernst seinen Blick erwiderte. Doch der weiße Pfau verzichtete auf eine Diskussion und beide zogen sich in die Gast-Residenz zurück, wo sie schon besorgt von Yin-Yu erwartet wurden. Sie hatte sich in den Aufenthaltsraum zurückgezogen, von wo aus man einen schönen Ausblick über die Stadt und auf das Meer hatte. Der Raum selber war bestückt mit allerlei Sitzgelegenheiten und Tische. Doch die Pfauenhenne nahm keines dieser Möbelstücke wahr. Stattdessen ging sie die ganze Zeit unruhig auf und ab. Nur die Furiosen Fünf hatten sich zusammen in einer Runde zusammengesetzt und erwarteten ebenfalls die Rückkehr ihres bestens Freundes. Sheng stand am Fenster und besah sich nachdenklich das vom Abendrot beleuchtete Meer. Xia stand an einer Wand gelehnt und starrte Löcher in die Luft. Erst als Schritte von der Tür zu hören waren, kam wieder anderes Leben in den Raum.
Alle drehten die Köpfe zum Eingang des Saals. Zuerst blieben Shen und Po stehen und betrachteten die fragenden Gesichter, die sie empfingen. Die Augen des weißen Lords blieben letztendendes über Yin-Yu hängen. Ohne ein Wort ging er auf sie zu und schmiss sein Schwert auf den Boden. Seine Frau wagte nicht sich zu rühren. Sie wartete geduldig bis er zu ihr kam und sie an den Flügeln fasste. Shen flüsterte ihr ein paar Worte zu, die Po nicht verstehen konnte, ahnte aber, dass Shen sie von seinem Urteil unterrichtete. Die beiden sahen sich zuerst tief und ernst in die Augen. Dann fielen sie sich in die Arme. Yin-Yus Fingerfedern krallten sich fast in Shens Rücken, während der Lord ihr beruhigend über den Rücken streichelte.
Sheng und Xia traten neugierig an Po heran. Schüchtern betrachtete der Panda sah Geschwisterpaar. Dann berichtete auch er ihnen in kurzen Sätzen, was sich zuvor mit ihrem Ex-Vater ereignet hatte.
Xia konnte das nicht verstehen. „Aber wieso? Er hat uns doch soviel angetan. Wieso hat er ihn nicht beseitigt?“
„So ist Vergebung“, meldete sich die Stimme der Wahrsagerin neben ihr zu Wort.
Po wunderte sich, dass sie so schnell wie aus dem Nichts aufgetaucht war, doch im Moment war ihm eh alles egal. Es war zumindest niemand von Shens Familie verletzt worden. Bis auf…
Das Gesicht des Drachenkriegers wechselte wieder in tiefe Trauer. Er hätte sich so sehr gewünscht, dass es doch noch anders gekommen wäre.
„Po, alles in Ordnung?“
Der Panda drehte sich zu seinen fünf Freunden um und wischte sich schnell eine Träne aus dem Auge. „Hey, Leute, ich brauche eine richtig große Umarmung.“
Er breitete die Arme aus. Zuerst waren die Furiosen Fünf unschlüssig. Doch dann warf sich Tigress als Erstes nach vorne und legte feste ihre Arme um ihn. Po war etwas überrumpelt, doch dann schlang er ebenfalls froh seine Tatzen um sie. Dann folgten auch die Arme von Monkey und Crane, während Viper sich um Pos Hals ringelte und Mantis sich an sein Ohr klammerte.
„Entschuldigen Sie?“
Verwundert hoben die sechs Freunde die Köpfe. Hinter ihnen waren ein großer Yak und ein kleiner Widder aufgetaucht. Der Yak hatte ziemlich langes Fell und trug einen großen Strohrucksack auf den Rücken. Der kleine Widder steckte in dicken Jacken und betrachtete die Furiosen Sechs mit prüfend musternden Blick.
„Ist hier irgendwo ein Lord Shen und eine Lady Yin-Yu?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
Po löste sich schnell aus den Umarmungen seiner Freunde und starrte die zwei Fremden verwundert an. „Äh… j-jaaa.“
„Warum wollen Sie das wissen?“, hackte Tigress nach.
Der Widder zuckte die Achseln. „Nun, wir wollten fragen, ob diese hier ihnen gehören.“
Mit diesen Worten griff er hinter sich und holte etwas hervor.
Es war ein Korb – mit vier Eiern.

28. Elternglück


Entgeistert starrten die Freunde in den Korb, der teilweise mit Stroh gefüllt war. Po konnte sich das alles gar nicht erklären. Er hatte doch genau gesehen, wie die Krähe die Eier in die Schlucht geworden hatte. Das konnte er sich doch nicht eingebildet haben. Was war mit den zerbrochenen leeren Eierschalen? Die chinesischen Zeichen waren doch da drauf gewesen…
„Ja, wie denn… wo denn, wie, warum, ich dachte, die waren doch… ich hab doch gesehen…“ Po war so verwirrt, dass er sich auf den Boden setzen musste und an seinen Fingernägeln herumkaute. Er verstand das Universum nicht mehr.
„Also, gehören die jetzt ihnen oder nicht?“, fragte der kleine Widder ungeduldig, dem der Korb in den Ärmchen langsam zu schwer wurde.
„Wo haben Sie sie denn gefunden?“, fragte Tigress, der Pos verwirrter Zustand extrem leidtat.
Seufzend stellte der Widder den Korb auf den Boden ab. „Ach, mein Kumpel und ich hatten uns im Gebirge verfranzt. Dabei fanden wir das hier zwischen ein paar Felsen versteckt.“
„In der Schlucht?“, hackte Mantis nach.
Der Widder schüttelte den Kopf. „Nö, irgendwo oberhalb und…“
Er brach ab. Po war wie vom Blitz getroffen aufgesprungen und raste davon. „SHEN!“
Shen, der immer noch seine Frau im Arm hielt, schien die Welt um sich herum vergessen zu haben. Umso überraschter war er, als der Panda ihm einfach aus der Umarmung riss und ihn mit großen Augen ansah.
„Bitte sage mir, dass ich nicht träume!“, flehte Po ihn an.
Der Lord verstand überhaupt nicht, was der Panda meinte. „Wovon redest du da?“
Doch statt einer Antwort zerrte Po den weißen Pfau einfach mit sich mit, dicht gefolgt von Yin-Yu. Auch Xia, die die ganze Zeit noch mit der Wahrsagerin diskutiert hatte, wurde erst jetzt auf den ganzen Trubel aufmerksam. Nur Sheng blieb wie immer die Ruhe selbst.
Po schob den weißen Pfau so grob vor sich her, dass der Lord fast ins Stolpern geriet. Als sein Blick auf den Korb mit den Eiern fiel, starrte er fassungslos darauf. Sie waren genau mit denselben Zeichen nummeriert wie seine Frau sie draufgemalt hatte. Yin-Yu presste sich die Flügel auf den Schnabel. Sie fühlte sich wie in eine unendliche Tiefe fallen. Xia stützte ihre Mutter schnell von der Seite ab, obwohl sie selber nicht wusste, was sie sagen sollte. Doch irgendwann schaffte sie es doch ein Wort über die Schnabellippen zu bringen. „Mutter, sind das etwa deine?“
„Nein!“, schrie Shen und schob den Korb von sich. Der Widder konnte gerade noch verhindern, dass der Korb umkippte, was den Umstehenden einen erschrockenen, erstickten Schrei entlockte. Doch der Lord kümmerte sich gar nicht darum, was um ihn herum passierte und drehte sich zur Wahrsagerin, die seinen bösen Blick verängstigt auffing.
„Das hast du doch eingefädelt!“, fuhr Shen die Ziege an. „Du denkst wohl, ich weiß nicht, was du hinter meinen Rücken treibst. Oder hast du das etwa wieder vorausgesehen?!“
Die Ziege zog den Kopf ein, wobei sie ihren Oberkörper so tief neigte, dass sie Mühe hatte sich auf dem Gehstock zu halten. „Shen, ich schwöre dir bei meiner Seele, sowas würde ich nie wagen. Hätte ich es vorausgesehen, dann hätte ich es dir nie verschwiegen. Ich hab mir selber den Eid geschworen, nie wieder in deine Zukunft zu sehen. Nie wieder. Wie hätte ich etwas davon ahnen können?“
Shen schnaubte vor Wut und verengte die Augen. „Und wie erklärst du dir dann das hier?!“
Sein Blick fiel auf den Panda. Doch dieser wehrte vehement ab. „Ich hab nichts gemacht! Ehrlich! Ich hab nichts gemacht! Ich weiß auch nicht, was hier los ist.“
Verzweifelt schaute Po sich nach allen Seiten um. In seiner Not wandte er sich an den Widder und seinem Yak-Freund zu. „Jetzt sagt doch mal, wo ihr sie herhabt?“
Doch der Widder zuckte nur die Achseln. „Wie gesagt. Wir haben sie in den Bergen, in der Nähe der Stadt Yin Yan gefunden. Dort erkundigten wir uns nach den Besitzern. In der Stadt identifizierte eine Dame namens Xinxin die Eier und sie meinte, wir müssten sie sofort nach Gongmen bringen. Das war alles.“
Eine Stille breitete sich im Raum aus. Alle waren verwirrt. Keiner konnte sich das erklären. Besondern Shen konnte und wollte die Fakten nicht akzeptieren.
„Das ist unmöglich!“, stieß er atemlos hervor.
Yin-Yu, die einen näheren Blick auf das Gelege wagte, musste ihm jedoch widersprechen. „Nein, sieh doch. Nicht nur die Bemalung ist gleich. Hier, das Ei mit der Nummer drei hatte eine leichte graue Linie an der Seite. Das weiß ich noch ganz genau.“
Sie sah zu ihrem Mann. Dieser sah sie nur entgeistert an. Dann, zu Überraschung aller, sank der Lord auf die Knie. Mit einem Flügel hielt er sich den Kopf, mit dem anderen stützte er sich auf dem Boden ab. „Das kann nicht sein, das kann nicht sein.“
„Das muss ein Wunder des Universums sein“, hauchte Po. „Anders kann ich mir das nicht erklären.“
„Ach, ich sage euch, das war die schlimmste Reise, die wir je gemacht haben“, schaltete sich der kleine Widder wieder ein, wobei er sich über die Stirn wischte. „Mit all der ganzen Vorsicht, die wir leisten mussten. Noch dazu die Kälte. Zum Glück hat mein Kumpel ein dichtes Fell.“
Shen zuckte zusammen, als Sheng und Xia sich neben ihn gesellten und ihn an den Schultern fassten. Der Lord sah zu ihnen auf. Als er in die Augen seiner älteren Kinder blickte, schüttelte es in ihm das Suchen nach einer Antwort ab. Ob das Universum es doch gut mit ihm gemeint hatte?
„Hey, Leute!“, rief Po plötzlich. „Bilde ich es mir nur ein, oder hat das Ei einen Riss?“
Alle Augen starrten auf das Gelege. Tatsächlich. Das Ei mit der aufgemalten Nummer zwei war an der Oberfläche zersprungen. Schnell hob Yin-Yu den Korb auf und trug ihn zu einem Tisch, der fast in der Mitte des Raumes stand. Dort stellte sie ihn ab, damit auch alle sich drumherum versammeln konnten.
Alle hielten den Atem an. Mit einem Mal entstand ein kleines Loch in der Schale. Ein Schnäbelchen lugte aus dem Loch hervor. Er war hellgrau. Ein schwaches Piepsen war zu hören. Und mit ein paar Ruckeln brach das Ei auseinander. Das Küken kippte erschöpft zur Seite. Sprachlos sahen alle auf es herab.
Es war weiß. Noch weißer als Shen. Da war keine andere Farbe in seinem Gefieder. Sogar die Füße waren im Gegensatz zum Vater vollständig weiß-rosa. Nur der Schabel war grau. Zwar etwas heller, aber grau. Als das Pfauenküken blinzelnd die Augen öffnete, schauten ihnen silberne Pupillen entgegen. Besorgt beugte sich Yin-Yu zu ihm runter und strich dem Neugeborenem über das noch feuchte Gefieder, in dem noch Stroh drin klebte.
„Hat jemand ein Handtuch?“, fragte sie.
Sofort trat die Ziege an sie heran und hielt ihr ein Tuch entgegen. Dankbar nahm die Pfauenhenne es ihr ab. Anschließend schob sie die leeren Eierschalen beiseite und rieb das Baby trocken, wobei das Küken vergnügt quietschte.
„Es ist ein Mädchen!“, rief sie.
„Ich habe eine Schwester!“ Xia war völlig außer sich vor Freude und beobachtete wie ihre Mutter das Küken anschließend in eine kleine Decke einwickelte, wo es mit den kleinen Füßchen strampelte. Sachte nahm Yin-Yu das Baby in die Flügel und wiegte es.
„Sieh mal. Das ist dein Vater.“
Shen war wie erstarrt, als seine Frau ihm seine Tochter vorhielt. Er hatte auf einmal ein Gefühl, das ihm auf den Magen schlug. Es rief ihn ihm wieder die Zeilen in ihrem Brief hervor, den sie ihm vor so vielen Jahren geschrieben hatte. Hatte sie sich doch so sehr gewünscht, zu sehen, wie er ihr Baby in den Flügeln hielt. Yin-Yu schien seine Gedanken erraten zu haben und hielt ihm das Baby entgegen.
Der Lord wagte kaum zu atmen. Normalerweise wusste er immer, was er wollte und tat. Dennoch war er aufgeregt. Würde das Baby ihn mögen? Behutsam nahm er ihr das Bündel ab. Das Baby quiekte leise. Mit halboffenen Augen legte es den Kopf in den Nacken und sah zu dem großen weißen Pfau auf, während Shen auf sie herunterschaute.
Seine Tochter.
Er wusste gar nicht wie er sich verhalten sollte. Noch dazu vor so vielen Leuten. Das Baby begann sich in der Decke zu rekeln und gähnte. Ihr erstes Gähnen. Dann knabberte sie ihre noch kleinen Fingerfederchen an. Sachte schob Shen seine Fingerfederspitzen an ihren Schnabel. Die Kleine schniefte kurz. Als sie bemerkte, dass die großen weißen Fingerfedern nicht ihre waren, streckte sie ihre kleinen Flügel danach aus und hielt sie fest. Der weiße Lord konnte nicht verhindern, dass sie sie in den Mund steckte. Während seine Tochter seine Federspitzen anknabberte, musste er lächeln.
„Wie soll sie denn heißen?“, fragte Po neugierig.
Noch ehe jemand einen Vorschlag machen konnte, ging Yin-Yu dazwischen. „Ich habe schon einen Namen.“
Po drückte die Handflächen aneinander. „Oh, und welchen?“
„Shenmi.“
Verwundert sah Shen sie an. „Shenmi? Aber sie hat doch deine Augen. Warum nicht sowas wie Yin-Yin?“
Doch sie schüttelte den Kopf. „Nein. Sie ist wie du.“ Lächelnd strich sie dem Baby über die Stirn. „Vielleicht ist sie sogar du.“
„Shenmi“, murmelte der Lord bedächtig und blickte auf seine kleine Tochter herab, die in seinen Flügeln lag. „War das der Name, den du dir ausgesucht hattest?“
Die Pfauenhenne lächelte ihn an und Shen hatte seine Antwort. Hatte sie gehofft, dass eines der Kinder so aussah wie er?
Yin-Yus Blick fiel auf Po, der sich über die Augen rieb. Anscheinend bekam er die Augen heute nicht mehr trocken.
„Möchtest du sie auch mal halten?“, fragte sie.
Po sah überrascht auf. „Darf ich das?“
„Warum nicht. Er darf doch, oder?“ Fragend sah Yin-Yu Shen an. Dieser zögerte zunächst. Doch dann gab sich der Lord einen Ruck und hielt dem Panda das eingewickelte Baby vor.
Po machte große Augen. „Wirklich? Wow.“
Vorsichtig nahm er sie in die Arme. Das Baby war fast schon eingeschlafen. Als es den Panda sah, gluckste es unsicher. Doch Po lächelte es an und das Baby schien halbwegs beruhigt zu sein. Seine fünf Freunde schauten ihm über die Schultern und betrachteten das weiße Küken. Monkey konnte nicht anders und wedelte mit seinen Fingern über ihr, sodass es quietschend die Flügel danach aussteckte.
Shen war noch etwas angespannt. Doch als er den Flügel seiner Frau an seinem Flügel spürte, entspannte er sich wieder. Seufzend besah er sich das Bild und fragte sich, wie sich wohl seine Eltern bei seiner Geburt gefühlt hatten. Er selber war auch weiß. Von daher war es für ihn normal. Was würde nur aus dem Kind werden? Vielleicht trug sie diesen Namen zurecht. Sie wird bestimmt mal was ganz Besonderes.
„WO IST ER?! WO IST ER?!“
Im nächsten Moment donnerte Meister Tosender Ochse mit brutalen Schritten in den Raum. Denn mittlerweile hatte man auch sie im Kerker aufgegabelt und davon überzeugen können, dass für die Stadt aktuell keine Gefahr mehr drohte. Dafür aber jetzt wohl eine andere. Wutschnaubend ging der Meister direkt auf Shen zu. Dieser stieß Yin-Yu schnell zur Seite und ging in Verteidigungsstellung. Er war jederzeit bereit einen Angriff des Kung-Fu-Meisters abzuwehren. Xia und Sheng stellten sich schützend neben ihre Mutter. Selbst Po wurde bei der Wut des Ochsen ganz bleich um die Nasenspitze.
Dicht hinter dem Ochsen kam Meister Kroko hastig hinterhergerannt. „Bitte beruhige dich doch!“
Doch Meister Ochse stieß seinen Kollegen einfach zur Seite und bäumte sich gefährlich vor dem weißen Lord auf, wobei er ihm drohend die Fäuste zeigte. „Habe ich dir nicht gesagt, nie wieder zurückzukommen?!“
Shen verengte die Augen. „Ich habe es nicht vergessen“, zischte er. „Ich habe es stets im Gedächtnis behalten.“
Zaghaft tippte Meister Kroko dem Ochsen auf die Schulter. „Kumpel, bleib doch…“
„Halt die Klappe!“, schrie der Ochse ihn an. „Ich werde ihm schon zeigen, wo sein Platz ist!“
Meister Ochse wollte gerade zuschlagen, als…
„Entschuldigung.“
„WAS?!“
Erschrocken wich Po zurück, als er Ochse ihn so anbrüllte. Doch dann nahm er all seinen Mut zusammen. „Kannst du sie vielleicht mal halten?“
Noch bevor der Ochse wusste wie ihm geschah, hatte Po ihm auch schon das Kükenmädchen in die Hufe gedrückt.
„Was…?“ Meister Ochse war völlig von der Rolle, als er auf das weiße Küken blickte, dass angefangen hatte zu weinen.
Verwundert schaute Meister Kroko ihm über die Schulter. „Oh! Wie süß! Was ist das?“
„Das ist Shenmi“, antwortete Po.
„Was ist eine Shenmi?“
„Das ist ihr Name.“
„Das ist meine Tochter“, antwortete Shen zaghaft, aus Sorge, der Ochse könnte ihr wehtun. Das Weinen des Mädchens war inzwischen in ein leises Schluchzen übergegangen.
„Und das ist meine Frau. Und meine zwei älteren Kinder.“
Meister Kroko wurde von dem Wort „älteren“ Kinder völlig irritiert. „Zwei ältere Kinder? Woher denn?“
Po kicherte. „Oh, oh, oh, oh, wow, wow, wow… das ist eine sehr, sehr lange Geschichte.“
Alle Augen wanderten zu der kleinen Shenmi. Die Kleine hatte noch nie ein Tier mit Hörnern gesehen und versuchte danach zu greifen. Meister Ochse hatte alle Mühe das weiße Küken in der Decke festzuhalten, damit es nicht rauskrabbelte.
„Jetzt mal ehrlich, Kumpel“, versuchte Po die Situation zu beruhigen. „Er hat gerade eine Tochter bekommen. Willst du, dass sie noch ohne Vater aufwächst?“
Die düsteren Augen des Ochsen wanderten zu Shen, der inzwischen von Yin-Yu, Xia und Sheng umgeben stand. Shens Blick war weder ängstlich noch zornig, dennoch bahnte sich eine Anspannung zwischen Pfau und Ochse an, die einen ganzen Wald in Brand hätte stecken können.
Meister Kroko hingegen rührte diese Vorstellung zutiefst und musste schniefen.
„Na ja“, meinte das Krokodil. „Das wäre doch unfair gegenüber der Kleinen…“
„Moment mal! Moment mal!“, schaltete sich Meister Ochse schroff ein und schüttelte heftig den Kopf. „So geht das hier aber nicht! Er ist und bleibt ein Verbannter der Stadt! Er hat dagegen verstoßen und muss dementsprechend bestraft werden. So steht es im Gesetz der Stadt Gongmen, schwarz auf weiß auf dem Pergament.“
„Äh, meinst du das Häufchen Asche im Hinterhof?“
„Was?!“ Meister Ochse rannte ans Fenster, wo Po nach draußen zeigte. In der Ferne in der Nähe der Palastmauer war noch eine leichte Rauchsäule zu sehen.
Dem Ochsen fiel fast die Kinnlade runter. „Was zum…? Wer war das?!“
„Nun ja“, meinte Po kleinlaut. „Offensichtlich hat Xiang das Wort „Aufräumen“ falsch interpretiert.“
Schnell wandte der Ochse sich ab und rannte zum Hof runter, ohne dabei zu bemerken, dass er Shenmi immer noch in den Hufen trug, die vergnügt quietschte.



„Shenmi“ ist der chinesische Name für „geheimnisvolles Mädchen“.
Die Auflösung über das rätselhafte Auftauchen der Eier folgt später. ;-)

29. Eine ungewisse Zukunft


„NEIN!“ Fassungslos starrte Meister Tosender Ochse auf den Schutthaufen, in dem immer noch etwas Glut glimmte. „Die gesamten Dokumente der Stadt!“
Meister Kroko hatte etwas aus dem verbrannten Blätterhaufen herausgefischt, das wie eine Urkunde aussah. „Meine Besitzurkunde für mein Sommerhaus. Jetzt muss ich mir noch mal alles neu überschreiben lassen.“
Shenmi wusste nicht, was los war und gluckste amüsiert. Sie quietschte laut, als ein verkohltes Stück Papier durch die Luft an ihr vorbeigeweht wurde. Alle anderen standen sprachlos daneben und betrachteten den Haufen Asche auf dem Hinterhof.
„Tja“, bemerkte Shen trocken. „Um das alles neu zu erstellen, wird das wohl lange dauern.“
Meister Ochse stierte ihn wütend an. „Du verdammte…!“
„Na, na, na“, mahnte der weiße Pfau. „Ich steh auch nicht gerade besser da. Meine Stadt wurde auch teilweise zerstört.“
„Wo wollt ihr dann solange bleiben?“, fragte Po. „Vor allem mit den Kindern?“
Er deutete auf die kleine Shenmi, die sich in Meister Ochses Armen rekelte. Doch noch ehe jemand sich dazu äußern konnte, meldete sich Meister Kroko zu Wort. „Kumpel, ich glaube, dass wirst du jetzt nicht gerne sehen oder hören. Aber…“
Das Krokodil hielt dem Kung-Fu-Meister ein verkohltes Stück Pergament vor. Doch außer einem Siegel der Stadt und ein paar Zeichen am Rande, war nichts mehr darauf zu entziffern. Dennoch wusste der Ochse ganz genau, was er da vor sich hatte.
Auch Shen schien den Papierfetzen erkannt zu haben und grinste leicht. „Ich nehme mal an, damit wäre das wohl geklärt.“
Meister Ochse nahm das Pergament in den Huf und zerdrückte es zu Staub.
„Oh, nein. Es ist noch lange nicht geklärt“, knurrte er drohend. „Nur weil deine schriftliche Verurteilung futsch ist, heißt das noch lange nicht…“
„Sie schlüpfen!“, rief auf einmal die Stimme der alten Ziege zu ihnen rüber. „Kommt schnell!“
So schnell sie konnten eilten alle wieder in die Gast-Residenz zurück. Dort hatte nicht nur ein Ei, sondern sogar alle drei einen Riss in der Eischale bekommen.
Xia war total aufgeregt. „Was wird es? Krieg ich nochmal eine Schwester?“

„Na ja, besser eine als gar keine.“ Xia klang ein kleinwenig enttäusch, war aber nicht traurig. Yin-Yu lächelte leicht, während sie dabei war die anderen Kinder trockenzureiben.
„Drei Jungen und ein Mädchen“, zählte Po auf. „So gesehen ist das doch auch nicht schlecht verteilt, oder?“
Alle schauten auf die Küken im Strohkorb. Mit Ausnahme von Shenmi, die immer noch in Meister Ochses Armen lag. Endlich war Yin-Yu fertig und betrachtete Shenmis Brüder.
„Die sind ja alle braungrau“, bemerkte Po verwundert.
„Ihre Farben werden erst später zur Geltung kommen“, klärte ihn die Ziege auf. „Aber der dort wird bestimmt mal wie Sheng.“
Sie deutete mit dem Gehstock auf ein Küken, das weiße Flecken im Federkleid aufwies.
Shen hatte sich bis jetzt noch nicht geäußert, doch man sah ihm an, dass er mit Stolz auf seinen Nachwuchs herabblickte. Schließlich kam er näher und strich den Jungs über die noch flauschigen Köpfe. Die Küken piepten leise. Sie waren noch recht müde von der ganzen Anstrengung vom Schlüpfen. Yin-Yu gesellte sich neben ihn und drückte sich an ihn. Doch dann wanderte ihr Blick zu Meister Ochse.
„Meister Tosender Ochse?“, fragte sie zaghaft.
Der Kung-Fu-Meister hob verwundert den Kopf.
„Darf sie zu ihren Brüdern?“
Zuerst schien Meister Ochse zu zögern. Doch dann gab er sich einen Ruck und setzte das weiße Mädchen in den Strohkorb, wo sie mit Fiepen von ihren Geschwistern empfangen wurde.
Die Furiosen Fünf standen mit Po daneben und Tigress bemerkte, wie der Panda nervös auf seinen Fingernägeln herumkaute. Eine Weile sagte keiner ein Wort, bis Po die Ungewissheit nicht mehr länger ertragen konnte.
„Was ist denn jetzt?!“, rief er.
Alle sahen ihn verwundert an, bis auf Meister Ochse, der ganz genau wusste, was er meinte und schnaubte laut. „Also, wenn es nach mir ginge…“
„Dann verhafte mich doch!“, konterte Shen.
Yin-Yu umarmte ihn, doch das konnte den weißen Pfau nicht unbedingt beruhigen. Der alte Konflikt von damals, war ebenfalls noch tief in ihm eingebrannt.
Der Ochse knurrte. „Du denkst wohl, ich wäre dazu gar nicht in der Lage, was?!“
Po befürchtete, die ganze Sache könnte eskalieren und stellte sich schützend vor Shen und seine Familie. „Aber, Meister. Ohne ihn, wäre die Stadt vielleicht völlig von der Landkarte verschwunden.“
„Das wäre sie damals auch gewesen! Und China gleich mit dazu!“
Po rieb die Fingerspitzen aneinander. „Aber das war doch früher… Xiang hat die ganzen Sachen hier kaputt gemacht. Shen wäre doch nie freiwillig hierhergekommen, wenn er nicht seine Familie entführt hätte…“
Das rief in Shen eine Wut hoch. „Denkst du ich hätte Angst vor dem gehabt?!“
Po schluckte. „So hab ich das doch gar nicht gemeint. Ich meinte nur, dass…“
„Was ist denn hier los?“
In diesem Moment betrat König Wang den Raum. Der Panda atmete erleichtert auf und breitete die Arme aus. „Wang! Wie schön dich zu sehen!“
„Wer ist das?“, fragte Meister Ochse.
„Mein Name ist Wang. König der Hunnen.“
Der Hunnenkönig verneigte sich respektvoll. Meister Ochse und Meister Kroko erwiderten den Gruß nur zögernd. Als Wangs Blick auf die Küken fiel, war er zunächst völlig irritiert. „Wo kommen die denn her?“
Alle redeten zwar kurz darauf wild durcheinander, doch der Hunnenkönig besaß klaren Verstand genug, um sich einen Bericht daraus zusammenzureimen.
„Wie ist das möglich?“, fragte er verwundert.
Po teilte seine Ratlosigkeit. „Vielleicht eines der ungelösten Rätsel des Universums… Genauso jetzt die Frage, was passieren wird.“
Er deutete mit einem Kopfnicken zwischen Meister Ochse und Lord Shen. König Wang verstand die verzwickte Lage und erhob sich.
„Nun denn“, begann er. „So wie ich das hier verstehe, wollen Sie ihn wohl trotz seiner guten Arbeit also verurteilen?“
Der Kung-Fu-Ochse verschränkte die Arme. „Selbst wenn er die ganze Welt gerettet hat… Ich kann nicht erlauben, dass…“
„Das wird aber unmöglich sein“, unterbrach Wang.
„Und warum nicht?“
„Weil die Familie unter meiner Obhut steht.“
Das brachte Meister Ochse erst mal zum Verstummen. Selbst Shen und Yin-Yu waren für einen Moment überrascht.
„Und ganz davon abgesehen, Meister“, versuchte Po es erneut. „Für die Kleinen wäre eine Reise zu anstrengend. Sie müssten sich noch eine Weile ausruhen.“
Die Ziege lächelte. „Tja, sieht so aus, als könnten sie vorerst gar nicht weg. Noch dazu ist Yin Yan immer noch teilweise unbewohnbar und muss erst mal repariert werden.“
„In dem Fall müssen wir erst mal in Gongmen bleiben, bis die Stadt wieder aufgebaut ist“, kommentierte Po weiter und machte Rehaugen. „Oder willst du sie wirklich vor die Tür setzen?“
Gegen so viel „Logik“ konnte nicht mal der Kung-Fu-Meister was sagen. Dennoch sträubte er sich dagegen, den Mörder seines besten Freundes Asyl zu gewähren. Sein Blick fiel auf Shenmi, die lächelnd ihre Flügel nach ihm ausstreckte.
„Na ja…“, begann er schließlich. „Bis wir alle Formalitäten in der Stadt geklärt haben, wird es eh wohl noch etwas dauern.“
Meister Kroko seufzte. „Du meintest wohl, lange dauern.“
Yin-Yu nickte traurig. „Schade um die Stadtdokumente.“ Sie sah Shen an. „Tut mir leid für dich.“
Shen hob den Kopf. „Wieso denn? Keine Sorge. Unterhalb des Palastes befinden sich noch die wertvollsten Dokumente meiner Familie und die meiner Vorfahren.“
Es wunderte ihn, dass er es ansprach. Vor langer Zeit hatte ihn sowas nicht interessiert. Er hatte nur die Eroberung Chinas im Kopf gehabt. Jetzt lag ihm die Familie in einem anderen Licht. Der Wunsch etwas von den Wurzeln der Vergangenheit zu bewahren und für die Zukunft zu planen. Allerdings nicht mit Waffen und Krieg. Er schaute auf seine zwei älteren Kinder. „Vielleicht kann ich euch solange die Stadt eurer Vorfahren zeigen.“
„Zumindest das, was davon noch übriggeblieben ist“, knurrte Meister Ochse.
„In diesem Fall werden wir dann alsbald abziehen“, sagte König Wang. „Meine Soldaten werden Guo und die anderen abführen. Wir ziehen nach, sobald Xiang transportfähig ist.“
„Wir werden dann auch langsam wieder nach Hause gehen“, sagte Po.
„Es war mir eine Ehre gewesen mit dir zusammengearbeitet zu haben, Drachenkrieger.“
„Ebenso.“
Beide verneigten sich voreinander.
„Und falls du mal wieder am Tal des Friedens vorbeikommst, du bist dort jederzeit willkommen.“
„Darauf werde ich gerne zurückkommen.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und Wang ging hinaus. Doch Xia rannte ihm nach und holte ihn vor dem Ausgang ein.
„Muss er denn noch in der Stadt bleiben?“, fragte Xia. „Könnt ihr ihn nicht sofort mitnehmen?“
Der Hunnenkönig sah die junge Pfauenhenne verwundert an. „Nur für ein paar Tage wenigstens. Ich weiß, es gefällt dir nicht, aber wir alle haben unsere Grenzen des Richtens.“
Er verneigte sich, dann entfernte er sich. Xia sah ihm verbittert hinterher.
„Findest du nicht, dass er genug gebüßt hat?“
Überrascht drehte sie sich um. Sheng war ihr gefolgt und trat näher an sie heran.
Der Blick des Mädchens verfinsterte sich. „Er wird nie genug büßen.“
Sheng verengte die Augen. Doch er wollte nicht weiter fragen und ließ seine Schwester allein zurück.

30. Die Erklärung


„Po?“
Der Panda hob den Kopf. „Ja, Dad?“
„Möchtest du nicht reinkommen?“
Po saß auf einer Bank neben dem Restaurant und beobachtete den Sonnenuntergang.
„Ich komme gleich, Dad.“
Im nächsten Moment erschien Mr. Ping neben ihm. „Du scheinst, mir etwas besorgt zu sein, mein Sohn. Stimmt etwas nicht?“
„Ach, ich denke nach. Dieses und jenes.“
„Aha. Und über was zum Beispiel?“
„Na ja, ich meine, alles scheint in Ordnung. Alles ist bestens. Und trotzdem ist so vieles verwirrend. So, als ob dein Leben eine Schüssel mit Nudeln wäre, aus der du nie mehr herauskommst.“
Der Gänserich war für einen Moment irritiert. Dann lächelte er verschmitzt. „Ich denke, ich mache dir heute Tofu zum Abendessen… Wie geht es eigentlich Shen und seiner Familie?“
Po setzte sich auf. „Oh, also, ganz gut… kann man sagen… mehr oder weniger. Sie dürfen kurzfristig in Gongmen bleiben. Sie haben ein Häuschen bei der Wahrsagerin bezogen. Dort bleiben sie solange bis die Kleinen kräftig genug sind.“
Mr. Ping lächelte. „Das Bild hätte ich zu gerne gesehen, wie du sie im Arm gehalten hast. Ich hätte das wirklich zu gerne gesehen. Tja, wer weiß. Vielleicht wird es ja mal eines Tages so weit sein, dass du…“ Er hielt inne. „Na ja, vielleicht irgendwann einmal… Ich mach dir dein Essen, Po!“
Damit verschwand der Gänserich wieder ins Restaurant, während Po allein auf der Bank zurückblieb. Seufzend lehnte er sich wieder gegen die Hauswand. Er hatte sich die ganzen Tage über schon den Kopf darüber zerbrochen, wie es nur möglich war, dass Eier, die zuerst kaputt waren, wie aus heiterem Himmel wieder zusammenwachsen konnten.
Stöhnend rieb Po sich den Kopf. Das ganze Nachdenken bereitete ihm Kopfschmerzen.
„Hallo, Drachenkrieger.“
Erschrocken richtete der Panda sich auf und sah sich hastig um. Diese Stimme kannte er doch von irgendwoher…
„Hier oben.“
Die Augen des Pandas wanderten zum gegenüberliegenden Hausdach, wo eine dunkle kleine Gestalt hockte.
„Takeo?“ Po sprang von der Bank runter. „Ich dachte, man hätte dich verhaftet!“
Der Rabe plusterte sein Gefieder auf. „Ich hab mich aus dem Staub gemacht, bevor der ganze Supergau ausbrach.“
Po stemmte die Beine feste auf den Boden. „Und was hast du hier zu suchen? Willst du Ärger machen?“
„Ärger?“ Der Rabe sah ihn verwundert an. „Warum sollte ich?“
Po verengte die Augen. „Du warst es doch gewesen, der die Eier in den Abgrund geworfen… Oder zumindest… oder hast du, oder hast du nicht?“ Wieder purzelte in Pos Kopf alles durcheinander.
Der Rabe krächzte amüsiert. „Ich hab geahnt, dass diese Frage auftauchen würde, weshalb ich auch extra hierhergeflogen bin, um dir etwas zu erklären.“
Po sah ihn stirnrunzelnd an. „Mir was zu erklären?“
Takeo legte die Fingerfederspitzen aneinander. „Nun, ich gebe zu, dass ich es wirklich gewesen war, der die Eier entwendet hat. Aber ich hab sie nicht zerstört.“
Po legte den Kopf schief. „Aber… die Eierschalen…“
Takeo hob den Flügel. „Zu allererst solltest du wissen, dass ich mich die ganze Zeit, kurz nach deiner Ankunft in der Stadt Yin Yan, im Schlafzimmer des Lords und der Lady versteckt hatte. Als der Lord und seine Frau das Zimmer verlassen hatten, hab ich solange die Zeit genutzt und die gemalten Zeichen auf den Eiern auf leeren Eierschalen mit einem Pinsel kopiert. Anschließend hatte ich diese bemalten leeren Eierschalen in einem Korb rausgebracht und in den Bergen versteckt. Ich hab darauf geachtet, dir kein Schlafmittel zu geben. Ich musste dich aufwecken, damit du auf den Diebstahl aufmerksam wirst.“
Po stand da, ziemlich überrumpelt. Allmählich ging ihm ein Licht auf, während Takeo fortfuhr: „Als du noch hinter dem Hügel warst, hab ich den Korb mit den richtigen Eiern in den Felsen versteckt und stattdessen den Korb mit den leeren Eierschalen hervorgeholt. Diese hab ich dann anschließend in den Abgrund geworfen.“
Der Panda schlug sich mit der Tatuze gegen die Stirn. „So war das also! Also dann, war das…“
„Ja, die leeren Eierschalen waren reine Fälschungen. Unglücklicherweise, oder vielleicht war es doch Glück gewesen, wurden die unbeschädigten Eier des Lords von ein paar Wanderern gefunden noch bevor ich sie wieder zurückholen konnte.“
„Hast du dir denn keine Sorgen gemacht, dass ihnen was zustoßen könnte?“, fragte Po.
Der Rabe winkte ab. „Natürlich hab ich mich sogleich nach ihnen umgesehen und hab auch die Wanderleute gesichtet. Im Vorbeifliegen hab ich ihnen zugerufen, dass sie bei der Stadt Yin Yan vorbeischauen sollten. Dennoch hielt ich es für das Beste Xiang zu begleiten. Hätte er nur Verdacht geschöpft…“ Er schüttelte seine Federn. „Besser du sagst ihm nicht, dass ich es war.“
Po legte die Stirn in Falten. „Und warum erzählst du das alles mir? Warum sagst du es nicht denen, denen die Eier… na ja, eigentlich jetzt Küken… also denen sie gehören. Warum sagst du es Shen und Yin-Yu nicht selber?“
Der Rabe schüttelte den Kopf. „Es ist wohl das Beste, dass du es ihnen in einer Nachricht erklärst. Ich werde wieder nach Japan zu meinen Verwandten zurückfliegen. Also dann, leb wohl!“
Po hätte sich vielleicht noch gerne etwas mit ihm unterhalten, doch der Rabe hatte es anscheinend eilig so schnell wie möglich raus aus China zu kommen. Der Rabe flatterte auf, kreiste nochmal eine Ehrenrunde, dann flog er davon. Po winkte ihm nach, bis Takeo in der Abendsonne verschwunden war.
„Netter Vogel“, murmelt der Panda und war sichtlich froh, jetzt nicht mehr dieses große Fragezeichen im Kopf zu haben. Doch kaum war dieses Rätsel in seinem Inneren abgelöst, folgte auch schon das Nächste.
Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hoch. Alle waren froh und zufrieden… bis auf einen.

31. Einsame Schmerzen


Es war dunkel im Keller, bis auf ein paar brennende Fackeln. Vielleicht war es auch etwas kühl, aber nicht kalt. Nichts befand sich in diesem Gewölbe, nur eine Trage mit einer in Verbänden eingewickelten Figur. Immer wieder stieß die verbrannte Form des Pfaus ein gequältes, leises Stöhnen aus. Er schlief nicht. Ständig plagten ihn die Schmerzen, die seinen verbrannten Körper peinigten. Sein Hals tat ihm furchtbar weh. Vermutlich hatte ihn dort ein Explosionsgeschoss getroffen. Er versuchte sich aufzurichten, doch Seile hielten ihn an der Trage fest. Auch seine Augen waren mit einer Augenbinde verbunden, sodass er nichts sehen konnte.
Er hob den Kopf. Schritte schlurften über den harten Kellerboden, die sich ihm langsam näherten. Der Pfau drehte den Kopf zur Seite. Vergeblich versuchte er die Augenbinde abzustreifen. Dann verstummten die Schritte neben ihm. Er verharrte. Reden konnte er nicht.
Auf einmal wurde eine Decke über ihn gelegt. Ein Huf berührte seinen Kopf. Er krampfte zusammen und atmete heftiger. Jemand schob die Verbände an seinen Schultern beiseite. Für einen Moment wurde es unangenehm kalt. Die unbekannte Person neben ihm öffnete eine Flasche und goss etwas über die Schnitte.
„Das wird deine Wunden besser heilen“, sagte die Wahrsagerin mit ruhiger Stimme.
Xiang versuchte ihr auszuweichen, doch die Seile hielten ihn fest. Er wandte den Kopf von ihr ab. Als sie ihn am Flügel berührte, stieß er gepresst die Luft aus den beschädigten Lungen. Die Ziege spürte seine Abneigung ihr gegenüber und ließ wieder von ihm ab. Ratlos ließ sie ihren Blick auf ihn ruhen. Sie konnte sich nicht erklären, woher der Vogel nur seine Kraft nahm. Es war beinahe unmöglich, dass er sich noch bewegte. Doch er krallte sich ans Leben fest. Um keinen Preis wollte er sterben.
Seufzend schob sie ihm die Decke weiter hoch. „Die Ärzte sagen, dass du eine Chance hast.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach. „Deine ehemalige Frau ist dir auch nicht mehr böse.“
Der ehemalige blaue Pfau hielt kurz inne, stieß dann aber ein gleichgültiges Schnauben aus, dicht gefolgt von einem zusammenzuckenden Zittern, der seinen Körper beherrschte wie eine hilflose Marionette. Xiang versuchte diesem entgegenzuwirken, indem er sich wieder auf der Trage zurücksinken ließ. Zumindest das Liegen verhalf ihm etwas die Muskelspannung zu reduzieren.
Die Ziege schabte mit ihrem Gehstock über den Boden.
„Da wäre noch etwas“, begann sie vorsichtig. „Ich hielt es für das Beste, dass du es erfährst.“ Wieder folgte eine angespannte Stille. „Du solltest wissen, dass den Kindern nichts passiert ist.“
Xiang hob ein kleinwenig den Kopf. Man sah ihm auch mit dem Tuch über den Augen an, dass er nicht wusste, wovon sie redete.
„Ich rede vom Gelege, welches du dachtest, zerstört zu haben“, fuhr die Ziege fort. „Man hat sie irgendwo in den Bergen gefunden. Sie sind nun wohlbehalten bei ihren Eltern. Und sind geschlüpft. Die beiden haben drei Jungen und ein Mädchen.“ Sie wartete auf eine Reaktion.
Zuerst blieb alles still. Doch dann wich die Ziege etwas zurück, als sich die Atmung des Pfaus rapide beschleunigte. Plötzlich stieß er einen erstickten heiseren Pfauenschrei aus. Die Wahrsagerin stolperte noch ein paar weitere Schritte rückwärts, ihre Augen immer noch auf ihn gerichtet. Trotz seines zerstörten Körpers sah es so aus, als ob der Pfau aufspringen wollte. Er stieß weiterhin laute röchelnde Schreie aus und versuchte sich von den Fesseln, die ihn festhielten, loszureißen.
In diesem Moment kam König Wang hereingerannt. Als er den Pfau so herumzappeln sah, wandte er sich an die alte Ziege. „Soll ich ihn ruhigstellen?“
Sie schüttelte den Kopf und hob den Huf. „Nein. Lass ihn sich den Schmerz von der Seele schreien.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verließ den Raum. Mittlerweile war das Schreien in ein Wehklagen übergegangen, dicht gefolgt von einem wütenden Weinen. Ein Weinen, dass nach Erhörung suchte, aber keinen fand, der ihm Beachtung schenkte.

 

- Ende vom 3.Teil -

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Kapitel: 31
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Wörter: 46.173
Zeichen: 263.929

Kurzbeschreibung

Für Lord Shen und seine Familie scheint alles perfekt zu sein, doch jemand will Rache und droht alles in Shens Welt zu zerstören. Er schafft es sogar, dass Po nach einem tragischen Unfall die Gunst des Herrschers verliert und alte Schuldgefühle aus der Vergangenheit wieder auflodern lässt. [Fortsetzung nach „Die letzte Chance“ und „Der letzte Krieg“]