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Kapitel: | 36 | |
Sätze: | 10.467 | |
Wörter: | 111.434 | |
Zeichen: | 636.225 |
Vor vielen, vielen Jahren…
Der kleine blaue Pfau setzte sich ruckartig im Bett auf. Da war ein Geräusch. Ein dumpfer Aufprall. Es kam es aus dem Zimmer seiner Eltern. Der Junge sah sich um. Es war dunkel, nur der Mond schien durch das Fenster und verlieh seinem Kinderzimmer im Palast etwas Licht.
Wieder ein Geräusch. Diesmal klang es wie von Händen, die auf den Boden hämmerten, dann aber immer schwächer wurden. Schnell verließ das Kind sein Bett und rannte zur Nachbartür, hinter der das Schlafzimmer seiner Eltern lag. Er lauschte. Jemand stöhnte vor Schmerzen, dicht gefolgt von einem Husten.
Das kleine blaue Pfauenküken streckte den Flügel zum Türgriff aus, der etwas niedriger lag als der normale Türknauf auf der anderen Seite. Er war extra für ihn gemacht, damit er leichter ins Zimmer seiner Eltern gelangen konnte, wenn er mal einen schlechten Traum hatte. Er öffnete die Tür einen Spalt. Im Elternzimmer war es dunkel. Ein Schatten wanderte neben dem Bett umher und beugte sich über etwas, das auf dem Boden lag.
Das Pfauenkind schob die Tür weiter auf und trat ein. „Mum? Dad?“
Der Schatten drehte sich zu ihm um. Der blaue Pfauenjunge rieb sich die Augen und sah die Gestalt an. Es war eine Pfauenhenne. Ihr lila schwarzes Gefieder schimmerte leicht im schwachen Mondlicht. Sie stand da und starrte das Pfauenkind an.
Die Augen des blauen Pfaus weiteten sich. Eine dunkle Flüssigkeit tropfte auf den Boden. Die Pfauenhenne schwang ihre Flügel und ein langes Stück Metall blitzte kurz darunter auf. Im Mondschein erkannte er die dunkelrote Farbe.
„Mum? Was ist passiert?“
Er reckte den Hals, um auf den Schatten zu sehen, der neben dem Bett auf dem Boden lag und sich nicht rührte.
Die Pfauenhenne ging auf ihn zu. Langsam und leise wie ein unheilvoller Geist. Der kleine blaue Pfau bewegte sich nicht von der Stelle und sah mit ängstlichen Augen zu ihr auf.
„Mum?“, hauchte er mit erstickter Stimme. „Was ist mit Dad?“
Die Pfauenhenne blieb vor ihm stehen. Das Licht des schwachen Mondes ließ die Flüssigkeit auf dem Messer und auf ihren Fingerfederspitzen glitzern. Dann lächelte sie. Das Lächeln einer warmherzigen Mutter, dennoch war dem Pfauenjungen eiskalt. Das Dunkel in ihren Augen ließen ihn erzittern. Doch sie lachte und legte eine Fingerfeder auf ihre Schnabellippen.
„Shhhh…“, flüsterte sie geheimnisvoll. „Dein Vater schläft.“
Doch der kleine blaue Pfau wusste: Sein Vater war tot.
Gegenwart, Stadt Gongmen
Die Sonne hatte den Horizont längst verlassen und thronte stolz über der Stadt Gongmen. Es war noch nicht Mittag und es herrschte schon geschäftiges Treiben an diesem Morgen. Die Bauarbeiten am Palast waren fast abgeschlossen. Nur ein paar feine Handarbeiten wurden hier und da noch durchgeführt. Und wenn, dann auch so leise, dass es keinen störte. Selbst das leise Hämmern konnte eine bestimmte Person im fünften Stock kaum aus dem Schlaf reißen. Als dann aber doch einer der Handwerker mal heftiger als gewollt draufschlug, begann die Figur sich im Bett zu regen. Müde und gähnend richtete sich der weiße Pfau auf. Sein Flügel tastete automatisch nach rechts. Doch die Bettseite neben ihm war leer. Mit einem tiefen Seufzer ließ Lord Shen sich wieder aufs Kissen nach hinten fallen und richtete seinen Blick zur Decke. Die Bemalungen des Zimmers entsprachen genau dem wie er sie als Kind in Erinnerung gehabt hatte. Es war merkwürdig, dass er es so vermisst hatte. Dabei wollte er nie Nostalgie in sich aufkommen lassen. Aber von Zeit zu Zeit passierte es doch.
Nach einer Weile tiefen Nachsinnens stieg er aus dem Bett, zog sich seine silberne Robe über und marschierte die Stufen des Palastes ins Erdgeschoss runter, wo es zur Küche ging.
Dort wurde er bereits schon erwartet. „Sieh mal einer an. Wer kommt denn da aus den Federn gekrochen?“
Shen rieb sich übers Gesicht, als ihn die Wahrsagerin so heiter begrüßte. Der Pfau antwortete nicht sofort, sondern ließ sich einfach auf einem der Holzstühle am Tisch nieder. Die Ziege betrachtete ihn nachdenklich.
„Du wirkst etwas angeschlagen. Schlecht geschlafen?“, erkundigte sie sich.
„Ist heute eine Nachricht gekommen?“, fragte Shen, ohne auf ihre Frage zu antworten.
„Von Yin-Yu?“ Die Ziege schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider noch nicht. Aber ich bin mir sicher, sie wird sich alsbald melden. Immerhin hast du die Stadt Yin Yan zuerst verlassen, damit sie anschließend zu ihrer ehemaligen Heimatstadt reisen kann. Erst dann wollte sie zu uns stoßen…“
„Ja, ja“, grummelte der weiße Lord mürrisch. „Solange sie weg ist, wollte sie, dass ich mit den Kindern wieder zum Kung-Fu-Training gehe… Wo sind die Kinder eigentlich?“
Die alte Ziege lächelte, während sie eine Schüssel mit Reis füllte. „Die haben schon längst gefrühstückt und sind auf dem Trainingsplatz.“
Shen erhob sich. „Ich sehe nach ihnen.“
„Halt! Halt! Halt!“ Mahnend hielt ihn die Ziege am Ärmel fest. „Du wirst jetzt erst mal Frühstücken!“
Auf dem Trainingsplatz, oder genauer gesagt auf dem Vorplatz des Palastes, war schon ein wüstes Gemenge im Gange. Meister Kroko schnellte und warf sich von einer Seite auf die andere, um den Schlägen des Pfauenjungen Sheng auszuweichen. Der gescheckte Pfau machte sich einen Spaß daraus, das Reptil ein wenig mit dem Stock zu hetzen, was dem Krokodil aber wiederum gar nicht gefiel.
„Hey!“, beschwerte sich der Meister. „Nun mal langsam. Wir trainieren hier Kung-Fu und kein Stöckchenhauen- AUTSCH!“
Plötzlich traf dem Meister ein Stockschlag von hinten, der aber nicht von Sheng stammte. Wie der Wind sauste eine kleine Gestalt um das Krokodil herum und pikste das Krokodil mit seinem Trainingsstock.
„Au! Au! Au! Doch nicht so wild!“
Der nächste Schlag traf das Reptil am Schienbein und der Meister landete unsanft auf den Hosenboden.
„Reife Leistung, Zedong!“, lobte Sheng anerkennend.
Sogleich landete neben dem großen Pfau ein anderer kleiner Pfau. Er war fast genauso gefärbt wie er. Grünblaue Grundfarbe mit weißen Flecken. Der kleine Pfau sprang hoch und beide gaben sich einen Handschlag mit dem Flügel.
Meister Kroko rieb sich den Hintern und sah das Geschwister-Duo stirnrunzelnd an. „Kontrolliert euer Temperament, sonst fallt ihr im schlimmsten Fall noch auf die Schnäbel.“
„Alles klar, Meister.“ Sheng verneigte sich respektvoll und sein kleiner Bruder Zedong tat es ihm gleich.
Grummelnd erhob sich das Krokodil wieder, wobei sein Blick vor allem auf Zedong ruhte. „Vier Jahre alt und schon so kämpferisch. Nicht mal sein Vater war so gewesen in diesem Alter.“
Sheng kicherte. „Vielleicht steckt da auch etwas von Mutter drinnen.“
„Na schön“, murmelte Meister Kroko und rückte seinen Rücken wieder gerade. „Ihr macht besser eine Pause und lasst mal Fantao etwas üben…“ Verwundert sah sich das Krokodil um. „Wo ist er denn hin?“
„Dort drüben“, sagte Sheng und deutete zur Mauer rüber.
Dem Krokodil fiel die Kinnlade runter. „Beschmiert er etwa schon wieder die Wände mit seiner Malerei?!“
Schnell raste das Reptil zur Mauer, wo eine ebenfalls kleine Figur hockte und ab und zu an der Wand hochsprang. Sie war genauso klein wie Zedong, nur das Federkleid war anders in der Farbe ausgefallen. Sein Körper war teilweise hellblau mit dunkelblauen Federn bestückt, wobei seine Fingerfederspitzen und ein Teil seines Gesichts ein dunkles Violett aufwiesen. Sein noch kleiner Pfauenfederschwanz trug alle drei Farben in sich: Hellblaue Schwanzfedern mit dunkelblauen violetten Augen.
„Was treibst du denn da?!“, rief Meister Kroko aufgebracht. „Wie oft soll ich dir noch beibringen, dass die Mauer keine Maltafel ist!“
Der kleine blau-violette Pfau drehte sich zum Meister um. In einem Flügel hielt er einen Pinsel, die Farbeimer standen neben ihm. Sheng und Zedong, die gerade dazugestoßen kamen, mussten sich ein Kichern verkneifen beim Anblick ihres mit Farbe bekleckerten Bruders.
„Was ich hier mache, fragt Ihr?“, wiederholte Fantao die Frage des Meisters. „Während ihr drei gespielt habt, hab ich solange das hier entworfen.“
Er deutete mit dem Pinsel auf die Mauer. Erst jetzt bemerkte Meister Kroko, was der kleine Pfau auf die Steinwand gepinselt hatte. Es war Meister Kroko selber, in einer vor Stolz geschwelten Brust aufgestellten Pose – und mit etwas mehr Muskeln als üblich.
Meister Kroko sah auf seine Arme, nur um festzustellen, ob er wirklich so viele Muskeln besaß.
„Nun, wie findet Ihr es, Meister?“, erkundigte sich der kleine Künstler. „Ist dies Bild euch ebenbürtig?“
Das Krokodil war immer noch damit beschäftigt nach seinen unsichtbaren Muskeln zu suchen. „Nun… ich muss sagen…“
Der kleine Pfau Fantao legte die Stirn in Falten. „Aber da fehlt noch etwas.“
Mit diesen Worten nahm der kleine Pfau kurz Anlauf, schwang sich in die Luft, vollführte ein paar kräftige Umdrehungen, die ihn weiter in die Luft beförderten, dann kam er auf halber Mauerhöhe kurzfristig in der Schwebe zum Stillstand, und pinselte blitzschnell ein paar chinesische Zeichen seines Namens auf die Steinwand. Anschließend sauste er wieder zur Erde und landete elegant auf den Füßen. Stolz betrachtete er sein Werk.
„Kein Bild ohne Signatur“, kommentierte er.
„Und du bist wieder ein Fall für die Badewanne“, stichelte sein Bruder Zedong und deutete mit einem schnippischen Nicken auf Fantaos Kleidung und Federn, die teilweise mit Farbklecksen beschmiert waren.
Meister Kroko hatte inzwischen wieder seine Fassung wiedererlangt und schüttelte den Kopf. „Mag ja sein, dass du sehr geschickt bist, aber dennoch, ich glaube nicht, dass dein Vater davon begeistert sein wird…“
„Fantao!“
Meister Kroko ließ die Arme sinken. „Hab ich’s nicht gesagt?“
Im nächsten Moment erschien Lord Shen auf der Bildfläche. Schnell versteckte Fantao den Malpinseln hinter seinem Rücken, doch das konnte den Tathergang auch nicht mehr verbergen.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du während des Trainings nicht malen sollst“, tadelte sein Vater.
Fantao zuckte unschuldig die Achseln. „Ich kann mich besser dabei konzentrieren.“
Skeptisch betrachtete Shen die Malerei von Meister Krokos Bild. „Und wo ist der Rest? Ihr solltet euch doch gegenseitig beim Trainieren zusehen.“
„Da kommt Xia gerade mit Jian“, verkündete Sheng.
Alle drehten sich um, wo gerade die junge Pfauenhenne Xia den großen Platz überquerte. An ihrem Flügel ging ein kleiner Pfauenjunge an ihrer Seite, der wiederum ein kleines nach einer Laute aussehendes Streichinstrument, eine chinesische Pipa, mit sich trug. Seine Federn waren ein schillerndes Grün und seine Kammfederspitzen trugen weiße Flecken. Ebenso weiß waren auch seine Pfauenaugen an den Schwanzfedern.
„Seht mal, was ich gemalt habe!“, rief Fantao und deutete stolz auf das von ihm gemalte Meister-Kroko-Bild auf der Mauer.
Xia kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um anschließend einen Blick auf Meister Kroko zu werfen. „Oh, na ja, das ist sehr…“ begann sie zögerlich. „Entspricht sehr dem Original.“
Meister Kroko warf einen erneuten Blick auf seine Arme und wuchs gleich ein paar Zentimeter höher.
„Was hast du für Farben genommen?“, erkundigte sich der schillernde grüne Pfauenjunge neben Xia.
„Für den Meister natürlich grün“, antwortete Fantao.
„Grün“, murmelte Jian vor sich hin und strich kurz über seine kleine Pipa ein paar Melodien.
Shen seufzte leise. Jian war der Letzte von allen, der geschlüpft war. Er hatte zwar ein schönes Federkleid, doch er hatte die Farbenblindheit seiner Mutter geerbt.
Während Shen seinen Blick über die anderen schweifen ließ, fiel ihm etwas anderes auf. „Wo ist Shenmi?“
Die Umstehenden warfen sich gegenseitige Blicke zu.
„Äh… Shenmi?“, wiederholte Xia zögernd, was Shen sofort aufhorchen ließ.
„Ja, wo ist deine Schwester?“
Alle schienen mit der Antwort zu Zögern. Schließlich blieb Shens Blick über seinen jüngsten Sohn hängen. „Jianyu!“
Erschrocken sah der kleine Pfau auf. Wenn sein Vater ihn mit seinem vollen Namen ansprach, dann hatte er immer ein ernstes Wort mit ihm zu reden.
„Du weißt doch, wo sie ist, oder?“
Jian tippte die Fingerfederspitzen aneinander. „Wieso?“
„Soll ich dir dein Instrument wegnehmen?“
Diese Drohung brachte ihn immer zum Reden.
„Sie wollte zum Hafen runter!“, plapperte Jian. „Mit dem Papierschiff dort spielen.“
Shens Augen weiteten sich. „Ohne zu trainieren?“
„Lass sie doch mal auch etwas anderes machen“, meinte Xia zaghaft. „Und außerdem, ihr kann nichts passieren. Meister Tosender Ochse ist bei ihr.“
Shen verengte die Augen und wandte sich empört ab. „Wenn ich sage, sie soll zum Training, dann geht sie auch zum Training!“
„Die Kante nach unten falten… dann so umknicken…dann so…“ Sie lächelte und hielt das kleine gefaltete Papierschiffen in den Flügeln. „Fertig.“
Das weiße Pfauenmädchen bückte sich und ließ das Papierschiffchen ins Wasser gleiten, wo es ein Stück von der Strömung zur Seite getrieben wurde. Sie ließ es nicht aus den Augen. Wie ein kleiner Geist wanderte Shenmi am grasbewachsenen Ufer entlang. Passend zu ihrem weißen Gefieder trug sie eine silberne Robe mit dunkelgrauen Einstichen an den Säumen und Ärmeln.
Meister Ochse saß nicht weit entfernt im Schneidersitz. Äußerlich erweckte er den Eindruck, als würde er meditieren, doch in Wahrheit waren seine Sinne voll konzentriert.
„Shenmi! Shenmi!“
Das weiße Pfauenmädchen mit den silbernen Augen sah auf, als es die Stimme ihres Vaters hörte. Auch Meister Ochse schreckte aus seiner Ruheposition auf. Und noch ehe einer was sagen konnte, war Shen auch schon bei seiner Tochter. Da die Winterzeit längst vorbei war und kein Schnee auf dem Boden lag, war Shenmi nicht zu übersehen. Kaum hatte der Lord seine Tochter entdeckt, flitzte er auf sie zu und hielt sie an den Schultern. „Shenmi! Warum bist du nicht beim Training?“
Das Mädchen zog etwas eingeschüchtert den Kopf ein. „Ich wollte mein Schiff ausprobieren. Meister Ochse sagte, ich darf das.“
Shens nächster vernichtender Blick galt dem großen Ochsen, der sich inzwischen erhoben hatte und mit strammen Schritten auf sie zukam.
„Was erlaubst du ihr, sie vom Training abzuhalten?!“, keifte Shen ihn an.
Der Ochse schnaubte. „Wer sagt denn, das Training das Einzige ist, was sie hier zu tun hat? Wenn sie was anderes machen will, dann soll sie es doch tun.“
„Ich erlaube dir nicht, dass du dich darin einmischst, wie sie den Tag zu gestalten hat! Alles andere kann sie immer noch zuhause machen.“
Meister Ochse verschränkte die Arme. Wäre Shenmi nicht in der Nähe gewesen, hätte er den weißen Lord längst zum Kampf herausgefordert. „Dich scheint wohl nichts anderes zu interessieren, was?“, knurrte er so gefasst wie möglich. „Es wundert mich, dass deine Frau dir überhaupt erlaubt, dich mit den Kindern alleine zu lassen.“
Shen verengte gefährlich die Augen. „Wie ich meine Kinder zu erziehen habe, ist ja wohl meine Angelegenheit, oder?!“
„Seit wann verstehst du etwas von guter Erziehung?!“
„Jedenfalls mehr als du!“
„Wundert mich bei dem Resultat deiner Eltern!“
Shen riss entsetzt die Augen auf. Er verehrte seine Eltern noch nicht in keinster Weise. Doch das der freche Ochse ihn unterstellte, seine Eltern hätten bei seiner Erziehung versagt, traf ihn dennoch hart.
Shenmi, die die Anspannung zwischen den beiden großen Tieren ängstigte, sah von einem zum anderen. „Papa, streitet ihr euch?“
„Nein“, zischte Shen und hob sie hoch. „Wir haben nur eine Konversation unter Erwachsenen.“
Mit diesen Worten kehrte er dem Kung-Fu-Meister den Rücken zu und marschierte zurück Richtung Palast.
Die alte Ziege machte gerade einen kleinen Spaziergang am Tor, als sie Shen mit Shenmi in den Flügeln wieder hereinkommen sah. Doch die alte Frau bemerkte sofort an der angespannten Haltung des Herrschers, dass er nicht gerade guter Laune war.
„Ist was passiert Shen?“, fragte sie besorgt.
Doch der weiße Lord setzte seine weiße Tochter nur ab, gab ihr einen leichten Schubs in den Rücken und das Mädchen machte sich eilig davon. Anschließend wanderte Shens grimmiger Blick auf die alte Ziege.
„Sobald meine Frau zurück ist“, zischte er, „werden wir diese Stadt verlassen!“
Damit legte er die beiden Flügel unter den Ärmeln zusammen und ging davon.
Seufzend sah die Ziege ihm nach. „Dann werde ich wohl meinen Großneffen schreiben müssen.“
Das Papierfalten, das Shenmi so mag, wird oft unter dem japanischen Begriff „Origami“ verwendet. In China hingegen nennt man diese Kunst „Zhezhi”.
Der Name “Jianyu” heißt soviel wie „das Universum aufbauen“, aber eigentlich sollte es einen anderen Hintergrund haben. Zuerst wollte Shen ihn nur „Jian“ (gesund, stark) nennen, doch Yin-Yu hätte ihm gern den japanischen Namen „Ryu“ (Geist des Drachen) gegeben. [Vermutlich wegen Takeos Hilfe, der aus Japan stammt.] Doch Shen war dagegen, aus Sorge, man würde denken, das Kind würde aus Japan stammen. Am Ende einigten sich beide auf einen Kompromiss und kombinierten die Namen „Jian+(r)yu“. Von daher wundert euch nicht, wenn ihn jemand mal „Ryu“ nennt.
Nordchina, nahe der Grenze zum Hunnenreich, Stadt Mendong, Xiangs Heimatstadt
Mit scheuem Blick sah sie sich um. Die große Vorhalle war genauso wie sie sie in Erinnerung gehabt hatte. Die Wände waren allesamt blau gestrichen, verziert mit goldenen blumenartigen Mustern. Und auch die Säulen zierten schön bemusterte drachenartige Figuren. Hätte sie nicht gewusst wo sie war, hätte sie sich vielleicht wohl gefühlt in dieser Umgebung. Doch egal wo sie hinsah, jeder Winkel barg hier schlimme Erinnerungen. Alleinschon als sie zum ersten Mal diesen Ort betreten hatte, stäubten sich in ihr sämtliche Federn. Für sie war es vom ersten Tag an ein Gefängnis in einem goldenen Käfig. Und das war Mendong, die Stadt ihres Exmannes, für sie auch immer gewesen.
Der Palast stand auf einem Berg, oder genauer gesagt auf halber Höhne des Berges. Noch vor seiner Entstehung war die Fläche am Berghang ideal gewesen, um dort ein großes Haus zu errichten. Die Stadt selber lag am Fuße des Berges, wo sich nicht weit entfernt der Hauptfluss erstreckte, mit denen Schiffe Waren liefern konnten. Und für jeden, der dort ankam, war der Palast ein Blickfang. Vielleicht weil er auch nicht zu übersehen war. Das Gebäude war ein einziger Komplex. Die Wände waren hauptsächlich weiß, während die Dächer dunkel blau waren. Die kaum ein paar Stockwerke hohen Türme waren eng einander gebaut, dass es für einen Pfau ein leichtes gewesen wäre, einfach von einem Turm zu anderen zu segeln. Die unteren Stockwerke bildeten Stufenweise Dächer, die wie einer Treppe glichen und mächtig wirkten wie übereinandergestapelte Hallen, wobei mal ein Raum größer und der andere mal kleiner war. Es war einfach ein ganz krasser Gegensatz zum einzelnen Palastturm in Gongmen. Yin-Yu konnte sich bis heute nicht erklären, wozu ein Palast nur so viele Zimmer benötigte. Es hätten vielleicht sogar alle Stadtbewohner darin Platz gehabt, wobei es wohl kein Vergnügen gewesen wäre, die lange Treppe ständig rauf und runter rennen zu müssen. Sie war bei weitem nicht so lang wie die zum Jade Palast, aber dennoch hatte man besseres mit seiner Zeit anzufangen, als sie zum Treppensteigen zu verwenden.
Yin-Yus Gedanken wurden jäh unterbrochen, als eine Figur aus einem der Gänge auf sie zukam.
„Seien Sie willkommen“, begrüßte sie ein schmächtiger alter Stier im schwarzen Mantel. „Es freut mich, die einstige Mitregentin hier begrüßen zu dürfen.“
Die Pfauenhenne verneigte sich. „Vielen Dank. Und Ihr Name war nochmal…?“
„Huan. Ich bin der Verwalter dieser Einrichtung. Was verschafft mir genau die Ehre Ihres Besuches?“
„Eigentlich wollte ich nur ein paar Sachen abholen“, erklärte sie. „Solange mein Mann sich mit den Kindern in Gongmen aufhält.“
„Was für Sachen?“, fragte der Stier.
„Ein paar Spielsachen von Xia und Sheng, die ich einst aufbewahrt hatte. Vielleicht möchten die Kleinen damit spielen.“
„Sind die nicht schon vier?“
Sie lächelte. „Selbst vierjährige mögen Spielzeug. Ich hätte sie vielleicht schon früher holen können, aber ich hab mich all die Jahre einfach nicht hierher getraut. Es liegen zu viele dunkle Erinnerungen in diesen Mauern.“
„Das wundert mich gar nicht.“
Lady Yin-Yu drehte sich überrascht um, als eine zweite tiefe Stimme sie von hinten angesprochen hatte. Aus einem der Gänge kam die vertraute Gestalt von König Wang zum Vorschein.
„König Wang?“ Die Pfauenhenne verneigte sich vor dem Hunnenkönig. „Euch hab ich gar nicht erwartet.“
„Ich war gerade in der Gegend“, meinte der große mit Schafswolle überzogene Ochse, obwohl es längst Sommer war. „Wie geht es dem Drachenkrieger?“
„Nach alldem, was von seinem letzten Brief entnommen habe, ganz gut.“
„Das freut mich zu hören. Schade, dass er nicht mitgekommen ist.“
„Ich könnte gerne Ihre Grüße von Ihnen an ihn ausrichten, wenn Sie möchten.“
Sie ließ ihren Blick schweifen. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war wegen dem Krieg einiges zerstört zurückgeblieben.
„Ich sehe, es ist vieles renoviert worden“, meinte sie nach einer Weile.
König Wang nickte stolz. „Ja, selbst der Garten steht wieder in voller Blüte, obwohl er vor langer Zeit in Brand gesteckt wurde.“
„Oh ja, ich sehe es immer noch vor mir“, meinte Yin-Yu wehmütig. Den Überfall der Hunnen auf die Stadt hatte sie noch nicht vergessen. Besonders weil Xiang damals den Angriff absichtlich provoziert hatte, um so in die Hunnenburg gelangen zu können, wo er sich mit Komplizen verbündetet, um den Hunnenkönig zu stürzen. Es war ein Glück, dass Xia sich kurz darauf auf die Suche nach Shen begeben hatte und mit Hilfe des Drachenkriegers noch Xiangs Plan vereiteln konnte.
In diesem Moment meldete sich auch der Verwalter Huan zu dem Renovierungsthema.
„Ja, wir haben alles wieder Instand gesetzt. Nur in zwei Zimmer hatten wir zunächst etwas Schwierigkeiten.“
„Welche Zimmer?“, fragte König Wang.
„Die auf der Ostseite.“
Yin-Yu gefror kurz in ihrer Haltung. „Oh ja, ich erinnere mich. Xiang hatte diese zwei Zimmer komplett verriegelt. Soweit ich weiß, ist er auch dort nie reingegangen.“
Wang kratzte sich nachdenklich über seinen dicht befellten Kopf. „Befindet sich dort irgendetwas Besonderes?“
Der Verwalter Huan zuckte die Achseln. „Nö. Ich war mal kurz da drinnen gewesen. War nicht so einfach, wir mussten sie einschlagen, um da reinzukommen. Aber da war nichts Auffälliges. Nur zwei Schlafzimmer. Eines mit einem Doppelbett. Das andere mit nur einem Bett. Ansonsten die übliche Einrichtung: Tisch, Stühle, Kleiderschränke. Aber nichts wovon ich sagen würde, dass es etwas Auffälliges wäre.“
„Und was habt ihr dann gemacht?“
„Wieder zu gemacht. Wer weiß. Vielleicht ist es sogar verseucht.“
König und Lady sahen ihn entgeistert an. Der Verwalter zuckte gleichgültig die Achsen. „Was denn? Kann doch alles möglich sein. Wenn jemand so extrem ein Zimmer verriegelt. Selbst die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Dann wird derjenige schon seinen Grund gehabt haben, oder etwa nicht?“
Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis Yin-Yu sich kurzerhand verabschiedete und ziellos durch den Palast schlenderte. Sie war nachdenklich geworden. Ihr ging das Gespräch über die verriegelten Zimmer nicht mehr so schnell aus dem Kopf. Sie hatte Xiang einmal danach gefragt, was sich hinter den Türen verbarg. Das Einzige was sie dafür bekommen hatte, war eine harte Ohrfeige und eine schallende Rüge. „Solange du lebst, frag mich das nie wieder!“ hatte er sie angebrüllt. Danach hatte sie nie wieder gewagt, ihn darauf anzusprechen.
Gedankenverloren strich sie über das Marmor-Treppengeländer, der zum Garten runterführte.
Die Morgensonne bestrahlte freundlich die Berge und dennoch warf der Gedanke an ihren Ex-Ehemann einen tiefen Schatten auf ihr Gemüt.
Sie seufzte tief. Wie es ihm wohl gerade ging.
Hunnenreich, irgendwo in den Bergen
Weiter draußen, hinter der nördlichen chinesischen Grenze, irgendwo in den Bergen, erhob sich auf einer Anhöhe ein komplexes mehrstöckig und mit vielen anderen Häusern und Türmen verknüpftes Gebäude. Doch es besaß weder aufwändige Verzierungen oder besondere Farben. Es war einfach ein riesiges Steinhaus mit gewöhnlichem Holz und Dachziegeln bestückt. Das ehemalige alte Kloster erfüllte längst nicht mehr die Funktion als Anbetungsort. Stattdessen wurde es vor vielen Jahren saniert und in eine Kurresidenz umbenannt. Seit sich die Kriege in dem Land beruhigt hatten, kamen hier nur wenig Tiere mit Gebrechen dorthin. Stattdessen waren es vermehrt ältere Leute, die sich von Krankheiten und dergleichen erholen mussten. Auch die Angestellten waren keine Mönche. Die meisten von ihnen hatten eine medizinische Ausbildung, oder waren bewandert im Umgang mit der Pflege jeglicher Art.
So auch Liu. Sie war erst seit ein paar Jahren in dieser Einrichtung und sie mochte ihre Arbeit eigentlich sehr. Bis vor vier Jahren. Ab diesen Moment war alles anders als sonst. Nicht weil die Tätigkeit schwerer geworden war, sondern wegen ihrer Tierart. Sie war die einzige Pfauenhenne in diesem Haus und eigentlich hätte sie jeden Patienten haben können. Doch Herr Furu, der Leiter der Kurresidenz, hatte ihr vor vier Jahren einen ganz speziellen Patienten zugewiesen.
Zuerst hatte Liu sich über diese Aufgabe gefreut. Doch mit der Zeit wurmte sie etwas erheblich. Und das lag nicht an dem Schweregrad der Person. Inzwischen fiel es ihr jeden Morgen schwer in die Küche zu gehen und das Frühstück für ihn abzuholen. Selbst der Koch ließ keine Stichelei darüber aus, wenn sie das Essen auf ein Tablett zusammenstellte.
Der Koch, ein alter Dachs, warf ihr einen skeptischen Blick zu, während er in einer Schüssel am Herd rührte.
„Willst du es heute wirklich schon wieder versuchen?“ Er klatschte eine Brise Kräuter in den Topf. „Der wird es dir doch sowieso nur wieder auf den Boden werfen.“
„Vielleicht habe ich ja heute Glück“, meinte die Pfauenhenne hoffnungsvoll. Ihre Federn waren um die Augen herum weiß, der Rest davon und der Hals waren mehr ein dunkles Braun und weiter runter verlief es sich in ein dunkles Grün. Auch ihre Augen waren grün und sie war auch gar nicht alt.
„Glück?“, wiederholte der Koch ungläubig. „Mit dem?“ Er lachte laut auf. „Ha! Eher liegt Zucker auf dem Bergen…“
„Ich werde es trotzdem heute versuchen“, unterbrach sie die Unterhaltung. Anschließend nahm sie das Tablett und verließ die Küche.
Bis zu seinem Zimmer war es nicht weit. Wie jeden Morgen hielt sie vor seiner Tür an und schob sie sachte zur Seite. Sie blieb überrascht im Türrahmen stehen. Das Zimmer war noch von den Vorhängen abgedunkelt, doch im Bett rührte sich noch nichts. Er schlief noch. Das war eher ungewöhnlich. Sonst war er immer wach bevor sie das Frühstück brachte. Vorsichtig schlich sie auf Zehenspitzen ans Bett. Ein leichtes Lächeln huschte über ihren Mund. Sie sah ihn selten schlafen. Zumindest seitdem seine Verbrennungen wieder gut verheilt waren. Danach hatte er ihr nie mehr erlaubt, sich in seiner Nähe aufzuhalten, wenn er schlief.
Sachte stellte sie das Tablett auf den Nachtisch neben dem Bett ab und huschte zum Fenster. Dort zog sie sachte die Vorhänge zur Seite. Kaum hatte der erste Sonnenstrahl die gegenüberliegende Wand getroffen, fuhr die Gestalt im Bett hoch.
„WAS TUST DU HIER?!“
Die Pfauenhenne war so erschrocken, dass sie sich schützend an die Wand drückte. Ihre Blicke trafen sich. Er saß im Bett und stierte sie an, als wäre sie ein Einbrecher.
Sie schluckte schwer. „Ich… ich wollte… Ich bringe das Frühstück.“
Doch er verengte die Augen, was ihr Angst einjagte.
„Du scheinst vergessen zu haben, mich richtig anzusprechen… Entschuldige dich gefälligst!“
Liu atmete einmal tief durch, bevor sie sich verneigte. „Ich bitte um Verzeihung, Lord Xiang.“
Der blaue Pfau würdige sie keines weiteren Blickes mehr und betrachtete skeptisch das Essen auf dem Tablett. Liu hatte sich inzwischen wieder soweit beruhigt, dass sie sich wieder ans Bett traute. Dort wollte sie sein Kopfkissen an die vordere Bettkante legen, damit er sich mit dem Rücken beim Aufrichten dagegen lehnen konnte. Doch er stieß sie weg.
„Das kann ich auch alleine!“
Sie seufzte. „Bitte, wie Sie meinen.“
Während er sich aufsetzte, holte Liu einen kleinen Tisch mit kurzen Beinen hervor. Dieses Stellte sie anschließend dem blauen Pfau aufs Bett, sodass er sich nicht extra zum Nachttisch zum Tablett herüberbeugen musste. Anschließend stellte sie das Tablett auf den kleinen Betttisch ab.
„Vorkosten!“, befahl er.
Sie seufzte erneut, doch sie widersprach ihm nicht.
Auf dem Tablett stand eine Schüssel mit Reissuppe, daneben eine Kanne Tee und eine Tasse.
Da sie schon geahnt hatte, dass er das Vorkosten von ihr verlangte, holte sie einen Löffel aus ihrem Hemd hervor. Zuerst nahm sie einen Löffel Suppe, die sie unter dem aufmerksamen Blick des Pfaus herunterschluckte, anschließend goss sie etwas vom Tee da rein, das ebenfalls in ihrem Mund verschwand.
Dann verneigte sie sich. „Wünsche guten Appetit.“
Sie ging schnell zur Tür, doch er ließ sie nicht mal über die Schwelle treten, da donnerte er auch schon: „Diesen Fraß kann doch keiner essen!“
Noch ehe sie ihn davon abhalten konnte, holte er mit dem Flügel aus, und alles was noch zuvor auf dem Tablett stand, flog durch die Luft und zerschellte auf den Boden. Fassungslos starrte sie auf das Trümmerfeld.
„Räum das weg!“, fuhr er sie an.
Während sie alles wieder aufsammelte, spürte sie seinen genugtuerischen Blick im Nacken, was in ihr die Wut hochtrieb.
„Als eine Angestellte taugst du wirklich nicht viel“, schimpfte er weiter. „Es wundert mich, dass man jemanden wie dich, mir zugeteilt hatte.“
Liu biss die Zähne zusammen. Sie nahm das Tablett, legte dort die Scherben drauf und räumte das Betttischchen weg. Anschließend nahm sie das Tablett und mit dem Rücken ihm zugewandt ging zur Tür.
„Heute ist Ihr Badetag“, sagte sie tonlos. „Ich werde heute Mittag dann wiederkommen. Benötigen Sie noch etwas?“
„Ja, besseren Service!“, knurrte er.
Ihre Hände um das Tablett verkrampften sich. „Ich kann wenigstens überhaupt noch eine Arbeit. Im Gegensatz zu ihnen.“
Sie drehte sich zu ihm um.
„Das Einzige, was Sie nur tun können, ist sich selber zu bemitleiden.“
Damit machte sie kehrt und verließ das Zimmer.
Eine Weile blieb alles still. Zuerst saß Xiang völlig regungslos im Bett. Dann schrie er laut auf. Wütend schlug er die Bettdecke beiseite und schwang seine Füße über die Bettkante. Er stemmte die Beine auf den Boden, doch im nächsten Moment fiel er nach vorne und knallte auf den Fußboden.
Stöhnend stützte er sich auf seinen Armen ab und schaute nach hinten. Seit dem Explosionsunfall in Gongmen hatte er sich zwar wie durch ein Wunder wieder erholt, doch sein rechtes Bein war seitdem komplett gelähmt. Mühsam hievte er sich am Bett hoch. Sein linkes Bein, dass noch funktionierte, nahm ihm wenigstens noch einen Teil der Geharbeit ab. Dennoch, ohne Abstützhilfe oder Krücke konnte er keinen gescheiten Schritt mehr laufen. Eine Gehhilfe hatte er von Anfang an abgelehnt. Nur wenn er ins Bad musste, erlaubte er es. Und vor allem, wenn ihm keiner dabei zusah.
Mit einem Keuchen ließ er sich aufs Bett nieder und befühlte sein taubes rechtes Bein. Er ballte die Hand zur Faust und schlug verbittert drauf.
„Warum funktionierst du nicht?!“
Seine Faust zitterte. Anschließend presste er die Hände auf die Bettkante. Dann rollten ihn Tränen über die Wangen. Hastig wischte er sich über die Augen. Dann vergrub er das Gesicht ins Kissen. Er hasste es wie ein kleines Kind zu heulen und wenn, dann sollte es wenigstens keiner sehen.
Sie klopfte an. Wie abgesprochen. Dennoch öffnete sie zögerlich die Schiebetür. Xiang saß schon im Bett. Die Tränen sah sie, zu Xiangs Glück, nicht mehr.
„Das Bad ist fertig“, informierte sie ihn.
Er nickte mit gleichgültiger Miene. Es schien ihm sogar egal gewesen zu sein, wenn er mit Haien hätte schwimmen müssen. Der Pfau schlug die Bettdecke beiseite und rutschte an die Bettkante. Liu stellte sich neben ihm hin an die rechte Seite, wo sein lahmes Bein lag. Anschließend schob sie ihren linken Arm unter seine Achsel, sodass er mit dem linken, noch gesunden Bein aufsetzen konnte, ohne dabei umzukippen. Dann stützte er sich auf sie und er humpelte an ihrer Seite aus dem Zimmer mit ihr raus.
Der Weg war zum Glück nicht lang. Es ging nur ein paar Türen weiter den Korridor entlang, wo sie zu einem Zimmer mit der Aufschrift „Bad“ kamen. Das Badewasser war schon eingelassen. Der Raum war erfüllt mit Düften von Badezusätzen. Xiang schnupperte. Der letzte Badegast hatte Kiefernöl benutzt. Alles roch nach frischem Wald, was in ihm wieder eine Wehmut nach Freiheit hervorrief.
„In die Badewanne werdet Ihr ja wohl noch selber steigen können, oder?“, meinte Liu gleichgültig.
Knurrend ließ Xiang sich von ihr auf einen Hocker setzen, der hinter einer Abschirmung stand. Dort zog er sein Hemd aus. Die Badewanne stand direkt daneben. Anschließend hangelte er sich an einer Stange neben der Wanne, die auch für Gehbehinderte eine Hilfe war. Zumindest wenn man stark mit den Armen war. Dies war zwar ein mühsamer Vorgang, aber er wollte sich nicht wie ein Kleinkind in die Wanne setzen lassen. Vielleicht hätte er sogar locker alles alleine schaffen können. Aber Liu hatte wohl recht. Er hatte sich einfach zu viel in Selbstmitleid versinken lassen.
Während er in der Wanne saß, hatte Liu sich etwas weiter entfernt ans Fenster zurückgezogen und vertrieb sich die Zeit damit die vorbeifliegenden Vögel zu zählen. Die Kurresidenz lag zwar in den Bergen, aber es wuchs ein wenig Wald in der Umgebung.
Xiang unterdessen hatte sich ein kleines Tuch geschnappt. Schnell tunkte er es ins Wasser und warf den triefendnassen Stofffetzen in Lius Gesicht.
„Schrubb mir mal den Rücken, Sklavin!“, befahl er.
Wütend stierte sie ihn an und wischte sich das Badewasser aus dem Gesicht.
„Ich bin eine Pflegehilfe, keine Sklavin“, dachte sie verbittert.
Doch sie erwiderte nichts, sondern griff nach einem Schwamm. Dann trat sie an ihn heran, tunkte ihn kurz ins Badewasser und strich ihm damit über den Rücken. Xiang saß in der Wanne mit verschränkten Armen und schien ihre Behandlung eher als lästig zu empfinden. Schon nach ein paar Mal Darüberstreichen, stieß er sie wieder weg.
„Das reicht! Du kannst es ja eh nicht! Gib mir ein Handtuch!“
Liu musste sich extremst beherrschen ihm nicht den Schwamm ins Gesicht zu schmeißen. Stattdessen legte sie den Schwamm beiseite und holte ein großes Badehandtuch hervor. Anschließend half sie ihm aus der Wanne und setzte ihn wieder auf den Hocker, wo er sich trockenrubbeln konnte.
Während Liu wartete bis er trocken war, betrachtete sie seine Federn. An einigen Stellen war sein Gefieder so stark verbrannt gewesen, dass dort keine Federn mehr nachgewachsen waren. Jedoch deckten die danebenstehenden Federn im Gefieder die jeweiligen Stellen glücklicherweise zu. Es war ein Wunder, dass er es so weit wieder gebracht hatte, weshalb sie ihn heimlich das blaue Wunder nannte.
Die Pfauenhenne schmunzelte. Irgendwie mochte sie sein Gefieder. Hellblau, dunkelblau… Kein Vergleich zu seinen starken verbrannten…
„Gefällt dir was du siehst?!“, fuhr Xiang sie an.
„Wie?“ Liu errötete. Sie hatte nicht gemerkt, wie sie ihn angestarrt hatte. „Äh, nein… Ja! Äh, ich meine…“
Hastig reichte sie ihm ein neues Hemd. Wutschnaubend riss er es ihr aus den Händen.
„Spannerin!“, schimpfte er leise und zog sich das frische dunkle Hemd über, was gut mit seinem Gefieder harmonierte. Doch Liu sah schnell weg, damit sie ihn nicht schon wieder anstarrte.
Der Weg zurück ins Zimmer war nicht schwer, allerdings war die Stimmung zwischen ihnen deutlich gekippt. Und kaum hatte sie ihn wieder ins Bett gesetzt, ging sein Gemaule wieder von vorne los.
„Wenn du denkst, ich lass mich von dir kleinkriegen, dann hast du dich geirrt“, keifte er. „Ich brauche dein gespieltes Mitleid nicht!“
Liu nahm einen tiefen Atemzug bevor sie sich wieder der Tür zuwandte.
„Ich nehme an, Sie wollen heute aufs Mittagessen verzichten. Ich bringe Ihnen dann erst wieder das Abendessen.“
Damit verließ sie ohne ein weiteres Wort den Raum.
Herr Furu saß im Schneidersitz im Yoga-Raum, den, außer ihm, gerade keiner belegte.
Bei Herr Furu handelte es sich um einen Pfeifhasen, oder wie man diese Art auch bezeichnete, ein Pika. Doch er sah bei weitem nicht wie ein Hase aus. Seine Ohren waren so abgerundet und seine Gestalt so klein, dass ihn jeder auf den ersten Blick für ein Nagetier hielt. Normalerweise suchte Liu ihn selten auf. Doch heute hatte sie endgültig genug.
Kaum hatte sie den Raum betreten, kam sie auch gleich zum Thema.
„Herr Furu!“
Der alte Pika sah nicht auf, sondern fuhr einfach mit seiner Meditation fort. „Oh, sei gegrüßt, liebes Kind. Was führt dich hierher?“
Liu holte tief Luft. „Ich verlange, dass Sie mir einen neuen Patienten zuteilen.“
Wieder hielt er die Augen geschlossen. „Tatsächlich? Weshalb das, meine Gute? Ich dachte, es wäre dir ganz recht einen Patienten deiner Art zu behandeln.“
Die Pfauenhenne ging einmal tief in sich bevor sie antwortete. „Das war ich auch. Und ich war Ihnen auch sehr dankbar dafür. Aber… ich kann so einfach nicht weiter machen. Ich meine, ich… Ich hab alles für ihn getan! Die Verbände gewechselt, seine Wunden versorgt, ihm Medikamente verabreicht, Salben aufgetragen, gewaschen, gefüttert, ihm zu Trinken gegeben, dazu schlaflose Nächte wegen seiner Krampfanfälle, später dann die Federpflege, Massage, Akkupunktur, Krallen schneiden und sogar Pediküre. – Ich hab mich wie eine Mutter um ihn gekümmert… Und für was?! Beleidigungen und Beschimpfungen! Jeden Tag! Ich kann das nicht mehr hören!“
Noch immer die Augen geschlossen, erhob der kleine Pika seine Stimme.
„Mein liebes gutes Kind, ich erinnere mich wie du mir einst sagtest, dass du jede Arbeit hier in meinem Hause erledigen würdest. Andersseits würde ich dich wieder an deinen ursprünglichen Arbeitsort zurückschicken, wo du hergekommen bist.“
Er schielte mit dem rechten Auge zu ihr rüber.
„Möchtest du denn wieder in die Wäscherei zurückgehen?“
Liu senkte den Blick. „Nein.“
„Nun, ich erwarte von dir dementsprechende Dankbarkeit, dass ich dich da rausgeholt habe“, fuhr Herr Furu unbeirrt fort. „Außerdem kennst du ihn schon fast 4 Jahre. Denkst du, es kann einfach jemand so eine Pflege übernehmen? Keiner würde sich freiwillig dafür melden. Und bei seinem Behinderungsschweregrad wird er wohl noch sehr, sehr lange Pflege benötigen. Vor allem, weil er sich keine Mühe macht, sich selbstständig zu machen.“
Er machte eine kurze Pause. „Hast du diesem etwas entgegenzusetzen?“
Liu seufzte. „Nein.“
Der Pika nickte zufrieden. „Also, dann wieder ab an die Arbeit.“
Es viel Liu schwer sich an diesem Abend fürs Bett fertig zu machen. Wenigstens hatte dieser Pfau das Abendessen herunterbekommen. Wenn auch nur unter Protest. Während sich die Pfauenhenne die Federn kämmte, durchging sie immer die gleiche Frage: Warum tat sie das für ihn?
Diese Frage verfolgte ins Bett und auch nachdem sie das Licht gelöscht hatte. Auch als sie sich hingelegt hatte und die Augen geschlossen hatte, verfolgte es sie immer weiter und weiter.
„Ich kann auf dein gespieltes Mitleid verzichten!“
Ob Xiang doch damit recht hatte? Ihr Mitleid war zwar nicht gespielt, aber war der Grund doch nur Mitleid gewesen? Wie oft musste sie an den ersten Tag denken, wo er in die Kurresidenz kam…
Vor 4 Jahren…
„Liu, mein gutes Kind. Ich habe gute Neuigkeiten.“
Verwundert sah Liu auf, als Herr Furu zu ihr in eines der leeren Patientenzimmer hereinkam. Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, ein Bett mit neuer Bettwäsche zu beziehen.
„Ich habe den perfekten Patienten für dich“, fuhr der alte Pika fort.
„Den perfekten Patienten?“ Sie schüttelte das Kopfkissen aus, welches sie gerade in den Flügeln hielt und legte es aufs Bett. „Wovon reden Sie?“
„Der König hat ihn uns extra zugeschickt.“
„Der König?“
Das verwirrte die Pfauenhenne nur noch mehr.
„Ich war auch sehr überrascht… Aber sieh doch selber.“
Sie verließen das Zimmer und gingen ein paar Gänge weiter, wo sie in einen anderen Raum kamen. Dort lag eine Trage, auf der eine mit Verbänden eingewickelte Figur lag. Darunter waren lauter verbrannte Federn zu erkennen.
Die Augen der Pfauenhenne weiteren sich. Sie war kurz davor zu fragen „Was ist das?“ statt „Wer ist das?“
Doch Herr Furu hatte eine Antwort schon parat.
„Meine Liebe, dein neuer Patient“, verkündete er und deutete auf die Trage.
Liu blieb der Mund offen. „Grund Gütiger, was ist denn mit ihm passiert?“
„Explosionsunglück. Schwergradige Verletzungen. Ein Wunder, dass er noch am Stück ist. Aber ich glaube nicht, dass er wieder vollständig genesen wird.“
Inzwischen war die Pfauenhenne ans Ende der Trage getreten, wo sie den Kopf vermutete. Die Person war nicht nur ein Vogel, sondern auch ein Pfau. Sie streckte die Hand nach ihm aus und strich ihm über den Kopf. Unter den verklebten Federn erkannte sie ein leichtes Blau. Er musste ein schöner Pfau gewesen sein.
In diesem Moment zuckte der Pfau unter ihrer Berührung zusammen. Seine Augen öffneten sich einen Spalt. Als er sie erblickte, wich er ihrer Hand aus und zog den Kopf ein. Er wollte weg.
„Bleiben Sie liegen!“, rief sie.
Der Pfau war kurz davor aufzuspringen. Liu hatte Mühe ihn zu halten. Sie konnte seine Angst regelrecht spüren.
Wovor hatte er Angst?
„Keine Angst. Ich tue Ihnen nichts!“
Seufzend drehte sie sich auf den Rücken.
Ja, es war Mitleid gewesen.
Mit einem beklemmenden Gefühl im Bauch zog sie sich die Decke über, mit dem quälen Gedanken im Hinterkopf, dass der nächste Tag genauso werden würde wie der heutige.
Die Abendsonne tauchte den Himmel in ein oranges Rot. Shen hatte sich in den Palast zurückgezogen und schaute von der mittleren Etage auf den Hof hinab.
Der Wahrsagerin fiel auf, dass er recht schweigsam geworden war. Zuerst hatte sie sich vorgenommen, ihn nicht anzusprechen, doch als dies den ganzen Tag so weiter ging, rang sie sich doch dazu ein Gespräch mit ihm zu suchen.
„Du siehst so nachdenklich aus“, begann sie hinter ihm.
Shen schien ihre Gegenwart nicht zu überraschen und drehte sich gar nicht erst zu ihr um.
„Mich beschäftigt viel“, meinte er bedächtig. „Dann muss ich viel nachdenken.“
Die Ziege trat zu ihm ans Fenster und versuchte zu ergründen, wohin Shen die ganze Zeit hinsah.
Unten im Hof stand Fantao mit Meister Kroko und Meister Ochse. An der Mauer prangerte immer noch Meister Krokos Bildnis und jetzt daneben war ein Neues, diesmal von Meister Ochse, gemalt worden. Auch dieses hatte mehr Muskeln als das Original, was Meister Ochse sofort an sich überprüfte.
„Was missfällt dir daran?“, erkundigte sie sich.
Shen seufzte. „Bei Fantao habe ich gehofft, dass er mal ein großer mächtiger Krieger werden würde. Doch anscheinend habe ich mich geirrt und er wird eher ein großer Künstler. Ich hätte ihn gleich Bingwen* nennen sollen.“
Die Ziege schmunzelte. „Er ist nun mal ein farbenliebender Pfau. Um ehrlich zu sein, dürfte es einem nicht verwundern. Aber er hat Geschick in seinen Bewegungen. Er wird bestimmt seinen eigenen Kampfstil mal entwickeln. Genauso wie Zedong.“
„Zedong ist gut, genauso gut wie sein Bruder“, stimmte Shen ihr zu. „Nur von Jian könnte ich mehr erwarten. Er spielt lieber auf seinem Instrument, als sich um sein Training zu kümmern.“
„Er ist farbenblind wie seine Mutter“, ergänzte die Wahrsagerin. „Er versucht mit Musik sich die Welt zu verschönern.“
„Mag sein“, murmelte Shen. Dann senkte er den Blick. „Nur um Shenmi mache ich mir am meisten Sorgen. Sie hegt überhaupt kein Interesse am Kung Fu, oder an anderen Kampftechniken.“
Er zuckte zusammen, als er den Huf der Ziege auf seinem Arm fühlte. „Du wünschst dir zu sehr, dass sie so wird wie du, hab ich nicht recht?“
Shen wich von ihr weg. „Unsinn! Sie soll nur das Kämpfen lernen. Das ist alles. Aber bis jetzt zeigt sie keine Anzeichen dafür es mal richtig intensiv zu versuchen.“
Die Ziege seufzte schwer. „Shen, früher oder später wird jeder von ihnen irgendwann seinen eigenen Weg gehen. Du kannst sie nicht ewig an deine Vorstellungen anbinden.“
Der weiße Pfau schüttelte den Kopf. „Nein, es ist viel mehr als das. Sie muss es lernen. Sie kann nicht ewig ein hilfloses Kind bleiben…“
Die Augen der Ziege weiteten sich. Shen hatte unerwartet den Kopf gesenkt und den Flügel davorgehalten.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Es geht schon“, wehrte er ab. „Ich fühl mich heute nur etwas erschöpft. Ich… ich bin einfach nicht so für diese…“
„Vaterrolle.“ Sie lächelte.
„Äh… ja. Yin-Yu konnte mit ihnen immer besser umgehen. Ich selber musste mich um die Stadt kümmern und…“
„Papa!“
In diesem Augenblick tauchte Zedong hinter ihnen auf.
„Shenmi ist in den Dreck gefallen. Ich glaube sie braucht ein Bad. Und Fantao sowieso.“
Damit machte der kleine Pfau wieder kehrt und Shen blieb mit seinem kleinen Problem allein zurück. Am Ende war sein bittender Blick auf die Ziege gerichtet.
„Bitte, könntest du das machen?“
Mit einem etwas unguten Gefühl, zog Yin-Yu sich ins Nachtquartier zurück. Sie hatte lange in den alten Kinderkisten von Xia und Sheng herumgewühlt und war dabei so viele alte Erinnerungen durchgegangen, dass ihr mehr der Kopf wehtat als die Flügel.
Sie sah sich um. Sie befand sich in ihrem ehemaligen Schlafzimmer. Natürlich mit nur einem Bett. Xiang hatte immer alleine geschlafen, und das gleiche hatte er auch von seiner Familie erwartet. Für jeden ein Einzelzimmer. Mit verschlossenen Türen. Jede Nacht hatte er ihre Türen abgeschlossen. Nie durften sie ihre Zimmer um diese Uhrzeiten verlassen.
Yin-Yu vergewisserte sich nochmal, dass die Türe nicht abgeschlossen war, was eigentlich Blödsinn war. Wer sollte schon die Türen abschließen? Dennoch ging sie auf Nummer sicher.
Irgendwie wünschte sie sich, die anderen wären mitgekommen. Aber sie wollte Xia und Sheng nicht zumuten wieder an diesen Ort zu kommen.
Gedankenverloren zog sich um. Ihre Kleidung befand sich immer noch im Kleiderschrank. Anschließend legte sie sich ins Bett. Eine Weile hing sie noch ihren Erinnerungen nach. Dann fiel ihr Shen wieder ein. Zu gerne würde sie ihn jetzt neben sich haben.
Müde schlurfte Shen in sein Schlafzimmer. Die Ziege hatte zwar das Baden der zwei Kleinen übernommen, dennoch war er völlig ausgepowert. Sich mit kleinen Kindern zu beschäftigen war noch anstrengender als mit einer Armee zu trainieren. Erschöpft ließ er sich ins Doppelbett fallen.
„Shen, sieh es ein“, murmelte er zu sich selbst. „Du wirst auch nicht jünger.“
Dann wickelte er sich in die Bettdecke und schlief sofort ein.
Es war kaum eine Stunde vergangen, als…
„Papa?“
Schlaftrunken setzte Shen sich im Bett auf, als er die Stimme von Shenmi erkannte.
„Was ist?“
Das weiße Pfauenmädchen stand neben seinem Bett und sah ihn schüchtern an.
„Kann ich bei dir schlafen?“
Müde rieb Shen sich übers Gesicht. „Warum schläfst du nicht bei deiner Schwester?“
„Sie schnarcht.“
„So, tut sie das?“
Seufzend legte Shen sich wieder hin und drehte sich auf die Seite. „Na dann, komm rein.“
Sogleich hüpfte die Kleine aufs Bett und krabbelte zu ihm unter die Bettdecke. Shen bekam kaum etwas mit, so leer war noch sein Kopf vom Tag. Er spürte nur noch, wie sich etwas an seinen Hals klammerte.
„Papa?“
„Mmm?“
„Bist du immer noch sauer?“
„Mm-mm.“ Es klang wie ein dumpfes Nein.
Wie im Unterbewusstsein wanderte sein Flügel auf die leere Bettseite und wünschte sich Yin-Yu würde jetzt hier sein.
Yin-Yu schreckte auf. Hatte sie geträumt? Ein merkwürdiges Gefühl war über sie gekommen, wie ein düsterer Schatten. Hastig richtete sie sich auf und ihr erster Blick galt der Tür.
Erschrocken hielt sie den Atem an. Die Tür stand einen Spalt offen. Seltsam. Sie hätte schwören können, dass sie sie zugemacht hatte.
„Hallo? Ist da jemand?“
Schnell verließ sie das Bett, ging zur Tür und schaute in den Gang.
Alles blieb ruhig.
Doch dann… Ein leichtes Schaben war über den Marmorboden geschlittert.
„Huan? Sind Sie das?“, fragte sie zaghaft.
Als sie keine Antwort erhielt, zog sie die Tür schnell wieder zu. Spielen ihr die Erinnerungen von damals jetzt einen Streich? Oder träumte sie sogar?
Schnell ging sie wieder an ihr Bett und zündete eine Kerze an. Das Licht, das nun den Raum erhellte, gab ihr ein besseres Gefühl der Sicherheit. Doch ohne es zu merken, trat das Licht jetzt auf mehrere kleine Augen, die hinter ihrem Rücken lauerten.
Es vergingen noch weitere drei Sekunden – dann erfüllte ein Schrei die Luft.
*Bingwen - Meister der Kunst
Es war noch früh am Morgen, als die Ziege sich auf den Beinen machte und durch die Gänge des Palastes ging. Dabei kam sie auch an Shens Zimmer vorbei. Vorsichtig spähte sie durch die Tür. Shen lag friedlich im Bett. Und daneben an seinem Hals lag die kleine Shenmi. Die Wahrsagerin lächelte und zog sich schmunzelnd zurück.
Es dauerte nicht allzu lange und das Pfauenmädchen wachte auf. Nachdem es sich ein paar Male ausgiebig gestreckt und gegähnt hatte, fiel ihr Blick auf Shens freie Füße, die unter der Bettdecke hervorlugten. Sie kicherte und krabbelte darauf zu. Dort angekommen strich sie mit den kleinen Federfingern über seine Fußsohlen.
Plötzlich zuckte Shen zusammen und setzte sich ruckartig auf. Er war noch nicht ganz wach, doch er merkte sofort, wer ihn da geweckt hatte.
„Shenmi! Du weißt doch, dass ich nicht gern gekitzelt werden möchte.“
„Mama macht das doch oft bei dir.“
„Bei ihr ist das ja auch etwas völlig anderes.“
„Wieso?“
Das brachte Shen in Erklärungsnot.
„Na ja, sie ist für mich… was ganz besonders. Bei uns läuft es oft anders ab…“
„Wie das Knutschen?“
Shen sah seine Tochter verdutzt an. „Wo hast du denn diesen Ausdruck her? Besser du gehst dich jetzt waschen.“
Damit hob der weiße Pfau sie hoch und setzte sie auf den Boden ab. Shenmi war schon ganz munter und hüpfte davon. Im Gegensatz zu Shen. Kaum war das Mädchen draußen, zog er sich wieder die Bettdecke über den Kopf.
„Vater, du siehst sehr müde aus.“
Shen hielt im Gähnen inne, als Xia ihn darauf aufmerksam machte. Erschrocken hielt der Herrscher inne, als er merkte, wie ihn alle anstarrten.
Sie saßen gerade am Frühstückstisch und es war für jeden unverständlich, dass Shen als Einziger einen sehr erschöpften Eindruck machte.
„Ach, es ist nichts“, winkte er ab. „Nur die Luftveränderung.“
Xia war da nicht so überzeugt und schien die Einzige am Tisch zu sein, die sich besonders große Sorgen machte. Doch Shen lächelte sie nur an.
„Es ist alles in Ordnung“, beruhigte er sie und schaute rüber zu Fantao.
„Fantao! Hör auf mit den Reisstäbchen zu spielen!“
Fantao hatte sich die ganzen Stäbchen gekrallt und zu einem Türmchen aufgestapelt.
„Jian! Leg dein Musikinstrument weg!“
„Shenmi, kleckere nicht dein Hemd voll!“
Shenmi, die direkt neben ihrem Vater saß, hatte versehentlich einen Suppenfleck auf ihr Kleid geschlabbert.
„Ich mach das schon, Vater“, bot Xia sich an und holte ein Tuch, um den Suppenfleck wegzurubbeln.
Sheng räusperte sich. „Also, was machen wir heute?“
Shen war froh, dass er das Thema wechselte. „Ihr macht heute eurer Morgentraining.“
„Warum machst du eigentlich nie mit?“, fragte Zedong.
„Weil das Training für euch wichtig ist. Ich benötige keinen Unterricht mehr.“
„Aber du könntest doch auch mal mit uns trainieren“, drängte Zedong weiter.
Jetzt war es Shen, der sich räusperte. „Ihr haltet euch besser an die Meister. Tut einfach das, was sie euch sagen.“
Shenmi sah ihn fragend an. „Also, Meister Ochse sagt mir immer: ‚Shenmi, was immer du auch tust, werde bloß nicht wie dein Vater.‘“
Shens Hände verkrampften sich. „So, sagt er das?“ Doch er behielt sein unscheinbares Lächeln auf dem Schnabel. Wenn er schon wütend war, dann sollte Shenmi es nicht mitansehen. Denn dann würde sie sich nur wieder schuldig fühlen.
Nach dem Frühstück entließ der Herrscher die ganze Bande. Xia und Sheng hatten die Aufgabe auf die Kleinen aufzupassen, während Shen seinen Rundgang durch den Palast machte.
Die Ziege hatte gegenüber Shen kein gutes Gefühl und folgte ihm.
„Shen? Alles in Ordnung?“, fragte sie.
Shen verschränkte die Arme auf dem Rücken und sah aus, als würde über ihm gleich ein Gewitter losbrechen.
„Er erzieht meine Tochter noch hinter meinem Rücken“, knurrte er.
„Shen, beruhige dich“, versuchte sie ihn zu besänftigen. „Du kannst froh sein, dass er dir überhaupt erlaubt hat hier in Gongmen ab und zu zu verweilen.“
Mit einem Schnauben wandte Shen sich von ihr ab. „Eigentlich steht die Stadt immer noch rechtmäßig mir zu. Und komm mir nicht schon wieder mit der Sache von damals an, dass ich kein Recht darauf hätte!“
Die Ziege strich sich über ihren Bart. „Was damals passiert ist, kannst du zwar nicht ändern, aber du hast es geschafft, es wieder in eine andere Bahn zu lenken…“
„Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Kindererziehung immer noch mir zusteht!“, fiel er ihr ins Wort. „Er hat kein Recht sich einzumischen! Wenn es nach mir ginge, würden wir sofort von hier abreisen.“
„Mein Lord?“
Shen hielt inne, als eine Gazelle auf ihn zukam.
„Was ist?“, fragte der Lord genervt.
„Eine Botschaft.“ Damit reichte der Wächter ihm eine Papierrolle. „Sie kam mit der Luftpost.“
Shen nahm die Nachricht entgegen und der Wächter entfernte sich wieder.
Als er den Absender las, entfaltete er das Papier sofort.
Die Ziege wollte sich schon zurückziehen, doch dann entstand beim Pfau eine ruckartige Bewegung und sie drehte sich wieder zu ihm um.
Shen hatte den Kopf mit dem Flügel bedeckt, im anderen Flügel hielt er den Brief, zerknüllt.
„Ist irgendetwas Shen?“, erkundigte sie sich besorgt.
Ihre Augen weiteten sich, als Shen den Flügel enger auf die Stirn presste und heftig den Kopf schüttelte. Dann hielt er ihr das zerknitterte Papier entgegen.
„Lies das.“
Er sah sie immer noch nicht an, was die Ziege noch mehr beunruhigte. Zögernd nahm sie ihm den Brief ab, während Shen mit gepresster Stimme befahl: „Lies es laut und deutlich.“
Wollte er nur testen, ob er sich nicht verlesen hatte? Doch die Ziege fragte nicht weiter nach und las:
„Sehr geehrter Lord Shen, anlässlich der Lage sehe ich mich gezwungen Ihnen diese Nachricht zu senden, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Frau seit gestern Nacht im Palast Mendong vermisst wird. Man hat sie in der Nacht schreien gehört, seitdem ist die unauffindbar. Sobald wir etwas Neues haben, werde ich es Sie wissen lassen.
Hochachtungsvoll, König Wang.“
Die Wahrsagerin hatte kaum geendet, als Shen sich ruckartig abwandte.
„Ich hätte sie niemals alleine gehen lassen sollen!“
Shen rannte zur nächsten Treppe und stieg nach unten.
„Shen, wo willst du hin?“, rief die Ziege und rannte ihm hinterher.
„Zum Hafen.“
„Hafen?“
„Ich charterte sofort ein Schiff!“
„Du willst abreisen? Aber…“
„Versuch mich nicht davon abzuhalten!“, fuhr Shen sie an. Inzwischen hatten sie die Eingangstür des Palastes erreicht, die der weiße Lord mit Schwung öffnete.
„Ich werde nach Mendong fahren, sie finden und zurückho…!
Plötzlich prallte der Herrscher gegen eine große, breite schwarz-weiße Figur. Shen fiel nach hinten und landete unsanft auf den Boden. Die Person vor dem Eingang hatte sich besser auf den Beinen gehalten. Shen rieb sich den Rücken und schaute hoch, um zu sehen, wer ihm da den Weg versperrt hatte.
„Hey, Shen!“, begrüßte ihn Pos heitere Stimme. „Wie geht’s? Schon lange her, was? Ich war gerade auf dem Weg zu dir, um…“
„Panda!“ Wütend sprang Shen auf. „Ganz egal was dir das Universum zugeflüstert hat, aber ich regle das auf meine Art und Weise! Und zwar alleine! Du brauchst dich nicht zu bemühen hierherzukommen. Der Brief galt einzig und allein mir. Und es ist immer noch meine Frau und ich werde sie alleine suchen und finden! Hast du das verstanden, Panda?!“
Po hatte den Redeschwall eingeschüchtert über sich ergehen lassen und stand jetzt da, mit eingezogenem Kopf.
„Äh, eigentlich wollten wir nur… in den… Urlaub… fahren.“
„Urlaub?“
Shen meinte nicht richtig zu hören. Doch Po grinste breit und richtete sich wieder zu seiner normalen, jubelnden, Größe auf. „Ja, und zwar in das Shuǐ Qíyù Erlebnisparadies!“ Damit hielt er dem Pfau ein Plakat vor den Schnabel. „Wasserrutschen, Wasserschlachten, Wasserstrudel, Schlammbäder… Das wird spitzenmäßig! Und weil Gongmen auf dem Weg lag, dachte ich, wir kommen mal vorbei.“
„Wir?“
„Ja, meine Freunde sind solange noch in der Stadt. Also wollte ich gerne mal wieder nach so langer Zeit wieder Hallo sagen, Na ja, das habe ich ja jetzt getan. Aber ich sage es noch mal: Hallo!“
Shen sah sich irritiert um, bevor er den Gruß, wenn auch mit säuerlicher Miene, erwiderte. „Äh, hallo.“
„Guck mal, das ist der Drachenkrieger!“
In diesem Moment kam Fantao um die Ecke gerannt. Dicht gefolgt von seinen Geschwistern.
Po breitete die Arme aus. „Hey! Kids! Wie geht’s?“
Jubelnd sprangen die Kinder um ihn herum.
„Autsch!“ Po zuckte zusammen, als ihn jemand in den Rücken gekickt hatte. „Oh, du hast sehr viel geübt, Zedong, kann das sein?“
Der kleine gescheckte Pfau lächelte stolz. „Jep.“
„Wow, was ist das denn?“ Fantao hielt neugierig das Plakat hoch, das der Panda hat fallen lassen.
„Das ist das beste Wasserspielparadies in der ganzen Ostprovinz“, klärte Po ihn auf. „Da gibt es alles was es an Wasserattraktionen gibt. Wasserstrudel, Wasserrutsche…“
„Wasserrutsche?“
„Ja, komm, ich zeig dir mal wie schnell eine Wasserrutschte ist.“
Damit hob Po den Pfauenjungen hoch und raste mit ihm hin und her.
„Darf ich auch!“, drängten die anderen.
„Natürlich. Du auch.“
Po nahm ein Pfauenkind nach dem anderen auf die Hände, hielt es über seinen Kopf und rannte mit ihm quer über den Hof, wobei er immer zu rief: „Wasserrutsche! Wasserrutsche!“
Amüsiert sah die Ziege dem Treiben zu. „Warum machst du nicht auch mal mit den Kindern sowas?“
Shen legte die Flügel zusammen und hob den Kopf. „Erstens weil sich sowas nicht gehört und zweitens…“
In diesem Moment sank Po erschöpft auf dem Boden zusammen.
„… ist es zu anstrengend“, beendete Shen seine Erklärung und sah auf den japsenden Panda.
„Keine Wasserrutsche mehr“, keuchte Po „Bitte, keine Wasserrutsche mehr.“
Nach ein paar schweren Atemzügen setzte sich der Panda auf und sah Shen fragend an. „Aber was war das eigentlich für ein Brief von dem du da gesprochen hast?“
„… und aus diesem Grund werde ich nach Mendong reisen“, beendete Shen seine Ausführungen.
Jetzt da jeder wusste, dass er einen Brief erhalten hatte, blieb ihm nichts anderes übrig als auch die anderen von der Nachricht zu unterrichten.
Jetzt standen sie alle in der Vorhalle im Erdgeschoss des Palastes und seine Zuhörer waren zutiefst bestürzt.
„Ist Mama etwas passiert?“, hakte Jian besorgt nach.
Shen schwieg. Er wusste doch selber nicht was los war. Wie konnte er einem Vierjährigen da genau antworten?
„Ach, was“, meinte Po und legte beruhigend eine Hand auf die Schulter des Jungen. „Er möchte nur nachsehen, ob auch alles in Ordnung ist. Bestimmt geht es ihr gut.“
„Wenn es ihr gut geht, wieso muss er dann zu ihr?“
„Ist Mama krank?“, fing jetzt auch Shenmi an, was Shen jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte.
„Jetzt hört zu!“, rief er. „Es bringt nichts herumzuraten.“
Er klatschte laut in die Hände. Und es dauerte nicht lange und eine Gazelle erschien.
„Wache, du gehst zum Hafen und besorgt das beste Schiff für mich. Die Reise geht in die Stadt Mendong in Nordchina.“
Der Wächter nickte und entfernte sich. Vielleicht hätte einer der Anwesenden noch etwas gesagt, doch Shen machte jeden weiteren Gesprächsversuch zunichte.
„Ich werde jetzt meine Sachen packen. Und ihr, während ich weg bin, werdet ihr hier solange warten. Ich werde euch dann Nachricht schicken.“
Po wollte gerade den Mund aufmachen, doch Shen wandte sich blitzschnell ab und verschwand in die obersten Stockwerke.
Enttäuscht ließ der Panda die Schultern sinken.
Shen brauchte weniger als ein paar Minuten, um seine Reisetasche zu packen. Normalerweise musste er für sieben weitere Personen mitdenken, wenn es auf eine Reise ging, doch da er alleine war, ging das zusammentragen der wichtigen Sachen viel, viel schneller.
„Sollte nicht jemand dabei sein?“
Der weiße Lord schrak zusammen, als die Stimme der Ziege so plötzlich hinter ihm auftauchte. Doch er fasste sich sofort wieder. Ihm war nicht verborgen geblieben, wie sehr sie das Wort „jemand“ betonte.
„Nein, ich gehe alleine.“
Damit schnappte er sich eine weitere Robe vom Kleiderschrank, stopfte sie in den Reisesack und band ihn zu.
„Shen, du erscheinst mir in letzter Zeit ein bisschen zu erschöpft“, fuhr die Ziege fort.
Shen stieß ein genervtes Knurren aus. „Was willst du damit sagen?“
„Ich kenne solche Schwächeanfälle von dir. Als Kind hattest du…“
„Hör auf damit! Es ist nichts! Mir geht es gut!“
„Mag ja sein. Doch ich finde im Falle eines Falles solltest du jemanden bei dir haben…“
„Ich brauche keinen, der auf mich aufpasst!“
„Aber du solltest ihn mitnehmen.“
„Wen?“
„Du weißt schon, wen ich meine.“
„Kommt gar nicht in Frage!“
„Das wäre doch nicht eure erste gemeinsame Reise…“
„Das letzte Mal war das letzte Mal!“
„Und was ist, wenn irgendetwas unterwegs passiert?“
Shen stierte die alte Ziege wütend an. „Ich bin über 20 Jahre auf mich allein gestellt gewesen! Falls du das vergessen haben solltest. Und hab es geschafft eine eigene Kampftruppe zusammenzustellen. Dazu mit unzähligen Waffen...“
„Und bist am Ende gescheitert mit allem. Es hätte noch mehr passieren können, wenn dir nicht jemand zur Seite gestanden hätte.“
„Zum letzten Mal, der kommt mir nicht mit auf die Reise!“
Die Wahrsagerin wandte sich mit gesenktem Kopf ab. „Dann werde ich aber kein Auge zu bekommen. Jede Nacht. Dann bin mich übermüdet, und kann nicht besonders gut auf die Kinder aufpassen.“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit einem Huf. „Ich hoffe nur, dass du gut schlafen kannst, mit dem Gedanken, nicht in der Nähe deiner Kinder zu sein.“
Sie schickte sich an den Raum zu verlassen. Shen war nachdenklich geworden. Natürlich behagte ihm der Gedanke gar nicht, seinen Nachwuchs unbeaufsichtigt zu lassen. Doch Yin-Yu war ihm auch nicht unwichtig. Schnell packte er die Ziege am Kleid.
„Dann stell ich eben eine Armee auf die Beine!“, sagte er entschlossen.
„Meine Freunde und ich könnten doch auch auf sie aufpassen.“
Überrascht sah der Pfau auf. Po stand im Türrahmen des Zimmers und tippte die Fingerspitzen aneinander, als der Lord ihn so empört ansah.
„Äh, ich meine, sie sind gute Baby… äh… Kindersitter, wenn’s drauf ankommt. Vielleicht könnten sie ihnen auch ein paar Kung Fu Tricks beibringen. Zum Beispiel die Kicks des Tigers, die Gewandtheit der Schlange, die Schnelligkeit des Affen… Und zusammen mit den zwei großen Meistern werden sie so sicher sein, wie sonst nirgendwo auf der Welt.“
„Die Meister?“
Die hatte Shen fast schon wieder vergessen und der Konflikt mit Meister Ochse flammte wieder in ihm auf. Bei dem Gedanken, dass dieser gehörnte Meister seiner Tochter weiterhin Flausen in den Kopf setzte, drehte sich bei ihm der Magen um.
„Shen?“ Die Stimme der Ziege holte ihn wieder aus seinen düsteren Grübeleien heraus. „Ganz gleich was hier auch geschehen mag, aber deine Frau ist im Moment wichtiger. Ich werde schon aufpassen, dass er nicht viel mit ihr redet.“
Sie lächelte ihn an, was Shen nur halbwegs beruhigte. Doch andererseits hatte sie bis jetzt immer ein Versprechen gehalten.
„Na schön“, meinte er schließlich. „Wenn du mir das versprichst…“
Damit schnappte er sich seine Reisetasche und zog sie hinter sich her.
Doch ein Räuspern der Ziege hielt ihm erneut davon ab den Raum verlassen zu können. Mit einem tiefen Seufzer musste er anhalten und erst mal einen kräftigen Atemzug nehmen, bevor er den Flügel hob und auf den Panda zeigte.
„Panda.“
Po sah auf. „Was ist?“
„Du wirst…“ Er kämpfte mit sich selber, um die nächsten Worte auszusprechen. „… wirst mich begleiten.“
Po stand für einen Moment da wie betäubt. Doch dann schien er es kapiert zu haben. Er riss die Hände in die Luft und hüpfte auf und ab. „WOOOHO! Ich hab eine Mission! Ich hab eine Mission!“
Blitzschnell rauschte er an dem niedergeschlagenen Lord vorbei, um die frohe Nachricht seinen Freunden mitzuteilen. Shen stieß einen tiefen Seufzer aus. Er konnte nur hoffen, dass der Tag nicht noch schlimmer werden würde.
Es dauerte nicht lange und alle hatten sich am Hafen versammelt. Das Schiff, ein einfaches Segelschiff, aber groß genug, dass darauf mindestens 100 Leute Platz gehabt hätten, war bereit zum Auslaufen. Doch nicht nur Shens Kinder, sondern auch die zwei Meister, die Wahrsagerin, Po und seine fünf Freunde hatten sich am Pier eingefunden. Pos Freunde waren anfangs nicht gerade allzu begeistert zu hören, dass sich ihr Urlaub nicht nur verschob, sondern Po wieder einmal ohne sie auf Mission ging.
„Und wann kommst du wieder, Po?“, erkundigte sich Monkey.
Sein Freund zuckte die Achseln. „Wissen wir noch nicht. Wir werden aber mindestens zwei Tage oder mehr brauchen bis wir in Mendong sind.“
„Hättest du uns nicht vorher fragen sollen, ob wir überhaupt wollen die Kinder zu beaufsichtigen?“, meinte Crane vorwurfsvoll.
Mantis stimmte ihm zu. „Ja, es wäre nicht das erste Mal, dass mir ein Kind Puppenkleider anzieht.“
Viper musste bei dieser Vorstellung Kichern. „Also, ich fand es süß. Vor allem mit dem Schleifchen.“
„Po“, mischte sich auch jetzt Tigress in die Unterhaltung ein. „Bist du dir sicher, dass es eine gute Idee ist mitzugehen?“
Po sah seine Freundin verwundert an. „Na klar, warum denn nicht?“
„Du weißt nicht, womit du es zu tun hast“, gab die Tigerin zu bedenken. „Vor allem bei den Lords. Royals haben sich im Laufe der Jahre viele mächtige Feinde angeeignet. Woher willst du wissen, dass du mit diesem Fall alleine klarkommst?“
„Aber ich bin doch nicht allein.“ Po lächelte sie an. „Er kommt doch mit.“ Er deutete auf Shen. „Und zusammen mit seiner Kampfkunst sind wir ein unschlagbares Team…“
„Ähem!“
Ein Räuspern von Shen ließ den Panda kurzfristig in seiner Rede verstummen. Der weiße Lord hatte sich vor die Kung Fu Krieger gestellt und räusperte sich erneut.
„Also, da ich euch mit der Aufsicht der Kinder betraut habe“, begann der Lord mit gehobener, mahnender Stimme. „So seid ihr auch dazu verpflichtet die entsprechenden Regeln einzuhalten.“
Monkey kratzte sich am Kopf. „Regeln?“
Shen nickte. „Ganz genau. Und ich habe ein paar wichtige Punkte zusammengestellt.“
Mit diesen Worten holte er ein Stück Pergament aus dem Ärmel und entrollte es. Die Augen der Freunde weiteten sich. Das Papier reichte fast bis zum Boden.
„Und was sind das für Regeln?“, wollte Viper wissen.
„Nur das Wichtigste“, erläuterte Shen. „Zum Beispiel soll jeder darauf achten, dass Jian keine Erdnüsse isst. Darauf reagiert er allergisch. Fantao darf nicht unbegrenzten Zugang zu Malfarben haben, vor Zedong muss die Waffenkammer immer abgeschlossen werden, vor Sonnenuntergang müssen alle im Bett sein, dreimal täglich eine Mahlzeit am Tag, bei Shenmi darf der Reis nicht zu hart sein, Jian hat die Pflicht sein Musikinstrument nicht unters Kopfkissen zu legen… um nur ein paar wichtige Grundregeln zu nennen.“
Er rollte das Papier zusammen.
„Ziege, du sorgst dafür, dass die ganzen Vorschriften befolgt werden. Wort für Wort.“
Mit diesen Worten hielt er ihr die zusammengerollte Liste entgegen, die sie auch sofort an sich nahm. Dann ging Shen bis ans Ende der Reihe, um sich von seinen Kindern zu verabschieden.
Die Wahrsagerin steckte seufzend das Papier ein. „Wenn er mich doch bei meinem Namen nennen würde“, dachte sie. „Ich bin für ihn immer noch teilweise wie eine Fremde.“
Shen war inzwischen bei den Kindern angekommen, die nebeneinander sich aufgestellt hatten. Shens erster Blick galt Sheng.
„Sheng, du und Xia, ihr seid die Ältesten. Passt gut auf die Kleinen auf.“
„Ja, Vater.“ Sheng nickte ihm zu.
Neben ihm stand Zedong. Wie immer.
„Und pass besonders auf deinen Bruder auf“, fügte Shen hinzu. „Trainiert nicht immer zu lange.“
Der gescheckte große Pfau nickte. „Machen wir.“
Dann beugte sich der weiße Herrscher zu seinem kleinen gescheckten Sohn herab. „Und tu mir den Gefallen und trete nicht immer jeden, wenn er dich schief anschaut. Falls doch, dann wirf ihm wenigstens einen bösen Blick zu.“
Zedong nickte. „Alles klar, Dad.“
Als nächstes war Fantao an der Reihe. Shen verschränkte die Flügel und sah mahnend auf ihn herab. „Fantao, während meiner Abwesenheit bemalst du nicht schon wieder die ganzen Mauern. Wände sind nicht zum malen da. Und wenn, dann benutz wenigstens abwaschbare Farbe.“
Fantao grinste. „Okay, kein Problem.“ Und wedelte mit seinem Pinsel, den er immer bei sich trug.
Als nächstes waren Xia und Jian an der Reihe.
„Und was dich angeht Jian, übertreib es nicht schon wieder mit deinen Musikstunden. Dein Training kommt immer zuerst.“
Sein Blick wanderte zu Xia. „Du sorgst dafür, dass er nicht zu laut spielt. Ich will nicht, dass er die anderen ablenkt.“
Seine ältere Tochter nickte. „Mach ich.“
Als letztes war Shenmi an der Reihe. Fast schon wehmütig, sah Shen auf seine kleine weiße Tochter herab. Schließlich kniete er sich vor sie hin, legte beide Flügel auf ihre Schultern und sah sie eindringlich an. „Und du passt gut auf dich auf. Halte dich immer an die anderen.“
Er holte tief Luft. „Und vernachlässige dein Training nicht.“
Das Pfauenmädchen senkte den Blick. „Papa, kann ich mitkommen?“
Entsetzt riss Shen die Augen auf. „Was?! Nein, das kommt gar nicht in Frage! Du bleibst hier!“
„Und was ist, wenn du nicht mehr wiederkommst?“
„Was redest du denn da?“
„Meister Ochse hat gesagt, dass es vielleicht jemand sein könnte, der sich an dir rächen will. Er sagt, du wärst schon ziemlich oft fast gestorben. Vielleicht passiert es jetzt.“
Shens zorniger Blick wanderte zum Ochsen. Dieser verschränkte grimmig die Arme. „Ich hab nur eine Vermutung geäußert. Das Gespräch galt auch nur ihm.“ Er deutete auf Meister Kroko. „Woher sollte ich denn wissen, dass sie in der Nähe stand?“
Shen stieß ein böses Knurren aus. „Schluss jetzt! Ich garantiere euch, dass mir nichts passieren wird!“
„Ganz genau“, mischte Po mit. „Vor allem, da ich ihn begleiten werde. Mit mir an seiner Seite kann doch gar nichts schief gehen.“
Shen war nicht davon begeistert, wollte gegenüber den anderen aber keine Zweifel säen. Stattdessen nahm er Shenmi hastig in die Arme. „Du kannst ganz beruhigt sein. Ich komme so schnell wie möglich wieder. Versprochen.“
Nach diesem schaffte es der Herrscher sich von seinen Kindern loszulösen und den Gang aufs Schiff anzutreten.
Po blieb kurz auf der Brücke stehen und winkte seinen Freunden zu. „Auf Wiedersehen, Leute! Und nur keine Sorge, wir werden schon aufpassen.“
„PO!“, schrie Monkey. „Du hast deine Tasche vergessen!“
„Oh, ja, natürlich.“
Schnell machte Po kehrt und rannte zu seiner riesigen Reisetasche, die von Viper und Crane bereits gezogen wurden.
„Meine Güte!“, keuchte Viper. „Was hast du denn da drinnen?“
„Na, mein Notproviant“, erklärte Po und schulterte den Reisesack über die Schultern. „Macht’s gut!“
Er eilte über die Brücke aufs Schiff. Endlich konnten die Seeleute die Brücke einziehen, den Anker einholen, die Seile lösen und die Segel setzen.
Die Zurückgebliebenen am Steg winkten ihnen nach.
„Ich hoffe, es passiert nichts schlimmes“, hoffte Xia insgeheim.
„Wie genau sieht eigentlich unsere Reiseroute aus?“, fragte Po nach einer Weile.
Shen hatte auf einer Seekiste eine Karte ausgebreitet, um sie nochmal durchzugehen.
„Wir segeln erst mal an der Küste entlang Richtung Norden“, erklärte Shen und zeigte mit den Federfinger über das blaue Feld. „Ab hier biegen wir dann in den Fluss ins Landesinnere ein. Der wird uns dann auf direkten Wege nach Mendong bringen.“
„Ist das nicht der Fluss, den wir schon damals benutzt hatten?“
„Ja, das ist er.“
„Oh, das weckt Erinnerungen, nicht wahr?“ Po grinste breit. Das Abenteuer im Hunnenreich hatte er bis heute nicht vergessen. Besonders da dies auch für Shen ein ganz besonderer Tag gewesen war. Doch Shen ging nicht weiter darauf ein und packte die Seekarte weg.
„Na schön“, meinte Po. „Diese Meeresluft macht ganz schön schläfrig. Ich mach mal ein Nickerchen.“
Damit begab sich der Panda in eine ruhige Ecke und war auch sofort eingeschlagen, was dem Lord nur recht sein konnte. Je weniger er redete, desto besser.
Es vergingen mehrere Stunden, bis Po von seinem grummelnden Bauch geweckt wurde.
„Oh man, eine solche Schiffsreise macht ganz schön hungrig.“
Er erhob sich, ging zu seinem Proviantsack und öffnete ihn. „Mm, lecker. Pfirsiche.“
Freudig griff er danach. Doch dann hielt er inne. Da war etwas Weißes unter dem Obst. Po runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht daran erinnern sowas wie Klöße oder Reis eingepackt zu haben. Zögernd befühlte er es. Es war weich und flauschig.
Plötzlich bewegte es sich und ein Gesicht kam zum Vorschein.
Der Panda riss die Augen auf. „Was machst du denn da?“
„Psst!“ Das Pfauenmädchen hielt mahnend einen Finger vor dem Schnabel.
Im nächsten Moment ertönte Shens Stimme hinter ihm.
„Panda, was machst du da?“
Erschrocken schloss Po den Sack wieder und drehte sich zu Shen um.
„Ich… ich mache gar nichts!“, stotterte der Panda.
„Ich hab doch was gehört“, zischte Shen und sah sich suchend um. „Was war das eben für ein Geräusch?“
„Eine Möwe“, sagte Po schnell.
Shen sah ihn skeptisch an. „Eine Möwe?“
„Äh, ja… Die ist hier… irgendwo herumgeflogen… Über unsere Köpfe. Ich meine, wo sollten Möwen sonst sein?“
Po war nicht gerade ein Meister im Lügen oder Schwindeln. Das bemerkte der weiße Lord sofort. Und das Po auch noch ein breites Grinsen aufsetzte, verstärkte seinen Verdacht nur noch mehr.
Plötzlich schnitt Shen mit seinen Federmessern ein paar Mal in den Proviantsack und ein kleiner Schneeball kullerte über den Holzboden.
„Shenmi!“ Empört sah Shen auf seine kleine Tochter. „Wie kommst du hierher? Ich hatte dir doch verboten mitzukommen.“
„Tut mir leid, Papa“, entschuldigte sie sich. „Aber ich hatte Angst, dass du…“
„Das reicht jetzt!“, schnitt Shen ihr das Wort ab und nahm sie an der Hand. „Du kehrst sofort nach Gongmen zurück!“
„Aber wie denn, Shen?“, wandte Po ein. „Wir sind schon viel zu weit weg. Wenn wir jetzt zurückfahren, dann verlieren wir mindestens einen halben Tag. Und woher willst du wissen, ob mit jeder weiteren Minute nicht die Chancen schwinden, dass Yin-Yu unverletzt bleibt…“
Po stockte, als er Shenmis geschocktes Gesicht bemerkte.
„Ich meine“, versuchte Po sich zu korrigieren. „Sie macht sich bestimmt schon Sorgen, weil wir uns unnötige Sorgen um sie machen. Sie wartet garantiert schon in Mendong auf uns. Da wollen wir sie doch nicht unnötig warten lassen, oder? Tja, dann muss sie wohl mitkommen.“
Shen wurde bleich unter den Federn. „Aber, das können wir doch nicht…“
„Bitte, Papa!“, bat Shenmi. „Ich bin auch artig…“
„Es könnte gefährlich für dich werden“, mahnte ihr Vater. „Nein, wir kehren um! Und wenn es mich sogar zwei Tage kosten würde!“
„Aber Papa! Was ist, wenn Mama was passiert?“
„Dann wir das deine Schuld…“ Er biss sich auf die Unterlippe. So wütend er auch auf sie war, die Schuld konnte er ihr nicht zuschieben. Hilflos sah er sich um. Aber es war nicht mal ein großer Vogel an Bord, der sie zurückbringen könnte.
„Bitte, Papa! Bitte, lass mich mitkommen!“ Shen machte den großen Fehler ihr in die großen Augen zu schauen.
„Aber, aber… das geht doch nicht…“
„Bitte!“
„Ja, bitte!“, bettelte jetzt auch Po und sah ebenfalls mit großen Pupillen zu Shen.
Shen bekam Bauchschmerzen, als er nach einem inneren Kampf nickten musste.
„Jipiee!“, jubelte Po. Er hob Shenmi hoch und wirbelte sie ein paar Mal herum.
„Spielst du wieder Wasserrutsche mit mir?“, bat Shenmi.
„Wasserrutsche?“ Po holte tief Luft. „Na schön. Also los.“
Und schon rannte er mit ihr auf dem Deck herum und schwang sie hoch und runter.
„Wasserrutsche! Wasserrutsche!“
Shen sah ihnen zu und verbarg niedergeschlagen das Gesicht mit dem Flügel. Er konnte jetzt nur noch darum beten, dass das Verschwinden von Yin-Yu nur ein Missverständnis gewesen war.
Es war still im Zimmer. Keiner von beiden sagte ein Wort. Xiang lag schweigend auf dem Rücken auf seinem Bett. Liu stand daneben und war dabei sein gelähmtes Bein zu bewegen. Der Pfau sah sie nicht an, sondern starrte nur an die Zimmerdecke. Liu unterließ es ein Gespräch anzufangen und konzentrierte sich darauf das Bein anzuwinkeln und wieder auszustrecken, wie beim Gehen. Sie achtete darauf jedes Gelenk zu beanspruchen, sowohl das Hüftgelenk, das Knie, als auch jeden einzelnen Zeh. Ab und zu rieb sie ihre Flügelhände mit Öl ein, die sie dann aufs Bein massierte, um die Durchblutung besser anzuregen.
„Wieso hackt ihr es nicht einfach ab?“, murmelte Xiang nach einer Weile.
Die Pfauenhenne seufzte, unterbrach ihre Arbeit aber nicht.
„Die Blutzirkulation funktioniert noch einwandfrei“, sagte sie. „Es besteht kein Grund Ihnen das Bein abzunehmen.“
„Aber du hättest weniger Arbeit mit mir“, knurrte der Pfau.
„Aber ich mach das gerne.“
„Gerne?“ Xiang richtete sich ruckartig auf und stierte sie böse an. „So, dir gefällt es also, dass ich nicht mehr gescheit laufen kann, ja?!“
„Nein, natürlich nicht!“, beteuerte sie, wobei sie sein Bein losließ. „Ich wollte nur sagen, dass mir die Arbeit nichts ausmacht. Wenn ich etwas daran ändern könnte, dann würde ich es natürlich tun.“
Wieder kroch in ihr die Angst hoch, als Xiang die Augen zusammenkniff.
„Du kannst eher froh sein, dass ich nicht beide Beine bewegen kann“, zischte er. „Sonst würde ich dich dafür ins Jenseits jagen! Ach, hau einfach ab!“
„Aber ich bin doch noch gar nicht fertig.“
„Was soll das noch bringen?!“
„Das Bein muss bewegt werden, sonst bildet sich die Muskulatur zurück und die Gelenke werden steif.“
„Ist mir doch egal! Mir reichts für heute!“
Ohne weiter auf ihre Bitte einzugehen, zog er sich die Bettdecke über und drehte sich auf die Seite. Dabei drückte er sich so tief ins Bett, dass nur noch seine Kammfedern hervorlugten.
Liu bebten die Hände vor Wut, doch sie schluckte alles hinunter, packte die Behandlungsutensilien weg und verließ enttäuscht den Raum.
Kaum hatte sie die Schiebetür zugezogen, lehnte sie sich dagegen und holte ein paar Mal tief Luft. Am liebsten würde sie ihm so richtig ihre Meinung sagen. Nicht nur wegen seiner Rücksichtslosigkeit, sondern auch, dass er sich nicht ständig verhalten sollte als wäre er ein hoffnungsloser Krüppel. Sie war sich sicher, dass er mehr könnte als er sich zutraute. Aber er wollte gar nichts. Nicht mal Handarbeiten oder sonst irgendetwas, worin er sich verbessern könnte. Selbst das Gehtraining hatte er abgelehnt. Sie hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt ihm wenigstens einen Seitenhieb zu verpassen, doch dann hatte sie immer das furchtbare Bild vor Augen, als er noch so schrecklich verletzt gewesen war. Jede freie Minute ihres Schlafes hatte sie geopfert nur um ihn nicht alleine zu lassen. Besonders anfangs war es schlimm mit ihm. Jede Nacht hatte er herumgeschrien. Zuerst hatte sie geglaubt, er habe Schmerzen, doch dann begann er im Schlaf zu reden. Er schrie ständig auf jemanden ein, als würde ihn jemand in seinen Träumen bedrohen. Die meiste Zeit kam sie kaum noch hinterher ihm danach das Gesicht von den Tränen abzutrocknen. Erst als er allmählich wieder vollständig bei Bewusstsein war, hatte er sie nachts aus seinem Zimmer verbannt.
Seufzend löste sie sich von der Tür und ging nachdenklich den Korridor entlang. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie meinte zu spüren, dass Xiang einen besonders großen Hass auf sie hatte. Er hatte zwar schon jeden in der Kurresidenz mal angemeckert, aber an sie ließ er die heftigsten Beleidigungen aus. Er ließ keine Sekunde verstreichen, um sie fertig zu machen.
Liu ließ den Kopf hängen. Sie wusste einfach nicht, wie lange sie das noch durchstehen sollte.
„Liu, mein liebes Kind!“, klang auf einmal Herr Furus Stimme hinter ihr. „Ich habe gute Neuigkeiten für dich.“
Kaum hatte die Pfauenhenne sich zu ihm umgedreht, schrak sie regelrecht zusammen.
Neben dem kleinen alten Pika stand nicht nur jemand anderes, sondern auch noch jemand von gigantischer Größe. Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Pfauenhenne auf die große Bärin, die in einem breiten schwarzen Hanfu-Kleid steckte.
„W-wer… wer ist… das?“, stammelte sie.
„Das, meine Gute“, führte Herr Furu aus, „ist Duona.“
Liu schluckte. Der Name klang nicht gerade harmlos. Und auch das Gesicht der Bärin sah nicht gerade freundlich aus. Dagegen sah ein Griesgram schon fröhlicher aus. Aber diese hier erweckte den Eindruck, als hätte sie noch nie gelacht.
Herrn Furu schien ihre Verunsicherung nichts auszumachen und fuhr einfach mit der Bekanntmachung fort.
„Du hast doch um einen Patientenwechsel gebeten und jetzt stell dir vor, gerade heute hat sich jemand außerhalb bei uns gemeldet, der bereit ist, diesen Job zu übernehmen.“
Lius Augen weiteten sich noch mehr. „Sie wollen wirklich allen Ernstes die Pflege von Lord Xiang übernehmen?“
„Stört dich etwas daran?“, fragte Herr Furu verwundert.
„Nun…“ Die Pfauenhenne rieb nervös die Flügel aneinander. „Xiang ist äußerst schwierig…“
„Dann wird Duona ja perfekt zu ihm passen“, nahm Herr Furu ihr das Wort ab. „Wir sind gerade auf dem Weg zu ihm.“
„Ähm, er wird jetzt nicht reden wollen“, meinte Liu zögernd.
„Das wird er schon über sich ergehen lassen müssen“, meinte Herr Furu entschieden und steuerte Xiangs Zimmer an.
Der blaue Pfau stieß unter der Bettdecke ein genervtes Knurren aus, als Herr Furu ihn dazu aufforderte sich hinzusetzen.
„Kann mich denn heute keiner in Ruhe lassen?“, fauchte Xiang.
„Das ist immer noch mein Haus“, unterrichtete ihn Herr Furu im strengen Ton. „Und Sie haben die Verpflichtung sich dementsprechend zu fügen. Ich darf Sie also bitten sich zu erheben, da ich Ihnen jemanden vorstellen möchte.“
Mit einem tiefen Seufzer schlug Xiang die Bettdecke beiseite und lehnte seinen Rücken gegen das Kopfkissen. Die große Bärin neben Herr Furu beachtete er kaum, dafür aber Liu, die es für das Beste gehalten hatte, ebenfalls mitzukommen. Als sich ihre Blicke trafen, stieß der Pfau ein verächtliches Schnauben aus, als wäre sie Abfall.
Der Pika ließ sich von Xiangs Abneigung nicht stören und deutete auf die Bärin neben ihm.
„Also, das hier ist Duona. Sie wird ab heute Ihre Pflege übernehmen.“
Der Pfau schaute die Gigantin gleichgültig an. Im Gegensatz zu Liu. Die Pfauenhenne wurde nervös. Irgendwie wollte sie die Bärin nicht in Xiangs Nähe lassen. Doch sie hielt den Mund geschlossen.
Xiang verschränkte die Arme und starrte gleichgültig auf die Bettdecke.
„Ist mir doch egal. Davon wird mein Leben auch nicht besser. Vielleicht war es vor ein paar Minuten sogar schlimmer.“
Er warf Liu einen vernichtenden Blick zu. Diese wich seinem Blick gekränkt aus. Herr Furu schien die Anspannung der beiden Vögel gar nicht zu kapieren und zeigte sich eher zufrieden.
„Na dann ist ja alles geregelt. Ich darf Sie allerdings darauf hinweisen, dass sie nicht so nachsichtig ist wie ihre Vorgängerin. Sie hat schon bereits eine Beschwerde gegen Sie eingereicht.“
Liu meinte vor Scham im Boden versinken zu müssen. So alt Herr Furu auch sein mag, besonders weise war er in Sachen Rücksicht jedenfalls nicht. Die Pfauenhenne hielt ihren Blick zwar auf den Boden gerichtet, doch Xiangs wutgeladene Augen durchbohrten sie wie Wurfgeschosse.
„Und vergessen Sie nicht, dass Sie nur hier sind, weil König Wang es angeordnet hat“, mahnte der Pika. „Eigentlich sollten Sie ihm für seine Großzügigkeit dankbar sein. Nach alledem was ich aus unserem letzten Gespräch herausgehört habe, würde er sie lieber im Kerker schmoren sehen. Es hat also gar nichts damit zu tun, dass sie ein Lord sind – oder waren.“
Bei diesen letzten Worten bemerkte Liu wie sich die Augenlider des Pfaus leicht verkrampften und wieder machte sich ein mitleidiges Gefühl in ihr breit.
Wenigstens kam Herr Furu endlich zum Ende.
„Also, jetzt wo wir alles geklärt haben, wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. Und nun zu Ihnen“, und wandte sich an die Bärin, die er sachte zur Tür schob. „ich werde Ihnen jetzt seinen Zeitplan erläutern…“
Die beiden verließen das Zimmer und Liu blieb mit Xiang alleine zurück. Der Pfauenhenne fiel es schwer was zu sagen und rang sich zu einem kurzen Satz durch.
„Tja, also… Dann werde ich mich jetzt von Ihnen verabschieden.“
Obwohl sie um einen Wechsel gebeten hatte, so überfiel sie dennoch ein Hauch von Traurigkeit, was man von Xiang nicht gerade behaupten konnte.
„Spar dir dein Gesülze“, schnauzte er sie an. „und hau einfach ab. Das wolltest du doch eh die ganze Zeit!“
Liu rang nach Luft. Sie hatte nie gewollt, ihn direkt zu kränken. „Es… es tut mir leid. Ich war nur… ich hab zu viel gearbeitet an diesem Tag… und da kam es einfach über mich…“
Ihr stockte der Atem. Xiang hatte sich sein Kopfkissen gekrallt und schmiss es auf sie drauf. Liu konnte gerade noch ausweichen. Doch noch mehr erschreckte sie Xiangs Haltung. Er sah aus wie eine tollwütige Katze in einer Art verkrampften Lauerstellung, obwohl er mit seinem lahmen Bein sie nie hätte anfallen können. Doch seine Gegenwart wurde jetzt wie Gift, die alles in der Umgebung hätte töten können. Liu wich ein paar Schritte von ihm weg, vergaß aber nicht sich vorher noch zu verneigen und eilte schnell aus dem Raum.
Liu hatte kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Sie war unruhig. Irgendetwas flößte in ihr vor Duona Angst ein. Irgendetwas Erschreckendes. Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe, weshalb sie jetzt schon eine ganze Weile im Verwaltungsquartier verharrte und darauf wartete, dass Duona Herr Furus Büro verließ, um nochmal mit ihm zu reden. Als die Bärin endlich aus dem Zimmer ging und um die nächste Biegung verschwunden war, rannte sie zur Tür, klopfte hastig an den Türrahmen und trat ohne auf eine Antwort zu warten ein.
„Was führt dich denn hierher…?“, begann Herr Furu überrascht, doch Liu ging schnurstracks auf ihn zu und sah ihn eindringlich an.
„Herr Furu, wo kommst sie her?“
„Oh, ihre Familie kommt von sehr weit her, ich glaub über die Seebrücke…“
„Das meinte ich doch nicht! Wo hat sie gearbeitet?!“
„Oh, ihr letzter Arbeitsplatz war irgendwo im Shànggào Hospital…“
Liu riss die Augen auf. „Shànggào?! Das Gefängniskrankenhaus?! Das ist nicht Ihr Ernst! Die sind skrupellos! Die kennen keine Rücksicht.“
„Und genau das ist das was – denke ich – ihm guttun wird.“
Liu war kurz davor die Beherrschung zu verlieren. So sehr sie diesen Pfau auch für seine Launen verabscheute, so war ihre Sorge jetzt nur noch größer geworden.
„Bei Xiangs Temperament befürchte ich, wird das nur in einer Katastrophe enden. Ich kenne ihn! Besser Sie beauftragen jemand anderen.“
Der Pika legte geruhsam die Handflächen aufeinander. „Mein liebes, gutes Kind, entweder so oder so. Es sei denn, du möchtest doch lieber wieder in die Wäscherei zurück.“
Liu seufzte niedergeschlagen. „Nein.“
Und damit war das Gespräch zwischen ihnen beendet.
Liu meinte Steinen im Bauch zu tragen, während sie das Abendessen auf ein Tablett zusammentrug. Nur mit dem Unterschied, dass es diesmal nicht für Xiang bestimmt war.
Sie war einer älteren Patientin zugeteilt, die mit einem Bandscheibenvorfall in die Kur kam. Vielleicht wäre sie froh über diese Arbeitserleichterung gewesen, wenn Duona nicht so einen grausigen Eindruck machen würde. Immer wieder wanderte ihr Blick zu ihr rüber und beobachtete wie sie fast schon mechanisch Teller, Tasse und Kanne aufs Tablett stampfte. Die ganze Zeit über hatte die Bärin kein einziges Wort gesprochen. Weder mit dem Koch, noch mit sich selber. Mit Herzklopften beobachtete die Pfauenhenne, wie die Bärin sich mit dem Tablett davon machte. Dann musste auch sie sich auf den Weg machen, allerdings in die entgegengesetzte Richtung.
Als Xiang seine neue Pflegekraft mit dem Abendessen hereinkommen sah, hielt er den Mund geschlossen. Er hatte zwar jetzt keine so große Klappe mehr wie vor Liu, aber auch keine Bedenken. Schlimmer als mit einer Pfauenhenne zusammen zu sein konnte er sich nicht vorstellen.
Duona stampfte einfach an sein Bett und knallte das Tablett mit Scheppern auf den Nachttisch.
Xiang betrachtete den Inhalt mit geringschätzigem Blick. Und das, was er dort sah, behagte ihn gar nicht. Als ob der Koch mit Absicht ein Unheil hervorbeschwören wollte, denn Tofu-Auflauf war nicht gerade sein Lieblingsessen. Am Tofu hatte er immer etwas auszusetzen.
„Essen“, grunzte die Bärin mit tiefer rauer Stimme, als hätte sie Rauch verschluckt und verließ den Raum.
Der Pfau äußerste keinen Kommentar. Dennoch pickte er nur das Gemüse und den Reis heraus, den Tofu ließ er stehen. Als die Riesin wieder zurückkam und den Tofu im Teller sah, deutete sie eisern darauf.
„Aufessen.“
Doch Xiang verschränkte die Arme und drehte den Kopf zur Seite.
Die Bärin grunzte erneut. „Aufessen.“
„Nein“, schmetterte der Pfau ihre Forderung ab. „Ich hasse dieses Zeug.“
„Aufessen!“
Jetzt wurde es auch dem Pfau zu viel. „Nein, nimm es wieder mit…“
Das was danach folgte, darauf war nicht mal Xiang gefasst gewesen. Vielleicht würde er es auch gar nicht glauben, wenn er sich im nächsten Moment nicht auf dem Boden statt auf dem Bett befunden hätte. Wie betäubt befühlte er sein Gesicht. Alles hatte er erwartet, selbst die frechste Antwort - aber keine harte Ohrfeige.
Zögernd wanderte sein Blick nach oben, wo Duona sich drohend vor ihm aufgebäumt hatte.
Plötzlich landete der Teller mit dem Tofu vor ihm auf den Boden.
„Aufessen!“, donnerte die Bärin schon wieder.
Xiang schluckte schwer. „Ich kann nicht…“
Der Pfau schrie auf, als eine gewaltige Pranke ihn am Hemd packte, ihn hochriss und auf die Bettmatratze drückte. Xiang zappelte wie wild. Die Bärin drückte ihm so feste auf den Brustkorb, dass er Atemnot bekam. Schlimmer war noch, dass sie ihm den Tofu jetzt in den Mund stopfte und ihn solange den Schnabel zuhielt bis er runterschluckte.
Keuchend und schwer atmend entließ sie ihn nach dieser Zwangsfütterung. Dann verließ sie schnaubend das Zimmer und ließ den hustenden Pfau einfach auf dem Bett zurück. Zitternd richtete Xiang sich auf. Rund um ihn herum lagen lauter Tofu-Reste. Angeekelt wischte er die Krümmel weg. Allmählich legte sich seine Angst und wandelte sich in schiere Wut. Für diese Untat schwor er Rache.
Liu zitterten die Hände und hätte fast den Tee verschüttet, den sie gerade in eine Tasse einschenkte.
„Ist etwas?“, erkundigte sich ihre Patientin, eine ältere Häsin, vor ihr.
„Nein, nein“, wehrte die Pfauenhenne ab. „Ich hab nur gedacht,… ach nichts.“
In der Zwischenzeit fuhr das Schiff aus Gongmen weiter die Küste entlang Richtung Norden. Die Fahrt verlief zum Glück ruhig, selbst wenn Shenmi als blinder Passagier mit dazu gestiegen war. Aus diesem Grund musste es nochmal an Land fahren, um einen Boten aufzutreiben, damit Shen eine Nachricht nach Gongmen schicken konnte. Denn die Zurückgebliebenen mussten davon unterrichtet werden, dass Shenmi mit ihnen reiste, bevor noch eine Panik ausbrach.
Den Rest des Tages verbrachte man mit Spielen, was hauptsächlich Po zuteil wurde. Dann Mittagsschlaf und am wichtigsten, zumindest für den Drachenkrieger, Abendessen.
Als dann die Abenddämmerung hereinbrach, war es für die kleine Shenmi Zeit ins Bett zu gehen. Shen brachte sie in die Kajüte, in die auch Po untergebracht war. Zumindest wurde dies vor ein paar Stunden beschlossen. Eigentlich sollte jeder sein eigenes Abteil beziehen, doch weil Shenmi so gerne bei Po war, musste der Panda wohl oder übel mit in die fein eingerichtete königliche Kajüte umziehen.
Nachdem Shen die Kleine ins Bett gebracht hatte, zog der Lord sich noch für einen Spaziergang zurück. Po war vom ganzen Spielen genauso müde wie Shenmi. Erschöpft ließ er sich in seinen Seemanns-Schlafsack fallen und begann schon nach einer Weile zu schnarchen. Aber zum Glück nicht so laut, dass das Mädchen davon wach wurde.
Die Sonne verschwand immer mehr vom Himmel, bis sie vom Sternenhimmel mit dem Mond abgelöst wurde. An Bord kehrte Ruhe ein. Der Wind strich sanft über das Meer und ließ das Schiff sanft schaukeln. Irgendwann wachte Po auf. Als sein Blick auf die Koje fiel, wo Shenmi schlief, bemerkte er sofort, dass Shen immer noch nicht schlafen gegangen war.
Er sah aus dem Kajüten-Fenster. Draußen war es schon dunkel. Der Lord hatte schon vor einiger Zeit gesagt, er wollte frische Luft schnappen. Ob er irgendwo anders eingeschlafen war?
Auf Zehenspitzen verließ der Panda die Kajüte, um Shenmi nicht aufzuwecken. Anschließend huschte er über den Korridor über die Treppe nach draußen aufs Deck.
Draußen leuchteten die Sterne am Nachthimmel. An den Seiten leuchteten die Schiffslampen.
Suchend sah der Panda sich um.
Schließlich fand er den Pfau. Shen stand vorne am Bug und schien in die weite Ferne des Ozeans zu starren.
Zögernd ging Po zu ihm hin.
„Hi“, begann er. „Noch so spät wach? Hast du Probleme beim Schlafen?“
Shen antwortete nicht, sondern blickte nur weiter geradeaus, was Po gar nicht behagte.
„Hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte er kleinlaut. „Denkst du an Yin-Yu?“
Wieder erhielt er keine Antwort.
„Vielleicht machen wir uns doch unnötig Sorgen“, versuchte Po es erneut. „Oder ist es wegen Shenmi?“
Die Kammfedern des Pfaus spannten sich etwas an, was Po in Verlegenheit brachte.
„Ich weiß ja, dass es dir nicht gefällt, dass sie mitkommt“, fuhr Po fort. „Aber was hätten wir denn machen sollen? Okay, tut mir leid, dass ich nicht vorher meinen Rucksack kontrolliert habe. Aber woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie da drinnen war? Na gut, vielleicht hätte ich vorher schon etwas essen sollen, obwohl ich anfangs ja nicht immer Hunger habe. Mein Appetit stellt sich meistens etwas später ein. Wenn man auf hoher See ist, dann regt die Luft die Magensäfte erst relativ spät an…“
Po hielt inne. Shen hatte den rechten Flügel gehoben und der Panda verstummte.
Wollte der Pfau etwas sagen?
Mit Spannung wartete der Panda. Eine Weile passierte gar nichts und Po war nahe daran wieder den Mund aufzumachen, als Shen ihn aus heiterem Himmel zuvorkam.
„Panda, wie lange beherrscht du schon das Kung Fu?“
„Äh, wie lange schon? Also, ich…“
Nachdenklich kratzte sich der Panda am Kopf. „Uh, dass muss erst vor ein paar Jahren gewesen sein, wo ich zum Drachenkrieger ernannt wurde. Na ja, davor hab ich auch schon ein kleinwenig was gekonnt. Wenigstens ein bisschen Kung Fu… also, zumindest solange man das als Kung Fu bezeichnen konnte…“
„Wie hat dein Vater darauf reagiert?“, fragte Shen weiter, immer noch den Rücken ihm zugewandt, sodass der Panda sein Gesicht nicht sehen konnte.
„Mm, also, anfangs war er nicht allzu sehr davon begeistert gewesen, aber dann war er ganz fasziniert davon und hat sogar das Restaurant umbenannt ‚Zum Drachen…‘“
„Es wundert mich, dass du die Jahre überlebt hast“, unterbrach Shen seinen Redefluss. „Jetzt ist sie schon 4 Jahre alt und kann noch nicht mal den einfachsten Griff.“
Po fühlte sich ein wenig überrumpelt und benötigte ein paar Sekunden, bis er begriff, was Shen eigentlich wollte.
„Du meinst Shenmi? Aber Shen. Nur weil sie jetzt noch kein Kung Fu kann, heißt das doch noch lange nicht, dass sie es nie schaffen würde. Ich hab doch gesagt, ich hab es auch erst spät erlernt, und siehe da… Jetzt bin ich der Drachenkrieger.“
„Sie muss es jetzt lernen“, schmetterte Shen Pos Jubel ab.
Ernüchtert faltete Po die Hände zusammen und schabte mit dem Fuß über den Boden. „Vielleicht braucht sie einfach mehr Zeit. Warte mal ab, wenn sie in die Pubertät kommt, dann kann sich sehr viel ändern. Ich meine, sieh mich an. Vor meiner Pubertät hab ich nie Tofu gemocht und heute… meine Güte. Heute würde ich dafür sterben.“
„Sie darf nicht warten. Sie muss es jetzt können.“
Po zog die Augenbrauen zusammen. „Warum willst du sie dazu drängen Kung Fu zu lernen? Vielleicht hat sie nun mal andere Fähigkeiten. Vielleicht liegen ihre Stärken irgendwo anders…“
Plötzlich drehte Shen sich zu ihm um. Sein Gesicht zeugte von wilder Entschlossenheit. „Sie muss es lernen!“
„Wieso?!“
„Damit ihr niemand etwas antun kann, wenn sich jemand an mir rächen will!“
Stille trat ein. Po sah den Pfau erschrocken an. Shen atmete heftig. Seine Augen besaßen zwar ein düsteres Antlitz, welches durch das Licht der Lampen verstärkt wurde. Dennoch war es keine Böswilligkeit, die der Panda da sah, sondern eher Verzweiflung.
Traurig sah Po ihn an. „Beschäftigt dich das immer noch?“
Doch Shen wandte sich einfach von ihm ab. „Sie muss das Kämpfen lernen“, murmelte er verbittert. „Sie muss es lernen. Und bis dahin, muss ich für sie da sein.“
Po tippte nervös die Fingerspitzen aneinander. „Na gut, aber du kannst auch nicht ewig um sie herum sei. Ich meine, mein Vater musste sich nicht nur um mich kümmern, sondern auch um das Restaurant. Ganz alleine. Und mir geht es dennoch gut.“
„Hatte er auch so viele Todfeinde um sich gehabt und musste er ständig nach Bluträchern Ausschau halten?“, knurrte der weiße Pfau.
Po senkte den Blick. „Nein.“
„Dann erkläre ich das Gespräch für beendet.“
Po wollte gerade wieder den Mund aufmachen, hielt es aber dann für das Beste Shen nicht unnötig zu reizen. Mit gesenkten Schultern machte er kehrt, doch dann holte er nochmal tief Luft. „Ich will zwar nicht behaupten, dass ich mir vorstellen kann, dass es jemanden gäbe der Kung Fu oder sonst eine Kampfsportart nicht so gerne mag, aber du kannst es niemanden aufzwingen. Selbst ich kann es niemanden aufzwingen. Jeder hat seinen Platz in der Welt, und jeder hat seine eigenen Interessen und Fähigkeiten. Denk mal darüber nach.“
Damit entfernte sich der Panda und ließ den Pfau allein.
Po lag wach, als er Shen in die Kajüte kommen hörte. Der Panda tat so als würde er schlafen. Er lauschte. Shens Schritte waren langsam und leise. Schweigend beobachtete der Drachenkrieger wie der weiße Herrscher ans Bett trat, wo seine Tochter schlief. Sachte schob er die Decke beiseite und nahm das kleine schlafende Mädchen behutsam in die Arme.
„Dir wird nie was passieren“, hörte der Panda ihn leise reden.
Po spürte wie sich sein Hals zusammenzog. Wenn er daran dachte, wie sie sich vor Jahren noch feindselig gegenübergestanden hatte. Shens vor Kampfwahnsinn überströmendes Gesicht hatte ihm damals richtige Angst eingejagt. Jetzt war nichts mehr davon zu sehen. Nur einen Vater, der nicht mehr wusste, wie er seine Familie von seinen Taten von damals schützen könnte.
Po stiegen vor Rührung die Tränen in die Augen. Er wünschte er könnte etwas tun, doch er wusste einfach nicht was.
Normalerweise pflegte man zu sagen: ein neuer Tag ein neues Glück. Doch für Liu blieb dieser Spruch nur eine Anreihung von Worten ohne Bedeutung.
Mit besorgtem Blick ging sie an diesem Morgen durch die Gänge der Kurresidenz. Seit dem Wechsel hatte sie Xiang nicht mehr zu Gesicht bekommen und von Duona konnte sie keine Auskunft erwarten. Die Pfauenhenne rieb sich nervös die Hände. Ständig fragte sie sich, ob mit ihm alles in Ordnung war. Doch das war nicht das Einzige was ihr Sorge bereitete. Viel mehr beschäftigte sie eine Tatsche: Heute war Xiang an der Reihe gebadet zu werden.
Xiang hatte immer noch keine Idee wie er sich an der unverschämten Person rächen könnte. Stattdessen behielt er jeden Kommentar vorerst für sich und aß sogar sein Frühstück auf. Kaum war die Bärin dann mit dem Tablett aus dem Zimmer verschwunden, grübelte der Pfau weiter nach. Solange bis Duona wieder hereinkam.
„Baden“, grunzte sie.
Doch diesmal war Xiang nicht zu einem Kompromiss bereit. Stattdessen verschränkte er die Arme und drehte den Kopf zur Seite.
„Mir ist heute nicht nach baden. Ich lass es ausfallen.“
Er zuckte zusammen, als die breitgebaute Pflegerin ein lautes Schnauben ausstieß. Xiang verkrampfte sich, doch er wollte nicht nachgeben.
„Baden!“, knurrte die Bärin, diesmal in einem bedrohlicheren Ton.
Xiang hob den Kopf höher. „Ich sagte doch, dass mir heute nicht danach ist… HEY!“
Die Bärin packte den Pfau am Hals, riss ihn aus dem Bett und schleppte ihn aus dem Zimmer. Wütend zappelte der Pfau in ihrem Griff. Doch die Bärin stieß einfach die Tür vom Badezimmer auf und setzte den Pfau so brutal auf den Hocker, dass ihm sein Gesäß schmerzte.
„Erwarte nur nicht von mir, dass ich mich ausziehe!“, protestierte Xiang.
Bei Liu hatte er nie Hemmungen gehabt. Doch jetzt war es ihm irgendwie peinlich sich vor einer wildfremden Person zu entledigen, auch wenn seine Federn seinen Körper verdeckten.
Die Bärin stampfte auf ihn zu. Xiang wich zurück.
„Hau ab! Verschwinde… LASS MICH LOS!“
Doch die Bärin packte den Pfau erneut am Hals, riss ihm das Hemd vom Leib und steckte ihn in die Wanne wie einen billigen, dreckigen Hund am Waschtag.
Prustend kam Xiang wieder an die Oberfläche.
„HEY! Willst du mich ertränken oder wa…?!“
Xiang kam nicht mehr dazu um Hilfe zu schreien. Im nächsten Moment packte die Bärin zu und drückte seinen Kopf unter Wasser.
Der Pfau trat und schlug wie wild um sich, dass das Wasser nur so nach allen Seiten spritzte. Schließlich lockerte Duona etwas den Griff, sodass Xiang Möglichkeit hatte wieder nach Luft zu schnappen. Doch dies hielt nur für knappe zwei Sekunden, dann tauchte sie ihn wieder in die Wanne.
Xiang geriet immer mehr in Panik und meinte jeden Moment ersticken zu müssen. In der Zwischenzeit schrubbte ihm jemand brutal den Rücken ab. Endlich schaffte er es wieder den Kopf aus dem Wasser zu heben, wobei er furchtbar hustete. Seine Lunge tat ihm weh und er merkte, dass er nicht nur Badewasser in den Augen hatte. Er war kurz davor laut zu Weinen. Rund ihm ihn herum schwammen Federn, die vom ganzen Schrubben herausgerissen worden waren.
Plötzlich zerrte Duona ihn aus dem Wasser und warf ihn, klatschnass wie er war, einfach auf den Boden. Das Tuch flog gleich hinterher. Xiang hatte wegen dem glitschigen Wasser keinen Halt. Er schlitterte über den Boden und knallte gegen einen Schrank, wobei ein Korb mit lauter Haarpflegeutensilien herausfielen.
Stöhnend richtete Xiang sich wieder auf. Fröstelnd lag er in einer Wasserlache. Erst jetzt bemerkte er wie ihm sein linkes Bein wehtat. Prüfend schaute er auf sein Knie, dass er sich beim Sturz etwas aufgeschlagen hatte.
Xiang drehte den Kopf weg. Beim Blutsehen wurde ihm zwar nicht schlecht, doch das war einfach zu viel. Keuchend stützte er sich auf den Armen ab. Er starrte auf den Boden und auf die zerstreuten Haarmaterialien, die hauptsächlich aus Kämmen bestand und… eine Schere.
Schnell warf Xiang seinen langen nassen Pfauenschwanz darüber, der die Schere bedeckte. Dann rutschte er rückwärts über den Boden. Kaum spürte er die Schere in seinem Flügel griff er danach. Doch noch ehe er sie benutzen konnte war die Bärin auch schon bei ihm, packte den halbnassen Pfau am Rücken und schleifte ihn über den Boden.
„HEY, ich bin doch noch gar nicht trocken!“, schrie Xiang sie an.
Kurz darauf wurde er wieder auf den Boden geschmissen. Anschließend wurde das Abtrocknerhandtuch um ihn wie einen Sack übergestülpt. Dann wurde er wieder hochgehoben und aus dem Raum getragen. Der Pfau gab sich Mühe nicht laut herumzuschreien, aus Angst sie würde ihm noch das Genick brechen.
Am Ende der Reise wurde er aufs Bett geworfen. Hektisch wuselte er sich aus dem Handtuch raus. Doch Duona schenkte ihm keine weitere Beachtung. Sie warf das neue Hemd einfach neben ihn hin und verließ den Raum.
Xiang schlug das Herz bis zum Hals und drückte sich im Bett gegen die Wand.
„Die wollte mich umbringen“, schoss es ihm durch den Kopf. „Das war eindeutig ein Mordversuch gewesen!“
Auf einmal spürte er wieder die Schere im Flügel. Zitternd presste er sie an sich.
Dann fiel sein Blick wieder auf sein blutendes Knie. Ausgerechnet auf seinem gesunden Bein musste er landen. Auf dem rechten hätte er gar nichts gespürt.
Langsam strich er mit der Scherenklinge über das Blut. Eine Weile betrachtete er das rote Geschmiere auf dem Metall. Vor Wut verkleinerten seine Pupillen.
Dafür wirst du bezahlen!
Es war nicht mehr lange bis zum Mittagessen. Xiang saß kerzengerade in seinem Bett und starrte zur Tür. Er wartete nur darauf, dass sie reinkam. Die Schere hatte er in der Zwischenzeit in zwei Hälften geteilt. Jetzt waren sie genauso gefährlich wie zwei Messer.
In Xiang baute sich die Spannung mit jeder Minute immer weiter auf. Er kontrollierte nochmal, dass die beiden getrennten Scherenhälften unter der Decke nicht zu sehen waren.
Es war ein Risiko mit dem was er vor hatte. Nach dieser Tat konnte er nicht von hier fliehen. Aber das war ihm im Moment völlig egal. Selbst wenn er dafür die Hinrichtung erhielt, aber diese Demütigungen, die er hier erhalten hatte, wollte er nicht auf sich sitzen lassen.
Sein Federnkamm stellte sich auf. Schwere Schritte nährten sich seinem Zimmer.
Xiang ließ sich nichts anmerken, als die Bärin mit dem übelgelaunten Gesicht mit einem Tablett das Zimmer betrat und es ihm wie immer auf den Nachttisch knallte. Kaum hatte sie ihm den Rücken zum Gehen gewandt, tastete der Pfau nach der ersten Scherenhälfte und schleuderte es auf sie. Das scharfe Metall sauste durch die Luft, doch noch ehe es das Fell des Opfers berühren konnte, drehte Duona sich blitzschnell um und fing das Geschoss im Flug auf.
Xiang riss geschockt die Augen auf. Doch er griff sofort nach der zweiten Scherenhälfte. Doch auch diese wurde von der Bärin eingefangen, wie die Fliege vom Frosch.
Jetzt saß der Pfau völlig waffenlos im Bett. Damit hatte er jetzt gar nicht gerechnet. Und noch weniger mit einer vor Wut rasenden Gigantin.
Schnaubend hob die Bärin die beiden Scherenhälften in jeweils einer Hand und verbog sich mit dem Daumen. Mit einem armseligen Klirren fielen die ramponierten Metallhälften zu Boden. Zu Xiangs Entsetzen presste die Bärin jetzt beide Hände aufeinander und knackte bedrohlich mit den Fingern.
Der Pfau sprang im Bett auf und drückte sich vor Angst gegen die Wand.
Wie angewurzelt blieb Liu stehen. Sie war gerade dabei gewesen den Korridor zum Yoga-Raum hinunterzugehen, als sie meinte einen dumpfen Schrei gehört zu haben. Als aber nach mehreren Sekunden angestrengten Lauschens sich nichts mehr tat, setzte sie ihren Weg fort. Allerdings mit einem unguten Gefühl im Magen.
Als die Pfauenhenne später wieder durch die Gänge ging, war sie sehr überrascht als Duona ihr im Flur entgegenkam.
„Hallo!“, grüßte Liu. „Wie geht es denn…?“
Die Pfauenhenne erschrak, als die Pflegerin sie so grob zur Seite stieß. Die Bärin hatte einen fiesen, wütenden Gesichtsausdruck. Ohne ein Wort ging sie einfach weiter.
„Hey, was sollte das denn?“, murmelte Liu erbost und sah ihr hinterher. Die Bärin war noch übler gelaunt als sonst. Hatte Xiang sie geärgert?
Liu durchfuhr ein schrecklicher Gedanke. Eilig rannte sie zu Xiangs Zimmer. Mit Herzklopfen hielt sie vor der Tür an. Sie lauschte kurz, konnte aber nichts hören. Alles schien so wie immer zu sein. Zögernd öffnete sie die Zimmertür. Sie hatte kaum einen Schritt nach vorne getan, blieb sie geschockt im Türrahmen stehen. Sie hielt sich die Flügel vor dem Mund, um nicht zu schreien.
Xiang lag auf dem Boden an der Wand. Die Bettdecke war in Streifen gerissen worden und um ihn herumgewickelt, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Weder Flügel noch Beine. Er war zusammengeschnürt wie ein Bündel Holz.
Doch das alleine erschreckte sie nicht. Auf dem Holzboden waren ein paar verschmierte Blutflecken zu erkennen. Daneben lagen zwei verbogene Metallteile. Zudem lagen ein paar Federn verstreut auf dem Boden.
Der Pfau regte sich nur sehr leicht. Liu hörte ein stumpfes Keuchen. Endlich kam wieder Leben in sie. Schnell rannte sie auf ihn zu und beugte sich über ihn. Als ihr Blick auf seinen Kopf fiel, bemerkte sie erst jetzt, dass man ihm noch ein Tuch in den Mund gestopft und mit einem zerrissenen Tuch zusätzlich verschlossen hatte.
Der Pfau hatte die Augen geschlossen und wirkte ziemlich erschöpft. Lius Augen weiteren sich. Unter den Federn war ihr das nicht sofort aufgefallen, doch anhand von dem blauen Auge erkannte sie, dass der Pfau geschlagen worden war. Wo genau konnte sie nicht sagen, doch es musste mehr als nur das Gesicht gewesen sein.
Ihr Blick fiel wieder auf die verbogenen Metallteile auf dem Boden. Zögernd hob sie eines davon auf und betrachtete die scharfe Klinge. Als sie den Ring am Ende sah, wusste sie, dass es ein Teil einer Schere war. Suchend besah sie sich den Körper des Pfaus. Wo hatte er sich das Blut hergeholt?
Die Antwort erhielt sie an den Schnitten an den Beinen. Die Wunden waren zwar nicht tief, aber Liu konnte es nicht fassen, dass man sowas tun konnte.
Sachte berührte sie Xiangs Rücken. Der Pfau zuckte zusammen und stieß ein gequältes Stöhnen aus. Die Pfauenhenne streichelte ihn behutsam. Diese ungewohnten Berührungen auf seinem Körper veranlassten ihn die Augen zu öffnen.
Als sich ihre Blicke trafen, schüttelte Liu ungläubig den Kopf. „Was hat sie mit dir gemacht?“
Xiang kniff die Augen zusammen und wich ihrem Blick aus.
Liu seufzte schwer. Dann setzte sie das verbogene Metall an die Stoffstreifen, die als Fesseln benutzt wurden waren und begann sie zu zerschneiden. Kaum spürte der Pfau die sägenden Bewegungen schrie er auf. Liu wich erschrocken zurück.
Wenigstens hatte sie den Stoffstreifen durch, sodass der Pfau sich trotz seiner Verletzungen selber daraus befreien konnte. Er schaffte es sogar sich den Knebel herauszureißen.
Besorgt beugte sich Liu zu ihm vor.
„Ist alles…?“
Als Xiangs Augen wieder auf sie trafen, wich er panisch von ihr weg. Er war so hysterisch, dass er sich in die Ecke zwängte und sie mit weitaufgerissenen Augen anstarrte.
Liu versuchte ihn zu beruhigen. „Ist gut, ist gut, es… ich tu doch gar nichts.“
„HAU AB!“, brüllte der Pfau. „Nein! Leg es weg! Leg es weg!“
Verwundert hielt Liu inne. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die verbogene Scherenhälfte immer noch im Flügel hielt. Mit Horror starrte der blaue Pfau darauf, als wäre es ein Fleischerbeil.
„Ist ja okay, ist ja okay“, sagte sie ruhig und warf die Schere schnell weg.
Doch das konnte den Pfau nicht mehr beruhigen. Auch als sie auf ihn zukam, drückte er sich nur noch tiefer in die Zimmerecke.
„LASS MICH IN RUHE!“, schrie er weiter.
Liu wusste nicht mehr was sie noch machen sollte und versuchte beruhigend auf ihn einzureden. „Es ist okay, niemand tut Ihnen was. Kann ich irgendetwas tun…?“
„VERSCHWINDE!“
Liu erschrak. Er hatte Tränen in den Augen. Solche verweinten Augen hatte sie nicht mehr bei ihm gesehen seit er…
„VERSCHWINDE! HAU AB! VERSCHWINDE! VERSCHWINDE!“
Panisch flüchtete Liu aus dem Zimmer und rannte den Flur hinunter.
„Herr Furu, Sie müssen Xiang unbedingt eine neue Pflegekraft zuteilen!“
Der alte Pika machte gerade ein paar Entspannungsübungen in seinem Büro. Als Liu allerdings mit diesem Anliegen auf ihn einstürmte, spitzte er überrascht die Ohren.
„Erst beschwerst du dich, dass er dir auf der Nase herumtanzt und jetzt verlangst du, dass man ihn mit Samthandschuhen anfassen soll?“
Liu stieß einen verzweifelten Seufzer aus. „Natürlich nicht. Aber doch nicht so, dass sie ihn fast umbringt! Als ich ihn vorhin vorgefunden habe, war er total verstört gewesen.“
Der Pika rümpfte die Nase und machte mit seinen langsamen Bewegungen einfach weiter. „Dann muss er sich eben fügen. Entweder er tut das, was man von ihm verlangt, oder er kann auch gleich in ein Hochsicherheitsgefängnis wandern. So hatten wir es mit dem König vereinbart. Er wäre kein einfacher Gast, und wenn er sich weiter aufmüpfig verhält, dann muss er eben die Konsequenzen dafür tragen. Duona hat mir schon berichtet, dass er sie erstechen wollte. Wäre sie nicht so darin geübt gewesen im Umgang mit gefährlichen Kriminellen, hätte ich ihn jetzt von dieser Residenz verwiesen.“
„Aber das muss doch auch gehen, ohne dass man ihm dafür weh tun muss! Am Ende bricht sie ihm noch was!“
Allmählich wurde dem Pika die Unterhaltung zu lästig.
„Möchtest du denn wieder in die Wäscherei zurück?“
Liu rollte die Augen, doch sie fügte sich, indem sie den Kopf schüttelte.
„Nein.“
„Dann kümmere dich nicht weiter darum und geh wieder an deine Arbeit. Er ist nicht mehr dein Patient.“
Es war schon nach Mittag. Po hatte sich zu einem Mittagsschläfen zwischen ein paar Kisten zurückgezogen und ließ den Tag nur so an sich vorbeiziehen.
Shen hatte sich wieder an den vordersten Teil des Schiffes aufgestellt und beobachtete die Umgebung. Nur ab und zu warf er einen Blick nach hinten. Es wunderte ihn, dass der Panda so gut schlafen konnte. Er selber war es gewohnt ständig auf der Hut zu sein. Besonders auf Shenmi hatte er immer ein wachsames Auge, die, wie so oft, damit beschäftigt war Figuren aus Papier zu falten.
Gerade als sie mit einer Papierfigur fertig war, stand sie auf und rannte auf den schlafenden Panda zu. Po murmelte etwas im Schlaf, als das weiße kleine Pfauenmädchen ihn am Fuß antippte. Als das Mädchen ihn anfing zu kitzeln, prustete Po vor Lachen.
„Haha, nicht, aufhören! Das kitzelt!“
Überrascht sah er Shenmi an.
„Guck mal, das hab ich für dich gemacht.“ Mit einem Lächeln hielt sie ihm eine Papierfigur hin.
Amüsiert betrachtete Po das gefaltete Papier, die aussah wie ein dicker Bär.
„Wow, was ist das?“, fragte er.
„Das bist du.“
Mit großen Augen kam Po mit seinem Gesicht näher. „Wow, das ist richtig gut. Du bist wirklich…“ Er hielt inne und sah sich verwundert um. „Huch, wir sind ja gar nicht mehr auf dem Meer.“
„Ist dir das auch endlich mal aufgefallen, Panda?“, tadelte ihn Shen und kam mit langsamen Schritten auf ihn zu. „Wir haben schon vor einer Stunde die Flussmündung passiert.“
„Wirklich? Oh, das muss ich verschlafen haben.“
Shen rümpfte die Nase. „Sehr nachlässig von einem sogenannten Krieger wie dich…“
„Wow!“ Po sprang auf und rannte an die Reling. „Nicht zu fassen! Das letzte Mal waren wir vor über 5 Jahren auf diesem Fluss gewesen. Wahnsinn wie schnell die Zeit vergeht. Mir kommt es vor als wäre es erst gestern gewesen.“
Shen rollte die Augen.
„Was denn?“, fragte Po irritiert. „Ist doch so? Hältst wohl nicht viel von Nostalgie, oder?“
„Nostalgie versperrt den Blick auf die Zukunft“, meinte Shen in einem arroganten Ton.
Po seufzte genervt. „Schon wieder dein Zukunftskoller? Den kriegst du wohl nie weg, oder?“
Der Panda kicherte.
„Guck mal, Papi, was ich gemacht hab.“
Stolz hielt Shenmi ihrem Vater die kleine Panda-Papierfigur hin.
Mit einem Lächeln kniete Shen sich zu ihr hinab. „Das ist sehr nett, mein Kind. Aber vielleicht solltest du deine Zeit nicht mit…“
„Sollten wir sie nicht noch anmalen?“, fragte Po schnell und erntete dabei einen vernichteten Blick vom Pfau.
Verlegen legte der Panda die Fingerspitzen aneinander. „Ich mein ja nur.“ Er lächelte breit.
Shen hätte ihn vielleicht in einem Privatgespräch zur Rechenschaft gezogen, wenn Shenmi nicht zum Spielen aufgelegt wäre.
„Spielst du mit mir?“, fragte Shenmi den Panda.
„Spielen?“ Po spürte immer noch den Muskelkater vom Wasserrutschenspiel. „Was denn für ein Spiel?“
Doch die kleine Shenmi ergriff den Panda am Finger und zog ihn mit sich mit. In einer Ecke hatte sie noch mehr Tierpapierfiguren gebastelt, die aufgereiht nebeneinanderstanden.
Po blieb der Mund offen. „Das hast du alles selber gefaltet?“
Shenmi lächelte schüchtern. „Mmhhm.“
„Wow, du bist ja wirklich talentiert. Stimmt’s Shen?“
Er warf dem Pfau einen bittenden Blick zu, dass er dasselbe sagen sollte. Der Pfau seufzte tief, als er das Gesicht seiner Tochter sah, die sich unbedingt etwas Lob von ihrem Vater erhoffte.
„Ja, das hast du“, sagte er schließlich und entfernte sich wieder von den beiden.
„Also, was genau willst du spielen?“, fragte Po das Mädchen und setzte sich auf den Boden.
Shen verzog die Mundwinkel. Dieser Panda war immer noch so kindisch wie früher. Er gehörte wohl zu der Sorte, die nie erwachsen wurde. Im Gegensatz zu ihm, er wollte als Kind immer sofort an die Spitze der Erwachsenenwelt gelangen. Und das so schnell wie möglich.
Schweigend begab er sich wieder auf seinen Beobachtungsposten und ließ seinen Blick schweifen.
Das Schiff fuhr immer weiter flussaufwärts und es wurde schon ein bisschen dämmrig. Der Himmel war teilweise mit Schleierwolken verhangen und minderte etwas die Abendsonnenstrahlen.
Po hatte es sich inzwischen wieder in seiner Schlafecke gemütlich gemacht und schnarchte.
Shenmi lag neben ihm im Arm und schlief ebenfalls.
Das Schiff fuhr an ein paar Städten vorbei, später an nur vereinzelten Dörfern vorbei, bis sich alles in einer einsamen Landschaft verwandelte.
Shen fühlte sich zwar wieder etwas müde, wollte aber kein Nickerchen machen. Dieser Fluss barg keine guten Erinnerungen, was sich tief in seinem Verteidigungsinstinkt eingebrannt hatte.
Auf einmal stellte der Pfau seinen Kamm auf. Irgendetwas stimmte nicht. Zwar sah er niemanden, aber er spürte, dass sich in seiner Umgebung etwas verändert hatte.
Da Pfaue ein extrem gutes Gehör besaßen, ließ ihn ein Knarren an der Seite des Schiffes aufhorchen. Sofort rannte er auf die Schiffsseite, wagte sich aber nicht sofort an die Reling. Stattdessen schlich er erst in geduckter Haltung, dann hob er den Kopf und lugte ganz, ganz vorsichtig über den Rand des Schiffes.
Plötzlich schnellte etwas nach oben, als würde ein großer Fisch aus dem Fluss springen.
Das große Etwas wirbelte durch die Luft und landete mit lautem Krachen auf den Holzplanken des Schiffes.
„Ist heute doch unser Glückstag!“, rief das gelandete Krokodil triumphierend.
Shen hatte sich sofort wieder von dem Schrecken erholt und bäumte sich zornig vor dem Reptil auf. „Wie kannst du es wagen mein Schiff zu betreten?!“
Po war durch den Aufprall des blinden Passagiers wach geworden und sah sich noch ganz verschlafen um. „Wer, wo, was…? Sind wir schon da…?“
Das Krokodil grinste breit. „Ja, beim Zollbezahlen.“
Im nächsten Moment sprang ein weiterer Schatten an Bord, der sich als ein Waran entpuppte.
Po hob ruckartig den Kopf. „Hey, Moment mal. Dich kenn ich doch.“
Der Waran zischelte amüsiert. „Na sieh mal einer an. Wenn das nicht der Schwabbel von vor ein paar Jahren ist.“
Po verzog den Mund.
„Ach, und hast du eine Falte mehr im Gesicht gekriegt oder irre ich mich?“
Die beiden Reptilien fauchten böse.
„Schluss jetzt!“, kommandierte der Waran. „Das Schiff gehört jetzt uns.“
Shen hatte sich in der Zwischenzeit Shenmi geschnappt und sie auf dem hintersten Teil des Schiffes hinter einer Kiste versteckt. Dann sprang er nach vorne und holte sein Schwert hervor.
„Ihr verschwindet jetzt sofort!“, drohte er eisern.
Der Waran zischte. „Ach, will das Vögelchen wieder spielen?“
Po räusperte sich. „Ich würde an deiner Stelle besser tun was er sagt. Immerhin sind wir stärker als ihr und ihr seid nur zu zweit.“
Der Waran kicherte amüsiert. „Wer sagt denn, dass wir nur zu zweit sind?“
Im nächsten Moment begann das Wasser um das Schiff herum zu brodeln. Dann krochen nach und nach viele Warane und Krokodile die Schiffswand hoch.
Dieser Machtwechsel ernüchterte den Panda erst einmal. „Oh, diesmal hat er eine ganze Armee.“
Shen sah sich angespannt um. Seine Flügel klammerten sich enger um sein in Stellung bereites Schwert.
Plötzlich ließ ihn ein Kinderschrei zusammenfahren. Einer der Krokodile war gerade über die Reling am Ende des Schiffes hochgeklettert und hielt ein Federknäul in den Krallen.
„Seht mal was ich gefunden habe“, lachte das Reptil. „Sieht nach einer kleinen Zwischenmahlzeit aus.“
Shens Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen.
„LASS SIE LOS!“
Sofort stürmte er nach vorne. Für Po war dies ein Zeichen sich ebenfalls ins Gefecht zu stürzen. Wobei er hauptsächlich auf sich allein gestellt war, denn die wenigen Antilopen an Bord waren keine gut ausgebildeten Kämpfer.
Shen boxte sich durch die ganzen auf ihn zuspringenden Reptilien, wich ihnen mehrere Male aus und versetzte hier und da einen Hieb mit seiner Lanze. Als er nicht mehr weit von Shenmi und dem Krokodil entfernt war, warf er die Messer auf das Reptil. Doch seine Messer verursachten auf der dicken gepanzerten Reptilienhaut lediglich nur ein paar kaum ernstzunehmende Kratzer.
Das Krokodil kicherte. „Du willst spielen? Bitte sehr.“
Er holte mit der besetzten Hand aus. Shens Augen weiteren sich entsetzt.
„SHENMI!“
Shenmi wurde durch die Luft geschleudert und vom nächsten Waran aufgefangen.
Shen sprang sofort hinterher, doch im Flug verschwamm vor seinen Augen plötzlich die Sicht. Shen blinzelte kräftig. Doch den plötzlichen Schwindelanfall konnte er nicht vertreiben.
Im nächsten Moment traf ihn eine riesige Faust, die ihn über die ganze Schiffsfläche schleuderte.
„Hey!“ Empört packte Po das Krokodil am Kragen. „Niemand schlägt meine Freunde!“
Er versetzte dem Reptil einen harten Kick in den Bauch. Das Krokodil sackte stöhnend zusammen, doch im nächsten Moment tauchten fünf weitere große Reptilien auf und packten den Panda an Ohren, Armen und Beinen.
„HEY! Unseren Kumpel schlägt man auch nicht!“
„AAHHH!“ Diesmal war es Po der durch die Luft segelte und fiel durch die Ladeluke in den Schiffsbauch, wo ihn mehrere harte Holzkisten auffingen.
„Autsch! Oh, mein Kopf, mein Rücken… autsch, mein armer Hintern.“ Prüfend befühlte er eine der Kisten, die durch seinen Sturz aufgeplatzt war.
„Huch, was ist das denn?“
Er griff nach dem heraushängenden Gegenstand.
Es war ein Feuerwerkskörper.
Po legte die Stirn in Falten, dann hellte sich ein Gesicht auf.
Nachdem Po alles für seinen Plan bereitgemacht hatte, kletterte er an den Kisten hoch und lugte über den Rand der Luke. Ihm blieb der Mund offen.
Mehrere Echsen hatten sich auf Shen gestürzt. Shenmi zappelte in einem der Griffe von einem Krokodil und musste hilflos zusehen wie die Reptilien ihren wehrlosen Vater am Boden festhielten.
„Wir haben eine Regel, Kumpel“, knurrte der Waran. „Meuterei wird bei uns nicht geduldet.“
Er holte sein breites, großes Schwert hervor und strich über die messerscharfe Klinge.
„Sieht so aus als gäbe es heute noch einen Vogelbraten.“
„Tut Papa nicht weh!“, rief Shenmi verzweifelt.
Shen schaffte es sein Kopf in ihre Richtung zu drehen und lächelte ihr zu. „Hab keine Angst. Mir passiert schon nichts.“
„Ach ja?!“ Brutal drückte der Waran mit seiner Pranke auf den Hals des Pfaus. „Wer soll uns denn davon abhalten, hä?“
„Hey, Leute!“ Alle Augen wanderten zur Schiffsluke auf dem der Panda stand. „Ihr wollt unsere Schiffsladung? Bitte das könnt ihr haben!“
Damit holte er mehrere Feuerwerkskörper hervor und richtete sie auf die Echsen.
„Grüße aus Gongmen!“
Er zündete ein Streichholz an und die ersten Raketen rasten los. Die Echsen wichen aus. Die erste krachte gegen die Reling. Doch Po feuerte immer mehr Raketen ab, dass sich die Reptilien kaum noch davor retten konnten. Einer ließ vor Schreck Shenmi fallen.
Shen riss sich von den Griffen los und fing das Mädchen auf.
Schließlich sprangen die Echsen vom Schiff in den Fluss und schwammen davon.
Po jagte ihnen bis an den Schiffsrand hinterher. „Und wenn das nicht reicht, haben wir noch mehr auf Lager!“
Triumphierend hob er die Brust. „Und wieder einmal hat der große Drachenkrieger den Tag gerettet! Hey, Leute, gebt mir…“
Ernüchtert ließ Po die Arme sinken, als ihm wieder bewusstwurde, dass seine Freunde nicht da waren, um den Sieg mit einem Handschlag zu bejubeln.
„Na ja, auch egal.“
Seine Aufmerksamkeit wurde von Shens leisem Stöhnen abgelenkt. Der Pfau stand an der Reling gelehnt und rieb sich heftig über die Augen. Shenmi stand neben ihm und zog ihrem Vater an der Robe. „Papa, geht es dir gut?“
„Shen? Alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte sich jetzt auch der Panda besorgt.
„Es geht schon wieder…“, wehrte Shen ab.
Po rannte auf ihn zu und richtete Shens Oberkörper auf. „Ist wirklich alles okay? Kann ich irgendetwas für dich…“
„Mit geht es gut!“, schrie der Pfau und stieß den Panda von sich.
„Sah aber vorhin nicht so aus“, bemerkte Po trocken.
Doch dann wanderte sein Blick auf die vom Feuerwerk und Reptilien zerschmetterte Reling.
„Oh weh, die Außenseite ist etwas beschädigt. Wir sollten sie besser reparieren lassen, bevor wir noch auf Grund laufen.“
Sie besprachen die Sache mit dem Antilopen-Kapitän. Der wiederum zeigte sich einverstanden. „Nicht weit von hier liegt ein Dorf. Wir könnten dort anlegen…“
„Ein Dorf?“ Po war sofort hellhörig. „Was für ein Dorf?“
„Soweit mir bekannt ist leben dort Bergschafe…“
„Bergschafe?! Wow, könnte das etwa das Dorf von damals sein? Wow, heute haben wir echt einen Nostalgietag, was?“
„Ganz toll“, bemerkte Shen trocken.
Zum Glück war es bis zum Dorf der Bergschafe nicht mehr weit. Sie legten am Ufer an, und es dauerte auch nicht lange, als sie nach einigem Suchen ein paar Bergschafe fanden, die ihnen bei der Reparatur behilflich sein konnten. Da es auch langsam Nacht wurde, beschloss die Besatzung die Fahrt erst am nächsten Tag vorzusetzen. Und auch die Bergschafe bestanden darauf, dass die Passagiere sich in ihrem Dorf auszuruhen. Es war für sie kein Problem alte Bekannte bei sich unterzubringen, wovon Shen anfangs nicht so begeistert war. Po hingegen war Feuer und Flamme. Er erkundigten sich sogar danach, ob jemand etwas von Yin-Yu gesehen oder gehört hatte. Doch leider konnte keiner ihnen eine Auskunft darüber geben.
Als es dann schließlich Nacht wurde, zog man sich in die Schlafräume der Hütten zurück. Kaum hatte Po sich auf dem Bett niedergelassen, war er auch schon eingeschlafen.
Erst ein paar Stunden später weckte ihn ein dumpfes Grollen aus der Ferne. Verschlafen richtete er sich auf und sah aus dem Fenster raus. Am Horizont hatte sich eine Wolkenmasse angesammelt, aus der ab und zu Blitze zuckten.
Der Panda rieb sich übers Gesicht. Das Gewitter war noch zu weit entfernt und wahrscheinlich zog es auch nur vorbei. Er wollte sich schon gerade wieder hinlegen, als ihm die weiße Gestalt auf dem Hügel auffiel. Po kniff ein paar Male die Augen zusammen. Doch er träumte nicht. Was machte Shen noch zu so später Stunde da draußen?
Kurz entschlossen stand der Panda auf und ging zur Haustür. Als er über die Türschwelle trat überkam ihm auf einmal eine Welle der Vertrautheit. Irgendwoher kannte er dieses Bild. Ja, es war wie damals. Vor vielen Jahren, da stand der weiße Herrscher genau an derselben Stelle, als sie in diesem Dorf waren. Damals hatte Shen den Brief von Yin-Yu erhalten, wo sie ihm ihre Liebe gestanden hatte, wobei dieser Brief aber nie bei ihm angekommen war.
Po seufzte schwer. Langsam ging er auf den weißen Herrscher zu. Shen hatte ihm den Rücken zugewandt und starrte in die Ferne. Wie damals.
Po räusperte sich. Als eine Reaktion von Seiten des Herrschers ausblieb, versuchte er selber ein Gespräch anzufangen.
„Damals lag hier Schnee“, begann Po. „Und es war ganz schön kalt. Jetzt wächst hier überall Gras. Das ist schon irgendwie verrückt, nicht wahr?“
Erneut blieb eine Rückmeldung vom weißen Pfau aus.
„Was ist denn los, Shen?“, hakte Po nach. „Machst du dir Sorgen um Yin-Yu?“
Die nächste Schweigephase zwang den Panda dazu selber das Gespräch weiter zu führen.
„Oder ist es wegen heute Nachmittag? Okay, das war heute richtig heftig gewesen… Aber glücklicherweise ist ja nichts passiert! Stimmst? Ist doch so? Oder? Nicht? Sag doch mal was.“
Doch alles was blieb war ein Schweigen.
„Na schön.“
Enttäuscht machte Po kehrt.
„Heute wäre es beinahe passiert.“
Verwundert drehte Po sich wieder um. Die Stimme des Lords war kaum zu hören gewesen, doch klar genug, dass er Panda jedes Wort verstand.
„Was wäre heute beinahe passiert?“, erkundigte sich der Panda besorgt.
„Ich war da“, fuhr Shen mit leiser Stimme fort. „Aber ich konnte ihr nicht helfen.“
Po schluckte. „Aber Shen, das kann doch jeden mal passieren, dass man einen Move verpatzt. Ich meine, sieh mich an. Mich hat man heute glatt durch die Luft geschleudert. Das kommt sonst sehr selten vor. Na ja, meistens sind es ja dann immer meine Freunde, die mir Rückendeckung geben… apropos Rücken, ich fühl immer noch den blauen Fleck unter meinem Fell…“
Er brach ab. Shen hatte seinen Flügel gehoben, ein klares Zeichen dafür, dass er schweigen sollte. Der Pfau seufzte leise bevor er anfing zu sprechen.
„Ich rede nicht gerne über meine Kindheit“, begann er. „Aber ich sehe, dass ich wohl heute dieses Schweigegelübde brechen muss, damit du es verstehst.“
Der Panda hob interessiert den Kopf. „Ich bin ganz Ohr.“
Shen zögerte noch ein paar Sekunden, bevor er sich innerlich dazu aufraffte das zu sagen, was er bis jetzt immer gemieden hatte.
„Weißt du, Panda, ich war von Anfang an seit meiner Geburt nicht so überlebensstark wie heute. Ich war ziemlich oft krank. Und ich wurde durch meine ganze Kindheit so vielen Ärzten vorgeführt, dass meine ersten Lebensjahre nur noch von Behandlungen geprägt waren. Ich hatte so ziemlich alles Mögliche. Darunter auch diese Schwächeanfälle.“
Er hob ein wenig die Flügel und sah sie an, als wären sie mit Schmutz behangen.
„Doch mit der Zeit bekam ich sie allmählich in den Griff und nach intensiver Arbeit meines Trainings verschwanden sie sogar ganz.“
Er sah den Panda an. Po legte den Kopf schief. „Und jetzt? Jetzt sind sie wieder…?“
Der Pfau seufzte. „Ja, ich spüre, dass meine Kräfte wieder nachlassen. Alles hat vor ein paar Monaten begonnen. Ich hatte gehofft, dass es sich wieder legen würde, doch ich befürchte, dass das diesmal nicht der Fall sein wird. Das heißt für mich dann, dass ich kampfunfähig sein werde – in Zukunft, wenn es sich nicht bessert.“
Po schwieg einen Moment bevor er zögernd den Mund öffnete. „Ist es… ist es denn nicht heilbar?“
Shen verzog die Mundwinkel. „Als Kind musste ich häufig Medikamente einnehmen. Dann ging es. Allerdings hab ich mich geweigert es noch weiter einzunehmen. Also setzte ich die Behandlungen ab und heilte mich selber. Doch allmählich bringt das nichts mehr.“
Po kratze sich am Kopf. „Dann… dann musst du eben wieder zum Arzt…“
„Nein.“
Shen wandte sich ab und ging ein paar Schritte weg. Der Panda sah ihm verwundert nach.
„Nein? Wieso das denn nicht? Dafür sind Ärzte doch da…“
„Bei Verletzungen ja, aber nicht im Allgemeinzustand!“ Shen verschränkte entschlossen die Arme. „Ich bin immer noch normal. Ich habe es satt mich von Ärzten behandeln zu lassen wie ein Versuchskaninchen. Einer hatte es sogar gewagt ein Mittel an mir auszuprobieren, dass nicht mal getestet worden war.“
Pos Augen weiteten sich, als er merkte, wie der weiße Pfau leicht zu zittern begann.
„Ich werde das alleine machen“, zischte Shen. „So wie ich es damals auch geschafft habe.“
Der Panda hob die Augenbrauen. „Du hast doch gerade gesagt, du packst es nicht alleine…“
„Ich weiß was ich tue!“, unterbrach der Pfau ihn unwirsch. „Und wenn es länger dauert. Ich will nie wieder einen Arzt sehen.“
Po schluckte. „Aber Shen. Jeder sollte zu einem Arzt, wenn es einem nicht gut geht. Ich war auch mal beim Arzt…“
„Weswegen?! Wegen Übergewicht?! Man war sogar der Meinung ich würde nicht mal mein 10. Lebensjahr erreichen! Aber ich habe bewiesen, dass sie sich geirrt haben.“
Zu Pos Verwunderung senkte Shen den Blick und er befürchtete schon, Shen hätte jetzt wieder einen Schwächeanfall. Doch der weiße Pfau hatte nur keine Hemmungen mehr, seine Niedergeschlagenheit zu verbergen. Selbst wenn es sich dabei um seinen Ex-Rivalen handelte. Stattdessen umarmte der weiße Pfau sich selber, als habe er Angst jemand würde nach ihm greifen.
„Doch das Alter schwächt meine Widerstandskraft“, fuhr er leise fort. „Als ob es nicht schon schlimm genug war ein reiches Kind zu sein, dass die Palastmauern so gut wie nie verlassen durfte, ich konnte auch im Palast nichts machen, was meiner Gesundheit schaden konnte. Es gab sogar Tage, wo ich kaum Atmen konnte.“
Traurig legte Po die Handflächen aneinander. „Na gut, okay, so krank war ich nie, aber ich weiß wie es sein könnte, als Kind nicht seinen 10 Lebensjahr nie zu sehen. Meine Mutter jedenfalls hat ihn nicht mehr miterlebt.“
Sofort wandte Shen sich von ihm ab. „Du hast geschworen nie wieder davon zu reden!“
Po senkte den Blick. „Tut mir leid, es ist nur… was ich damit sagen will ist… Weiß Yin-Yu denn schon davon?“
Shen schüttelte den Kopf.
„Aber vielleicht wäre es ganz gut, wenn du mit ihr darüber…“
„Misch du dich nicht in meine Familienangelegenheiten ein!“, keifte Shen ihn an. „Es reicht mir schon, dass ein gewisser Meister meine Tochter manipuliert…“
„Okay, okay, dann eben so, aber denk doch mal nach. Was wäre wohl passiert, wenn ich heute nicht da gewesen wäre? Vielleicht würdest du dir dann für den Rest deines Lebens Vorwürfe machen, wenn du vorher keine ärztliche Behandlung akzeptiert hättest – und deiner Tochter was passiert wäre.“
Das brachte Shen erst mal zum Verstummen. Eine Weile starrten sich die beiden hart an. Schließlich wich Po seinem Blick aus. „Die Entscheidung liegt bei dir. Aber bedenke, wenn du das nicht medizinisch abklärst, kannst du im Ernstfall nicht für Shenmis Sicherheit garantieren. Du solltest dir bewusst machen, was dir nun wichtiger ist. Dein Stolz nicht als Schwach angesehen zu werden und dafür keine Hilfe anzunehmen, oder die Sicherheit deiner Familie. Denk mal drüber nach.“
Damit wandte Po sich ab. Shen sah ihm nach und beobachtete wie der Panda in der Hütte verschwand. Dann richtete er den Blick wieder in die Ferne und schaute in Richtung der hohen Berge der hunnischen Grenze, über denen sich dunkle Wolken aufgetürmt hatten und den Sternenhimmel verdeckten.
Die Augen des weißen Pfaus verengten sich. Sein Geist war genauso aufgewühlt wie das Unwetter. Und auch Po ging es nicht unbedingt anders. Der Panda zog sich in sein Bett zurück und hatte nicht bemerkt wie ihn die ganze Zeit zwei silberne kleine Augen beobachtet hatten.
Es regnete, wenn auch nicht gerade heftig. Dennoch war es laut genug, dass Liu nicht einschlafen konnte. Das andauernde Grollen des Gewitters war genauso unruhig wie ihr Inneres. Sie machte sich Sorgen.
Sorgen um ihn.
Immer wieder rollte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie konnte einfach keine Ruhe finden. Wie fühlte er sich gerade? Was machte er gerade? Sie konnte seinen Blick von heute Mittag einfach nicht vergessen. Dieses verängstige Verhalten. So hatte sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Aber es war nicht das erste Mal. Genauer gesagt war es vor drei Jahren passiert, dass er das letzte Mal geweint hatte…
Knappe 3 Jahre zuvor…
Liu blinzelte. Es war noch dunkel. Müde reckte sie sich in ihrem Bett, das im Vorraum von Xiangs Schlafraum stand. Sie wollte sich gerade auf die andere Seite legen, als sie ein wimmerndes Stöhnen erschrocken aufhorchen ließ. Für einen Moment wagte sie nicht zu atmen. Sie lauschte angestrengt. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Das Jammern wurde sogar lauter. Dann ein Aufschrei. Ruckartig setzte sie sich auf die Bettkante. sprang zur Schiebetür und schob sie auf. Xiang warf sich im Bett hin und her. Dabei stieß er die schauerlichsten Töne aus als würde ihn jemand erwürgen. Die Bettdecke lag zerwühlt auf dem Boden. Mit hämmernden Herzen lief sie zu ihm hin und drückte ihn auf die Matratze.
„Bleiben Sie ruhig“, redete sie auf ihn ein. „Es ist alles in Or…“
Er stieß sie brutal weg, doch er hatte die Augen immer noch geschlossen. Einen kurzen Moment stand die Pfauenhenne völlig geschockt da, doch dann warf sie sich mit all ihrem Gewicht auf den windenden Pfau.
„Hören Sie auf! Hören Sie auf!“, flehte sie ihn an. „Wachen Sie auf!“
Endlich blinzelte er. Doch als sie sah geriet er erneut in Panik. Liu musste sich große Mühe geben nicht nochmal weggeschleudert zu werden. Die Kräfte, die der Pfau entwickelte, waren schon fast übernatürlich.
„Bleiben Sie ruhig! Bleiben Sie ruhig!“, wiederholte sie immer wieder.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor bis Xiang den Widerstand aufgab. Die Pfauenhenne hielt ihn noch für ein paar Minuten fest, wobei sie immer beruhigende Worte aussprach. Doch der Pfau schien ihr nicht richtig zuzuhören. Zitternd lag er im Bett und schluchzte. Er hatte keine Hemmungen zu weinen.
Langsam erhob sie sich. Xiang lag schwer atmend auf dem Bett, hatte sich aber inzwischen wieder soweit beruhigt, dass er auf dem Rücken liegen blieb. Sein Gesicht war ganz nass von Tränen. Liu wollte ihm mit einem Tuch die Wangen abtupfen, doch der Pfau schob ihre Hände weg. Er wollte das nicht.
Liu gab sich Mühe ihn nicht weiter anzusprechen, da er ihr schon oft genug klar gemacht hatte, dass er kein Mitleidsgeschwätz hören wollte. Stattdessen hob sie seine Decke vom Boden auf und schüttelte sie ein paar Mal aus. Dann holte sie eine Flasche aus dem Regal und ging damit zurück zum erschöpften Pfau. Sie öffnete die Flasche und goss etwas davon auf ihre befiederte Hand. Anschließend rieb sie es auf Xiangs Brustkorb. Der Pfau zuckte kurz zusammen, blieb aber ruhig liegen. Er kannte dieses Zeug, dass ihn immer beruhigte, wenn er nicht schlafen konnte. Liu lächelte leicht, sagte aber nichts. Stattdessen führte sie ihre streichelnden Bewegungen auf seinem Phantom-Schmerzen geplagten Körper sanft und ruhig aus. Xiang hatte die Augen geschlossen und inhalierte die beruhigende Wirkung des ätherischen viskosen Mittels. Allmählich flaute sein Anfall ab.
Schließlich holte Liu die Decke und legte sie über ihn, die er mit einer entgegenkommenden Geste annahm. Es entkam ihm sogar ein erleichterter Seufzer als sie ihn damit zudeckte. Doch dann öffnete er die Augen einen Spalt. Sie fing seinen Blick auf.
„Ich hasse dich“, zischte er, dann schloss er die Augen wieder.
Liu seufzte. Dennoch glaubte sie, dass er das Gegenteil meinte.
Liu stieß einen tiefen Atemzug aus bei dieser Erinnerung und drehte sich auf die andere Seite. Bestimmt hatte er jetzt wieder Albträume.
Liu lag mit ihrer Vermutung nicht so falsch. Ein paar Zimmer weiter von ihr entfernt lag der Pfau ebenfalls im Bett und hatte einen unruhigen Schlaf. Immer wieder wachte er auf. Döste dann wieder ein paar Minuten, dann schreckte er wieder hoch. Seine Flügel zitterten. Er sah sich hastig um. Kam da jemand? Sein Blick wanderte zur Tür. Sie war zu. Dennoch kroch in ihm eine schreckliche Angst hoch, sie würde sich jeden Moment öffnen. Er legte sich wieder hin. Versuchte an etwas anderes zu denken. Die ganzen Jahre war es ihm gelungen seine Panik unter Kontrolle zu bekommen. Doch der brutale Angriff von heute hatte in ihm wieder die Welle des Horrors freigesetzt, die ihn erbarmungslos niederdrückte.
Seine Federfinger krallten sich in das Kopfkissen.
Da war wieder diese Angst. Diese schreckliche Angst, wenn sie kam. Damals. Als er noch ein Kind war…
Vor vielen, vielen Jahren…
Sie kam. Sie kam wann immer sie wollte.
Der kleine blaue Pfau wagte nicht zu atmen. Still lag er auf der Seite im Bett, den Rücken zur Tür gewandt. Er hörte wie sich die Tür öffnete.
Er hatte erwartet, dass sie heute kommen würde. Er hatte es gewagt ihr heute zu widersprechen
„Na, wie geht es meinem kleinen Jungen heute Abend?“, ließ ihn eine Frauenstimme zusammenfahren. Der Junge drückte sich tiefer in die Decke.
Sie erlaubte ihn selten richtig zu Schlafen.
Ein eiskalter Schauer durchfuhr seinen kleinen Körper, als er einen Flügel auf seiner Schulter spürte, deren Federfinger sich in die Decke gruben.
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass man seiner Mutter nicht widerspricht, wenn sie sagt, du sollst deinen Teller leer essen?“, tadelte die Stimme mahnend.
Der kleine blaue Pfau bewegte ängstlich den Schnabel. „E-es… es war zu viel.“
Sie hatte ihm extra den Teller zu voll gemacht. Es war zu viel für ein kleines Kind. Sie wusste das. Sie wusste das ganz genau. Und sie hatte es so gewollt, dass er nicht den ganzen Teller leeressen konnte.
Sein Herz schlug schneller, als sich ihr Griff auf seiner Schulter verengte. „Du weißt, dass kleine Kinder bestraft werden, wenn sie ihrer Mutter nicht gehorchen.“
Dem Jungen entkam ein verängstigter Laut. Am liebsten würde er aus dem Zimmer rennen und abhauen, doch dann würde sie ihn nur noch härter bestrafen. Deshalb blieb er bewegungslos im Bett liegen und lief auch nicht weg als sie ihm mit einem Mal die Decke wegriss.
Der kleine blaue Pfau drückte verängstigt die Arme an seinen Körper.
„Nein, Mama, bitte nicht… NEIN!“
Die violette Pfauenhenne packte seine Flügel, dann drückte sie ihn auf den Bauch.
„Halt den Mund!“, fauchte sie ihn an und versetzte ihm einen mahnenden Schlag auf den Rücken. „Nochmal solche Widerworte und ich steck dich ins Eiswasser!“
Ohne Rücksicht auf das Weinen ihres Sohnes band sie ein Seil um seinen ersten dann ein anderes um seinen zweiten Flügel. Das gleiche machte sie mit seinen Füßen. Der Pfauenjunge bekam kaum etwas mit. Er spürte nur wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Erst als sie seine Flügel und Beine an die Bettpfosten festband und seinen kleinen Körper damit mit dem Bauch nach unten auf dem Bett ausstreckte, flaute sein Weinen allmählich ab.
Eine Stille setzte ein. Eine Stille, die den kleinen Jungen nahezu erdrückte. Er meinte unter ihrem Schweigen zu ersticken. Erst als er den Schatten seiner Mutter neben sich erblickte, stieß er wieder ein Schluchzen aus.
„Du weißt ich könnte dich töten“, säuselte die Pfauenhenne bissig. „Doch ich hab immer noch eine bessere Idee.“
Dem Jungen stockte der Atem als das Messer im Mondschein aufblitzte. Er zerrte an den Stricken, doch diese hielten ihn erbarmungslos am Bett fest.
Seine Atmung beschleunigte sich als ihre Federfinger über seinen Flügel gegen die Federrichtung strichen. Anschließend fühlte er Tücher, die sie dazwischen legte. Der Pfau presste die Lippen zusammen. Er durfte nicht schreien. Nur ein Schrei und sie würde ihn dafür umbringen. Das Messer berührte seine Haut. Er zuckte stark zusammen, als das scharfe Metall seine dünne Kinderhaut am Flügel verletzte. Der Schnitt war nicht tief, dennoch begann es sofort zu bluten.
Er hörte sie lachen. Der kleine Pfau zitterte stark, als sie mit ihren Fingerfedern über seine blutende Wunde strich. Anschließend beugte sie sich über seinen Kopf und lächelte ihn warnend an.
„Nur ein Wort zu jemanden…,“ Sie strich mit ihren blutbeschmierten Federfingerspitzen über seine Schnabellippen und verteilte sein Blut drauf. „Du willst doch nicht so enden wie Daddy, oder?“
Die Augen des kleinen blauen Pfaus weiteren sich vor Angst.
Vater! Hilf mir! Warum bist du nicht hier?!, schrie er innerlich.
Seine Sicht verschleierte sich vor lauter Tränen. Er spürte gar nichts mehr. Nur wie sie endlich die Knoten löste und ihn losband. Dann wurde es still.
Eine Tür wurde geschlossen.
Eine Weile blieb der Junge weinend auf dem Bett liegen. Schließlich schaffte er es sich soweit wieder zusammenzureißen um sich aufzurichten. Er leckte sich über die Lippen, worauf er sein Blut schmeckte. Hastig stieg er aus dem Bett und lief zu einer Schüssel mit Wasser die auf einer kleinen Kommode stand. Zitternd zündete er eine Lampe an und besaß sich im Spiegel. Das Blut auf seinen Lippen sah aus wie Lippenstift. Schnell schöpfte er etwas Wasser und wischte sich damit die rote Farbe aus dem Gesicht. Anschließend wanderte sein Blick auf die Flügel. Das Blut war nicht auf den Federn zu sehen, dafür hatte sie zuvor die Tücher dazwischen gelegt, damit kein Blut auf die Federn kam. Keiner außer ihm sollte sie sehen.
Zögernd strich er gegen die Federrichtung bis die Schnitte sichtbar wurden. Seine Atmung beschleunigte sich, als er das Blut sah…
Ruckartig setzte sich der Pfau im Bett auf. Er konnte kaum noch atmen. Zitternd besah er sich seine Flügel. Da war kein Blut. Er ballte die Hände zu Fäusten, dann hielt er sie sich vors Gesicht.
Da ist kein Blut!
Dennoch meinte er immer noch die rote Farbe zu sehen. Zwischen seinen Federn, auf seinem Schnabel. Es verfolgte ihn wie ein Schatten. Es ließ ihn einfach nicht los.
Eine Weile saß der Pfau teilnahmslos da. Er war damals noch ein Kind gewesen, doch er sah es immer noch vor sich wie sie ihm die Arme anschnitt. Prüfend tastete er seine Beine ab. Sie taten immer noch etwas weh. Nur improvisatorisch hatte er sie sauber gemacht. Eine Stelle schien sich entzündet zu haben. Auf seinem linken Bein nahe am Knie pochte es unangenehm. Da er sein rechtes Bein taub war, konnte er nur erahnen, dass es vielleicht genauso aussah.
Er legte sich wieder hin und versuchte an etwas anderes zu denken. Doch das Gewitter in der Ferne machte es nicht besser. Im Gegenteil. Er kam sich vor als wäre er in der Hölle gelandet. Früher konnte er sich wehren, heute konnte er nicht mal mehr laufen.
Seine Schnabellippen begannen zu zittern. Seine Finger krallten sich ins Kissen. Er war kurz davor zu weinen, als ihm ein leises Knarren aufhorchen ließ, das, wie er meinte, von der Tür kam.
Xiang drückte sich tiefer in die Decke. Er kniff die Augen zusammen und versuchte seine aufkommende Panik zu unterdrücken.
„Alles nur Einbildung, alles nur Einbildung“, rief er sich ständig in Gedanken zu. „Das bildest du dir nur ein, das bildest du dir nur ein.“
Er kniff die Augen noch fester zusammen. Er meinte jemand würde sich an ihn heranschleichen. Xiang war so sehr darauf fixiert sich einzureden, dass ihm die Panik in den Wahnsinn treiben würde, dass er sich gar nicht sich umsah. Denn hinter ihm schlich sich tatsächlich ein Schatten an. Ihre großen Hände streckten sich nach ihm aus und waren schon über seinen Kopf. Plötzlich packten sie blitzschnell zu.
Xiang war so erschrocken, dass er zuerst keine Luft hatte zu schreien. Doch noch ehe er einen tiefen Atemzug machen konnte, hielt ihm jemand den Schnabel feste zu.
Der Pfau warf sich auf die Seite. Er meinte sein Herz würde stehenbleiben, als er Duonas Silhouette im dunklen Zimmer erkannte. Zuerst war der Pfau wie gelähmt, doch dann versuchte er sich wieder aus ihren Griffen zu befreien. Doch die Bärin packte mit der noch freien Hand die Enden der Decke und wickelte den Vogel damit Flügel und Beine zusammen. Xiang wehrte sich wie verrückt. Verdammt, was sollte das?! Er versuchte zu schreien, doch noch ehe er reagieren konnte, wurde er aus dem Bett gerissen und gegen den Körper seines Peinigers gedrückt.
„Nur einen Mucks“, knurrte die Pflegerin drohend. „Und ich halte dir beide Nasenlöcher zu.“
Der blaue Pfau erstarrte sofort als die Bärin ihm nicht nur den Mund, sondern auch schon ein Nasenloch zugedrückt hielt. Aus Angst zu Ersticken nickte er hastig. Und ohne, dass er was machen konnte, wurde er aus dem Zimmer geschleppt.
In den Gängen der Kurresidenz war es still. Niemand hielt sich dort auf. Normalerweise wollte Xiang nie jemanden dort sehen, doch jetzt wünsche er sich nur noch, dass sich eine der Türen öffnen würde. Doch leider wurde ihm dieser Wunsch nicht gewährt, sodass die Bärin ihn ohne Probleme ungesehen bis zur nächsten Hintertür durchschleusen konnte.
Draußen regnete es immer noch. Als Xiang die ersten Regentropfen im Gesicht spürte, schloss er krampfhaft die Augen.
„Das ist alles nur ein Albtraum“, dachte er verzweifelt und schüttelte mühevoll den Kopf. In Wahrheit lag er im Bett und würde bald aufwachen.
Widerstandslos ließ er sich von der Bärin einen Hügel runtertragen. Zum Glück war das Gewitter noch eine Strecke entfernt, sodass sie nicht Gefahr liefen von einem Blitz getroffen zu werden. Xiang sah sich aufmerksam um. Im Schein der Lichtblitze erkannte er nur einen steilen Hang, überzogen mit Wiese und kleinen Kiefernbäumen.
Schließlich endete die Wanderung auf einer kleinen Straße. Xiang kniff die Augen zusammen. Ein paar Meter weiter entfernt stand etwas, dass er nicht sofort identifizieren konnte. Erst als der nächste Blitz aufleuchtete erkannte er einen Holzwagen.
Dort angekommen blieb die Bärin stehen. Xiang versuchte etwas zu sagen, doch Duona hielt ihm weiterhin den Schnabel zu.
„Bist du allein?“, erkundigte sich auf einmal eine misstrauische Stimme.
Die Bärin grunzte kurz bevor sie antwortete. „Außer ihm, ja.“
Auf einmal tauchten mehrere kleine Schatten auf. Xiang kniff die Augen zusammen.
Es waren Geckos. Kleine Geckos mit roten Augen und schwarzen schlitzförmigen Pupillen. Ihre Schwänze waren schwarz-weiß gestreift, wohingegen ihre Oberkörper mit schwarzen Flecken übersäht war. Alle trugen schwarze Hosen.
Ohne Vorwarnung warf Duona Xiang auf den Boden. Sofort wollte Xiang davonlaufen, doch erstens war er noch in der Decke verheddert und zweitens, wäre er mit seinem lahmen Bein sowieso nicht weit gekommen. Und noch ehe er es sich versah wurde er von den Geckos in die Mangel genommen.
„HIL…mmpf!“
Eine der Geckos hatte ihn einen Lappen in den Mund gestopft. Doch Xiang kam nicht mehr dazu ihn auszuspucken, weil ihm der nächste ein Seil um den Schnabel band.
„Allmählich finde ich Gefallen daran, Vögel zu verschnüren“, lachte der vordere Gecko amüsiert.
Vor Schreck flatterte Xiang mit den Flügeln, bis auch diese genauso wie seine Füße gefesselt wurden. In der nächsten Sekunde stießen ihn zwei Geckos von der Seite an, die ihn auf den Boden schleuderten. Xiang blieb kurz die Luft weg, bis vier weitere Geckos ihn wieder hochrissen und gegen den Holzwagen pressten.
„Und du wartest auf weitere Anweisungen“, wies der Gecko Duona an. Die Bärin nickte und zog sich mit stampfenden Schritten zurück. Im Lichtgewitter der Blitze wirkte sie wie ein davonschreitendes Monster.
Xiang schrie dumpf durch den Knebel. Egal was man mit ihm vor hatte, aber es konnte nichts Gutes sein. Seine böse Vorahnung schien sich zu bestätigen, als einer der Geckos ihn einen Lappen auf die Nase presste, der mit einer merkwürdig riechenden Flüssigkeit getränkt worden war.
„Jetzt schön einatmen“, hallte eine Stimme im Grollen des Gewitters.
Der Pfau warf den Kopf hin und her. Doch er konnte nicht verhindern das betäubende Zeug einzuatmen. Eine Weile kämpfte er noch dagegen an. Sein ganzer Körper wurde taub wie sein lahmes Bein.
„Sie wird erfreut sein ihn wiederzusehen“, hörte er den Gecko noch lachen. Dann verlor er das Bewusstsein.
Jedes Geräusch dröhnte in seinem Kopf. Stöhnend wachte der Pfau wieder auf. Alles schaukelte und zitterte. Er zog scharf die Luft durch die Nase ein. Sein Mund war immer noch geknebelt. Aber auch sein restlicher Körper steckte immer noch in Fesseln. Er versuchte sich zu erinnern was passiert war. Schließlich fiel ihm alles wieder ein. Er hob den Kopf. Außer dem Regen und den quietschenden Reifen des Holzwagens war nicht zu hören. Schließlich versuchte er sich auszustrecken. Zu allen Seiten waren Holzwände, allerdings mit niedriger Decke. Prüfend befühlte er mit seinen Krallen seines gesunden Beines die Wände. Die Geckos mussten ihn in den Holzwagen verfrachtet haben, als er noch bewusstlos gewesen war. Allerdings konnte er nicht sagen, ob er sich in einer Kiste oder sich woanders befand.
Plötzlich hielt der Wagen an. Der Pfau lauschte angestrengt.
Er hörte dumpfes Gemurmel. Dann stampfende Schritte auf matschigem Boden, die um den Wagen herumgingen. Ein paar Mal rumpelte es, dicht gefolgt von prüfendem Klopfen.
Schließlich entfernten sich die Schritte wieder.
„Genehmigt“, brummte eine tiefe Stimme. „Können passieren.“
Xiang riss die Augen auf. Das waren eindeutig die Stimmen von Soldaten. Sie mussten sich an der Grenze befinden.
„Mmpffphf!!“
Doch seine Hilferufe wurden von dem immer noch aktiven Gewitter und Prasseln des Regens erstickt. Die Fahrt ging weiter, ohne dass er wusste, was das Ziel war.
Nach einer Weile gab er den Versuch auf sich aufmerksam zu machen auf. Still saß er in seinem Gefängnis und konnte nur abwarten was als nächstes passieren würde.
Plötzlich hielt der Wagen abrupt an.
Dem Pfau stieg die Angst hoch. Waren sie schon da?
„Das gibt’s doch nicht!“, hörte er eine aufgebrachte Stimme fluchen. „Ausgerechnet heute.“
Irgendjemand kicherte. „Bin ja gespannt wie du das Teil wegräumen willst.“
Der Rest des Gespräches ging in einem diskutierenden Gemurmel unter, die sich nach und nach entfernten. Offensichtlich lag dem Wagen etwas im Weg. Der Pfau lauschte weiter. Er schien jetzt allein zu sein.
Er zerrte an den Fesseln. Verdammt er musste raus, selbst wenn er ein kaputtes Bein hatte.
Auf einmal hielt er inne. Irgendjemand kroch auf dem Wagen herum. Es schien über ihm zu sein.
Im nächsten Moment blitzte ein Licht durch einen Spalt in der Holzdecke. Irgendjemand entfernte die Holzbretter über seinem Kopf. Anschließend schoben sich Hände unter seine Achseln, die ihn aus dem doppelten Boden im Karren herauszerrten.
Xiang schrie dumpf auf, als im Blitzlicht ein Messer aufblinkte. Panisch versuchte er abzuhauen. Doch dann hielt ihn eine Hand an der Schulter fest.
„Hören Sie auf damit!“, rief eine Frauenstimme. „Ich bin‘s!“
Als Xiang die Stimme von Liu erkannte, hielt er kurz inne. Im nächsten Moment spürte er wie das Messer seine Fesseln durchtrennte.
„Kommen Sie schnell raus hier!“
Da er immer noch den Knebel im Mund hatte, konnte er nicht reden. Schnell hievte die Pfauenhenne ihn hoch und stützte ihn von der Seite ab. Xiang stolperte fast als sie aus dem Wagen stiegen. Doch für eine Pause blieb keine Zeit. Ohne zu Warten zerrte sie ihn in den Wald hinein. Es regnete immer noch und hier und da leuchtete ein Blitz auf.
Liu wusste nicht wie lange sie durch das Unterholz stolperten. Es war nicht leicht mit einem halbgelähmten Pfau schnell vorwärts zu kommen. Doch irgendwann brach sie die Flucht ab. Xiang konnte nicht mehr weiter.
„Ich glaube nicht, dass sie uns folgen“, hoffte Liu und setzte den Pfau neben einem Felsen ab.
Besorgt sah sie ihn an. „Ich mach den Knebel ab“, bot sie an und beugte sich zu seinem Kopf vor.
Doch plötzlich haute der Pfau ihr auf die Flügel. Erschrocken wich sie zurück. Xiang griff nach den Seilen, die seinen Schnabel umgaben und schaffte es diese herunter zu reißen. Kaum hatte er das Stück Stoff aus dem Mund fuhr er sie wütend an.
„Das hast du doch eingefädelt!“
Liu blieb die Luft weg. „Wie können Sie so etwas behaupten?! Sie können froh sein, dass ich vor lauter Sorge um Sie nicht schlafen und mich nach Ihnen erkundigen wollte. Sonst hätte ich nie gesehen, wie man sie weggeschafft hat!“
Wutschnaubend hievte der Pfau sich am Felsen hoch und sah sie mit zornigen Augen an.
„Lüg nicht!“, fauchte er. „Du magst mich vielleicht in der Mangel haben, aber ich lass mich nicht unterkriegen! Niemals! Schon gar nicht von deinem billigen Flittchen wie dir!“
„Hören Sie endlich auf damit!“ Völlig außer sich stieß die Pfauenhenne ihn an, sodass der Pfau nach hinten fiel und unter einen Strauch landete.
„Jetzt reicht es mir!“, schrie Liu weiter. „Ich lass mich nicht mehr länger von Ihnen beleidigen! Entweder reißen Sie sich endlich zusammen oder Sie können hierbleiben! Alleine!“
Der nächste Blitz dicht gefolgt von einem unheimlichen Knall erfüllte die Luft. Der Pfau vergrub das Gesicht in seinen Flügeln und begann zu schluchzen. Liu hielt verwundert inne. Allmählich legte sich ihre Wut und sah mitleidig auf ihn herab, wie er zusammenkauert da lag. Langsam ging sie neben ihn in die Knie. „Hören Sie“, begann sie leiser. „Ich würde Ihnen doch nie wehtun wollen.“
Sie schluckte schwer. „Sie können von Glück sagen, dass durch das Unwetter ein Baum auf die Straße gefallen ist.“
Sie strich ihm über die Schulter, doch er wich ihrer Berührung aus und kauerte sich noch mehr unter dem Strauch zusammen.
Eine Weile schweigen beide. Schließlich machte Liu den Anfang.
„Wollen Sie sich erkälten?“, fragte sie leise. „Sie müssen ins Trockene.“
„Ich gehe nicht zurück“, knurrte Xiang bitter.
Liu seufzte. Sie konnte ihm diesen Gedanken nicht verübeln.
„Wo wollen Sie denn hin?“, fragte sie.
Eine Weile herrschte wieder Schweigen, dann hob der Pfau endlich den Kopf aus den Flügeln. Ihre Blicke trafen sich. Es regnete zwar, doch sie wusste, dass er immer noch Tränen in den Augen hatte.
„Sind wir in China?“, fragte er.
Sie nickte. „Ja, der Wagen ist über die Grenze gefahren.“
Er wischte sich übers Gesicht. „Und wie kommst du dann hierher?“
Liu lächelte verlegen. „Ich hab mich rübergeschlichen. Es war nicht unbedingt einfach. Aber mit etwas Flugübung…“
„Wie weit ist es bis Mendong?“, unterbrach er sie.
„Ihre Heimatstadt?“
Xiang sah sie verwundert an.
„Ich weiß das aus ihrer Krankenakte“, erklärte Liu.
Xiang wich ihrem Blick aus und erhob sich. Einen kurzen Moment stützte er sich an einem kleinen Baum ab, dann humpelte er ein paar Schritte.
„Sie können nicht alleine dort hin“, warf Liu ein und eilte zu ihm. „Ich werde Sie begleiten.“
„Hau einfach ab!“, keifte Xiang und stieß sie weg.
„Xiang!... Ich meine… Lord Xiang. Sie können nicht überleben ohne Hilfe.“
Der Pfau stieß ein angewidertes Schnauben aus. „Mein Bein ist zwar taub aber nicht mein ganzer Körper.“
„Nein, ich werde Sie nicht alleine gehen lassen!“
Sie packte ihn am Flügel. Für einen Moment sah es so aus, als ob Xiang sie wieder schlagen wollte, doch dann ließ er es. Es war ohnehin sinnlos sie davon abzuhalten. Er war nicht kampffähig. Außerdem merkte er wie er anfing zu frieren.
„Na gut, aber nur bis zur Stadt“, knurrte er.
Liu atmende erleichtert auf, was Xiang nicht behagte. Insgemein hoffte er, dass er immer noch träumte.
Bei den Geckos handelt es sich um Chinesische Leopard-Geckos (Goniurosaurus luii).
Das Gewitter von gestern Nacht hatte sich verzogen, dennoch waren die Wiesen noch feucht vom ganzen Morgentau. Der weiße Pfau strich sanft mit den Federfingern über das frische Grün und die Wassertropfen glitzerten in der warmen Morgensonne auf seinem Gefieder. Er seufzte tief. Diese ganze Gegend und das um ihn herum stimmte ihn nachdenklich. Der Panda hatte wohl nicht so unrecht, dass ihn diese Umgebung ständig an Yin-Yu erinnerte. Es hingen so viele Ereignisse damit zusammen. Sowohl schöne als auch schreckliche.
Der Lord gähnte. Er hatte gestern ziemlich lange wach gelegen. Das Gespräch mit dem Drachenkrieger hatte ihn noch lange beschäftigt. Eigentlich hielt er nicht sonderlich viel von dem Panda und seinen Ratschlägen. Er war noch ein halbes Kind. Zumindest im Inneren verhielt er sich so. Doch andererseits hatte er auch nicht so unrecht. Sogar Shen musste sich eingestehen, dass er vielleicht überreagierte mit seiner Angst vor Ärzten. Doch das fiese Gefühl von damals ließ ihn einfach nicht mehr los und er hatte sich fest vorgenommen nie wieder solche Behandlungen über sich ergehen zu lassen.
Der Lord zerrieb die Wassertropfen und ließ sie zu Boden fallen. Bald würden auch sie von der Sonne verdunstet sein.
Der Pfau seufzte erneut. Das ganze viele Nachdenken bereitete ihm Kopfschmerzen.
„Shen!“, rief eine bekannte Stimme zu ihm rüber, die aus einem der vielen Dorfhäuser schallte. „Frühstück!“
Po winkte dem Pfau zu sich rüber. Dann verschwand der Panda schnell wieder ins Haus.
Mühsam erhob sich Shen von der Wiese und begab sich zum Esszimmer neben einer kleinen Küche, wo auch schon Shenmi saß. Vater und Tochter hatten sie heute noch nicht gesehen, da die Kleine noch geschlafen hatte, bevor er das Haus verließ. Jetzt saß das Pfauenkükenmädchen am Esstisch und rührte mit einem Löffel in einer Suppenschüssel herum. Als sie ihren weißen Vater hereinkommen sah, hob sie den Kopf und ließ ihn nicht aus den Augen.
Po saß ebenfalls am Tisch und stopfte sich ein paar Klößchen in den Mund.
Shen rümpfte den Schnabel. Er fand die Tischsitten des Panda immer noch abstoßend, weshalb er sich auf der gegenüberliegenden Seite niederließ. Er bemerkte wie Shenmi ihn anstarrte und lächelte ihr zu. „Na, wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?“
Shenmi sah ihn traurig an. „Papa, stirbst du?“
Po verschluckte sich richtig an seinem Essen und hustete so stark, dass er notgedrungen die letzten zwei Klöße auf den Teller wieder ausspucken musste, um nicht Gefahr zu laufen zu ersticken.
Shen hingegen riss bei den Worten seiner Tochter entsetzt die Augen. „Was?! Wer erzählt dir denn sowas?“
„Du hast gesagt, du bist krank. Ist es wegen mir?“
Erschrocken beugte sich Shen zu ihr vor und umfasste mit den Flügeln ihre Schultern.
„Nein, nein, nein, natürlich nicht und ich sterbe auch nicht. Ich werde bestimmt noch 100 Jahre alt oder noch mehr.“
Das Mädchen hob aufmerksam den Pfauenkamm. „Wirklich?“
„Aber natürlich. Nun komm. Du musst doch was essen.“ Er nahm einen Löffel und schöpfte etwas Suppe aus der Schüssel und hielt es vor ihren Schnabel. „Wir müssen heute noch weiter mit dem Schiff.“
„Da wartet Mama dann auf uns?“, fragte Shenmi und ließ den Löffel im Mund verschwinden.
„Ja, da werden wir sie treffen.“ Zumindest hoffte das Shen. Er nahm schnell ein Taschentuch und tupfte dem Mädchen den Schnabel trocken, denn von der Suppe war aus Versehen etwas danebengegangen.
Po beobachtete die beiden schweigend und mit niedergeschlagenem Blick. Das Mädchen musste sie nachts miteinander reden gehört haben. Ob sie überhaupt geschlafen hatte?
Hastig nahm er eine Suppenschüssel und schlürfte sie aus. Als er die Schüssel wieder absetzte hing eine lange Nudel über seinem Mund fest.
Shenmi, die das sah, kicherte. „Papa, du bist jetzt schwarz-weiß.“
Verwundert schaute Po auf seine Nase. „Oh, na ja, und etwas größer.“
Er verengte die Augen und versuchte zu schauen wie Shen. Das Mädchen lachte. Normalerweise würde Shen ihn dafür zurechtweisen, doch ausnahmsweise war er dankbar, dass der Panda das Mädchen auf andere Gedanken brachte, denn er wollte das Gespräch von vorhin so schnell wie möglich wieder vergessen.
„Wow, das haben die aber wieder gut hingekriegt“, meinte Po anerkennend nachdem er die Reparaturen am Schiff begutachtet hatte.
Eines der Bergschafe verneigten sich. „Es war uns eine Ehre unserer einstigen Herrscherin und ihrem Gemahl einen Gefallen zu tun.“
Shen, der mit Shenmi am Ufer danebenstand, nickte dankbar. „Wir wissen das sehr zu schätzen. Aber jetzt müssen wir weiter. Komm, Shenmi.“
Er nahm seine kleine Tochter bei der Hand und gemeinsam bestiegen sie das Schiff.
Den letzten Abschnitt der Flussfahrt verbrachten die Passagiere damit sich darüber Gedanken zu machen, was sie in der Stadt Mendong wohl erwarten würde. Shenmi war die Einzige, die sich auf das Ende der Reise freute. Shen beobachtete sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck. Er wollte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn doch der schlimmste Fall eintreten würde, wobei er diesen Gedanken so gut wie möglich verdrängte.
Po erging es nicht unbedingt anders, obwohl es sich ja nicht um seine Frau handelte. Aber wenn er das fröhliche Pfauenmädchen sah, wurde ihm extrem mulmig im Magen. Er konnte es nicht ertragen jemanden weinen zu sehen und schon gar keine kleinen Kinder.
Nach weiteren fünf Minuten hielt er es einfach nicht mehr länger aus. „AHH! Wann sind wir denn endlich da?!“
„Wir sind da! Wir sind da!“, rief Shenmi völlig außer sich vor Freude und hüpfte an der Reling aufgeregt auf und ab.
„Na, na, nicht so wild, Schätzchen“, versuchte Shen sie zu beruhigen. Aus Sorge sie könnte noch ins Wasser fallen nahm er sie in die Arme.
Vor ihnen tat sich die Stadt Mendong auf. Von außen unterschied sie sich nicht unbedingt von Gongmen, nur die hohen Berge im Hintergrund ließen die Landschaft noch erhabener wirken.
Am Hafen stiegen sie aus und wurden gleich vom geschäftigen Treiben am Steg empfangen.
Kaum war die Brücke ausgefahren und Shen auf dem Laufsteg erschienen, blieben die Leute auf einmal verwundert stehen. Po, der gerade festgestellt hatte, dass seine Provianttasche schon leer war, sah sich verwundert um, als er in die vielen Gesichter blickte, die zu ihnen hochstarrten. Prüfend befühlte er sein Kinn.
„Äh, hab ich etwas im Gesicht?“, raunte er Shen zu. Dieser schüttelte genervt den Kopf. Nur Shenmi winkte mit dem Flügel den Tieren zu.
Schließlich ergriff Po das Wort. „Hallo, ich bin der Drachenkrieger, das ist Shen, und das ist Shenmi. Wir kommen aus Gongmen.“
Wieder blieb alles still.
Po räusperte sich. „Äh, er ist Yin-Yus Ehemann.“
„Ach so“, ging es durch die Menge und alle wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.
Verwundert kratzte sich der Panda am Kopf, während Shen mit Shenmi an der Hand die Brücke runterging. Am Steg war gerade ein Schaf damit beschäftig die Taue des Schiffes festzuknoten. Auch es hatte erst wieder mit der Arbeit angefangen, als Po seine Erklärung über Shen verkündet hatte.
„Ihr habt wohl keine guten Erinnerungen mit Pfaue, oder?“, stellte Shen direkt seine Frage an das Schaf, das wiederum den Kopf schüttelte.
„Verzeihung, aber seit die Hunnen die Verwaltung über die Stadt übernommen haben, sind wir gegenüber neuen Pfauen etwas skeptisch.“
„Aber der Grund ist Xiang, oder etwa nicht?“, hackte der weiße Pfau nach.
Das Schaf zog die Schultern hoch. „Nun, er war nicht gerade ein beliebter Regent. Das geben wir alle zu. Besonders nachdem seine Mutter spurlos verschwunden ist, war er total unausstehlich für manche geworden.“ Das Schaf rückte nervös sein Hemd zurecht. „Aber man sollte nicht schlecht über andere reden. Wie ich vermute, wollen Sie zum Palast, oder?“
Shen nickte. Doch auch Shenmi konnte es kaum erwarten.
„Wir wollen Mama suchen“, sagte sie.
Shen zog sie kurz am Flügel. „Ist schon gut. Komm wir gehen jetzt.“
Schell zog der Pfau das Kind mit sich mit. Po folgte ihnen dicht auf den Fersen in die Stadt hinein. Auch auf den Straßen sah das Treiben nicht anders aus. Alle möglichen Arten von Tieren schoben Karren, transportierten Eimer, spazierten die Gassen entlang, oder verkauften in den Häusern und Ständen ihre Waren.
Po hielt die Nase in die Luft und schnupperte. „Mm, riecht nach leckerem Essen.“
„Panda!“, rügte Shen ihn aufgebracht. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn du deinen für diesen Zeitpunkt unwichtigen Drang deine Beherrschung bewahren und dich auf unseren Anlass des Besuches konzentrieren würdest. Shenmi! Bleib in der Nähe!“
Schnell griff er nach dem Flügel seiner Tochter, die gerade zu einem Spielzeugstand gelaufen war. Po verstand diese Reaktion nicht.
„Shen, warum denn so aufgeregt? Sie war doch nur drei Schritte von dir entfernt.“
Harsch drehte sich Shen zu ihm um. „Panda! Meine Frau ist gerade in dieser Stadt verschwunden! Und sie war erwachsen. Sie dagegen ist noch ein Kind! Was meinst du wie viel höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Kind verschwindet?“
Ernüchtert legte Po die Handflächen zusammen. „Na ja, kann schon sein, aber warum sollte jemand, der deine Frau entführt hat, jetzt auch noch Shenmi mitnehmen?“ Er sah Shen fragend an. „Oder denkst du etwa, es könnte wieder sein…?“
Po kroch die Angst hoch.
„Aber er hatte doch diesen schweren Explosionsunfall gehabt, oder ist er etwa wieder…?“
Shen wich seinem Blick aus. „Ich weiß nur, dass er die ganze Misere gut überstanden hat, aber er hat eine Bewegungseinschränkung eingebüßt dafür.“
Shen erweckte den Eindruck, als ob er regelrecht darüber erleichtert wäre. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Xiang für seine Pläne Komplizen angeheuert haben könnte, war genauso wahrscheinlich. Po wollte diesen Gedanken nicht unnötig aussprechen, da Shenmi sich noch in Hörweite befand und ging als erster voraus.
„Okay, also wo ist jetzt der Palast?“, murmelte er und fragte sich bei den Leuten durch.
Einige Tiere blieben immer wieder stehen, wenn Shen vorbeiging, und jedes Mal mussten die beiden das Erscheinen eines Pfaus in der Stadt erklären. Und jedes Mal war es die gleiche Reaktion. Und am Ende hatten Panda und Pfau beide das Fazit, dass Xiang nicht beliebt gewesen war bei seinem Volk.
Plötzlich blieb Po stehen. „Aha, mein Erzfeind.“
Shen wirbelte erschrocken herum. Er versteckte Shenmi hinter sich, zuckte seine Messer und sah sich kampfbereit mit aufgefecherten Pfauenfedern nach dem Feind um. „Wo?!“
Doch Po reagierte nicht, sondern starrte nur gerade aus.
„Stufen“, waren seine einzige Antwort.
Vor ihnen tat sich eine schier endlose Treppe auf, die den Berg hochführte. Der Palast lag auf einer Plateau-Fläche, die knapp auf der Hälfte des Berges lag.
Kaum hatte Shen das kapiert, gab er den Panda einen harten Hieb in den Rücken.
„Noch einmal so eine Paralogie und du kannst wieder in deinen Urlaub fahren!“
„Nettes Angebot“, meinte Po mit ernster Miene. „Aber die Pflicht geht vor.“ Er zog den Bauch ein. „Also los. Wagen wir uns in das Gebiet des Verbrechens.“
Po machte einen Schritt vorwärts und berührte mit dem Fuß die erste Stufe.
„Okay, okay, wir sind fast da,“ keuchte der Panda atemlos. „Fast da, wir sind fast oben… oh!“
Völlig außer Puste lehnte Po sich ans steinerne Treppengeländer. Enttäuscht musste er feststellen, dass es noch nicht mal die Hälfte geschafft hatte. Mutlos rang er nach Luft. „Oh Mann. Du bist bestimmt etwas sportlicher, was Shen?“ Er sah nach oben, doch vor ihm die Stufen waren leer. „Shen?“
„Papa, alles in Ordnung?“
Po schaute hinter sich. Shen lehnte wie er schwer atmend am Gelände, während seine kleine Tochter ihn besorgt am Gewandzipfel zupfte.
„Lass nur“, winkte der Herrscher ab. „Ich muss mich nur etwas ausruhen.“
Po hob eine Augenbraue. Er war nahe daran den Herrn abzustützen, als dieser wieder die nächste Stufe in Angriff nahm. „Es geht schon wieder. Gehen wir weiter.“
Der Pfau schüttelte kurz den Kopf, dann richtete er seinen Rücken gerade und schritt etwas schneller am Panda vorbei. Kaum hatte er ihn passiert, hielt er auf einmal inne.
„Hast du was?“, fragte Po erschrocken. „Geht es dir wieder schlecht?“
„Nein, nein“, wehrte Shen ab. „Ich hab nur gedacht…“
Der Pfau drehte sich um und blickte in die Ferne. Aber da war überhaupt niemand. Dennoch dachte er, er hätte einen Blick gespürt. Irgendwie.
„Das ist also deine Heimatstadt?“
Fasziniert ließ Liu ihren Blick über der Stadt Mendong schweifen. Sie stand mit Xiang auf einem kleinen Hügel am Rande der Stadt, von der man einen schönen Ausblick hatte. Rechts lag der Fluss, und knapp links der Palast auf dem Berg.
„Ja, das ist sie“, beantwortete der blaue Pfau ihre Frage mit einem säuerlichen Unterton.
„Sie ist wunderschön“, sagte Liu anerkennend.
„Der Schein kann trügen.“
Sie sah ihn verständnislos an, doch Xiang ging nicht näher darauf ein und wechselte das Thema. „Niemand darf mich sehen. Wir müssen außen herumgehen.“
Liu nickte. „Okay, wo müssen wir dann lang?“
Sie wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, doch Xiang hielt sie unsanft am Arm fest. Etwas eingeschüchtert sah die Pfauenhenne den Pfau an, der sie streng ansah.
„Denk nur nicht, dass du dich hier einnisten darfst“, fauchte er. „Sobald ich verlange, dass du verschwindest, dann verschwindest du auch, kapiert?!“
Sie nickte. Dann machten die beiden sich wieder auf dem Weg.
Weiter oben, auf der obersten Stufe, hievte sich ächzend und stöhnend ein schnaubender Panda die letzte Hürde hoch.
„Keine Treppen“, jammerte Po. „Bitte keine Treppen mehr.“
Auf allen Vieren krabbelnd rollte er sich über die Kante und landete auf dem Rücken. „Yeah!“, jubelte er völlig außer Atem. „Oben!“
Einen kurzen Moment blieb er so liegen, bis auf einmal ein großer Schatten neben ihm auftauchte.
„Drachenkrieger?“
Überrascht sah Po auf. „Wang! Hey, alter Kumpel!“ Mühsam erhob sich Po von seiner Liegeposition und leistete sich mit dem Hunnenkönig einen ordentlichen Handschlag.
„Lange nicht mehr gesehen, heute haben wir echt einen Nostalgietag!“
In diesem Moment kamen auch Shen und Shenmi über die Treppenschwelle. Shenmi hatten schon die Füßchen wehgetan, weshalb Shen sie für den Rest des Aufstiegs auf der Schulter transportiert hatte.
König Wang erkannte das Mädchen sofort und lächelte sie an, während Shen das Mädchen wieder auf den Boden absetzte.
„Du bist aber auch groß geworden“, meinte der Ochse.
Shenmi lächelte verlegen und drückte sich etwas enger an ihren Vater in sein Gewand.
„Wo ist Yin-Yu?“, fragte Shen sofort. „Ist sie wieder aufgetaucht?“
Der Ochse seufzte tief. „Leider noch nicht. Sie ist wie gesagt einfach verschwunden. Ich hab zwar euren Brief noch gestern erhalten, aber etwas Neues hätte ich eh nicht berichten können.“
In diesem Moment tauchte auch der Verwalter Huan auf. Der alte Stier sah auch nicht gerade zuversichtlicher aus. Shenmi behagte die ganze Stimmung gar nicht.
„Kommt Mama jetzt doch nicht wieder?“, fragte sie leise und sah zu ihrem Vater hoch.
Shen wusste nicht was er sagen sollte, weshalb Po ihm zu Hilfe kam.
„Mach dir keine Sorgen“, meinte Po. „Sie hat sich vielleicht verlaufen. Bei so vielen Räumen ist da ja kein Wunder. Das ist ja ein richtiger Wohnungskomplex.“
Ehrfürchtig schaute der Panda zum kompakten Palast hoch, der bestimmt mehr als 100 Zimmer beherbergte.
„Dann sehen wir uns das am besten sofort an“, sagte Shen entschlossen und nahm Shenmi feste an der Hand. „Shenmi, du bleibst bei mir. Verstanden?“
„Wollen wir nicht erst mal eine Pause machen?“, fragte Po hoffnungsvoll und ließ sich müde auf den Boden fallen.
Doch Shen zeigte dafür kein Verständnis. „Dann bleib eben liegen. Ich gehe sie suchen.“
Enttäuscht rappelte der Panda sich wieder auf. „Na schön, na schön. Ich komm ja schon. Aber wo sollen wir denn anfangen?“
Shen verdrehte die Augen. „Natürlich da, wo sie das letzte Mal gesehen wurde. Also, wo genau war das?“
Diese Frage galt König Wang und dem Verwalter. Huan verneigte sich und wies mit dem Huf zur Haupttür. „Kommen Sie. Ich führe Sie dorthin.“
Weiter unten waren Xiang und Liu in der Zwischenzeit am Fuße des Berges angekommen. Sie befanden sich weit weg der Palasttreppe, wo kein einziges Haus stand und hauptsächlich Büsche und Bäume alles überwucherten.
Liu tat schon der Rücken weh von der ganzen Abstützung, die sie für den halbgelähmten Pfau leisten musste. Doch auch Xiangs Fuß selber erging es nicht viel besser.
„Bring mich dort hin.“ Er deutete mit dem Flügel auf einen Stein.
Dort setzte die Pfauenhenne ihn ab, wo er dann sein gesundes Bein hob und über die wunde Fußsohle rieb. Liu hingegen ließ sich im Gras nieder und sah sich um.
„Wonach suchen wir eigentlich?“, fragte sie.
„Wir?“, grummelte Xiang mürrisch. „Wer sagt denn, dass wir suchen?“
Liu seufzte. „Na gut, dann suchen Sie eben nach etwas. Aber was hoffen Sie hier zu finden?“
Xiang ließ sein Bein wieder los. „Etwas wovon du bestimmt keine Ahnung hast. Und jetzt hau ab.“
Die Pfauenhenne hob überrascht den Kopf. „Jetzt schon?“
Die eisigen Augen des Pfaus erwischten sie eiskalt. „Spreche ich Japanisch oder was? Ich hab doch vorhin gesagt, wenn ich will, dass du gehst, dann gehst du auch.“
„Aber… aber Sie brauchen mich doch noch.“
„Brauchen?“ Xiang schien extrem überrascht zu sein. „Wofür? Fürs Füttern? Oder Baden? Ab hier komme ich alleine zurecht!“
Liu legte den Kopf schief. „Sind Sie ganz sicher? Was ist, wenn Ihnen unterwegs etwas passiert?“
„Ich bin kein kleines Kind!“ Wütend erhob sich der Pfau, wobei er Mühe hatte nur auf einem Bein zu stehen. „Und ich würde dir raten zu verschwinden, oder willst du, dass ich dir noch weh tue?!“
Am liebsten hätte Liu ihn gefragt, womit er ihr hätte weh tun können, doch sie wollte ihn nicht unnötig provozieren, weshalb sie sich erhob, sich nochmal verneigte und dann langsam den Weg zurückging, aus der sie gekommen waren. Sie drehte sich nochmal zu ihm um. Doch Xiang verschränkte unerbittlich die Flügel und Liu wusste, dass er sich nicht umstimmen lassen wollte. Traurig zwängte sie durch die Büsche und suchte den Weg zum Stadtrand auf. Sie war nur einige Meter weit gekommen, als sie ein paar vertraute Stimmen aufhorchen ließen.
„Die wird uns noch massakrieren!“, hörte sie jemanden fluchen.
„Uh, sag nur sowas nicht“, flehte ein anderer. „Mir ziehen sich schon die Krallen hoch, wenn ich auch nur daran denke, wie die ausrasten wird, dass wir ihre Bestellung verloren haben.“
Schnell duckte Liu sich hinter einem Strauch. Ihr fuhr der Schreck in die Glieder, als sie drei der Geckos von gestern Nacht nicht weit entfernt über eine Lichtung stolzieren sah.
„Jetzt reg dich doch nicht so auf, Tongfu“, redete einer der Geckos auf seinen Gesprächspartner ein. „Der wird schon wieder auftauchen. So einer wie der, kann sich doch nicht ewig verstecken.“
Liu wollte nicht länger zuhören. Sie machte kehrt und rannte in geduckter Haltung den Weg zurück.
Xiang hatte sich inzwischen zu einer Felswand am Berg begeben und schien nach etwas zu suchen.
„Passen Sie auf!“, zischte Liu so leise wie möglich, aber gerade noch so, dass der Pfau sie verstehen konnte.
„Was treibst du noch hier?!“, fuhr Xiang sie wütend an. „Hatte ich nicht…?!“
„Ja, ja! Ich weiß!“, raunte die Pfauenhenne nervös. „Aber da sind diese Geckos wieder. Wir müssen uns verstecken.“
Dies veranlasste den Pfau jetzt noch hastiger die Felsenwand abzutasten. Liu sah ihn verwundert an. „Haben Sie keine Angst, dass sie uns hier finden?“
„Pssst!“, fauchte Xiang, ohne dabei seine Suche zu unterbrechen. „Besser du haust jetzt ab!“
„Aber was ist mit Ihnen?“, fragte Liu besorgt.
Der Pfau stieß einen entnervten Seufzer aus. „Zum letzten Mal! Hau einfach…!“
In diesem Moment gab ein Teil der Felswand nach und Xiang fiel nach hinten in ein schwarzes Loch. Liu war so erschrocken, dass sie beinahe geschrien hätte, hielt sich aber im letzten Moment noch den Schnabel zu.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte sie und stürzte zu der Lücke im Felsen. Im Inneren tat sich vor ihr ein gerader Gang auf, der waagerecht weiter in den Berg hineinführte. Kaum hatte Liu ihre Verwunderung überwunden, beugte sie sich über den am Boden liegenden Pfau, der sich den Flügel rieb.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich Liu nochmal und erhielt nur ein genuscheltes Fluchen.
Auf einmal waren erneut diese Stimmen von draußen zu hören. Erschrocken griff Liu instinktiv die Felswand und drückte sie zurück. Die Tür fiel wieder zu und beide Pfaue standen im Dunkeln.
„Hey!“, schrie Xiang außer sich. „Hast du sie noch alle?!“
„Wieso?!“
Der Pfau rappelte sich auf und drückte sie gegen die Steinwand. „Ich hab dir nicht erlaubt hier reinzukommen!“
Liu sog scharf die Luft ein, als seine Federfinger sich bedrohlich durch ihr Gefieder in die Flügel gruben.
„Ich werde es doch niemanden verraten“, versicherte sie.
Im Dunkeln sah sie zwar nichts, doch sie konnte seinen bohrenden Blick spüren.
Doch dann ließ er abrupt von ihr ab und sie hörte ihn den Gang entlangschlurfen. Vermutlich lehnte er sich beim Humpeln an die Wand.
„Wo wollen Sie hin?“
„Wo ich hingehe, geht dich nichts an“, knurrte der blaue Pfau in der Schwärze. „Verschwinde von hier.“
Liu schluckte. „Darf ich nicht wenigstens ein bisschen noch bei Ihnen bleiben?“
„Verdammt! Kannst du nicht endlich mal verschwinden?!“, schnauzte Xiang sie an. „Du bist ja schlimmer als eine Zecke.“
„Nur solange, bis ich unbeobachtet wieder verschwinden kann“, murmelte Liu kleinlaut. „Wenn die mich hier finden, dann werden sie doch erst recht vermuten, dass Sie auch hier sind.“
Dies veranlasste den Pfau kurz anzuhalten. Eigentlich wollte er dieses Gör nicht mal in der Nähe von Mendong haben, doch im Moment waren diese Geckos auch nicht gerade harmlos.
„Na schön“, schnaubte er nach einer Schweigeminute. „Aber nur kurzfristig.“
„Soll ich Sie abstützen…“
„Nein“, fuhr Xiang ihr schnell dazwischen und rangelte sich weiter an der Wand entlang.
„Gibt es irgendetwas worauf ich achten muss?“, fragte Liu nach kurzem Zögern.
„Nein“, zischte er. „Der Gang ist schnurrgerade.“
„Wohin führt er denn?“
„Das brauchst du nicht zu wissen. Und selbst wenn, kannst du dir das denn nicht vorstellen?“
Es folgte eine Phase des angespannten Schweigens bevor Liu eine Vermutung äußerte.
„Ist der Gang mit dem Palast verbunden?“
Xiang antwortete nicht. Er wollte einfach keine Informationen preisgeben, die seiner Meinung nach ihr eh nichts angingen.
Sie folgten dem Gang, der nach mehreren Metern in einem Hohlraum endete. Als Xiang merkte, dass die Wand einen Knick machte, tastete er sich im Dunkeln nach einer Laterne und zündete sie an.
Liu wich erschrocken zurück als vor ihr ein Holzgestell im schwachen Licht auftauchte. Es war eine Art Tribüne und rund herum waren Holzstäbe aufgebaut, wie das Baugerüst einer Baustelle.
Der Pfau kletterte auf die Holzplattform, trotz seines lahmen Beines.
„Was ist das hier?“, fragte Liu, als Xiang ihr keine Einleitung gab. Doch sie senkte sofort wieder den Kopf, als der Pfau ihr einen bösen Blick zuwarf.
„Was meinst du wohin ich will?“, fragte Xiang von oben herab.
Lius Blick wanderte nach oben. „Wollen Sie etwa in den Palast gehen?“
Xiang schnaubte abfällig. „Man sieht, dass du hast keine Ahnung vom royalen Leben hast. Herrscher lassen sich entweder hochtragen, oder hochfahren.“
Liu hob verwundert die Augenbrauen. „Fahren?“
Xiang ging nicht näher auf diese Andeutung ein und befestigte die Laterne an der Holzfassade. Dann lehnte er sich nachdenklich an der Fassade ab und schaute auf die Pfauenhenne herab. Nach einer Weile des Anstarrens winkte er mit dem Kopf zu sich.
„Jetzt steig ein. Ich will heute noch oben ankommen. Vorausgesetzt du unterlässt deine blöde Fragerei.“
Liu biss die Schnabellippen zusammen und betrat nun ebenfalls die Holzplattform. Kaum war sie drauf, betätigte der Pfau einen Hebel und setzte einen Mechanismus frei, der die Holzplatte an Seilen anhob und nach oben beförderte. Liu blieb vor Erstaunen der Mund offen, als der Lift sie durch den Berg nach oben zog, hielt es aber für das Beste keine Bemerkungen darüber zu äußern.
Weiter oben hatten sich die anderen inzwischen im Zimmer versammelt, wo sich Yin-Yu zuletzt aufgehalten hatte. Alle sahen sich um. Doch es gab keine Spuren eines Kampfes oder sonst irgendwelche verdächtigen Indizien. Das Zimmer sah sogar fast unberührt aus mit Ausnahme vom benutzten Bett, in dem Yin-Yu in der besagten Nacht noch drin geschlafen hatte. Seufzend strich Shen über die Bettdecke, während Po sich auf allen Vieren auf den Boden niederließ und den Boden abschnupperte. Doch auch seine Nase konnte nichts aufspüren.
„Vielleicht sollten wir einen Spürhund beauftragen“, schlug der Panda vor.
„Wir gehen am besten jedes Zimmer einzeln durch“, beschloss Shen, ohne auf Pos Vorschlag einzugehen.
„Jedes Zimmer?!“ Po kroch der Horror unters Fell.
Wang rieb sich übers Kinn. „Na ja, wir haben zwar schon jedes Zimmer durchsucht…“
„Sie? Alleine?“ Der Panda sah den Hunnen mit großen Augen an. „Jedes Zimmer?“
„Natürlich mit ein paar Soldaten. Wäre doch schon Selbstmord jedes Zimmer alleine zu durchforsten.“
Der Panda bekam wieder weiche Knie.
„Papa, guck mal!“
Shen drehte sich zu seiner kleinen Tochter um, die mit glänzenden Augen eine Vogelpuppe hochhielt.
„Wo hast du die her?“, fragte Shen.
Das weiße Pfauenmädchen deutete in eine Kiste. „Da drin. Und da sind noch mehr Sachen.“
„Ach ja“, meinte Huan. „Yin-Yu hatte diese Sachen vor ein paar Tagen zusammengesucht für die Kinder.“
„Darf ich sie haben?“, fragte Shenmi aufgeregt.
Shen seufzte. „Na schön. Ich glaube, sie war sowieso für dich gedacht.“
Der Pfau verfiel wieder ins Grübeln. Po merkte wie ihm die ganze Sache zusetzte und kratzte sich fieberhaft am Kopf.
„Okay, okay“, versuchte Po die Suche zu erleichtern. „Was genau war denn passiert in dieser Nacht?“
Er hielt kurz inne. Diese Frage hatte er Shen damals auch immer wieder gestellt, doch er musste sofort wieder zum Thema zurück.
„War irgendetwas auffällig gewesen? Ein Licht? Ein Geräusch? Oder der Geruch nach Essen?“
„Wie kommst du jetzt wieder auf Essen?“, tadelte ihn Shen.
„Na ja, falls es ein Einbrecher war, vielleicht hatte er ja ein Lunchpaket mitgehabt“, strickte Po den Gedanken weiter. „Wäre doch möglich. Und hat es vielleicht hier verloren…“
„Nein, da war nichts Auffälliges gewesen“, meinte der alte Stier Huan. „Alles was ich noch weiß ist, dass ich mitten in der Nacht von einem Schrei geweckt wurde. Es war nur ganz kurz, und brach auch abrupt wieder ab. Als ich hierhereilte, war niemand mehr dagewesen.“
Po kratzte sich am Kopf. „Aber sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschluckt worden sein. Wenn dann muss sie in einem anderen Zimmer gewesen oder sogar nach draußen verschleppt worden sein.“
Davon war Huan weniger überzeugt. „Mm, nachts wird alles abgeschlossen und es gibt keine Hinweise auf einen Einbruch. Alle Türen und Fenster sind völlig unbeschädigt.“
„Dann hatte er vielleicht einen Schlüssel… Oder… oder…“ Po wurde es langsam im Kopf zu heiß vor lauter Denken. „Vielleicht ist sie ja im Keller? Ja, vielleicht eine Falltür. Jeder Palast muss doch einen Fluchtweg haben. So wie bei Ihnen unter dem Kerker.“
König Wang runzelte nachdenklich die Stirn. „Auszuschließen ist das nicht, obwohl mir nichts darüber bekannt wäre.“
„Aber man könnte doch mal nachsehen“, drängte Po, in der Hoffnung so eine jede-Zimmer-Suche zu umgehen.
„Dann kommt mit“, bot Huan an. „Wir nehmen die Abkürzung durch die Westhalle.“
Damit verließen alle den Ort des Geschehens und begaben sich durch einen Wirrwarr von Gängen nach unten. Shen ließ Shenmi nicht eine Sekunde aus den Augen und achtete darauf, dass sich ihre Hände nicht einen Millimeter voneinander lösten.
Irgendwann kamen sie in einen Gang, wo jede Menge Bilder aufgehängt waren.
„Wow“, hauchte Po erstaunt. „Was ist das denn?“
„Die Familiengalerie“, klärte Huan ihn auf. „Dort drüben ist auch gleich das Familienportrait der letzten Regentschaft.“
Der Stier führte die Gruppe zu einem riesigen Gemälde. Darauf waren drei Personen abgebildet. Zum einen ein blau-grüner Pfau, eine schwarz-violette Pfauenhenne und weiter unten zwischen ihnen ein kleiner blauer Pfau.
„Das ist sein Vater und seine Mutter“, stellte Huan die Figuren vor. „Und der junge Lord selber. Sein Vater stammte aus Indien. Seine Mutter hingegen aus China. Zumindest ein Teil davon. Die anderen hatten ihren Wohnsitz irgendwo anders in Asien.“
„Und hier“, der Stier führte sie zum nächsten großen Gemälde. „Hier der Lord nochmal. Dieses Bild wurde gemalt nachdem er die Volljährigkeit erlang hatte.“
Wang verzog keine Miene. Nur Po und Shen fuhr ein Schauer unter Fell und Federn bei dem Anblick des ehemaligen Rivalen vor ein paar Jahren. Po überlegte sich ob Xiang nach dem Unfall in Gongmen wirklich noch so aussah. Es war praktisch schon ein Wunder, dass der Pfau das überhaupt überlebt hatte.
„Guck mal. Großvater!“, rief Shenmi aufgeregt und deutete auf Xiangs Bild.
„Das ist nicht Großvater!“, wies Shen sie zurecht, und stierte mit bösem Blick auf den gemalten Lord an der Wand.
„Er ist aber blau wie Großvater“, beharrte Shenmi auf ihre Aussage.
Stirnrunzelt betrachtete Po das Bild genauer. „Mm, ich meine er sieht wirklich aus wie dein Vater“, murmelte Po nachdenklich. „Als ich letztens Mal ein Bild von deinen Eltern gesehen habe, da hab ich auch gedacht…“
Shen stieß ein wütendes Schnauben aus. „Sehe ich aus wie mein Vater?!“
„Na ja, okay, vielleicht ja nicht, aber trotzdem, er ist deinem Vater doch sehr ähnlich, oder etwa nicht?“
„Es gibt viele blaue Pfaue auf der Welt!“
Po merkte, wie Shen es langsam nervte über Xiang zu sprechen und versuchte schnell das Thema zu wechseln, indem er zu einem anderen Bild rüberging.
„Und wer ist das da?“
Huan folgte seinem Fingerzeig. Auf einem anderen Gemälde waren zwei Pfauenhennen abgebildet, die gesittet und brav nebeneinanderstanden. Die eine war die von dem Familienportrait, aber die andere war für Po neu. Sie besaß ebenfalls lila-schwarze Federn, allerdings mit einem leichten blau um den Hals. Auch besaß sie mehr Schwarzanteil im Gefieder als die Pfauenhenne neben ihr.
„Oh, die?“ Huan gesellte sich neben den Panda. „Das ist Xiangs Mutter mit ihrer Schwester Chiwa. Eine nette Dame. Wie ihre Schwester. Im Gegensatz zu Xiangs Vater.“
„Allerdings“, stimmte Wang ihm zu. „Mit Xiangs Vater hatten wir den meisten Ärger gehabt.“
Po sah ihn fragend an. „Weshalb?“
„Ach, wegen eines alten Streits. Das hatte den Lord so wütend gemacht, dass er schon einen Krieg gegen mich anzetteln wollte. Doch als er überraschenderweise verstarb, war danach erst Mal Ruhe. Xiangs Mutter hatte sich nicht so für die politischen Streitigkeiten ihres Mannes interessiert. Doch als sie verschwand, ging der ganze Ärger wieder von vorne los. Den Rest kennt ihr ja von damals.“
Po erinnerte sich noch düster daran, wie Xiang versucht hatte Wang zu stürzen, und dass sie damals beinahe noch draufgegangen wären, war auch nicht gerade eine angenehme Erinnerung.
„Tja, ja“, murmelte Huan und schaute wieder zum Gemälde hoch. „Die beiden Schwestern waren immer unzertrennlich gewesen und haben vieles gemeinsam gemacht. Aber seit dem Verschwinden von Xiangs Mutter hat sie sich auch nicht mehr hier blicken lassen. Na ja. Gehen wir weiter.“
So setzte die kleine Gruppe sich wieder in Bewegung. Nur Po warf nochmal einen Blick auf das Bild der zwei Geschwister. Er konnte es sich nicht erklären, aber irgendwie lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ein so kalter Schauer, als würde der Tod mit seinen kalten Krallen über sein Fell streicheln.
Mit einem harten Ruck hielt der Lift an. Suchend sah Liu sich um. Im Licht der Laterne erkannte sie nur kahle Steinwände rundherum, nur ein Gang führte von diesem oberen Hohlraum raus. Xiang stieg als Erster aus, wobei er die Laterne von der Halterung nahm und auf den Ausgang zusteuerte. Liu folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand. Xiang stütze sich wieder an der Wand ab und es folgte eine neue Gangwanderung, der allerdings nicht lang dauerte. Schon nach kurzer Zeit gabelte sich der Gang in zwei Richtungen.
„Wo sind wir jetzt?“, fragte Liu, die ihre Neugier jetzt doch nicht mehr zurückhalten konnte.
„Unterm Keller“, antwortete Xiang knapp. „Von hier aus führen verschiedene versteckte Gänge zu den Zimmern.“ Er drehte den Kopf zu ihr nach hinten. „Ich hoffe, das stimmt dich ruhig für die nächsten paar Stunden.“
Liu senkte den Blick, was Xiang wenigstens zufrieden machte.
Doch dann hoben beide die Köpfe, als sie dumpfe Stimmen vernahmen.
„Das ist nur ein Kellerraum von vielen“, erklärte ein älterer Herr. „Aber es dürfte eine lange Zeit in Anspruch nehmen, die ganzen Wände nach einem Versteck abzuklopfen.“
Xiang elektrisierte dieser Satz wie ein Stromschlag. Schnell humpelte er den Gang nach rechts rein und tastete die Wand ab. Liu folgte ihm notgedrungen.
An einer bestimmten Stelle stellte der Pfau die Laterne auf den Boden ab und lehnte sich gegen die Wand. Liu wagte keine Frage zu stellen und verhielt sich ruhig.
„Aber irgendwo muss sie doch hin sein“, beharrte eine jüngere Stimme, die den Pfau für einen Moment den Atem anhalten ließ.
„Ich mach mal einen Schnelldurchlauf.“
Sofort waren laute Schritte und Klopfgeräusche zu vernehmen. Xiang lehnte sich krampfhaft enger gegen die Wand. Liu beobachtete ihn unsicher, während das Klopfgeräusch irgendwie näher zu kommen schien. Sie schrak zusammen, als es direkt hinter Xiang rumpelte. Hinter dem Pfau entstand ein kurzer Ruck. Xiang stemmte sich gegen die Wand, dann war es vorbei und die Klopfgeräusche entfernten sich wieder.
Eigentlich hätte Xiang aufatmen können, doch die anderen Stimmen trafen ihn wie ein Schlag.
„Papa, ich hab Hunger.“
„Ist gut. Wir gehen nach oben. Panda, lass gut sein. Wir machen später weiter.“
Die restlichen Wortfetzen bekam der Pfau nicht mehr mit. Er stürzte nach rechts und riss ein Brett an der Wand zur Seite, wo der durch zwei Schlitze in den Keller sehen konnte.
„Also soweit ich weiß“, grummelte noch eine weitere Stimme. „befindet sich die Küche im Osten des Gebäudes.“
„Oh weiha!“, rief Liu erschrocken, die die Stimme von Wang noch kannte. „Der König ist auch hier?“
Ängstlich kauerte sie sich auf den Boden, im Gegensatz zu Xiang, der weiter in den Raum stierte, wo er seinen schlimmsten Feind erblickte.
„Oh, ja!“, rief Po begeistert. „Ich hab einen Bärenhunger.“
Die Augen des blauen Pfaus verengten sich noch mehr als der Panda in sein Blickfeld tänzelte und die Kellertreppe hochlief. Kurz darauf tauchte eine kleine weiße Gestalt auf, die eine andere weiße größere Gestalt hinter sich herzog.
Xiangs Augen verengten sich drastisch, und blieben voller Abscheu auf den weißen Lord gerichtet. Shen blieb auf der Treppe stehen und schaute nach hinten. Unbewusst trafen sich ihre Blicke, die nur Xiang wahrnehmen konnte.
„Papa, komm!“, drängelte Shenmi.
Der weiße Pfau folgte ihr, drehte sich aber immer wieder um. Er konnte niemanden sehen, spürte aber, dass ihn jemand regelrecht mit seinem Blick durchbohrte. Es war kein Wunder, denn Xiang richtete all seinen Hass und seine ganze Wut hinein.
Für meine Demütigung wirst du sterben.
„Wenn der König uns hier findet, dann gibt das einen Riesenärger“, äußerte Liu ihre Bedenken, nachdem die Stimmen im Keller hinter der Wand verklungen waren. „Und was wird dann aus Ihnen?“
Doch Xiang schenkte ihr keine Beachtung. Er schob das Holzbrett einfach zurück, nahm die Laterne in den Flügel und humpelte wieder den Gang hinunter.
„Was machen wir jetzt?“, fragte die Pfauenhenne nervös.
Wieder erhielt sie keine Antwort.
„Was haben Sie denn jetzt vor?“
„Halt die Klappe!“, fauchte Xiang sie an. „Halt einfach die Klappe!“
Liu wich erschrocken zurück. Xiangs Federfinger krallten sich regelrecht in die Wand. Er war mit so viel Hass geladen, dass er am liebsten das ganze Gebäude zu Schutt und Asche hätte zerschlagen können. Doch der Pfau beherrschte sich wieder und ging mit schlurfenden Schritten weiter. Liu folgte ihm im sicheren Abstand.
Po schnupperte interessiert, musste aber zu seiner Enttäuschung feststellen, dass in der Küche niemand kochte. Dennoch musste er zugeben, dass sie x-mal größer war, als die von seinem Vater. Mr. Pings Restaurant würde bestimmt vier- oder fünfmal hineinpassen. Von oben bis unten standen Regale mit allerlei Töpfen und Pfannen. Dazu die schönsten Servier-Schüsseln, Teller, Gläser, Tassen…
Po bekam richtig Angst davor aus Versehen irgendwo gegen zu kommen. So ungeschickt wie er sich manchmal in Mr. Pings Küche verhielt, so könnte hier jeden Moment ein Scherbenhaufen entstehen. Neben Ofen und Herd, gab es auch allerlei Arbeitstische. Das Einzige was hier nur fehlte war das Personal.
„Außer mir, wohnt keiner hier“, erklärte Huan ihm die leere Küche. „Es sei denn der Putzdienst kommt mal vorbei. Aber das passiert nur ein paar Mal im Jahr.“
„Heißt, dass, Sie kochen dann hier ganz allein für sich?“, fragte Po, dem ein Essen ohne Gesellschaft recht eintönig vorkam.
Der Stier zuckte die Achseln. „Wen soll ich schon einladen? Früher, als das Königtum noch in der Blüte stand, fanden hier regelmäßig Feste statt. Doch das hat sich im Laufe der Jahre stark reduziert. Selbst Xiang hat so gut wie keine Veranstaltungen erlaubt. Er hat immer extrem zurückgezogen gelebt.“
Shenmi, die immer noch an Shens Flügel ging, blieb vor Staunen der Mund offen. „Die Küche ist noch größer als die bei uns Zuhause.“
Shen, dem der ganze Prunk von Xiang auf die Nerven ging, rümpfte nur den Schnabel. „Da gibt es bestimmt bessere auf der Welt. Und außerdem, Küchen sind nicht alles.“
Po verzog den Mund. Er liebte Küchen, allerdings musste er zugeben, dass die Schönste kein gutes Essen ersetzte.
„Okay, also, wo ist denn die Vorratskammer?“, wechselte der Panda das Thema.
Wenigstens mangelte es nicht an Nahrungsmitteln und Po bot sich sofort an die Küche zu übernehmen. Er war zwar müde von der Reise, aber beim Kochen sagte er nie „Nein“.
Im Nu hatte er alles für eine gute Suppe zusammengestellt und servierte alles in sauberen Schüsseln, von denen er sich jedes Mal fragte, wie teuer die wohl waren.
Beim Essen redeten sie nicht viel miteinander. Shen war lediglich damit beschäftig darauf zu achten, dass Shenmi ihr Hemd nicht vollkleckerte. Doch ansonsten war es recht ruhig. Po zuckte die Achseln. Wenigstens konnte man sich nicht übers Essen beschweren.
Als sie das Suppenessen fast beendet hatten, klopfte es im Türrahmen und ein Ochsenwächter kam in die Küche.
König Wang erhob sich von seinem Platz am Tisch. „Was gibt es?“
„Da sind ein paar Gepäckträger am Tor eingetroffen“, berichtete der Wärter. „Sie sagten, sie kommen für den Lord.“
Shen stand auf. „Ja, ich hab angewiesen, dass man mir das Gepäck nachbringen sollte. Ich hoffe, Sie hatten nichts dagegen.“
Wang zuckte die Achseln. „Ganz und gar nicht.“
Vor dem Haupteingang des kolossalen Palastes standen drei Antilopen, die sich müde die Hufe rieben. Also Po die erschöpften Seeleute sah, runzelte er mitleidig die Stirn.
„Oh weh. Hier muss wirklich mal ein Lift eingebaut werden.“
Shen zahlte den Leuten ihren Lohn aus und packte sofort sein Lanzenschwert heraus. Po verdrehte die Augen. „War ja klar. Nimmst du das eigentlich überall hin mit dir mit?“
Demonstrativ schwang der Pfau die scharfe Waffe. „Im Gegensatz zu dir, muss ich mir meine Verteidigungskraft anschaffen.“
Po verzog den Mund. „Also wenn du dein Kung Fu mehr praktizieren würdest, dann würdest du auch ohne diese scharfen Dinger dich gut verteidigen können.“
Shens Gesichtszüge verdunkelten sich. „Deiner Meinung nach mag Kung Fu ja eine mächtige Waffe sein…“
Po stieß einen erstickten Schrei aus, als Shen nur um Haaresbreite mit der Lanzenspitze vor seiner Nase zum Stillstand kam. Die Augen des Pandas wanderten von der Klinge zu Shen, der ihn mit bohrendem Blick ansah.
„…aber ist dein Kung Fu auch so mächtig, um deinen Gegner Angst einzujagen?“, beendete der Pfau seine Ausführungen. Dann wendete er das Schwert in seinem Flügel. „Angst ist eine mächtige Waffe“, fuhr Shen mit einem dunklen Lächeln auf dem Schnabel fort. „Hat die Furcht deinen Rivalen erst mal ergriffen, hast du schon zur Hälfte gewonnen.“
Er nahm den Griff des Schwertes in beide Flügel und rieb mit seinen Federfingerspitzen darüber. Diese Waffe schien ihm wirklich sehr viel zu bedeuten. „Aus diesem Grund, zieh ich den Kampf mit scharfen Waffen vor.“
Sein zufriedener Blick wanderte wieder zu dem Panda, der ihn mit großen Augen ansah. Dann nickte Po. „Okay, ich werde darüber nachdenken.“
Shens Blick wanderte zu Shenmi. „Und irgendwann, wer weiß, vielleicht wirst du es irgendwann mal anwenden.“
Er reichte seiner Tochter das Schwert. Shenmi sah es unsicher an. Selbst von weitem konnte man sehen wie scharf die Klinge war.
„Sieht gefährlich aus“, murmelte sie.
Ihr Vater lächelte ihr aufmunternd zu. „Eben deshalb wird es dir irgendwann mal nützlich sein.“
Po gefiel diese Vorstellung gar nicht, weshalb er Shenmi ein kleinwenig von der Waffe wegschob. „Also ich denke, dass… sie dafür noch etwas zu… ich meine, das Teil ist doch noch viel zu groß für sie. Da sollte sie doch lieber mit etwas kleinerem anfangen.“
„Wie das hier?“
Verwundert starrte Po in Shenmis Flügel. „Was ist das denn?“
Shenmi hielt den Gegenstand zwischen zwei Federfingern hoch. „Daddys Schwert, nur viel kleiner.“
Vorsichtig nahm Po dem Mädchen das kleine Papierschwert ab. Natürlich war es wie immer in Origami gefaltet und gerade fast so lang wie Pos längster Finger.
„Oh, du bastelst gerne Origami?“, fragte Huan, was Shenmi mit einem Kopfnicken bestätigte.
„Dann komm mal mit. Ich glaube, da hätte ich was Interessantes für dich.“
Der Verwalter führte die Gruppe in einen bestimmten Raum, der zum Glück nicht weit vom Haupteingang entfernt war. Dort angekommen stieß der Stier zwei Flügeltüren auf.
Dahinter tat sich ein heller Raum auf, der so groß war, dass man meinen könnte man würde eine Bibliothek betreten. Nur war diese nicht mit Büchern sondern mit allerlei Sachen zum Malen und Gestalten gefüllt. Auf einer Seite standen Regale mit Pinsel, Malpapier, Farbeimer und auf der anderen Seite sogar eine Ecke fürs Töpfern. Die Wände waren grau weiß angestrichen und eine Wendeltreppe führte zu einer terrassenähnlichen Holzetage, von wo aus man zusätzlich durch weitere Fenster schauen konnte. Po fiel sofort ein Bild neben der Tür auf, die einen schönen Ausblick auf die Stadt zeigte. Vermutlich wurde es von hier durch einen Blick aus diesem Raum gemalt.
„Der Kunstraum“, stellte Huan vor. „Hier finden Sie alles was man mit Kunst gestalten kann.“
Shenmis Blick blieb sofort auf den ganzen Malutensilien hängen. „Das würde Fantao gefallen.“
Der Stier führte die Gruppe in eine Ecke, wo neben einem Holztisch mehrere Regale mit farbigem Papier standen. Begeistert riss Shenmi sich von Shens Flügel los und rannte an den mit Farbe gefüllten Regalen entlang. Der weiße Pfau ließ das Mädchen nur ungern für einen Moment los, ließ sie aber laufen.
„Darf ich?“, fragte das Mädchen.
Der Stier zuckte die Achseln. „Nur zu. Benutzt eh keiner mehr.“
Aufgeregt zog sie sofort ein paar blaue Seiten heraus. Dann setzte sie sich auf den Boden und begann zu falten. Po schaute ihr interessiert über die Schulter. Dieses Mädchen war wirklich geschickt mit den Händen. Im Nu hatte sie eine Figur gebastelt.
„Was ist das?“ Prüfend nahm Po es in die Hand und wendete das Papierfigürchen. „Ein blauer Fisch?“
Shenmi lächelte verlegen. „Ich mag blau.“
„Alles schön und gut“, unterbrach sie Shen. „Aber wir müssen weiter nach deiner Mutter suchen.“
„Darf ich nicht hierbleiben?“, bat das Mädchen.
„Nein!“, ging Shen entschieden dazwischen. „Nicht an diesem Ort!“
Po hob entsetzt den Kopf. „Aber Shen, wir haben doch keinen Anhaltspunkt. Wo sollen wir den anfangen? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man doch eh schon alles durchsucht hat…“
„Panda!“ Po zog erschrocken den Kopf ein, als er Shens wütendes Gesicht sah. „Ich dachte du wolltest mir aushelfen!“
Verlegen legte Po die Finger zusammen. „Na ja, also, eigentlich…“
„Dann richte dich auch danach!“ Er nahm Shenmi an die Hand und nur widerwillig ließ das Mädchen alles liegen. Nur ein Stück blaues Papier ließ sie noch unter ihrem Mäntelchen verschwinden.
Die Pfauenhenne spürte sie wie zu frösteln begann. Es war nicht gerade warm hinter den Mauern. Sie waren jetzt schon eine ganze Weile unterwegs. Und weil Xiang alleine auf nur einem Bein hinkte, dauerte das Ganze nochmal so lang, wobei Liu überhaupt keinen blassen Schimmer hatte, wohin der Pfau eigentlich hinwollte.
Auf einmal hielt Xiang an. Liu musste den Mund festzuhalten, um keine Frage zu stellen. Zuerst dachte sie er wollte nur eine Pause einlegen, doch dann drehte dich der Pfau nach links und schob erneut ein Schiebebrett an der Wand zur Seite. Wieder schaute er durch zwei Ritzen und spähte in einen Raum.
„Was ist hinter dieser Wand?“, wollte Liu wissen.
Schnell schob Xiang das Brett wieder zu. „Geht dich nichts an!“
„Allmählich nervt mich dieser Satz“, platzte es aus ihr heraus, bereute ihn aber sofort wieder.
Xiang verengte böse die Augen. „Nochmal so einen frechen Satz und du kannst verschwinden.“
Er wandte sich wieder zum Gehen. Liu folgte ihm, konnte es aber nicht unterlassen nicht doch einen Blick zu riskieren. Schnell schob sie das Brett zur Seite und schaute durch einen Spalt. Doch der Raum dahinter lag fast vollständig im Dunkeln. Die Pfauenhenne kniff die Augen zusammen. Es drang nur sehr schwaches Licht in das Zimmer und sie meinte ein großes Bett darin zu erkennen.
„Federn weg!“
Erschrocken wich Liu zurück, während Xiang aggressiv das Brett zuschob.
„Niemand darf da rein!“, herrschte er sie an.
„Warum nicht?“, fragte sie vorsichtig.
„Verbotene Zone!“, fuhr Xiang sie an. „Für jeden!“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und der Marsch ging von vorne los. Seufzend ging Liu ihm wieder hinterher. Nach einer Weile begann Liu sich zu fragen, wann sie endlich ihr Reiseziel erreicht hätten. Doch zu ihrem Glück, dauerte es nicht mehr lange. Irgendwann tauchte rechts in der Wand eine Holztür auf. Xiang schob einen Riegel zur Seite und betrat einen kleinen Raum. Im Inneren befanden sich eine Menge Holzkisten. Liu hob einen der Deckel hoch. Die Kiste war vollgestopft mit Proviant. Liu vermutete, dass es so was wie ein Notfallschutzraum war.
Die Pfauenhenne fuhr kurz hoch, als es auf einmal etwas heller im Raum wurde. Xiang hatte weitere Laternen gefunden und angezündet. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Tisch. Ansonsten gab es außer kahlen Wänden nichts Weiteres zu entdecken.
Etwas müde ließ Liu sich auf einer Kiste nieder und beobachtete Xiang. Sie machte sich Sorgen, dass er sein Bein überanstrengen könnte. So viel war er an einem Tag noch nie gelaufen.
„Wollen Sie sich nicht mal kurz ausruhen?“, fragte sie.
Doch Xiang knallte einfach die Laterne auf den Tisch und sagte gar nichts. Stattdessen humpelte er zu einer Truhe, die mit einem großen Tuch bedeckt war. Er schob die Decke zur Seite und öffnete sie. Liu reckte den Hals, konnte aber nicht sofort erkennen, nach was er darin wühlte. Erst als er den gesuchten Gegenstand hervorholte, stockte ihr der Atem.
Es war ein Dolch mit vergoldetem Griff.
„Was wollen Sie damit?“, fragte sie ängstlich.
Der Pfau erhob sich mühsam. Sein Bein war es gar nicht gewohnt so viel zu laufen ohne Gehhilfe. Dennoch schaffte er es gerade zu stehen, den Dolch hielt er fest im Flügel.
„Du bleibst hier!“, befahl er.
Lius Blick war immer noch auf den Dolch gerichtet. „Was haben Sie vor?“
Doch statt einer Antwort humpelte er nur auf sie zu und drückte seinen Flügel auf ihre Schulter. „Du rührst dich nicht von der Stelle. Ich komme gleich wieder.“
„Sind Sie sicher, dass Sie…“
Ein strenger Blick von ihm und Liu war gezwungen den Mund zu schließen. Also blieb sie gehorsam sitzen und sah den Pfau durch die Tür hinkend verschwinden. Sie schluckte. Wenn er schon die ganze Zeit es in Kauf nahm nur auf einem Bein zu humpeln, dann musste eine extreme Motivation dahinterstecken. Und sie wusste, dass es keine positive Kraft war, die ihn antrieb. Nervös rieb sie die Flügel aneinander. Sie konnte nur hoffen, dass er keine Dummheit machte.
„Es ist schon spät. Wir sollten morgen weitermachen“, schlug Po vor, dem das ganze Räumedurchsuchen extrem zu schlauchen begann. Erschöpft setzte er sich auf den Boden eines langen Korridors. Allerdings stieß dieser Vorschlag bei Shen nicht auf Beifall.
„Wir suchen solange bis wir sie gefunden haben“, meinte Shen entschieden.
„Aber Shen“, versuchte Po es erneut. „Shenmi ist auch schon richtig kaputt.“
Wie aufs Stichwort musste Shenmi gähnen.
„Wir brauchen alle eine Pause“, ergänzte der Panda seine Bitte.
Eigentlich hatte Shen andere Pläne gehabt, doch es wurde draußen schon dunkel und Yin-Yu wäre wohl auch nicht damit einverstanden gewesen soviel von Shenmi abzuverlangen. Theoretisch hätte der Pfau auch ohne sie die ganze Nacht suchen können, doch er wollte sie keine Minute alleine lassen.
„Es gibt hier schöne Gästezimmer“, bot Huan an. „Da könntet ihr übernachten.“
Für Po tat sich ein Lichtblick am dunklen Firmament auf. „Das wäre zu schön. Wo denn?“
„Fünf Stockwerke weiter oben auf der anderen Seite des Palastes.“
„Oh, meine Füße haben Blasen auf den Blasen“, jammerte Po nachdem er sich auf einem Bett niedergelassen hatte. Mühsam hob er einen Fuß und massierte die Fußsohle. Er war so sehr mit seinem Leiden der Füße beschäftigt, dass er nicht die Einrichtung genießen konnte. Das Zimmer hatte hellblaue Wände mit vergoldeten Vierecken, dazu einige chinesische gemalte Bilder und sogar der Boden war schön gemalt und mit einer glänzenden Schicht überzogen. Es gab auch ein kleines Zimmerchen mit Bad und Spiegel und einen angeschlossenen Raum mit Tisch, Stühlen für den Essbereich und ein kleines Wohnzimmer.
Po reckte die Hände in die Luft und gähnte laut.
„Panda!“
Po blieb das Gähnen im Hals stecken und schloss den Mund schnell wieder. „Tut mir leid.“
Shen stand zwischen den Räumen Esszimmer und Schlafzimmer und kam gerade mit Shenmi wieder aus dem Bad. Der weiße Pfau winkte nach hinten.
„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn du auf dem Sofa schläfst.“
Der Panda stöhnte leise. Er hatte eigentlich gehofft heute keinen Schritt mehr machen zu müssen, doch er konnte verstehen, dass Shen seiner Tochter ein normales Bett für die Nacht anbieten wollte.
„Okay“, murmelte Po. „Hab schon kapiert.“
Mit schlurfenden mühseligen Schritten tapste der Panda die kurze, aber für ihn lange Strecke Richtung Wohnzimmer.
Mit einem Kopfschütteln führte Shen seine Tochter ans Bett und wischte mit dem Flügel über die Decke. Er konnte nur hoffen, dass der Panda sich ab und zu mal wusch. Wer weiß wie oft solche Dorfleute mal ein Bad nahmen. Dann schob er das Bettlacken beiseite und setzte seine Tochter rein. Brav legte sich das Mädchen hin und ließ sich zudecken. Während ihr Vater die Decke glattstrich, holte sie das Papier aus ihrem Mantel hervor und betrachtete es nachdenklich. Was für eine Figur sollte sie damit falten?
„Shenmi!“ Seufzend steckte das Mädchen das Papier wieder weg, als ihr Vater mahnend ansah. „Es ist Zeit zu schlafen.“
„Kommt Mama denn bald wieder?“, fragte Shenmi.
Shen seufzte, versuchte aber ein trauriges Gesicht zu vermeiden. Behutsam strich er ihr über den Kopf. „Ja, das wird sie.“
„Ups!“ Im Nebenzimmer rumpelte es kurz und jemand ging mit einem lauten Plums zu Boden. Schnell verließ Shen das Schlafzimmer und schaute rüber ins Wohnzimmer. Po lag auf den Boden mit einer Vase in den Pfoten, die er ihm Halbschlaf fast zertrümmert hätte.
Mit einem verschmitzten Lächeln erhob der Panda sich aus seiner misslichen Lage und stellte die Vase wieder auf ihren Platz auf einem kleinen Tisch. „Sorry. Die stand im Weg.“ Betreten legte Po die Hände zusammen, konnte sich aber eine Frage nicht verkneifen.
„Shen? Denkst du es macht noch Sinn hier zu suchen?“
Shen schaute schnell hinter sich, nur um sicher zu gehen, dass Shenmi nichts mitbekommen hatte. Das Mädchen lag friedlich im Bett. Shen pustete ein paar Kerzen aus, sodass das Zimmer im Halbdunklen lag und wandte sich dann dem Panda zu.
„Wenn dir die Suche nicht behagt, Panda“, zischte der Pfau. „Dann kannst du auch gerne wieder in die Ferien verschwinden.“
Po seufzte schwer. „Ich meine ja nur. Es ist nur, ich hab so das Gefühl, dass das ganze Durchforsten der Zimmer einfach nichts bringt. Wer weiß, vielleicht ist sie ja auch nicht mehr hier.“
Shenmi gähnte. Die Gespräche der Erwachsenen im Nebenraum bekam sie gar nicht mehr so richtig mit. Sie drehte sich auf die Seite und kuschelte sich in die Decke. Dass sich an der Wand, nicht weit von ihrem Bett, etwas bewegte, bemerkte sie gar nicht. Eine dunkle Gestalt tauchte in der Ecke des Zimmers auf und ging so leise wie möglich auf sie zu. Es fiel ihr zwar extrem schwer sich auf nur einem Bein zu halten und musste sich an einem Tisch abstützen. Die Person kniff die Augen zusammen. Ihr giftiger Blick ruhte auf dem kleinen Mädchen. Es musste sehr schnell gehen. Das Bett war zu seinem Glück nicht weit vom Geheimgang entfernt. Als er endlich das Bett erreicht hatte, hob er die Flügel und war für den Sprung zurück bereit.
Shenmi schrie auf, als die Flügel sie packten und aus dem Bett rissen.
Shen und Po sprangen wie elektrisiert auf.
„Shenmi!“
Shen war als Erster im Zimmer, doch alles was er vorfand war nur ein leeres Bett.
Po konnte nicht glauben was er sah und rieb sich heftig die Augen. Aber das Bett war tatsächlich leer. Entsetzt starrte der Panda darauf.
„Wie… das kann… doch nicht sein“, stotterte Po und kroch auf allen Vieren, um unter dem Bett nachzusehen, in der Hoffnung dort das Mädchen zu finden.
Doch was anderes außer Staub befand sich nichts darunter. Völlig verwirrt erhob sich der Panda und blieb auf den Knien stehen.
„Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu“, flüsterte er vor sich hin. Dann schlug er sich die Hände über den Kopf. „Hier muss es Dämonen oder sowas geben“, schlussfolgerte der Drachenkrieger entgeistert und sah zu Shen rüber, der immer noch an derselben Stelle stand, nachdem er ins Zimmer gestürmt war.
„Äh, Shen?“ Unsicher betrachtete er den Pfau. „Äh, Shen? Alles okay mit dir?“
Doch der weiße Lord reagierte nicht. Er stand wie versteinert da. Jetzt kniff er sehr langsam die Augen zusammen. Sein Blick war nur geradeaus nach unten gerichtet. Die Decke, die vor kurzem noch auf dem Bett gelegen hatte, lag auf dem Boden und zeigte in eine bestimmte Richtung, in die sie noch ein Stück weit geschliffen worden war. Shens Blick wanderte zu der gegenüberliegenden Wand. Po beobachtete mit Besorgnis wie sich die Augen des Pfaues noch weiter verengten.
Doch noch ehe der Panda etwas sagen konnte, schrie Shen laut auf und preschte vor. Wie ein wildgewordenes, aggressives Tier sprang der Pfau von einer Wand zur anderen. Seine Krallen bohrten sich regelrecht in die Tapete. Erschrocken versteckte Po sich hinter einem Schränkchen. So in Wut hatte er den Pfau nicht mal im Krieg erlebt. Hilflos vergrub er das Gesicht in den Händen und konnte nur hoffen, dass Shen sich irgendwann wieder beruhigte. Er hörte lautes Gepolter. Der Pfau schlug und hämmerte gegen jeden Winkel der Wand. Dann ertönte plötzlich ein anderer dumpfer Schlag, der nicht zum kontinuierlichen Geräuschpegel passte. Verwundert hob Po den Kopf. Das Wüten war mit einem Mal verstummt.
Zögernd lugte der Panda hinter dem Schränken hervor. Der Pfau stand keuchend in einer Ecke. Vor ihm war die Wand ein Stück zurückgegangen und gab den Weg zu einem Geheimgang frei.
Mit großen Augen erhob sich der Panda.
„Warum hast du nicht eher daran gedacht?“, fragte er.
Doch der weiße Pfau hörte ihm gar nicht zu. Stattdessen rannte er kurz zurück. Po wich ihm aus. Doch Shen griff nur sein Lanzenschwert, dass an der Wand lehnte und sprang ins Dunkel.
„Shen!“, schrie Po ihm hinterher. „Nimm doch wenigstens eine Kerze mit!“
Mahnend drückte der Pfau das Mädchen enger an sich. Shenmi wandte sich in seinem Griff und versuchte den Schnabel wieder freizubekommen. Xiang merkte, wie das Kind versuchen wollte zu schreien und hielt seinen Flügel noch fester auf ihrem Schnabel gepresst.
Es war schon eine Meisterleistung gewesen das Mädchen so schnell aus dem Zimmer zu zerren und durch die Wand zu verschwinden, obwohl er schon fast 4 Jahre kaum richtig aktiv gewesen war. Die ganze Wut, die sich in den Jahren angestaut hatte, entlud sich jetzt innerhalb von Sekunden und flaute nur allmählich ab. Die Genugtuung seinem Rivalen sein Töchterchen zu entreißen, ließ ihn etwas gelassener die Lage sehen, was sich aber auch auf seine Körperspannung auswirkte. Xiang musste sich Mühe geben die Balance auf seinem Bein zu halten.
Er hörte dumpfe Rufe, die vom Panda durch die Gänge widerhallten. Xiang grinste. Auch wenn sie den Gang gefunden haben und ihm hinterherrennen, die Gänge sind viel zu verwinkelt und verworren als dass sie ihn sofort finden könnten.
Das Gezappel des Mädchens wurde immer heftiger. Xiang löste eine Hand von ihr, sodass er nur das Gesicht im Klammergriff hatte. Er zog den Dolch aus der Seite seines Hemdes und hielt die Spitze direkt vor ihrem Brustkorb.
„Nur einen Mucks von dir und ich steche zu!“, drohte er mit gepresster Stimme.
Kaum spürte Shenmi die Spitze des Messers durch ihre Federn, fror sie ein. Dennoch wanderten ihre kleinen Flügel zu Xiangs Arm und versuchte irgendwie den Flügel von ihrem Mund runterzubekommen. Der Pfau merkte ihre zaghafte Bitte und lockerte ein kleinwenig seinen Griff um ihren Schnabel, sodass sie wenigstens wieder normal Luft bekam. Eigentlich hätte Xiang ihr am liebsten den ganzen Weg über den Schnabel zugehalten, doch weil er auf nur einem Bein stehen musste, brauchte er eine Hand zum Abstützen.
Er beugte sich zu ihr runter und drückte ihr mahnend die Dolchspitze auf den unteren Halsabschnitt.
„Ich nehme jetzt den Flügel runter“, raunte er ihr zu. „Wenn du schreist, dann muss ich dir wehtun. Hast du das kapiert?!“
Es folgte ein leises Wimmern.
„Nick‘ wenn du es kapiert hast?!“, forderte er drohend.
Wieder drückte er seinen Flügel fester auf ihrem Schnabel. Dann spürte er wie sie den Kopf nach oben und nach unten bewegte.
„Gut.“
Xiang zögerte zwar, doch er ließ ihren Schnabel los. Das Mädchen sog scharf die Luft ein. Ihr Keuchen war begleitet von einem erschrockenen Weinen. Doch Xiang nahm auf ihrem Gemütszustand keine Rücksicht. Grob schlang er einen Flügel um ihre Taille, während er im anderen immer noch den Dolch hielt. Mühsam stützte er sich damit an der Wand entlang ab.
Unruhig ging Liu im Zimmer hin und her. Xiang war jetzt schon ziemlich lange weg. Ob ihm unterwegs doch etwas zugestoßen war? Sie hatte immer wieder mit dem Gedanken gespielt, nach ihm zu suchen, ließ den Gedanken aber immer wieder fallen. Sie hielt im Gehen inne, als sie eine dumpfe Stimme vernahm.
„Und dass du mir ja still bleibst!“
Jemand schob die Tür auf.
„Los, rein mit dir!“
Erschrocken sprang Liu auf, als das weiße Mädchen über ihre Füße stolperte und auf den Boden fiel.
„Ach du meine Güte. Was haben Sie getan?“
Sie lief auf das Mädchen zu und half ihr wieder aufzusitzen. Shenmi zitterte und schaute Liu ängstlich an. „Mama?“ Doch als sie eine fremde Frauenhenne vor sich sah, wich sie zurück. „Wo ist meine Mama?!“
In diesem Moment fiel die Tür krachend zu, was aber mehr darauf zurückzuführen war, dass Xiang sich kaum noch auf seinem Bein halten konnte. Keuchend schob er den Riegel zu, lehnte sich gegen die Tür und blicke mit Abscheu auf den Nachwuchs seines ärgsten Feindes herab.
„Ist diese Schlampe etwa auch hier?“, stieß Xiang genervt aus.
Das weiße Pfauenmädchen sah ihn mit großen Augen an. Dieser blaue Pfau sah genauso aus wie der auf dem großen Gemälde in der Bildergalerie. Zögernd ging sie auf Xiang zu.
„Bist du das, Großvater?“
Dem blauen Pfau blieb der Schnabel entgeistert offen. Doch dann wandelte sich seine Fassungslosigkeit in blinde Wut.
„Du verdammte Ratte!“ Er schwang den Dolch und stürzte sich auf sie. Shenmi wich im gerade noch rechtzeitig aus. Meister Ochse hatte ihr oft genug gezeigt wie man einem Schlag auswich und rollte über den Boden, wo sie gegen eine Kiste prallte. Erschrocken sah sie Xiang an. Noch nie hatte jemand versucht sie zu schlagen. Der blaue Pfau lag zwar auf dem Boden, rappelte sich aber sofort auf zwei Flügeln und einem Bein auf.
„Du dreckiges Balg!“, brüllte er weiter. „Dir bringe ich noch Respekt bei!“
Er warf sich nach vorne und der Dolch drohte auf das Mädchen niederzusausen. Shenmi war völlig verängstig von diesem aggressiven Verhalten und flüchtete auf die andere Seite des Raumes. Xiang knallte erneut auf den Boden, schwang sich aber sofort wieder auf sein Bein und jagte ihr erneut hinterher.
In ihrer Angst versuchte das Mädchen zwischen zwei Kisten zu flüchten, doch der Spalt war zu eng. Das Pfauenmädchen fing an zu weinen, doch noch ehe Xiang sie erreichen konnte, nahm Liu sie in die Arme.
„Bitte hören Sie auf! Das hat sie bestimmt nicht böse gemeint.“
Keuchend blieb Xiang stehen, wobei der den Dolch fest umklammert hielt.
„Du hast am allerwenigsten was zu sagen!“, herrschte er sie an.
„Ich will zu Papa!“, jammerte Shenmi unter Lius Flügeln.
Mitleidig strich Liu ihr über den Rücken. Ihr bittender Blick wanderte zu Xiang. Der Pfau schnaubte angewidert, aber er zog sich zurück.
Etwas erleichtert lichtete die Pfauenhenne etwas ihre Flügel und sah auf das weiße Mädchen herab. Shenmi hob zögernd den Kopf.
„Keine Sorge“, beruhigte Liu sie. „Er wird dir nichts tun.“
Sie lächelte ihr aufmunternd zu. Nur ganz leicht hob das Mädchen die Schnabelwinkel. Die Pfauenhenne drücket Shenmi enger an sich. Ihr Blick wanderte wieder zu Xiang, der die beiden mit giftigen Blicken anstierte.
„Sie werden ihr doch nicht wehtun, oder?“, hakte Liu nach.
Xiang schnaubte. Dann glitt ein kaltes Lächeln über seinen Schnabel. „Natürlich nicht.“ Shenmi sah ihn unsicher an, sodass sich die Augen von ihr und dem blauen Pfau trafen. Xiang beugte sich ein kleinweinig zu ihr runter. „Wenn ich dir erst mal dein Hälschen gebrochen habe, dann wirst du sowieso nichts mehr spüren.“
Shenmi schluchzte auf und vergrub ihr Gesicht in Lius Hemd. Diese wiederum sah Xiang strafend an.
„Das war völlig unnötig gewesen.“
Doch Xiang zuckte nur die Achseln. „Warum nicht? Je weniger Gören es auf der Welt gibt umso besser.“
Er hinkte zu einer Kiste rüber und setzte sich. Liu verengte argwöhnisch die Augen.
„Und was haben Sie jetzt vor?“
Der blaue Pfau grinste. „Ich lasse ihn erst mal etwas zappeln. Er kann ruhig suchen so viel er will. So schnell wird er mich nicht finden. Und selbst wenn…“ Seine kalten Augen wanderte zu Shenmi, die bei seinem Anblick erzitterte. „Hab ich immer noch eine Geisel bei mir.“
Das Mädchen zog eingeschüchtert den Kopf ein.
„Shen, mir tun die Füße weh“, jammerte Po und hielt kurz an.
Das war jetzt schon die dritte Abzweigung an der sie angekommen waren. Po hegte extreme Zweifel, dass sie überhaupt auf der richtigen Spur waren. Doch der weiße Pfau würde nie im Leben eine Pause einlegen und schwang sein Schwert in jede Richtung. Zwar trugen beide je eine Kerze in der Hand, doch auch diese konnte ihnen nicht sagen, welchen Gang sie gehen mussten.
„Und wenn ich Millionen Jahre brauche“, fauchte Shen. „Ich wälze hier jeden Stein um!“
Damit sprang er in den Gang nach links. Stöhnend kraxelte Po ihm hinterher.
Es war still geworden im Raum. Liu hatte Shenmi auf dem Schoss genommen und streichelte ihr beruhigend über den Kopf. Ab und zu schniefte das Mädchen, hatte sich aber so langsam wieder von dem Schrecken erholt. Xiang saß immer noch auf der Kiste und starrte auf den Fußboden. Seine Wut hatte sich zwar ein kleinwenig gelegt, dennoch brodelte die Frustration weiter in ihm. Ständig hatte er das Bild vor Augen, wie der weiße Lord mit Hass auf ihn herabblickte und mit seinem Lanzenschwert zustieß. Xiang rieb sich über die Schultern. Ab und zu taten sie ihm noch weh, wenn er sich zu viel bewegte. Das Fliegen hatte er zwar nie mehr ausprobiert, dennoch befürchtete er, dass er nie wieder längere Strecken gleiten könnte. Er fand einfach nicht mehr die Kraft die Flügel solange gestreckt zu halten.
Er hörte seinen Magen knurren. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Der Pfau rutschte mit dem Becken nach vorne und wollte zu einer der Kisten mit den Vorräten rüberhumpeln. Doch kaum stand er auf dem linken Bein, gab dieses nach und er knickte ein. Im letzten Moment konnte Xiang sich noch an der Kiste festhalten. Das wiederum weckte Lius und Shenmis Aufmerksamkeit.
„Hast du dir weh getan?“, fragte Shenmi leise. Sie hatte immer noch Angst vor ihm. Zittrig erhob sich der Pfau. Seine wutgeladenen Augen trafen auf das Mädchen, dass sich daraufhin enger an Liu schmiegte.
„Dein Vater war es gewesen“, fauchte Xiang. „Er hat mir das angetan!“
„Das ist nicht wahr“, widersprach ihm Liu und drehte Shenmis Gesicht zu ihr hoch. „Hör nicht auf ihn. Den Unfall hatte er sich ganz alleine selber zuzuschreiben gehabt.“
Xiangs Blick verdunkelte sich. „Was weißt du schon davon?! Du warst doch gar nicht dabei!“
„Aber davon gehört.“ Liu stand auf und hielt das Mädchen feste in den Flügeln. „Wenn Sie schon Ihren Frust an jemanden auslassen wollen, dann nicht bei ihr!“
Xiangs Zittern verstärkte sich. Doch dann hielt er es nicht mehr länger auf seinem Bein aus und rückte wieder auf den Kistendeckel. Kaum saß er, rieb er sich über sein schmerzendes Knie und über das Fußgelenk. Liu hob die Augenbrauen. Wie befürchtet hatte er sein Gelenk zu sehr überfordert. Doch die Pfauenhenne wollte ihn nicht damit aufziehen und stellte stattdessen eine neutralere Frage.
„Was erhoffen Sie sich eigentlich dadurch?“
Xiang sah sie nicht sofort an. Stattdessen strich er über sein Knie und starrte nur vor sich hin. Nur langsam wanderten seine Augen auf die beiden weiblichen Wesen, die nicht wussten, ob sie sich von einem halbgelähmten Pfau bedroht fühlen sollten oder nicht. Xiang war zwar unfähig schnell zu laufen, doch er hatte immer noch den Dolch bei sich und Liu konnte nicht sagen, ob er gut im Messerwerfen war.
Nach einer Weile des Anstarrens bewegte Xiang den Schnabel, brachte aber kein Wort zustande. Er schaute einfach weg und ignorierte sie.
Plötzlich hämmerte es an der Tür. Alle hoben ruckartig die Köpfe.
„Verdammt!“, fluchte Xiang. „Offensichtlich haben sie uns doch schon gefunden.“
In Shenmi stieg eine Hoffnung auf. „Daddy!“
Sie riss sich von Liu los. Doch noch ehe sie die Tür erreichen konnte, tötete Xiang all seinen Schmerz ab und stürzte sich auf sie. Shenmi schrie auf, doch Xiang hielt sie eisern fest.
„Halt den Mund!“ Er packte sie am Kehlkopf und hielt ihr den Dolch vors Gesicht.
Mit weit aufgerissen Augen starrte das Mädchen auf die rasiermesserscharfe Klinge. Xiang grinste zufrieden und seine Augen wanderten zu Liu.
„Mach die Tür auf.“
Liu zögerte, bis Xiang die Klinge gefährlich nahe an Shenmis Hals drückte.
„Mach – die – Tür – auf!“
Seufzend tat sie was er befahl. Sie ging zur Tür, schob den Riegel zur Seite und öffnete sie langsam. Doch da stand niemand. Liu spähte in den Gang, schaute nach rechts und nach links. Doch der Korridor war leer.
„Da ist niemand“, sagte sie schließlich.
„Versuch nicht mich hereinzulegen!“, fauchte Xiang und hielt dem Mädchen den Dolch unters Kinn.
„Meine Güte, verdammt, da ist niemand!“, beteuerte sie.
Der Pfau verengte misstrauisch die Augen. Sollte das eine Falle sein, dann wollte er nicht der Dumme sein.
„Hol dir eine Lampe und leuchte durch“, kommandierte er.
Liu wollte ihn nicht mit Widerworten wütender machen. Gehorsam nahm sie eine der Laternen und ging damit in den Flur. Sie hielt das Licht abwechselnd zu beiden Seiten, doch die Gänge waren alle leer.
„Also, da ist wirklich niemand…“
„Geh mir aus dem Weg!“
Brutal stieß der Pfau sie zur Seite. Liu konnte gerade noch verhindern nicht gegen die Wand zu fallen. Ärgerlich hielt sie die Lampe hoch, während der Pfau mit dem Mädchen im Flügel sich suchend umsah.
„Komm raus! Oder bist du zu feige dazu?!“, brüllte er.
Doch zu seiner Verwunderung blieb alles still.
„Na schön“, zischte Xiang mehr zu sich selbst und zerrte Shenmi im Flügel vor sich her. „Komm raus! Oder ich schneid ihr die Kehle durch!“
Unter großer Anstrengung schlurfte er etwas den Gang runter. Besorgt sah Liu zu wie die beiden langsam aus dem Lichtkegel verschwanden.
Plötzlich gab es einen grellen Aufschrei. Liu war so erschrocken, dass sie zur Salzsäule erstarrte. „Was ist los?!“
Im Gang vor ihr entstand ein wüstes Gerangel und Toben. Im nächsten Moment sah die Pfauenhenne Shenmi aus der Schwärze auf sie zu rennen. Liu fing sie ab und hob sie hoch. Das Kämpfen im Dunklen nahm kein Ende. Ängstlich wich Liu mit Shenmi auf den Armen zurück. Wäre das wirklich ihr Vater gewesen, würde sie nicht weglaufen. Ihre Bedenken wurden bestätigt, als auf einmal mehrere glühende Augen im schwachen Licht aufleuchteten.
Liu dachte nicht länger nach. Sie drehte sich um und rannte mit Shenmi den entgegengesetzten Gang runter.
„Hast du das gehört?“ Po spitzte die Ohren und lauschte. Ein leiser Schrei war durch die Gänge gehallt und ließ Pfau und Panda erstarren. „Woher kam das?“
„Das war jedenfalls nicht Shenmi“, zischte Shen in einem aggressiven Tonfall.
Po kaute auf seinen Fingernägeln. „Wer dann?“
In dieser Sekunde huschte etwas im Gang vor ihnen durch eine Gabelung.
Shen reagierte sofort und sprang dem davonflüchtenden Schatten nach. Po hatte seine Not dem schnellen Pfau nachzulaufen und sah nur noch, wie Shen um eine Ecke verschwand.
„Shen? Jetzt lauf doch nicht so schnell. Hey warte!“
Plötzlich rannten weitere Schatten über die Weggabelung. Kurz darauf ertönten laute Schreie. Völlig erschrocken sprang Po nach vorne und leuchtete mit der Kerze um die Ecke. Der Gang stand völlig im Dunkeln. Shen musste seine Kerze verloren haben. Po kniff die Augen zusammen und hielt seine Kerze höher, konnte aber nur ein wüstes Gerangel und Umherspringen von Schatten erkennen. Shen schien heftig um sich herum zu schlagen. Irgendjemand schrie laut auf. Hatte Shen ihn erwischt?
Po spannte die Muskeln an. „Hey, aus dem Weg! Jetzt komme i…!“
Irgendetwas traf den Panda mit voller Wucht im Gesicht. Po fiel nach hinten und verlor dabei die Kerze, die sofort erlosch. Mit einem Mal saß er Panda im Stockdunkeln.
„Hey!“ Der Panda musste sich die Hände vors Gesicht halten, um sich vor den Schlägen zu schützen, die auf ihn niederprasselten. Die Angreifer waren anscheinend klein, doch ihre Angriffe dafür umso heftiger. Doch Pos dichtes Fell konnte ihren Schlägen kaum was anhaben. Der Panda warf sich nach vorne, in der Hoffnung irgendwo Shen zu finden. Doch dann traf ihm erneut ein Schlag in den Rücken und der Panda ging wieder in Verteidigung über. Doch die Schatten im Dunkeln waren so flink, dass Po niemanden ausfindig machen konnte. Plötzlich gab die Wand hinter dem Panda nach und Po kullerte über einen mit leichter Staubschicht bedecken Marmorboden. Die Geheimtür fiel krachend wieder zurück.
Keuchend rappelte Po sich auf. Er befand sich in irgendeinem der vielen Zimmer. Mondlicht drang durch die Fenster, sodass er wenigstens etwas sehen konnte. Schnell rannte er zu der geschlossenen Tür in der Wand, doch so sehr Po auch dagegen drückte, er bekam sie nicht auf.
„Hey! Lasst mich rein!“
Ärgerlich rüttelte er an der Wand, doch egal was er tat sie gab nicht nach. Die merkwürdigen Angreifer mussten sie blockiert haben.
„Verflixt! Was mach ich jetzt?“
Liu rannte durch die Gänge und drückte immer gegen die Wände. Irgendwo musste doch der nächste Ausgang aus diesem Labyrinth sein. Endlich nach einer schier endlosen Suche gab eine Wand nach. Schnell sprang sie mit Shenmi auf den Armen da durch und gelangte in einen Korridor. Hastig sah sie sich um und schwang die Laterne, die sie immer noch bei sich trug, hin und her.
„Hilfe!“, rief sie und rannte einfach irgendwo weiter.
Po hob den Kopf, als er den Hilferuf vernommen hatte. „Shenmi, bist du das?!“
Eilig verließ er das Zimmer, das teilweise mit weißen Lacken über den Möbeln bedeckt war und suchte nach der nächsten Tür. Als er endlich eine gefunden hatte, riss er sie auf und gelangte in einen der vielen mit Teppichen ausgelegten Korridore.
„Shenmi? Shenmi!“
Po wusste nicht in welche Richtung er rennen sollte, weshalb er bis zum Ende des Korridors rannte und dort weiter Shenmis Namen rief. Als er dort keine Rückantwort erhielt, rannte er den Korridor zurück und rief auf der anderen Seite weiter. Und er erhielt tatsächlich eine Antwort, allerdings nicht von Shenmi.
„Was ist los?“
Stattdessen tauchte König Wang und der Verwalter Huan mit einer Laterne auf, die den Panda verwundert ansahen.
„Shen… Shenmi… weg… hinter der Wand…“, stieß Po völlig verwirrt hervor.
Wang runzelte die Stirn. „Was?“
„Zuerst dachte ich hier spukt es“, ratterte Po seinen Satz herunter. „Doch dann ist Shenmi verschwunden. Dann war da ein Loch in der Wand. Dann waren da Schatten. Und Shen ist verschwunden. Jetzt hab ich Shenmi gehört…“
„Moment mal, das geht mir zu schnell“, unterbrach ihn Wang. „Was ist los?“
Po holte tief Luft. „Shenmi ist weg. Shen ist weg. Und hier wimmelt es von Gängen hinter den Wänden.“
Im nächsten Moment rannte jemand über den Korridor auf sie zu. Po fuhr herum, doch es war nicht Shen.
„Endlich, ich hab euch gefunden“, rief eine Frauenstimme erleichtert.
Verwundert sahen Panda, Ochse und Stier zu, wie die Pfauenhenne vor ihnen atemlos zum Stillstand kam. In den Flügeln trug sie eine kleine weiße Gestalt.
„Shenmi?!“
Überglücklich nahm Po das weiße Mädchen in die Arme.
„Po?“ So langsam taute das verschreckte Pfauenmädchen wieder auf. Als es in Pos strahlendes Gesicht sah, klammerte sie sich in sein Fell.
„Wo ist Daddy?“, jammerte sie.
Po sah sie verwundert an. „Ist er euch nicht begegnet… Moment mal. Wer sind Sie eigentlich?“
Liu schluckte und sah besorgt zu König Wang. Sie war ihm zwar nur zweimal begegnet in der Kurresidenz, dennoch musste sie sich wohl oder übel zu erkennen geben.
„Ich bin Xiangs Pflegerin.“
Po rutschte die Kinnlade runter. „Hä? Was? Ist Xiang etwa auch hier?“
Beschämt senkte Liu den Blick. „Ja…. Aber das war keine Absicht!“, wandte sie schnell ein. „Er wurde entführt. Ich hab ihn dann hierher begleitet, als wir fliehen konnten.“
Po war immer noch völlig von der Rolle. „Xiang ist auch hier? Na das wird ja immer bunter.“
„Und warum haben Sie mich dann nicht verständigt?“, fragte König Wang streng.
Liu zog den Kopf ein und wich seinem Blick aus. „Ich… ich weiß auch nicht…“
„Hat er auch Shens Frau entführt?“, hakte Wang weiter nach.
Liu sah ihn überrascht an. „Wie? Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass Xiang verschwunden ist. Irgendjemand hat ihn überfallen. Ich bin dann nur noch mit ihr geflohen.“
Sie deutete auf Shenmi.
Po wurde mit jeder Sekunde verwirrter. „Aber wenn er nicht Yin-Yu entführt hat, aber Shenmi, und Shen ist jetzt auch weg und Xiang auch, dann… Oh weh! Das ist ja richtig kompliziert.“
Liu sah ihn mitleidig an.
Wang schlug die Hufe zusammen. „Also, wenn er es nicht war, dann scheint noch jemand anderes sich hier herumzutreiben.“
Das lichtete ein wenig den Nebel in Pos Kopf. „Äh, ja… so muss es wohl sein.“ Er zog die Stirn in Falten. „Irgendjemand lungert hier herum. Dann muss es auch dieselbe Person gewesen sein, die Shen überfallen hat.“
„Ich will zu Papa!“, bat Shenmi.
Ratlos sah Po das Mädchen an. Dann hob er sie hoch und lächelte ihr zu. „Keine Sorge, wir werden ihn schon finden.“
Po brach ab. „Die Frage ist nur, wo.“
Um ihn herum war alles dunkel. Allmählich kam der weiße Pfau wieder zu sich und schaffte es ein bisschen zu blinzeln. Zunächst erkannte er nur leichte Umrisse. Er konnte kaum etwas sehen. Nur der sehr schwache blasse Lichtschein einer Laterne erhellte den Raum. Stöhnend versuchte Shen seinen Körper zu bewegen, doch er hatte das Gefühl er würde in Eisen feststecken. Er drehte leicht den Kopf nach rechts und nach links, um irgendwie wieder klar denken zu können. Nur langsam kamen ihm die Ereignisse wieder in den Sinn, bevor ihn jemand so brutal auf den Kopf geschlagen und er das Bewusstsein verloren hatte. Wo war er gewesen? Was war passiert? Was war…?
Das war nicht Gongmen, auch nicht Yin Yan…
Der Pfau schloss die Augen und versuchte sich wieder zu erinnern.
War da nicht eine Reise gewesen…?
„Mendong“, murmelte er. Ja, so hieß die Stadt. Dann war da noch der Panda... und… Shenmi… „Shenmi.“
„Nett dich wieder aufwachen zu sehen“, wisperte eine andere Stimme neben ihm.
Shen kniff die Augen zusammen. Diese Stimme kannte er doch… War das nicht…
Mit einem Schlag war Shen hellwach. Er riss die Augen auf und sah links nicht weit von sich entfernt die dunkelblaue Gestalt eines Pfaus.
„DU!“
Shen wollte sich auf ihn stürzen, musste aber feststellen, dass er mit Stricken gefesselt war.
Seinen Zorn kurzfristig vergessend, riss Shen an den Stricken. Seine Flügel waren nach hinten zusammengebunden, die seinen Rücken gegen eine dünne Säule festhielten. Auch seine Beine waren miteinander verschnürt. Zudem war sein langer Hals mit Seilen an der Säule befestigt, was es ihm auch nicht ermöglichte seinen Oberkörper zu bewegen.
„Wie kannst du es wagen?!“, brüllte er Xiang an, während er weiter an den Stricken zerrte. „Wo ist meine Tochter?! Und wo ist meine Frau?! Hast du sie auf dem Gewissen?! ICH BRING DICH UM!“
„Hey!“, fuhr Xiang ihm dazwischen. Er klang selber auch etwas erschöpft. „Ich weiß es doch auch nicht! Bist du blind, oder siehst du nicht, dass ich selber hier feststecke?!“
Shen hielt inne. Erst jetzt bemerkte er, dass der blaue Pfau auf die gleiche Art gefesselt war wie er und ebenfalls an einer Säule hockte.
Das wirbelte in Shens Kopf wieder alles durcheinander. Oder wollte dieser Pfau ihn nur hereinlegen? Er kniff die Augen zusammen und betrachtete Xiang mit zornigem Blick. Es erstaunte ihn, dass sein Gefieder wieder vollständig nachgewachsen war. Das hätte er nie erwartet. Doch wenn er nicht für Yin-Yus und Shenmis Verschwinden verantwortlich war…
„Und wer war es dann?“, forschte Shen streng und hob seine gefesselten Füße.
Xiang senkte den Kopf. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, murmelte er kleinlaut.
Shen sah ihn misstrauisch an. Hatte sein Rivale eine Vorahnung oder sowas?
Der weiße Pfau wandte seinen Blick von Xiang ab und nahm die Gelegenheit war, sich umzusehen. Der Raum stand komplett im Halbdunkeln. Nur eine Laterne brannte über ihren Köpfen an der Decke, umschirmt von einer kalten weiß-grauen Pappe, die dem Raum zusätzlich eine schaurige Atmosphäre verlieh. Doch das war kein Keller oder sowas, wie Shen anfangs vermutet hatte. Im Gegenteil, die Wände waren teilweise mit goldenen Rahmen verziert und der Boden war mit schönen glatten Marmorplatten ausgelegt. Als nächstes erkannte er im Dämmerlicht Möbel, wie Schränke, Kommoden, allesamt schön verziert und bestimmt auch teuer. Von den Decken hingen hier und da ein Seidentuch zur Dekoration und gegenüber stand ein Bett. Es schien unbenutzt zu sein. Die Decke war völlig faltenfrei und glattgestrichen.
„Wo sind wir hier?“, stellte Shen die nüchterne Frage.
Xiang schluckte, als scheute er sich davor die Antwort in den Mund zu nehmen. Schließlich bewegte er den Schnabel und hauchte nur ein paar heisere Worte.
„In… meinem… Kinderzimmer…“
„Das hast du richtig erkannt.“
Xiang stockte er Atem, als ihn die Stimme einer Frau unterbrach. Auch Shen horchte auf. Sie waren nicht alleine in diesem Raum. Nur wusste der Lord nicht was er von dieser unüblichen Begrüßung halten sollte. Doch als er zu Xiang rüber schielte, schien dieser erstarrt zu sein.
Shen hasste es im buchstäblichen und ihm übertragenem Sinne im Dunkeln zu sitzen und wollte Klartext. Wieso versteckte sich die Person vor ihnen?
„Wer sind Sie? Zeigen Sie sich!“, forderte er.
Für ein paar Sekunden blieb alles still. Doch dann erklangen hinter ihnen Schritte. Shen lauschte angestrengt. Das waren blanke Füße auf harten Boden. Die Person trug keine Schuhe. Zudem war die Gangart von einem leichten Klang an Krallen begleitet. Es musste sich um Vogelfüße handeln, die verstörend langsam über den Boden wanderten. Zusätzlich war das Schleifen von Stoff zu hören. Shen versuchte den Kopf nach hinten zu drehen, doch er schaffte es nicht.
Die Schritte waren jetzt fast neben ihnen. Auf einmal blieben sie stehen. Für ein paar Sekunden herrschte absolute Stille. Die zwei Pfaue konnten nichts hören, außer ihren eigenen Atem.
„Lange nicht mehr gesehen“, begann die Frauenstimme mit einem spöttischen Unterton. „Mein lieber Xiang.“
Im nächsten Moment trat eine Gestalt ins schwache, fahle Laternenlicht. Shen zuckte zusammen, schüttelte dann aber wieder sofort den Kopf. Zumindest soweit ihm das möglich war. Nein, es war zwar eine Pfauenhenne, ohne Zweifel, doch es war nicht Yin-Yu. Bestimmt nicht. Diese hier unterschied sich deutlich von ihr. Allein schon durch ihre buschige langen Kopffedern, die von extrem langen Haarnadeln zusammengehalten wurden, die so lang wie Essstäbchen waren. Ihre Federn waren zwar dunkel gefärbt, genaueres konnte Shen in dem schwachen Licht nicht erkennen, aber sie musste viel Schwarzanteil in ihrem Gefieder besitzen. Das nächste Auffällige war ihr extrem langer schwarzer Mantel. Er war fast so lang wie die Schwanzfedern eines Pfaus und an den Enden ausgefranst mit langen Stoffstreifen, die sie hinter sich herzog.
Shen kniff die Augen zusammen. Diese Pfauenhenne hatte er irgendwo schon mal gesehen.
Sie neigte sich zu Xiang runter. Dieser sah ungläubig zu ihr auf. Sie lächelte ihn an. Aber es war ein äußerst hinterhältiges, kaltes Lächeln.
„Warum schaust du so?“, fragte sie liebevoll. „Bist du so überrascht mich zu sehen, oder erkennst du deine eigene Tante nicht mehr?“
Shen horchte auf. War das etwa…
Dann erinnerte er sich wieder an das Gemälde und was Huan gesagt hatte.
„Das ist Xiangs Mutter mit ihrer Schwester Chiwa. Eine nette Dame. Wie ihre Schwester. Die beiden Schwestern waren immer unzertrennlich gewesen und haben vieles gemeinsam gemacht. Aber seit dem Verschwinden von Xiangs Mutter hat sie sich auch nicht mehr hier blicken lassen.“
„Dann bist du also Chiwa?“, forschte Shen grimmig nach.
Die Pfauenhenne drehte sich zu ihm um. Dann schenkte sie ihm ebenfalls ein Lächeln. „Oh, sieh einer an, der Junge hat aufgepasst. Wie…“
„Was willst du von uns?!“, unterbrach Shen sie unwirsch.
In den Augen der Pfauenhenne blitzte es kurz auf. „Ganz schön vorlaut für einen - farblosen - Pfau.“
Das Wort „farblos“ sprach sie in einem so abfälligen Ton aus, als wäre es etwas Unanständiges. Shen versuchte diese Beleidigung zu überhören und wiederholte nochmal sein Anliegen.
„Du hast meine Frage nicht…!“
„Du redest nur wenn du gefragt wirst“, fiel Chiwa ihm hart ins Wort. „Ich darf mich wohl noch mit meinen Neffen unterhalten. Es ist unhöflich jemanden mitten in einem Gespräch zu unterbrechen. Jungs sollen sich nicht so aufführen, und schon gar nicht ungestüm, das gehört sich doch nun wirklich nicht.“
Als sie sich wieder ihrem Neffen zuwandte, bemerkte Shen, wie Xiang begonnen hatte zu zittern. Er sah die Pfauenhenne so entsetzt an, als würde ein Monster vor ihm stehen.
Die Pfauenhenne schien seine Angst zu gefallen und beugte sich noch weiter zum blauen gefesselten Pfau runter.
„Mein lieber kleiner Neffe“, säuselte sie mütterlich. „Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?“
Der blaue Pfau schluckte schwer. „Nicht l-ang ge-genug“, stotterte er, was Shen etwas überraschte.
Die Pfauenhenne grinste und strich dem blauen Pfau über die Stirn, bevor sie seine Wange tätschelte. „Dachtest du wirklich du könntest mir ewig entkommen?“
Angewidert wich Xiang ihrer Berührung aus, was seiner Tante aber nicht störte. Stattdessen richtete sie sich wieder auf und verbarg ihre Flügel unter ihrem Gewand.
„Als du noch hier gewohnt hast, hast du mir auf ewig den Zutritt verweigert“, fuhr die Pfauenhenne gekränkt fort. „Und es war nicht leicht dich zu finden. Ich musste die Informationen aus deiner Ex-Frau regelrecht herausfoltern, damit sie redet.“
Shen hob ruckartig seinen Pfauenkamm. „Wo ist meine Frau?! Was hast du mit ihr gemacht?!“
Chiwa drehte sich zu ihm um. Als sich ihre Blicke trafen, zog sie die Augenbrauen hoch. Shen sah sie so aggressiv an, als wollte er sie in der Luft zerreißen. Doch diese schneidenden visuellen Gesten konnten die Pfauenhenne nicht beeindrucken.
„Oh, du willst zu deiner Frau?“ Ungerührt strich sie sich übers Kinn, als würde sie nachdenken. „Tja, ich denke, da lässt sich was machen.“ Sie klatsche kurz leicht in die Flügel. „Tongfu.“
Im nächsten Moment tauchten im Dunkeln mehrere leuchtende Augen auf. Kurz darauf traten viele kleine Gestalten ins spärliche Licht. Shen musterte sie mit Argwohn. Es waren Geckos, fast zehn Stück, gekleidet in schwarzen Hosen. Ihre roten Augen mit den schwarzen Pupillen verliehen ihnen ein besorgniserregendes Aussehen. Doch Shen war so mit Wut geladen, dass selbst der schlimmste Dämon ihn nicht hätte einschüchtern können. Einer der kleinen Reptilien trat hervor und sein stechender Blick blieb über dem weißen Pfau hängen.
Chiwa kicherte bei diesem Augengefecht. „Ihr hattet ja schon bereits das Vergnügen miteinander gehabt.“
Der kleine Gecko, wahrscheinlich den sie mit Tongfu gerufen hat, knurrte gereizt. „Ja, allerdings.“
Er deutete auf einen anderen Gecko im Hintergrund, der einen Verband am Arm trug. Wahrscheinlich war er es gewesen, den Shen beim Kampf mit seinem Schwert erwischt hatte.
Chiwa schmunzelte, kam dann aber wieder auf das Thema zu sprechen. „Sei doch bitte so nett und verschaff ihm das Gewünschte.“
Der Gecko zischte Shen nochmal kurz an, bevor er sich verneigte. „Wie Sie wünschen.“
Sie verschwanden kurz aus dem Blickfeld ins Dunkel. Dann wurde eine große Tür geöffnet, die in ein weiteres Zimmer führte. Shen kniff die Augen zusammen. Im schwachen Mondlicht, der durch die Ritzen der angenagelten Bretter am Fenster hindurchschien, erkannte er ein noch größeres Bett. Die Geckos krabbelten auf den Boden und zerrten etwas unter dem Bett hervor. Anschließend schleiften sie ein Bündel hinter sich her wieder ins sogenannte Kinderzimmer und warfen es dem weißen Pfau vor die gefesselten Füße.
Das Wesen wimmerte leise. Dann regte es sich und hob schwach den Kopf. Shen erkannte Yin-Yus silberne Augen, die ihn erschöpft ansahen.
Shens Herz machte einen erleichterten Sprung. Sie war zwar gefesselt, schien aber unverletzt zu sein. Zumindest konnte Shen keine Wunden entdecken. Shen versuchte mit seinen gefesselten Beinen sie anzustupsen, konnte sie aber nicht erreichen.
Yin-Yu bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor. Sie war völlig entkräftet, was Shen eine unsagbare Wut hochtrieb.
„Was hast du mit ihr gemacht?!“, schrie er Chiwa an.
Doch die schwarze Pfauenhenne hob nur tadelnd den Kopf. „So ein frecher Junge. Er hat eine weitaus größere Lippe als du…“ Damit meinte sie Xiang, der immer noch völlig starrt vor Angst dasaß. „Wenn du überhaupt ein Rückgrat hättest…“
„Wo ist meine Tochter?!“, forderte Shen als nächstes.
Yin-Yu hob ruckartig aber schwach den Kopf. Doch nicht Shenmi, hoffte sie.
Chiwa lächelte. „Ach, du meinst das kleine blasse Ding, dass mein Neffe mit sich hat mitgehen lassen?“
Shens vernichtender Blick traf Xiang mit solcher Wucht, dass der blaue Pfau fast einknickte. Doch Chiwa kümmerte sich nicht um den privaten Streit zwischen den beiden und wandte sich wieder an Tongfu.
„Och, Tongfu, hab ich was versäumt, oder hast du mir was zu sagen, was ich noch nicht weiß?“
Der Gecko trat neben sie. „Nein, das weiße Federbällchen ist irgendwohin. Sollen wir es auch noch holen?“
Doch die Pfauenhenne winkte ab. „Nein, sie ist nicht notwendig.“ Ihr Blick wanderte zu Xiang. „Es ging mir nur um ihn.“
Ein fieses Grinsen glitt über ihre Schnabelwinkel, als der blaue Pfau innerlich zusammenbrach und schicksalsergeben den Kopf hängen ließ.
„Und außerdem“, fuhr sie fort. „Ist sie für eine Pfauenhenne eh schon hässlich genug. Aber ein hässlicher Pfau…“ Ihre Aufmerksamkeit galt wieder Shen. „Das ist selten.“
Shen spannte die Augenlider an. Er hasste es, wenn jemand über seine Farbe herzog. Sein Blick wanderte zu Yin-Yu, die nun ebenfalls gerade rechts von ihm an einer Säule gefesselt wurde.
Nachdem die Geckos mit ihrer Fesselkunst fertig waren, ließen sie von Yin-Yu ab und die schwarze Pfauenhenne trat an sie heran. Yin-Yus eingeschüchterte Augen wanderten zu ihr hoch. Chiwa blickte auf sie herab.
„Es wundert mich, dass du ihn mit so einen ausgetauscht hast“, bemerkte sie spitz. „Mein Neffe hatte da äußerlich mehr zu bieten.“
Shens Körperhaltung verkrampfte sich. Dieses fiese Weib wusste wohl nicht, dass Yin-Yu farbenblind war. Doch er biss die Zähne zusammen und verkniff sich eine Beleidigung. Die Situation war angespannt genug. Dennoch wusste er nicht, was diese Pfauenhenne plante. Aber es war eine Tatsache, dass es nichts Gutes war.
„Oh ja“, fuhr Chiwa wehmütig fort. „Er hatte schon immer mit seiner Schönheit hervorgestochen… Was für meine Schwester jedoch ein Dorn im Auge war.“
Yin-Yu nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie es schaffte den Schnabel zu bewegen.
„Warum das alles?“, fragte sie schwach.
Chiwa lächelte sie an. „Das hast du mich schon mal gefragt, bei unserem Gespräch…“
Shens Kammfedern zitterten vor Wut. Er wollte sich nicht vorstellen, wie dieses sogenannte „Gespräch“ von statten gegangen war. Er fragte sich, ob man Yin-Yu überhaupt über die Tage etwas zu essen gegeben hatte.
„Aber wenn du eine Antwort haben willst“, fuhr Chiwa gelassen fort. „Vielleicht sollte dir mein Neffe die Antwort geben.“
Xiang zuckte zusammen, als Chiwa sich ihm zuwandte und ihn herausfordernd ansah.
„Na, willst du es ihr nicht sagen?“
Der blaue Pfau drehte den Kopf zur Seite und presste die Schnabellippen zusammen, was Chiwa als deutliche Verweigerung interpretierte. Dann kicherte sie.
„Tja, er will wohl nicht sagen, dass er meine Schwester ermordet hat…“
„Sie wollte mich umbringen!“, schrie Xiang dazwischen. „Das sie geplant! Die ganze Zeit! Ihr beide habt das geplant…!“
Die Ohrfeige von seiner Tante war heftig. Xiang stiegen die Tränen in die Augen. Ohne Hemmungen ließ er ihnen freien Lauf.
Chiwa hatte sich unterdessen wieder soweit gefasst, dass sie ihre verbale Rüge kurzfristig unterbrach und ihn wieder mit Worten attackierte.
„Gehorsam ist wirklich eine Schwachstelle von dir“, fauchte sie böse. Dabei sah sie ihn so tief in die Augen, dass Xiang unter seinem Tränenschleier noch stärker erzitterte.
Doch dann glitt über Chiwa ein fieses Grinsen. Sie ließ ihren Flügel zum Hinterkopf ihres Neffen wandern und grub sich mit den Fingerfederspitzen durch seine Federn.
„Du weißt, dass ich dich dafür bestrafen muss…“
„Hey!“, mischte Shen sich ein und zog an seinen Fesseln. „Eure Familienangelegenheiten gehen uns nichts an. Lass uns gehen!“
Die Pfauenhenne ließ von Xiang ab und wandte sich dem weißen Lord zu. Dabei sah sie ihn so gehässig an, dass Shen sich nichts Sehnlicheres wünschte, als sie mit seinem Schwert zu erdolchen.
Chiwa legte die Federspitzen ihrer Flügel aneinander und ging mit langsamen Schritten auf den gefesselten Pfau zu. „Da muss ich dich leider enttäuschen. Ist ein Pfau erstmal in unseren Fängen, und damit meine ich mich und meine Schwester, wird seine Pracht niemanden mehr erfreuen können.“
In Shen zog sich der Magen zusammen. Diese Pfauenhenne strahlte etwas so derartiges teuflisches aus, die selbst seine Boshaftigkeit von damals übertraf.
Chiwa weidete sich an Shens Verwirrung und beugte sich zu ihm hinunter. Anschließend umfasste sie das Gesicht des weißen Pfaus und streichelte seinen Kopf.
„Du könntest mir noch von Nutzen sein“, raunte sie ihm zu. „Ihr Pfaue haltet euch ja für so schön, was man von dir nicht gerade behaupten kann…“
Blitzartig griff sie in seinen Federkamm und riss ihm eine der langen Federn raus.
„Autsch!“
Wütend stieß Shen sie mit seinen gefesselten Beinen von sich. Doch Chiwa kicherte nur und betrachtete geringschätzig die weiße mit dem rot-schwarzen Muster herausgerissene Feder.
„Äußerst primitiv“, sagte sie abfällig und ließ die Feder zu Boden fallen. Anschließend wanderte ihr verachtenswerter Blick zu Yin-Yu rüber.
„Bei deiner Frau allerdings könnte ich mich zu einer Freilassung überreden lassen.“ Sie ging auf die jüngere Pfauenhenne zu, die sie unsicher beobachtete. Chiwa hatte so einen scheinheiligen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als Chiwa ihre Federfinger unter ihr Kinn hielt und ihren Kopf nach hinten neigte. Dann drückte sie ihr ein wenig auf die Kehle.
„Sobald ich ihr eine Hässlichkeits-OP verpasst habe“, vollendete Chiwa ihre Ausführung mit einem hinterhältigen Grinsen. „Sie erscheint mir ein bisschen zu hübsch.“ Sie strich mit dem anderen Flügel über Yin-Yu zitterndes Gesicht. „Das würde sonst mein Schönheitsideal etwas eintrüben.“
Shen kochte vor Zorn. Wenn sie sie auch nur anrührte…
„Denkst du, du siehst danach besser aus?!“, herrschte er sie an.
In der nächsten Sekunde hörte man nur Xiangs erstickten Atem. Der blaue Pfau zog so extrem den Kopf ein, dass er fast in seinen Fesseln einsank.
Chiwa schien für einen Moment wie eingefroren zu sein. Dann löste sie sehr langsam ihre Flügel von Yin-Yu und richtete sich auf. Ihre Augenwinkel trafen eiskalt auf Shen.
Anschließend wandte sie sich von der silberäugigen Pfauenhenne ab und bewegte sich mit steiniger Miene auf den an der Säule weißen gefesselten Pfau zu. Dabei kam sie ihn wieder extrem nah, bis sie sich vor ihm leicht vorneigte und ihm in die Augen sah.
Shen meinte er würde bei ihrem Blick zu Eis erstarren, so kalt war ihr Antlitz, dem sie ihn zuwarf. Dann hob sie einen Flügel und drückte ihre Federzeigefeder auf seine Schnabelspitze. Anschließend schob sie ihren Kopf zu ihm vor.
„Ich sehe, du redest gerne, nicht wahr?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Dann zog sie eine ihrer Haarnadeln aus ihrem Kopffedern heraus, die die Länge einer Fingerfeder besaßen. Drohend hielt sie das spitze Teil vor Shens Gesicht. Im kalten Laternenlicht fiel dem Lord besonders das dolchartige Ende der Nadel auf. Doch er kam nicht dazu sie genauer zu begutachten. Denn im nächsten Moment verschwand das Haarschmuckstück aus seinem Sichtfeld und Chiwa legte einen Flügel auf seinen Hals.
„Dann muss ich dich wohl ablenken“, raunte sie ihm zu. „Damit du nicht so viel redest.“
Plötzlich presste sie ihren Flügel auf seinen Schnabel. Shen riss die Augen auf, als kurz darauf ein heftig stechender Schmerz seinen Bauch durchdrang. Er wollte schreien, doch sie drückte ihren Flügel so feste auf seinen Mund, dass er nur beschwerlich durch die Nase nach Luft ringen konnte. Er versuchte sich freizukämpfen. Doch die Pfauenhenne hielt ihn eisern fest. Sie schien es regelrecht zu genießen, wie der Pfau sich unter ihr wandte
Yin-Yu stieß einen ersticken Angstschrei aus, als Chiwa ihm die Nadel in den Bauch stach.
„Nein! Hör auf!“
Im nächsten Moment ließ sie wieder von ihm ab. Der Stich verschwand, doch der schreckliche Schmerz danach verschlimmerte sich blitzartig. Ungläubig sah Yin-Yu zu wie Shen keuchend nach Luft rang und sich vor Schmerzen krümmte.
Chiwa kümmerte das Leiden ihres Gefangenen nicht im Geringsten und strich seelenruhig mit den Federfingerspitzen über die Nadel an der Shens frisches Blut noch dran klebte.
„Das wird dich für eine Weile beschäftigt halten“, meinte sie spöttisch. Dann wandte sie sich von dem schwer atmenden Pfau ab und sah zu ihrem Neffen rüber.
„Nun zu dir…“
Yin-Yu achtete nicht mehr auf sie. Ihr verzweifelter Blick war nur auf Shen gerichtet, der keuchend an der Säule saß und mit dem Schmerz kämpfte. Der weiße Lord kniff die Augen zusammen und dachte in diesem Moment nur: Wo war dieser Panda, wenn man ihn mal brauchte?!
„Wo sollen wir nur suchen?“, fragte Po mehr zu sich selbst. „Sie können über all sein. In jedem Zimmer.“
Bei dieser Aussage wurden Po wieder die Knie weich.
Huan nickte verständnisvoll. „Das dürfte schwierig werden. Wir haben doch schon jedes Zimmer, bis auf zwei, systematisch durchsucht.“
Po sah ihn verwundert an. „Von welchen zwei Zimmern sprechen Sie?“
„Na von denen, die extrem verriegelt sind. Nach Yin-Yus Verschwinden haben wir nur die Türen überprüft. Sie wurden nicht angerührt. Von daher haben wir sie auch nicht aufgebrochen.“
Po legte die Stirn in Falten. „Aber wenn es diese Geheimgänge gibt… Könnte es nicht sein, dass jemand auf diesem Weg dorthin gelangt ist?“
Der alte Stier zog die Nase kraus. „Schon möglich…“
„Könnte es vielleicht die verbotene Zone sein?“, wollte Liu wissen, was das nächste Fragezeichen in Pos Kopf bildete.
„Hä, verbotene Zone?“
„Xiang sprach davon“, erklärte die Pfauenhenne. „Das wäre ein Raum, den niemand betreten dürfte.“
König Wang war da nicht so ganz sicher. „Aber sie könnten doch auch genauso gut irgendwo in den Gängen sein…“
„Ach was“, ging Po schnell dazwischen. „Lasst uns doch einfach mal nachsehen. Kommt schon. – Jedenfalls besser als nochmal alles abzuklappern.“
Xiang drückte sich enger gegen die Säule, während Chiwa bedrohlich auf ihn zukam.
„Schon lange her, dass ich dich mal hart rangenommen habe“, meinte die Pfauenhenne ungerührt. „Deine Erziehung hat eh etwas nachgelassen. Es wird Zeit das wir das wiederholen… und hoffentlich auch zum letzten Mal.“
Ihr Blick wanderte vom Horror erfüllten Pfau durch das Zimmer. „Schön, dass du alles noch so gelassen hast, wie zu Zeiten deiner Mutter“, lobte seine Tante heuchlerisch. „Sie hätte bestimmt gerne dabei zugesehen.“
Sie schielte zum Bett rüber. Dann schnippte sie kurz mit den Federfingern.
„Packt ihn dorthin und bindet ihn dort fest.“
Als ihr Flügel auf das Bett deutete, überflutete Xiang eine Panik. Doch er konnte nicht verhindern, dass die Geckos ihrem Befehl sofort gehorchten, ihn von der Säule losbanden und anschließend zum Bett rüber zerrten.
„NEIN!“, schrie Xiang und sträubte sich verzweifelt dagegen. „Lasst mich los!“
„Jetzt zier dich nicht so!“, schimpfte Tongfu gereizt.
Vielleicht hätte Xiang sich eventuell von der Geckobande losreißen können, wenn er beide Beine bewegten könnte. Doch in seinem halbgelähmten Zustand waren seine Entkommensversuche vergeblich. Kaum am Bett angekommen, zwangen die Geckos ihn auf die Decke. Chiwa beobachtete in aller Ruhe wie sie den zappelnden Pfau aufs Bett drückten. Anschließend banden sie blitzschnell an jeden Flügel und Bein ein Seil, bevor sie ihn wieder losließen. Xiang wehrte sich mit aller Gewalt, konnte aber nicht verhindern, dass die geschickten Reptilien seine Gliedmaßen streckten. Einer sprang auf seinen Bauch und Xiang landete mit dem Rücken auf der Matratze. Diesen Augenblick nutzten die Geckos und banden die Seile an den Bettpfosten fest.
Xiang wandte sich in seiner neuen gefesselten Position. Doch seine Tante zeigte dafür kein Verständnis und trat neben ihn ans Bett auf die rechte Seite.
„Das rechte Bein lasst ihr frei“, befahl sie. Einer der Geckos entband das gelähmte Bein wieder und entfernte sich.
Zufrieden blickte Chiwa auf ihr angebundenes Opfer, das ängstlich zu ihr aufsah.
„Ich habe Dunoa gebeten, dich nicht zu hart dran zu nehmen“, klärte Chiwa ihm nebenbei auf und Xiang wurde klar, weshalb diese Bärin in der Kurresidenz ihm so merkwürdig vorkam. „Es war nicht leicht gewesen sie zu dieser Aufgabe zu überreden dich aus deinem bescheidenen Gefängnis herauszuholen.“
Ihr Flügel strich über sein taubes Bein. Der blaue Pfau versuchte sich zur Seite zu drehen, doch Chiwa hielt sein Bein fest und hob es etwas an.
„Vielleicht sollten wir damit beginnen, indem ich dich von deiner unnötigen Last erlöse.“
Xiang riss geschockt die Augen auf, während seine Tante mit einem Federfingerspitze schneidende Bewegungen auf seinem Fuß vollführte, die sie mit jeder Ausmahlung ihrer Fantasie nach oben wandern ließ, als würde sie etwas in Scheiben schneiden.
„Wie wäre es, wenn ich Stück für Stück deinen Fuß abschneide? Du spürst doch eh nichts mehr darin.“
Der blaue Pfau ballte die Federhände zu Fäusten und wünschte sich, dass alles nur ein Albtraum war. Aber es war blanke Realität.
In der Zwischenzeit unternahm Shen sämtliche Versuche sich irgendwie von der Säule loszureißen. Natürlich waren seine Federmesser in den Flügeln nicht mehr vorhanden, sodass er keine Möglichkeit hatte die Fesseln durchzuschneiden. Er keuchte auf. Der Schmerz in seinem Bauch wuchs und allmählich hegte er Zweifel, dass man sie hier fand, bevor sie alle tot waren. Vielleicht bis auf Yin-Yu. Sein zittriger Blick wanderte zu ihr. Sie sah ihn immer noch hilflos an. Schließlich warf der weiße Pfau den Kopf in den Nacken und stieß so laut er konnte einen Pfauenschrei aus. Irgendjemand musste sie doch hören. Dann schrie er nochmal und nochmal. Sein Ruf hallte durch den ganzen Raum.
Genervt drehte Chiwa sich zu ihm um.
„Meine Güte! Tongfu, tut doch mal was dagegen.“
Der Gecko verdrehte genervt die Augen. „Na schön. Ich mach ja schon was.“
Noch bevor Shen weiter seinen pfauentypischen Hilfeschrei äußern konnte, stopfte ihm Tongfu einen Lappen in den Mund, dem er ihm anschließend zuband.
„Problem gelöst“, kommentierte der Gecko zufrieden, was Chiwa nur teilweise zufriedenstellte. „Dich nehme ich mir noch später vor“, nahm sie sich düster vor. „Doch zuerst kommst du dran.“
Wieder hob sie Xiangs gelähmtes Bein hoch. Der blaue Pfau versuchte irgendwie Zugang zu seinem tauben Gliedmaß zu finden und spannte vergeblich sämtliche Muskeln an. Chiwa grinste. Es schien ihre regelrechte Freude zu bereiten, dass er seinen gelähmten Fuß nicht wegziehen konnte.
„Na dann.“ Mit diesen Worten holte sie ein dolchartiges Messer unter ihrem schwarzen Gewand hervor.
Xiangs Schnabel begann zu beben. „Nein! Nein! NEIN!“
Blitzartig presste sie ihren Flügel auf seinen Schnabel. „Psst! Wir sind hier nicht allein in diesem Gemäuer“, zischte sie ihm zu. „Du willst doch wohl nicht, dass man uns entdeckt, oder?“
Doch diesmal ließ Xiang sich nicht ruhigstellen und hörte gar nicht mehr auf zu Wimmern und zu Zappeln.
Mit einem bösen Fauchen schaute Chiwa sich um. „Ach, Tongfu!“
„Geht’s heute noch?!“, beschwerte sich der Gecko entrüstet. „Das ist vielleicht ein lästiger Job hier.“
Doch dann kam er ihren Wunsch nach und knebelte auch noch den anderen Pfau. Als das erledigt war, machte Chiwa wieder da weiter wo sie aufgehört hatte.
„Also, bringen wir es schnell hinter uns.“
Sie riss Xiangs Bein hoch und vollführte mit dem Messer sägende Bewegungen auf seinem Zeh. Xiang schrie auf.
Keuchend kamen Po und die anderen um die Ecke gerannt.
„Hier muss es sein! - Autsch! Was ist das denn?“
Der Panda war fast gegen einen Eimer gestolpert, der zusammen mit anderen Putzgeräten an der Wand stand.
„Den haben die Putzleute hier stehen lassen“, erklärte Huan atemlos. „Falls wir mal die Muße haben das Zimmer doch mal sauber zu machen. Im Moment haben wir es gelassen, man weiß ja nie weshalb man ein Zimmer abriegelt.“
Po rieb sich seinen schmerzenden Zeh und rannte zur Doppeltür. Sie war wirklich extrem gut verbarrikadiert. Sie war fast vollständig mit Brettern vernagelt und noch zusätzlich mit mehreren Vorhängeschlössern gesichert. Auch die andere Doppeltür, die etwas weiter daneben lag, war auf die gleiche Art und Weise verschlossen.
„Ist Daddy da drinnen?“, fragte Shenmi vorsichtig, die immer noch in Pos Armen saß.
Po zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Finden wir es heraus.“
Er drückte sein Ohr auf das Holz und lauschte. Zuerst hörte er gar nichts. Doch dann drangen dumpfe Laute zu ihm durch.
„Da ist jemand drinnen“, verkündete er teilweise erleichtert. „Wir müssen die Tür so schnell wie möglich aufbekommen.“
Huan trat neben ihn. „Um diese Türen aufzubekommen könnte das lange dauern.“
„Dann müssen wir sie eben eintreten“, schlug Po vor.
„Das haben wir schon am Anfang versucht“, bemerkte der Stier. „Es ging nicht.“
Po verengte die Augen. „Aber ihr hattet keinen Drachenkrieger gehabt.“
Er wandte sich an den Hunnenkönig.
„Wang, würden Sie die Ehre haben und mit mir eine Tür einrennen?“
Der Ochse hob überrascht die Augenbrauen.
„Meinst du das ernst?“
Po hob entschlossen das Kinn. „Mein voller Ernst.“
Sein Blick fiel auf Shenmi und wanderte anschließend zu Liu.
„Halten Sie sie fest“, befahl Po und drückte der Pfauenhenne die Kleine in die Flügel. „Und lassen Sie sie nicht mehr aus den Augen.“
Dann wandte er sich an Wang. „Also los!“
Beide positionierten sich ein gutes Stück von der Doppeltür weg, um einen Anlauf zu nehmen.
„Okay, auf drei“, begann Po entschlossen. Wang nickte. Er war jederzeit bereit.
Po verengte die Augen. „Eins – zwei – drei! Achtung! DRACHENPOWER!“
Liu musste Shenmi das Gesicht zu halten. Die ganzen Holzsplitter prasselten wie Hagelkörner auf sie hernieder, als Panda und Ochse durch das Hindernis rasten. Po leistete mit seinem Kung Fu Kick die meiste Arbeit, während Wang nochmal ordentlich das restliche Holz bearbeitete, sodass im Nachhinein ein riesiges Loch in der Doppeltür entstand. Doch der Panda hatte wohl zu viel Schwung genommen. Ungewollt stolperte er über seine Füße und landete mit einem finalen Klatscher auf den glatten Marmorboden. Als der Panda endlich zum Stillstand kam, drehte er sich auf den Rücken und hob den Arm. „Yeah! Das war pandastark! Nochmal!“
Als er neben sich eine Bewegung wahrnahm, drehte er sich um und sah überrascht auf, als er eine bekannte Gestalt neben sich erblickte.
„Oh, Yin-Yu!“ Sofort sprang der Panda auf die Beine und blickte völlig aufgewühlt auf die Pfauenhenne herab. „Wir haben dich gefunden! Aber…“
Erst jetzt fiel dem Panda im schwachen Lampenlicht auf, dass sie an der Säule gefesselt war. Yin-Yu sah mit einem schwachen Lächeln zu ihm hoch. Sofort beschaute Po sich das verknotete Desaster und tastete die Stricke ab. Die Fesseln waren nicht dick, sodass es für den Panda kein Problem war sie mit den Händen zu zerreißen. Dankbar sank die Pfauenhenne gegen den Panda.
„Kümmert euch um Shen“, bat sie mit schwacher Stimme.
Po sah sie verwundert an. „Wieso? Was ist mit ihm?“
Er schaute neben ihr, wo Shen nicht weit entfernt saß. Nichts nur gefesselt, sondern auch geknebelt. Der Panda konnte sich das Ganze nicht erklären, kam Yin-Yus Bitte aber sofort nach und beugte sich zum Lord rüber, der schwer atmend dasaß.
„Was ist mit dir los?“, erkundigte sich der Panda besorgt.
Normalerweise war es eine Seltenheit, dass der weiße Pfau froh war über das Erscheinen dieses stümperhaften Pandas. Doch in diesem Fall fiel ihm fast eine Last von der Seele. Die ganze Zeit hatte er sich darum bemüht sich freizukämpfen. Jetzt ließ er sich ungehemmt innerlich fallen und hing schlaff in den Seilen. Po erschrak förmlich und richtete Shens Oberkörper auf.
„Hey! Was soll denn das? Du willst doch jetzt nicht etwa, oder?“
Hastig entfernte er den Knebel von Shens Schnabel und schüttelte den Pfau, um ihn wieder wach zu bekommen. Endlich hob der Pfau zitternd den Kopf.
„Alles… in… Ordnung“, stieß er stoßweise hervor.
„Shen! Sag doch nicht sowas“, erwiderte Yin-Yu und beugte sich nun ebenfalls zu ihm vor. „Sie hat ihm irgendetwas reingestochen.“
Mit zittrigen Flügeln versuchte sie etwas auf Shens Robe zu erkennen. Die Einstichstelle war so gut wie gar nicht zu sehen. Es war nur ein winziger kleiner Blutfleck, aber die Pfauenhenne befürchtete, dass der Einstich der langen Nadel weitaus verheerendere Folgen hatte.
Da Po nicht wusste, was Yin-Yu meinte, runzelte er die Stirn und ihn beschäftigte nur eine Frage. „Wer?“
„Mama!“ In diesem Moment kamen Liu und Shenmi herein. Als das Mädchen ihre Mutter erblickte, war es kaum zu halten. Sie sprang von Lius Flügeln und rannte auf sie zu.
Die arme Pfauenhenne wusste nicht, ob sie sich über Shens Zustand Sorgen machen oder über das Erscheinen ihrer kleinen Tochter freuen sollte. Das Pfauenmädchen klammerte sich an ihren Hals und schien sie nicht mehr loslassen zu wollen.
Liu hingegen sah sich suchend nach Xiang um und hob ihre mitgebrachte Laterne höher. Mittlerweile hatten sich auch Wangs Augen an das wenige Licht im Raum gewöhnt. Dennoch war ihm die ganze Umgebung bei weitem nicht geheuer. Die junge Pfauenhenne nahm ein leises Stöhnen wahr und ihre Augen wanderten zu einem Bett. Als sie dort eine ausgestreckte Gestalt liegen sah, lief sie sofort darauf zu. Fassungslos starrte sie auf den Pfau, der geknebelt und von Seilen mit ausgestreckten Gliedmaßen auf der Matratze lag. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Wer war das gewesen? Und wie oft musste sie den Pfau noch von Fesseln befreien? Das wäre jetzt schon das dritte Mal.
Ihr durchfuhr ein zweiter Schock, als sie sah, dass das Bettlaken mit Blut bekleckert war. Schnell suchte sie die Quelle der Blutung. Sie kam direkt von seinem lahmen Bein. Hastig betastete sie den Fuß. Zu ihrer Erleichterung waren alle Zehen noch dran, aber die Schnittwunde war dennoch so tief, dass fast der Knochen zu sehen war. Eilig riss sie sich ein Stück Stoff von ihrem Hemd und verband die blutende Wunde am Fuß. Wang gesellte sich zu ihr und schien nicht zu wissen, was er von diesem Szenario halten sollte.
Inzwischen war es Po gelungen auch die Fesseln um den weißen Pfau zu lösen und Shen gab sich sogar alle Mühe aufzustehen. Doch kaum war er oben, sackte er sofort wieder zusammen. Die Schmerzen im Bauch wurden nahezu unerträglich.
Po übergab Shen kurzfristig der Obhut von Yin-Yu als Huan jetzt auch neben ihnen aufgetaucht war und eilte zu Liu, um sich ein Bild von der Lage machen zu können.
Liu war gerade dabei Xiang den Knebel zu entfernen.
„Was war denn hier los gewesen?“, wollte Po sofort wissen, in der Hoffnung, zumindest von Xiang sofort eine Antwort zu bekommen, obwohl er sich auch zunächst extrem wunderte, dass Xiangs Federn überhaupt wieder nachgewachsen waren.
Doch kaum war das Tuch von Xiangs Schnabel runter, gab der Pfau keinen Laut von sich.
„Xiang?“ Besorg beugte sich Liu zu ihm runter. „Sagen Sie doch was?“
Po reckte den Hals. „Lebt er überhaupt noch?“
Liu nahm eilig ihre Laterne zur Hand und hielt sie dem blauen Pfau übers Gesicht. Seine Augen waren zwar offen und sein Brustkorb hob und senkte sich, aber er reagierte nicht.
Liu bekam das erste Mal seit langem richtige Angst um ihn. „Wir müssen ihn sofort von hier wegschaffen!“
Sofort wollte sie eines der Seile lösen, doch auf einmal ließ sie eine Stimme zusammenfahren.
„Das würde ich an deiner Stelle lieber lassen, kleines Flittchen.“
Im nächsten Moment löste sich ein Schatten von der gegenüberliegenden Wand und schritt langsam auf sie zu.
„Madame Chiwa?“, entkam es Wang. „Das ist aber eine Überraschung.“
Die Pfauenhenne kicherte heiter. „Och, kennt man mich noch? Ich glaube, da bin eher ich überrascht.“
In der Zwischenzeit hatte Liu Xiangs Kopf gehoben und wedelte mit dem Flügel vor seinem Gesicht. Doch der Pfau zeigte überhaupt keine Reaktion. Er lag einfach nur da mit offenen Augen und sagte kein Wort. Liu überkam eine große Wut.
„Was haben Sie mit ihm gemacht?!“, fuhr sie die dunkle Pfauenhenne an.
Diese zuckte nur die Achseln. „Och, er war nicht besonders höflich gewesen, da musste ich ihn etwas züchtigen.“
„Sie wollte ihn umbringen!“ Yin-Yu hatte keine Hemmungen es laut auszurufen. Sie war zwar bei weitem nicht gut auf ihrem Ex-Mann zu sprechen, aber die Wut auf seine Tante war um einiges größer.
Liu hingegen war fassungslos. „Dazu haben Sie kein Recht!“
Mit einem Sprung war Chiwa auf der anderen Seite vom Bett von ihr und packte Xiang brutal am Pfauenkamm. „Wenn jemand seine Mutter umbringt - dann hab ich schon ein Recht dazu.“
Dem Hunnenkönig überraschte diese Aussage. „Er hat was getan?“
„Och, hab ich da was ausgeplaudert?“, meinte Chiwa scheinheilig, wurde jedoch von einer anderen Stimme unterbrochen.
„Ich dachte, dass sollte vor anderen geheim gehalten werden.“
Doch Chiwa hob nur grimmig den Kopf. „Ach, lassen wir doch das Versteckspiel. Dadurch verlieren wir nur kostbare Zeit. Ich muss dringend meine Federpflege wieder nachholen.“
Tongfu, der mit seinen Gefolgsgeckos auftauchte, rollte genervt mit den Augen.
„Die und ihr Schönheitsfimmel“, grummelte er.
Als Po die kleinen Geckos neben ihr erkannte, fühlte er sofort wieder seine leichten blauen Flecken unterm Fell.
„Hey, warst du es etwa gewesen, der mir die Schläge verpasst hat?“, fragte er empört.
Jetzt musste Tongfu lachen. „Du bist kein schlechter Kämpfer, Dicker. Aber eine Diät würde dir auch nicht schaden.“
Po fühlte sich zwar ziemlich beleidigt, dennoch griff er sofort wieder das Thema auf weshalb sie eigentlich hierhergeeilt waren. Sein Blick wanderte zu Chiwa.
„Also… dann warst du es gewesen, die alle hier entführt hat?“
Chiwa hob ihren Schnabel. „Und wenn schon.“
Po sog die Luft ein. „Hey, schon mal was von Freiheitsberaubung gehört?“
„Bitte, sagt ihr, dass sie uns gehen lassen soll“, drängte Yin-Yu, die immer noch ihre kleine Tochter in den Armen hielt und gleichzeitig einen sorgenvollen Blick auf Shen warf. Sie wollte nur weg von diesem Ort.
„Ja“, stimmte Po ihr zu. „Wieso lassen Sie sie nicht gehen?“
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann kicherte Chiwa und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Meinetwegen, dann nehmt das Gesindel mit euch.“
Liu wollte sofort Xiangs Fesseln lösen, als Chiwa ihr brutal eines auf die Federfinger gab.
„Aber er bleibt hier!“, fuhr die Pfauenhenne sie an. „Das ist eine Familienangelegenheit. Da hat sich keiner einzumischen!“
„Du bist gemein! Ich gehe nicht ohne ihn!“, konterte Liu zurück und wandte sich an Wang. „Sagen Sie doch was!“
Wang wollte gerade zu einem Satz ansetzen, als Chiwa ihm das Wort abschnitt. „Sie haben hier nichts zu sagen! Das ist nicht Ihr Reich! Aber er ist mein Neffe und er wird tun was ich ihm sage. Und nur alleine ich habe das Recht ihn auch zu bestrafen.“ Ihr Flügel wanderte langsam über Xiangs Hals und verübte etwas Druck auf seine Kehle. „Oder ist es nicht Gesetz bei Ihnen jemanden hinzurichten, wenn er sich an seiner eigenen Familie vergriffen hat?“
Der Hunnenkönig rieb sich über den Kopf. „Nun, vielleicht ja schon… Aber da müsste man eine genaue Untersuchung anstellen…“
Liu warf Po einen hilfesuchenden Blick zu. Der Panda sah sich hastig um. Theoretisch könnten sie jetzt einfach gehen, aber hatte Yin-Yu es ernst gemeint, dass sie ihn umbringen wollte? Selbst wenn, was sollte man da tun?
Schließlich räusperte sich der Panda. „Hören Sie“, begann er und ging einen Schritt nach vorne. „Ich kann Ihre Frustration ja verstehen. Ich komme auch nicht immer mit jedem klar. Ehrlich, es gibt sogar einige, denen ich auch mal gerne eine verpassen würde. Also, na ja, nicht unbedingt. Sie wissen schon. Das ist nicht der Sinn des Kung Fu. Ich meine… Ich bin immer für eine friedliche Lösung. Und deshalb denke ich… dass wir den ganzen Stress mal vergessen und uns erst wieder treffen sollten, wenn sich alle Gemüter beruhigt haben.“ Normalerweise hatte Po nichts gegen einen Kampf, doch angesichts dessen, dass ihm Chiwa ziemlich unberechenbar erschien, zog er es vor die ganze Sache erst mal mit Samtpfoten anzufassen. Vor allem da es Liu wohl sehr daran lag, dass Xiang nicht noch mehr passierte.
Er ging langsam näher ans Bett heran und löste ein Seil nach dem anderen vom Bettpfosten.
„Von daher werden wir jetzt erst mal etwas Abstand voneinander nehmen“, fuhr Po fort. „Und uns erst mal zurückziehen…“
Er zog den blauen Pfau etwas auf seine Bettseite, doch sofort packte Chiwa das Hemd von ihrem Neffen und zerrte ihn wieder auf die Bettmitte.
„Das kannst du vergessen!“, fuhr sie ihn an. „Ich rate dir besser hier zu verschwinden!“
Jetzt wurde auch Po dieser harte Ton etwas zu viel und hob abwehrend die Hände.
„Ich warne Sie. Ich bin zwar ein süß aussehender Panda, aber ich kann auch sehr entschlossen zuschlagen. Das gilt auch für Frauen.“ Er hielt kurz inne. „Na ja, ich meine, nicht schlagen. Ich meinte hauen… äh nein, einen Stoß verpassen. Na ja, kommt immer darauf an. Ich kann sie auch nur festhalten. Ich meine, bei feinen Damen bin ich auch sehr rücksichtsvoll…“
Plötzlich packte Chiwa die Stoffstreifen, die an ihrem Ärmel herunterhingen, schwang sie zurück und schlug sie gegen den Panda. Die Wucht der Ärmelstreifen trafen den Panda wie fünf Peitschen. Po taumelte nach hinten und prallte gegen die Wand.
Stöhnend rieb er sich den Magen und den Rücken. „Das war aber jetzt nicht sehr damenhaft gewesen.“
Chiwa bäumte sich jetzt gefährlich auf. Sie machte einen leichten Sprung und blieb auf einem der Bettpfosten stehen. „Tongfu“, begann sie mit unheimlich ruhiger Stimme. „Würdest du bitte einen großen Besen nehmen und diese Schweinerei entfernen?“
Sofort sprangen die Geckos in die Presche. Wang reagierte sofort. Er schnappte sich Liu und sprang mit ihr zur Seite, bevor die Geckos auf sie springen konnten.
Auch Huan machte sich sofort nützlich und zog Yin-Yu mit Shen aus dem Zimmer. Wang riss Liu mit sich zur Tür. Diese wehrte sich heftig. „Nein! Ich lass ihn nicht hier!“
Po, der immer noch an der Wand lehnte, sah sich hastig um. Die Geckos schienen ihren Spaß daran zu haben die Eindringlinge etwas zu hetzen und wollten sich auf sie stürzen wie herabfallende Vöge. Schnell schnappte sich Wang eines der Holzbretter, dass bei dem Einbruch zu Boden gerissen worden war und schlug die Geckos wie mit einem Baseballschläger von sich.
Pos Blick fiel auf das Bett. Dann warf er einen Blick zum Himmel. „Na gut, ein Drachenkrieger rettet jeden in Not.“
Er rannte nach vorne, doch noch ehe er das Bett erreichten konnte, sprang ihm Chiwa in den Weg. Wütend zog Po die Augenbrauen zusammen. „Okay, du willst ein Kämpfchen? Gut, das kannst du haben!“
Chiwa wollte zu einem neuen Schlag mit ihren Ärmelstreifen ausholen, doch Po sprang zur Seite und ärgerte sie mit verzerrten Grimassen. Das machte die Pfauenhenne zwar nicht unkontrolliert wütend, aber aggressiv. Ihre Griffe um ihren Ärmelstreifen verstärkten sich. Sie hob die Flügel und schlug erneut mit den peitschenähnlichen Ärmelstreifen nach dem Panda. Po wich ihnen aus und die Stofffransen ihres schwarzen Gewandes trafen nicht den Panda, dafür die Säule, die sich unfallmäßig drumherum wickelten. Po nutzte die Gelegenheit, nahm zwei der Gewandstreifen und knotete ihn an der Säule fest. Als die Pfauenhenne merkte, dass sie festhing, riss sie wie verrückt an ihrem Gewand.
Schnell rannte Po zum Bett, zerriss die Seile, die den blauen Pfau festhielten und zerrte ihn zur Tür.
„Steht da nicht so herum wie verfaulte Skelette!“, schrie Chiwa als sie das sah. „Schnappt sie euch!“
Die davon geschleuderten Geckos erholten sich nur langsam von diesem Schleudertrauma des Hunnen, nahmen aber sofort die Verfolgung auf.
„Schnell raus hier!“, rief Po als er endlich über der Schwelle auf den Flur stand. Liu war total erleichtert, dass er Xiang rausgeholt hatte. Nur Shen war damit gar nicht einverstanden.
„Wie… kannst du…?“
„Jetzt ist keine Zeit Analysen zu stellen!“, schnitt Po ihm was Wort ab.
Da Xiang noch immer völlig von der Rolle war, blieb es an Huan hängen ihn zu tragen. Wang war stark genug und hievte die geschwächte Yin-Yu und den verletzten Shen gleichzeitig hoch. Po griff nach Shenmi und gemeinsam rannten sie den Korridor runter.
„Los, hinterher!“, hörten sie die Stimme der Geckos.
Im nächsten Moment kam Po eine Idee. Er stieß einen Krug um, der bei den ganzen Putzsachen an der Wand stand. Der Krug zerbrach und hinterließ eine Flüssigkeit auf den Boden. Da es im Flur dunkel war, bemerkten die Geckos nicht das Malheur und rutschten der Reihe nach darauf aus.
„Wir müssen weg von hier!“, meinte Wang im Rennen. „Hier ist es nicht sicher.“
„Wohin sollen wir hin?“, erkundigte sich Po keuchend.
„Zur Treppe!“
Mittlerweile hatte Chiwa sich ihr Messer aus dem Gewand geholt und zerschnitt die verknoteten Ärmelstreifen von ihrem Gewand. Wütend betrachtete sie sich ihr beschädigtes Kleid. „Verflixt. Das war mein bestes Abendkostüm!“
Endlich hatte die flüchtende Truppe die Haupttür erreicht. Dort angekommen, rief Wang die zwei Wachleute zusammen, die dort Wache standen.
„Schnell, das Tor zu und die Treppe runter!“, befahl der Hunnenkönig.
Die Wachen stellten keine Fragen. Kaum war der letzte durch, verrammelten sie das Tor. Gerade noch rechtzeitig noch bevor der erste Gecko ihnen hinterherspringen konnte.
„Treppe runter?“, wiederholte Po. „Das ist die erste gute Nachricht, die ich heute zu hören bekomme.“
Po war extrem froh endlich wieder unten im Tal angekommen zu sein. Kaum hatte er die letzte Stufe überschritten, warf er sich auf den Boden und küsste ihn.
„Endlich wieder auf berglosem Land.“ Doch sofort stand er wieder auf den Beinen. „Aber was machen wir jetzt?“
Wang, der direkt hinter ihm herkam, war zwar stark, benötigte aber eine kurze Pause. Sachte setzte er Yin-Yu als erste ab und kurz danach Shen.
„Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Po besorgt.
Doch nicht nur er machte sich Sorgen.
„Daddy, geht‘s dir nicht gut?“, fragte Shenmi ängstlich.
„Geht… schon… wieder…“, versuchte Shen sie zu beruhigen.
Mühsam versuchte der weiße Pfau auf die Beine zu kommen, doch er krampfte immer wieder zusammen und hielt sich den Bauch.
„Er braucht einen Arzt“, meinte Wang entschieden.
Po sah sich suchend um. „Wo ist denn einer?“
„Unser Militärarzt hat sich hier niedergelassen“, klärte Wang ihn auf.
Po hob verwundert den Kopf. „Ach, ist das nicht der, den wir auch schon kennen?“
Der ehemalige Militärarzt der Hunnen bewohnte ein kleines Haus im westlichen Teil der Stadt. Seit die Hunnen die Stadt verwalteten, hatte er es vorgezogen dort seinen Lebensabend zu verbringen. Allerdings würde ihm das heute Abend nicht gegönnt werden. Kaum hatte die Gruppe das Haus erreicht, klopfte Wang nicht an, sondern trat die Tür einfach ein. Er brauchte zum Glück nicht lange zu suchen. Kaum hatte er das Schlafzimmer gefunden, zog er den Affen einfach aus dem Bett. Doch dieser war sofort mit einem Schlag hellwach und erkannte in Sekundenschnelle, wer da in sein Haus eingedrungen war. Er war solche Blitzsituationen noch vom Krieg gewohnt.
Im ersten Zimmer direkt hinter der Haustür hatten sich die anderen mittlerweile schon eingefunden. Shen lag auf einer Art Sofa. Yin-Yu stand neben ihm und strich Shenmi ab und zu über Rücken und Kopf, die in Pos Armen lag. Huan hatte Xiang irgendwo in eine Ecke abgesetzt. Liu hockte neben ihm und versuchte ihm immer wieder aus seinem Trancezustand rauszubekommen. Doch er reagierte immer noch nicht auf äußerliche Einflüsse.
Alle hoben erleichtert die Köpfe, als der Arzt mit Wang hereinkam.
„Was ist denn hier passiert?“, wunderte sich der Affe, der immer noch in seinem Schlafanzug steckte.
„Sie müssen hierherkommen“, sagte Yin-Yu und winkte ihn zu sich rüber.
Beim Durchqueren des Zimmers fiel der Blick des Arztes auch auf Xiang. „Oh, der hat sich ja besser wieder erholt als ich dachte“, bemerkte er im Vorbeigehen. Doch dann wandte sich seine ganze Aufmerksamkeit Shen zu, der verkrampft auf dem Sofa lag.
„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sich der Arzt.
„Ging schon… mal besser“, keuchte Shen.
„Wo tut es weh?“
Shen deutete auf die linke Bauchseite. Der Arzt nickte und schob einen Teil der Robe beiseite und begutachtete die kleine Einstichstelle. Sachte tastete er den Bauch ab. Shen sog jedes Mal hörbar die Luft ein. Yin-Yu konnte nicht anders und hielt ihm beruhigend den Flügel. Mit jedem Abtasten bildete sich eine weitere Sorgenfalte auf der Stirn des Arztes.
„Mm. Der Bauch wird hart…“, murmelte er. „Das ist nicht gut.“
„Was hat er denn?“, wollte Po sofort wissen.
„Ich würde sagen, innere Blutungen.“ Schließlich nach einigen Abtastungen später hob der Affe entschlossen den Kopf. „Ich muss operieren.“
„Jetzt?!“ Po blieb der Mund offenstehen. Nicht wegen der OP, sondern wegen etwas anderem. „Wir können hier nicht bleiben! Die könnten uns hier jederzeit finden!“
Der Arzt zuckte die Achseln. „Ich kann ihn doch nicht im Laufen aufschneiden. Wenn wir länger warten, dann verblutet er noch innerlich.“
Das brachte die Umherstehenden erst mal zum Verstummen. Shenmi begann leise in Pos Armen zu Weinen. Po dachte angestrengt nach und rieb sich übers Kinn. Dann hellte sich seine Miene auf.
„Hey! Ich hab eine Idee!“
Alle sahen ihn an. „Und die wäre?“
„Zum Schiff!“
Die Seeleute waren sichtlich überrascht, als man sofort zum Aufbruch aufrief. Noch dazu beim Anblick der ganzen zusätzlichen Passagiere. Doch als sie den verwundeten Lord in den Armen des Hunnenkönigs erblickten, waren sie endlich hellwach und lösten die Leinen.
„Wir bringen ihn am besten unter Deck“, schlug Wang vor, da er annahm, dass der Arzt für seinen Eingriff eine ungestörte Ecke benötigte. Dieser hatte in der Eile nicht nur seine Tasche, sondern auch noch seinen Schlafanzug angelassen.
„Das ist eine gute Idee“, stimmte der Affe ihm zu und eilten eine Holztreppe nach unten.
Schnell drückte Po die kleine Shenmi wieder in Lius Flügel. „Okay, ihr bleibt hier. Ich komm gleich wieder.“
Kaum hatte Shenmi den Platz gewechselt, streckte sie jammernd ihre Flügel nach Po aus. „Ich will bei Daddy bleiben!“
Po hob beruhigend die Arme. „Keine Sorge. Ich komme sofort wieder.“
Er eilte die Treppe nach unten. Wang und der Arzt hatten sich in die Hauptkabine zurückgezogen. Po schlüpfte schnell mit hinein.
„Was brauchen Sie jetzt?“, erkundigte sich Wang.
„Eine gerade Fläche“, sagte der Arzt. „Ein Tisch wäre am besten.“
Po sah sich um und erblickte den großen Essenstisch. Schnell warf er alles runter was sich darauf befand, schüttelte die Tischdecke aus und legte sie wieder glattgestrichen darauf.
Anschließend bettete Wang den Pfau drauf.
Shen gab sich alle Mühe ruhig zu bleiben. Er kannte Verletzungen wo Blut floss, aber diese war ihm weitreichend unbekannt. Der Affe verlor keine Zeit. Kaum lag der Pfau auf dem Tisch, holte er eine Flasche heraus und tränkte mit der darin enthaltenen Flüssigkeit ein Tuch.
„Schön inhalieren“, befahl er und hielt es Shen vor die Nase.
Shen nahm sofort ein paar kräftige Atemzüge. Er wollte keine Schmerzen mehr spüren. Und es dauerte nicht lange und sein Körper erschlaffte.
„Es wäre gut, wenn mir jemand eine Lampe halten würde“, meinte der Arzt und warf einen Blick auf den Panda. „Denken Sie, Sie könnten das tun?“
Po sah ihn unsicher an. „Äh, na ja… also ich weiß nicht…“
In diesem Moment holte der Arzt ein kleines scharfes Messer aus der Tasche. Als Po das Skalpell erblickte, zog er es vor den Rückzug zur Tür anzutreten.
„Äh, ich warte besser draußen. Vielleicht finde ich jemanden, der sich besser dafür eignen würde…“
„Ich mach das schon“, bot Wang sich an.
Po lächelte ihm dankbar zu und schloss hastig die Tür. Kaum war sie zu, atmete er erleichtert auf. Dann eilte er wieder an Deck. Dort rannte ihm Shenmi entgegen.
„Was ist mit, Daddy?“, fragte sie ihn sofort. „Stirbt er jetzt doch?“
Beruhigend strich der Panda ihr übers Köpfchen. „Nein, nein, natürlich nicht.“ Mit einem gequälten Lächeln neigte er sich zu ihr runter. „Mach dir keine Sorgen. Deinem Vater geht es nur im Moment nicht so gut. Er wird nur kurz beim Arzt sein und danach geht es ihm auch wieder besser. – Aber du könntest ihm einen Gefallen tun.“
Das Pfauenmädchen neigte den Kopf. „Welchen?“
„Geht zu deiner Mutter und pass ein bisschen auf sie auf. Ich denke, sie braucht jetzt jemanden, der sie tröstet.“
Er nahm das Mädchen und ging mit ihr auf die Seite des Schiffes, wo die anderen sich erschöpft niedergelassen hatten. Mittlerweile hatte das Schiff fast den Hafen verlassen. Besorgt schaute Po zum Berg hoch.
Hoch oben im Palast stand die schwarz-violette Pfauenhenne am Fenster und starrte in die Nacht auf das Tal. Sie drehte sich auch nicht um, als Tongfu ins Zimmer hereingelaufen kam.
„Wir haben sie kurzfristig aus den Augen verloren“, berichtete der Gecko. „Aber sie sind mit dem Schiff abgefahren.“
Er wartete einen kurzen Moment. Als er keine Antwort erhielt, hakte er weiter nach.
„Sollen wir sie verfolgen?“
Die Pfauenhenne wandte sich vom Fenster ab. „Aber, aber. Wozu die Eile?“ Und ging seelenruhig durch das Zimmer. Dem Gecko überraschte diese Reaktion.
„Hä? Aber das war doch die ganze Zeit Ihr Ziel gewesen. – Oder haben Sie Ihre Meinung geändert? Dann wollen wir aber unser Geld für unsere Mühe.“
Chiwa hielt kurz an. Dann lachte sie. „Wer sagt denn, dass ich meine Meinung geändert habe?“
Sie strich sich über ihre abgeschnittenen Ärmelstreifen.
„Und warum sitzen wir dann noch hier?“, wollte Tongfu wissen, doch Chiwa blieb gelassen.
„Egal wo sie auch hinflüchten, sie werden zurückkommen.“
„Und warum sollten sie das tun?“
„Das silberäugige Ding war sehr gesprächig gewesen. Wir brauchen nur ein neues Lockmittel.“
Der Gecko verstand gar nichts mehr. „Hä? Für wen? Ich dachte, Sie wollten nur den blauen Vogel. Ich glaube kaum, dass der sich freiwillig locken lässt wie eine Maus mit Käse.“
Mittlerweile hatte sich Chiwa auf einem Stuhl niedergelassen und faltete bedächtig die Flügel zusammen.
„Seine Ex erwähnte, dass sie noch drei weitere kleine Küken hat.“ Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen bevor ihr Blick auf Tongfu fiel.
„Mach dich auf den Weg nach Gongmen und hol mir die anderen kleinen Bälger von ihm“, befahl sie.
Tongfu hob überrascht die Augenbrauen. „Wozu denn?“
Die Pfauenhenne stieß ein genervtes Schnauben aus. „Euch ist wohl nicht aufgefallen, dass dieser blasse Vogel einen Groll gegen meinen Prachtneffen hegt.“
„Ist das nicht normal?“, fragte der Gecko und kratzte sich am Kopf. „Ich habe gehört, Pfauenmännchen wären ziemlich Revier veranlagt…“
„Wie auch immer“, unterbrach sie seine Ausführungen und winkte ihn weg. „Also los. Nimm am besten ein paar Berggeier. Mit ihnen werdet ihr spätestens morgen früh dort sein.“
Der Gecko wollte sich schon umdrehen, als ihm noch etwas anderes einfiel. „Und falls der weiße Vogel doch mittlerweile gestorben ist? Ich kenn mich ja nicht so sehr mit Ihren Tötungsmethoden aus, aber er sah ja nicht gerade gut aus nach Ihrer Behandlung.“
„Dann bleibt es eben an ihr hängen“, meinte Chiwa gleichgültig. „Dann muss sie sich eben alleine entscheiden. Entweder das Leben von meinem Neffen oder… das Leben von ihren Sprösslingen.“ Ein kaltes Lächeln glitt über ihren Schnabel. „Nur vielleicht.“
Auf dem Schiff, das immer weiter flussabwärts trieb, herrschte eine niedergedrückte und auch extrem angespannte Atmosphäre. Zwar war jeder froh, dass sie heil und sicher sich in Sicherheit bringen konnten und auch Yin-Yu wieder aufgetaucht war, doch es fühlte sich keiner wohl.
Po quälte der Gedanke, dass es bei Shen doch Komplikationen geben könnte. Er selber war zwar kein Arzt und konnte nicht sagen, ob der Militärarzt ihnen nicht doch etwas verschwieg. Er konnte es nur für die Familie hoffen. Und noch ein anderes Dilemma bereitete ihn Sorge und zugleich Kopfzerbrechen. Er konnte sich Chiwas Verhalten einfach nicht erklären. Gut, wenn es der Wahrheit entsprach, dass Xiang ihre Schwester ermordet hatte, dann hatte sie ihren Grund, aber es war kein Grund es nicht auf juristischen Weg abzuklären und vor allem nicht die anderen so derartig zu drangsalieren.
Genau dieseleben oder ähnliche Fragen schienen auch den anderen durch die Köpfe zu gehen, als Po in einer Ecke des Decks angetrottet kam. Yin-Yu war extrem froh wieder freien Himmel über sich zu sehen und scheute sich davor unter Deck zu gehen, selbst wenn Shen dort unten gerade eine Operation hatte, aber sie konnte ihm im Moment eh nicht helfen, nur warten und den Arzt seine Arbeit machen lassen.
Nachdenklich ließ Po seinen Blick über den Teil des Schiffes schweifen. Shenmi hatte sich bei ihrer Mutter in die Flügel gekuschelt, während Liu mit Xiang am Rand hockte. Xiang war immer noch nicht aufnahmefähig. Er saß immer noch da mit offenen Augen und sagte kein einziges Wort. Er starrte nur vor sich hin.
Der alte Stier Huan saß ebenfalls neben ein paar Fässer und keuchte immer noch von dem ganzen Wettlauf.
Zögernd ging Po auf ihn zu. „Sie sind einen solchen Marsch nicht gewohnt? Sowas hält einen fit“, meinte Po scherzend, obwohl ihm irgendwie nicht zum Lachen zumute war. Sie waren zwar aus der Stadt, doch wer garantierte, dass diese Geckos ihnen nicht doch nachspionierten?
Der Stier zwang sich zu einem Lächeln. „Ehrlich gesagt, hab ich sowas vielleicht mal gebraucht“, meinte er. Schließlich sprach er das aus, was er sich schon die ganze Zeit fragte. „Aber ich hab nicht erwartet, dass Chiwa sowas tun würde.“
Po runzelte die Stirn. „Ich glaube, das haben wir alle nicht erwartet.“
„Vielleicht nicht jeder“, mischte Liu sich ein und beide sahen überrascht zu ihr rüber. Die Pfauenhenne erhob sich. „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Xiang es die ganze Zeit gewusst hat. Aber er hat nie darüber geredet.“
Po nickte. „Das mag stimmen, aber war die Handlung damals Absicht oder ein Unfall?“
Lius Blick wanderte wieder zu Xiang. „Das war bestimmt kein Unfall“, sagte sie mit fester Stimme, obwohl sie sich selber nicht so sicher war. „Dafür kann man ihn nicht verurteilen!“
Panda und Stier tauschten fragende Blicke aus. Wenn Xiang ihnen wenigstens sagen könnte, was damals passiert war, dann könnte man darüber diskutieren, aber im Moment war es unsinnig darüber schon ein Urteil zu fällen.
Yin-Yu hatte der Unterhaltung schweigend zugehört und erhob nun ebenfalls ihre Stimme. „Vielleicht hat sie gar nicht so unrecht“, meinte sie. „So wie sie sich mir gegenüber verhalten hatte…“
Sie brach ab. Offensichtlich wollte sie nicht darüber reden. Doch Po hätte es gerne gewusst.
„Was war denn passiert, nachdem man dich entführt hat?“
Yin-Yu deutete auf Shenmi. Sie wollte nicht in ihrer Gegenwart darüber sprechen. Po nickte verständnisvoll aber auch ein bisschen enttäuscht.
„Ich kann nur eines sagen“, fügte Yin-Yu leise hinzu. „Sie ist verrückt.“
„Das hab ich gemerkt“, grummelte Po und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. „Wer ist schon so plemplem und wirft mit seinen langen Ärmeln um sich?“
Yin-Yu senkte den Blick. „Es ist noch viel mehr als das. Und ich befürchte, dass sie uns töten wird.“
Po hob die Augenbrauen. „Tja, dann stellt sich nur die Frage: Was machen wir jetzt? Auf dem Schiff werden wir leicht zu finden sein. Wo sollen wir hin, oder wohin sollen wir uns verstecken?“
Eine Weile saßen alle auf ihren Plätzen und schwiegen. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken. Sie hoben erst wieder die Köpfe, als der Arzt mit dem König wieder an Deck kam.
„Wie geht es ihm?“, fragten Po und Yin-Yu gleichzeitig.
Der Affe rieb sich die noch feuchten Hände vom Händewaschen. „Die Blutung war zum Glück nicht in einem lebenswichtigen Organ gewesen, dennoch sollte er vorerst kein Sport treiben…“
„Kann ich zu Papa?“, fragte Shenmi.
„Er wird noch eine ganze Weile schlafen“, meinte der Arzt.
„Keine Sorge“, meldete sich Po zu Wort. „Ich geh schon mit ihr“, und nahm die Kleine an die Hand. Doch bevor er mit ihr das Deck verließ, wollte er noch eines wissen.
„Aber was machen wir jetzt? Wir müssen uns vor ihr verstecken.“
Der Hunnenkönig wiegte den Kopf. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wir können vielleicht auch über die Grenze gehen. Da wird sie uns nicht folgen können.“
„Die Geckos hatten aber eine Genehmigung für einen Übergang“, gab Liu zu Bedenken. „Sie können sich bestimmt mit einer neuen List über die Grenze schleusen. Auf diese Art und Weise haben sie auch Xiang entführt… Nebenbei bemerkt, Doktor, könnten Sie ihn sich nicht vielleicht mal ansehen?“
Der Affe beugte sich über den teilnahmslosen blauen Pfau und wedelte mit der Hand vor dessen ausdruckslosen Augen. „Schock. Eindeutig“, lautete seine Prognose. „Der Zwischenfall hat ihn völlig aus der Bahn geworfen.“
„Wie lange kann so ein Zustand dauern?“, wollte Liu wissen.
Doch der Arzt zuckte die Achseln. „Das ist extrem unterschiedlich. Man kann nur auf die kürzeste Zeit hoffen.“
Po rieb sich die Stirn, aber nicht wegen Xiangs Zustand, sondern wie sie sich vor Chiwas Geckos verbergen konnten.
„Hey!“, rief er. „Wie wäre es mit dem Schafdorf?“, schlug er vor.
Die Anderen sahen ihn verwundert an.
„Das Dorf in den bewaldeten Bergen?“, hakte Wang nach.
Po nickte. „Da haben wir uns schon mal versteckt.“
„Das ist aber nicht zu weit von der Stadt entfernt“, gab Wang zu bedenken.
Der Panda hob den Kopf. „Vielleicht wird sie gar nicht damit rechnen, dass wir uns dort aufhalten und wird uns weiter entfernt vermuten.“
„Das könnte riskant werden“, wandte Huan ein.
„Nicht wenn wir sofort aussteigen und das Schiff einfach weiterfahren lassen“, meinte Po. „Ich bin sicher, dass wir auf die Verschwiegenheit der Mannschaft zählen können und vielleicht haben wir bis dahin schon einen Plan ausgeheckt wie wir ihr das Handwerk legen können.“
„Du willst gegen sie antreten?“ Yin-Yu hatte da ihre Bedenken. „Du hast sie doch heute gesehen. Mit ihr ist nicht zu Spaßen.“
„Eben deshalb werden wir uns einen Plan überlegen müssen“, entgegnete der Drachenkrieger.
„Kann ich jetzt zu Papa?“, drängte Shenmi.
Mit einem Lächeln nahm der Panda sie auf den Arm. „Na klar. Wir werden eh bald von Bord gehen. Das Schafdorf ist nicht mehr weit von hier entfernt.“
Während die anderen über Pos Plan nachgrübelten, begab sich der Panda mit dem weißen Pfauenmädchen nach unten in die große Schiffskabine.
Shen lag immer noch auf dem großen Tisch und war mit einer Decke zugedeckt. Auf leisen Sohlen näherte sie sich. Po ließ Shenmi ganz dicht an Shens Kopf. Das Mädchen schlang ihre Flügel um seinen Hals. Der weiße Pfau wachte zwar nicht auf, doch er schien ihre Gegenwart zu spüren. Für einen Moment beschleunigte sich seine Atmung, dann flachte sie wieder ab.
Nachdenklich beobachtete der Panda die Tochter und ihren Vater. Manchmal fragte er sich, wie Shen ihr beibringen wollte, dass er mal ein ganzes Dorf ausgelöscht hatte. Doch Po verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Irgendwann würde es zwar Zeit sein, dass sie es erfuhr, aber nicht heute.
Wie abgesprochen legte das Schiff an der Stelle an, an der sie schon zuvor angelegt hatten. Eilig verließen die Passagiere das Schiff, sodass es schnell wieder weiterfahren konnte. Einen längeren Zwischenstopp konnten sie sich nicht erlauben.
Shen wurde auf einer Trage getragen, um nicht seinen frischen Wunden zu schaden. Liu ging mit Shenmi neben ihm her. Am liebsten wäre das Mädchen bei ihrem Vater auf der Trage, doch Yin-Yu nahm sie mahnend beiseite.
„Lass deinen Vater schlafen“, flüsterte sie ihr zu. „Er braucht Ruhe.“
Po, der ebenfalls neben der Trage herging, die von Wang und Huan getragen wurde, schaute sich immer wieder suchend um.
Egal wer auch immer vor hatte sie anzugreifen, er würde auf jeden Fall nicht zulassen, dass der Familie etwas passierte.
Die zwei Soldaten, die ebenfalls mit ihnen von Bord gegangen waren, schleppten den blauen Pfau mit sich mit. Liu folgte ihnen mit besorgtem Blick, ständig im Auge behaltend, dass Xiang während des Marsches wieder zu sich kommen würde.
Die Bergschafe hatten zum Glück nichts gegen eine erneute Beherbergung alter Gäste, nur bei Xiangs Anwesenheit waren sie etwas überrascht. Während man Shen in eines der Wohnhäuser unterbrachte, war Wang der Meinung, Xiang besser von den anderen zu isolieren.
Eines der Schafe bot eine kleine Hütte an, die meist für die Lagerung von Gartengeräten verwendet wurde. Wang hielt es für eine gute Idee und die Soldaten verfrachteten ihn dorthin sobald ein Teil der Gerätschaften rausgeräumt wurde, sodass man für den Pfau zumindest eine Ecke fand, wo er sich auf einem improvisierten Bett niederlassen konnte. Anschließend schlossen sie die Hütte ab und die zwei Soldaten postierten sich davor.
Nachdem das erledigt war, konnte Liu nicht anders und sprach Wang direkt an.
„Was werden Sie mit ihm machen, falls er wieder bei Bewusstsein ist?“, wollte sie von dem Hunnenkönig wissen.
Wang schien selber nicht zu wissen, was er von der ganzen Situation halten sollte, weshalb er eine neutrale Antwort gab.
„Wir warten erst mal ab“, sagte er schließlich und begab sich zu den Wohnhäusern.
Liu sah ihn besorgt nach.
Tongfu war nicht gerade guter Laune als er den Berg hochkraxelte auf dem Pfad, den Chiwa ihm genannt hatte.
„Ich hoffe, der ganze Aufwand lohnt sich“, knurrte er.
Seine Gefolgsleute folgten ihm mit der gleichen Stimmung.
Plötzlich sprang dem Anführer eine schwarze Gestalt auf einen Felsen.
„Wer will sich hier Zugang ins Reich der Toten verschaffen?“, schnarrte eine düstere Stimme.
Tongfu schnaubte. „Lassen Sie den Humbug. Lady Chiwa hat den Befehl erteilt, dass du und dein Pack uns fliegst. Und zwar umgehend!“
Die Gestalt entfaltete ihre großen Schwingen. „Aha, Lady Chiwa, eine nette Dame. Dass Sie und ihre Schwester damals uns ihren toten Mann überlassen hat war schon eine nette Geste gewesen. Obwohl sein Fleisch nicht gerade sehr schmackhaft gewesen war.“
Dieser schwarze Humor langeweilte Tongfu nur noch mehr.
„Nun mach schon“, drängte der Gecko. „Ich hab hier nicht den ganzen Abend Zeit, sonst machst sie uns noch Feuer unterm Hintern.“
Die schwarze Gestalt trat ins Mondlicht und enthüllte die Form eines Geiers.
„Ich gehe dann mal davon aus, dass für uns dabei etwas rauspringt, oder?“, erkundigte sich der Geier amüsiert.
Der Gecko verdrehte die Augen. „Wenn das den Reisestart verkürzt, sie wird euch eventuell ein kleines Opfer reichen. Wir werden eh ein paar Passagiere mitnehmen, da wird es nicht auffallen, wenn mal einer fehlt.“
Der Geier klapperte mit dem Schnabel. „Und wohin soll die Reise gehen?“
„Nach Gongmen.“
Besorgt schaute Yin-Yu auf Shen, der friedlich in einem Bett lag. Der Arzt kontrollierte nochmal die Operationsstelle und deckte ihn anschließend wieder zu.
„Wie sieht es aus, Doktor?“, fragte sie leise.
Der Affe, und ehemalige Militärarzt, wiegte den Kopf. „Ich schätze, er wird bald aufwachen. Dann müssen wir schauen wie er sich fühlt.“
Er besah sich die Pfauenhenne mit prüfendem Blick. „Sie schauen aber auch nicht gerade fit aus. Sie sollten sich auch mal etwas ausruhen.“
Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut.“
„Dann Essen oder Trinken Sie wenigstens was“, riet der Arzt entschieden und schob die Pfauenhenne aus dem Raum.
Yin-Yu ließ Shen nur ungern allein. Als sie aber auf dem Flur standen, hörte sie Po und Shenmi miteinander lachen. Sie folgte dem Arzt die Treppe runter in eine Art Esszimmer, wo der Panda und das Pfauenmädchen auf dem Boden tollten. Po lag auf dem Rücken und hielt das Pfauenmädchen über seinem Kopf.
„Jetzt schwebst du direkt über dem großen Drachenkrieger“, lachte Po und schwenkte das Mädchen hin und her. Dann sprang er auf und lief mit ihr durch den Raum.
Als Shenmi ihre Mutter sah, breitete sie noch weiter die Flügel aus.
„Guck mal, Mama, ich kann fliegen!“
„Pass auf!“, rief Po. „Jetzt fliegst du wirklich!“
Er warf das Mädchen in die Luft. Quietschend flatterte Shenmi kurz mit den Flügeln, dann zog die Schwerkraft sie wieder nach unten und landete sicher in Pos Händen.
Yin-Yu lächelte. „Nun mal nicht so stürmisch, Liebling.“
„Okay, Mama.“
Po setzte das Mädchen wieder auf den Boden ab.
„Wie geht es ihm denn?“, wollte der Panda wissen.
Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Wir müssen warten bis er aufwacht.“
Shenmi hatte sich inzwischen bei ihrer Mutter ans Hemd festgeklammert und schaute besorgt zu ihr hoch. „Aber er kommt doch wieder, oder?“
Die Pfauenhenne lächelte sie an. „Aber natürlich kommt er wieder. Dein Vater ist doch stark.“
„Aber er hat gesagt, er wäre krank.“
„Wie kommst du darauf?“
Po räusperte sich laut. „Hey, ich glaube, ich rieche schon etwas zu Essen.“
Er hielt die Nase in die Luft. „Eines der Bergschafe hat sich noch extra für uns in die Küche begeben. Du musst doch bestimmt Hunger haben.“
Yin-Yu seufzte. „Na ja, vielleicht ein bisschen…“
„Na fein!“, rief Po begeistert und schob sie zum Esszimmertisch.
Wie aufs Stichwort steckte ein Schaf seinen Kopf in den Raum. „Suppe ist fertig.“
Po klatschte in die Hände. „Na super. Ich hab einen Bärenhunger. Eure Küche ist mir ja noch gut bekannt. Hey! Vielleicht sollten wir uns als Dauergäste eintragen.“
Po lachte. Nur zögernd stimmte Yin-Yu in seinem Scherz mit ein.
In der Kammer hallten die Stimmen von den Nebenräumen durch die Stille. Der weiße Pfau im Bett atmete ruhig und gleichmäßig, bis er im nächsten Moment einen tiefen Atemzug nahm. Dann begann er zu blinzeln. Stöhnend schlug er die Augen auf. Zuerst drehte sich alles um ihn. Shen brauchte ein paar Minuten um halbwegs aus der Betäubung zu erwachen. Erst dann fand er Kraft genug sich umzuschauen. Er erblickte Holzwände und Einrichtungen eines einfachen Wohnhauses. Sein Blick wanderte zum Fenster, der mit einem Vorhang verhangen war, aber er merkte sofort, dass es Nacht war. Nur der Mond drang zu ihm hindurch.
Shen verengte die Augen. Irgendwie kam ihm dieser Ort bekannt vor.
Er versuchte sich zu erinnern, was er zuletzt gesehen hatte.
Er war auf dem Schiff gewesen. In seiner Kabine. Auf einem Tisch. Dann dieser Geruch, der ihn in den Schlaf zwang…
Endlich fiel ihm alles wieder ein. Er schob die Decke beiseite und erhob sich. Er dauerte eine Weile bis er sich sicher genug fühlte, um aufzustehen.
Zuerst schwankte er, doch dann fand er sein Gleichgewicht wieder und ging zur Tür. Die frische Wunde auf seinen Bauch zog unangenehm, doch er ignorierte den Schmerz. Langsam ging er zur Treppe, die nach unten führte.
Im Esszimmer schlüpfte Po genüsslich die Suppe, während Shenmi und Yin-Yu ihre mit einem Löffel zu sich nahmen. Doch die beiden ließen sich von der Essgewohnheit des Pandas nicht stören. Der Arzt hatte sich inzwischen in eine Ecke zurückgezogen und döste ein bisschen.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und Wang und Huan traten ein.
Schnell wischte sich Po eine Nudel vom Mund.
„Oh, hey, Kumpel! Alles im grünen Bereich da draußen?“
„Mehr oder weniger.“ Mit ernster Miene begab sich der Hunnenkönig an den Tisch. „Ich kann nur hoffen, dass die Ruhe nicht trügt.“
Po schluckte eine Nudel hinunter. „Na ja, falls doch, dann müssen wir uns auf einen Angriff vorbereiten…“
Auf einmal nahm er eine weiße Gestalt aus dem Augenwinkel wahr. Sofort wanderte sein Blick zur Treppe, wo Shen stand.
„Oh, aufgewacht?“
Yin-Yu sprang entsetzt auf. „Shen! Du darfst nicht aufstehen! Du musst liegenbleiben!“
„Daddy!“
Sofort stürmte das Mädchen auf ihren Vater zu. Dieser nahm sie erleichtert in die Arme.
„Ich bin erfreut zu sehen, dass es euch gut geht“, sagte Shen mit etwas noch schwacher Stimme, was den Protest des Arztes hervorrief.
„Mister, Sie hatten gerade eine Operation hinter sich“, mahnte der Arzt vorwurfsvoll.
Shen schnaubte. „Das bringt mich schon nicht um. Was ist eigentlich passiert?“
„Na ja“, begann Po. „Wir hielten es für das Beste einen Zwischenhalt im Schafdorf zu machen. Dabei mussten wir das Schiff weiterfahren lassen, nur so könnten wir die Geckos auf eine falsche Fährte führen. Den Rest der Zeit suchen wir nach einem Plan.“
Shen hob die Augenbrauen. „Und?“
Verlegen kratzte sich der Panda am Hinterkopf. „Tja, wir… wir arbeiten noch daran.“
Im nächsten Moment verengte Shen die Augen. „Ich nehme doch an, dass ihr ihn auf dem Schiff gelassen habt, oder?“
Po schaute verwundert auf. „Wen meinst du?“
Der weiße Pfau verengte seine Augen noch mehr. „Du weißt ganz genau wen ich meine!“
Po durchfuhr ein Schauer. Shen sah nicht gerade entspannt aus. „Äh…“ Pos Blick wanderte zu Wang. „Ich wüsste nicht, dass wir ihn auf dem Schiff gelassen haben sollten, oder?“
Er schluckte schwer. Shens Pfauenkamm begann zu zittern. Er schob Shenmi beiseite und ging mit festen Schritten auf den Panda zu.
„Wo ist dieser verruchte Vogel?!“, fuhr er den Drachenkrieger an.
Po zog den Kopf ein. „Äh… warum willst du das wissen…?“
Yin-Yu erschrak, als Shen den Panda unsanft am Kragen packte. „Wo ist er?!“
Wang wollte vermeiden, dass Shen sich nur noch mehr aufregte und deutete nach draußen.
„Dort im kleineren Schuppen, meine Leute halten davor Wache…“
Mehr brauchte Shen nicht zu wissen. Er rannte zur Tür und stürmte nach draußen.
„Shen!“ Yin-Yu folgte ihm sofort hinterher. Ebenso wie die anderen. Doch Shen war gar nicht mehr zu halten und ging auf die Hütte zu.
Liu seufzte schwer. Xiang lag immer noch da auf ein paar Decken und sagte kein Wort, obwohl er wach war. An einem Balken hatte sie eine Laterne aufgehangen, um besser die Wunde am Fuß zu begutachten. Wenigstens hatte Wang ihr erlaubt bei ihm nach dem Rechten zu sehen.
Sie hob den Kopf, als sie von draußen laute Stimmen vernahm. Dann wurde die Tür aufgerissen und Shen betrat den Raum. Sein Blick fiel sofort auf Xiang.
Erschrocken stand Liu auf. „Nein, bitte, tun Sie ihm nicht weh!“
Doch Shen stieß sie einfach zur Seite. „Oh, keine Sorge“, fauchte er. „Ich werde ihm nur etwas die Federn stutzen!“
Po und die anderen konnten nicht mehr rechtzeitig eingreifen. Shen riss den am Boden liegenden blauen Pfau einfach hoch und holte aus. Selbst Liu konnte den Schlag ins Gesicht nicht mehr verhindern. Xiang taumelte rückwärts und knallte gegen die Wand.
Po sah Shen fassungslos an. „Shen! Der hat doch schon genug!“
Plötzlich richtete der blaue Pfau sich auf und schüttelte heftig den Kopf. Seine zornigen Augen trafen auf den weißen Pfau.
„WAS FÄLLT DIR EIN?!“
Sofort stürzte sich Xiang auf Shen. Beide purzelten zu Boden und rauften sich dort weiter.
Po starrte die beiden Pfaue entsetzt an. „Hey, was soll das?“
Vergeblich versuchte er Shen irgendwie aus der Rangelei herauszuzerren, doch das stachelte die beiden Herrscher nur noch umso mehr an.
Endlich schob sich auch Wang in den Raum. „Hört auf damit! Auseinander!“
Nur mit großer Mühe konnte der Hunnenkönig sich zwischen die ringenden Pfaue zwängen. Er packte jeden von ihnen am Flügel und riss sie auseinander. Wie zwei kleine Jungen stierten die Pfaue sich gegenseitig an, jederzeit bereit nochmal aufeinander loszugehen.
„Das ist ja ein richtiger Hahnenkampf“, murmelte Po.
Xiang hatte sich soweit wieder gefasst und rieb sich wütend das noch immer schmerzende Gesicht von Shens Ohrfeige.
„Du hast eine rüpelhafte Art dich vorzustellen“, keifte er.
Shen fauchte zurück. „Das war für die Entführung meiner Tochter!...“ Doch dann fasste sich der weiße Pfau an den Kopf und kippte um, wurde aber noch im letzten Augenblick von Po und Wang aufgefangen.
„Ich sag’s ja“, meinte der Arzt kopfschüttelnd, der ihm ebenfalls nachgelaufen war. „Wer Betäubungen nicht gewohnt ist, der sollte es nicht übertreiben.“
Im nächsten Moment fand Shens sich in Yin-Yus Flügen wieder.
„Bitte“, bat sie ihn. „Tu mir den Gefallen und geh wieder ins Bett, okay?“
Doch diesmal ließ Shen sich nicht so leicht umstimmen und zeigte drohend auf Xiang. „Ich gehe nicht eher ich weiß was los ist. Wegen ihm wären wir beinahe alle tot!“
Jetzt war es Liu, die ein Machtwort sprach. „Wieso? Es war doch nicht seine Schuld.“
Shen warf ihr einen schneidenden Blick zu. „Ach ja, und wer ist die ganze Zeit hinter ihm her?!“
Liu wich seinem Blick aus und zog den Kopf ein.
Wang versuchte die Wogen etwas zu glätten. „Sollten wir das Ganze nicht erst später besprechen…“
„Nein!“, schnitt Shen ihm das Wort ab. „Jetzt!“
Alle Augen richteten sich auf Xiang. Dieser hatte sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt und sah alle immer noch wütend an. Schließlich drehte er den Kopf zur Seite.
„Es geht euch gar nichts an.“
Shen sah aus, als würde er Xiang erwürgen wollen. Er wollte gerade einen Satz auf ihn machen, als Po und Wang ihn noch mahnend an den Schultern hielten. Nur widerwillig fügte sich der weiße Pfau dieser Geste, dennoch blieb sein Zorn ungebrochen.
So langsam wagte Xiang wieder Shen anzusehen und wieder führten beide ein Augengefecht aus, was Shen nur umso wütender machte.
„Ich hätte dich schon damals erdolchen sollen“, knurrte er.
Xiang schnaube aufmüpfig. „Na dann mach es doch.“
Wieder war Shen kurz davor den Pfau anzuspringen, doch Po hielt den Pfau am Flügel fest und drehte ihn zu sich nach hinten.
„Shen, das bringt so nichts“, raunte der Panda ihm zu. „Wir müssen das anders machen.“
„Seit wann bist du ein Verhör-Experte?“, fuhr Shen ihn an.
Po zuckte die Achseln. „Na ja, eigentlich noch nie. Aber wer schon so oft mit Kriminellen zu tun hatte, der hat so einiges gelernt. Wir können ihn nicht dazu zwingen uns etwas zu sagen. Wir müssen ihn irgendwie aus der Reserve locken.“
„Und was schlägst du vor?“, zischte Shen ihn in einem Flüsterton zu.
Doch stattdessen fiel Pos Blick jetzt auf den Stier Huan, der ebenfalls in den kleinen Raum schaute. Zusammen mit der kleinen Shenmi, die sich wieder zu ihrer Mutter drängte.
„Huan, Sie haben doch Chiwa und ihre Schwester gekannt, oder?“
Der Stier nickte zögernd. Er schien sich gerade selber nicht sicher zu sein, ob er sie nach diesem Abend überhaupt noch gut kannte.
Po hob den Daumen. „Spielen Sie einfach mit. Erzählt Sie irgendetwas, egal was. Erzählen Sie wie sie Ihnen so vorkam.“
Damit drehte sich der Panda wieder um und räusperte sich. „Tja, dann werden wir eben unsere eignen Schlussfolgerungen ziehen.“
Xiang sah ihn wütend an, während er sich mühsam an der Wand festhielt. Es fiel ihm jetzt wieder extrem schwer auf nur einem Bein zu stehen.
„Fassen wir doch mal zusammen“, fuhr Po fort. „Tatsache ist auf jeden Fall, dass du deine Mutter umgebracht hast.“
Xiang verschränkte die Arme und schaute zur Seite. „Dafür habt ihr keine Beweise.“
„Trotzdem, deine Tante würde doch nie sowas ohne Grund behaupten, oder?“
Er versetzte Huan einen leichten Stoß in die Rippen.
„Oh ja“, stimmte der Stier zu. „Sie war in jeder Hinsicht immer ehrlich gewesen.“
Die Flügel des Pfaus verkrampften sich leicht.
Jetzt stieg auch Wang in das Verhör ein. „Ein Mord an seine Familie ist ein schweres Vergehen“, meinte er. „Da würde schon mehr dazukommen, als nur Gefängnis.“
Liu schien die Einzige zu sein, die darüber bestürzt war. In Xiang hingegen staute sich eine neue Wut an.
„Ihr habt keine Ahnung wovon ihr redet“, fauchte er.
„Es ist mir unbegreiflich“, fuhr Huan ungerührt fort. Es klang aber eher so, als würde er mit sich selber reden. „Sie war immer eine gute Mutter gewesen. Sie hat sich immer gut um ihn gekümmert.“
Po hielt es für das Beste jetzt einen Schlag weiter auszuholen. „Also wer schon eine Frau schlägt“, und erinnerte sich dabei an Yin-Yu. „Dessen kriminelles Denken ist dann wohl nicht mehr weit davon entfernt eine wehrlose Mutter hinterrücks zu ermorden…“
Xiang sprang auf. „AUFHÖREN! Ihr seid ja alle verrückt! Meine Mutter war der größte Abschaum der Welt!“
„Wie willst du das behaupten?“, fragte Wang und erhielt von Po sofort Rückendeckung.
„Vielleicht hast du nur etwas falsch verstanden“, fügte der Drachenkrieger hinzu.
„Falsch verstanden? Falsch verstanden?!“ Xiang sah aus als würde er jeden Moment den Verstand verlieren. Sein Körper bebte vor Wut. Schließlich hinkte er von der Wand weg und fand Kraft genug sich vor der Gruppe auf einem Bein zu erheben. Mit zittrigen Flügeln krempelte er den Ärmel von seinem Hemd hoch und strich gegen die Federn, woraufhin seine blanke Vogelhaut zu sehen war. „Sieht das nach einem Missverständnis aus???!!!“
Im Schein der Lampe, die im Raum hing, erkannten sie linienförmige Narben auf der Haut. Sie schienen schon älter zu sein, waren aber noch deutlich zu erkennen.
Liu hielt sich die Flügel vor den Schnabel. Die anderen starrten nur sprachlos darauf, woraufhin Xiang seinen Flügel schnell wieder zurückzog.
„Mein Körper ist übersät von ihrer „Fürsorglichkeit““, schnaubte er angewidert. „Als erstes hat sie meinen Vater umgelegt! Danach sollte ich drankommen. Ja, ja. Ich hab sie umgebracht! Kurz bevor sie mich umbringen konnte!“
Er warf sich gegen die Wand, drehte ihnen den Rücken zu und begann erneut zu zittern. „Ihr denkt, das habe ich mir nur eingebildet? Oh, sie hatte nette Methoden mit ihrer Schwester ausgedacht, wie man am besten am längsten jemanden umlegen kann. Sie fanden es regelrecht amüsant.“
Es entstand eine Stille. Nur langsam drehte Xiang sich wieder zu ihnen um, wobei er jeden ins Gesicht stierte. Keiner konnte sagen, wer Xiangs Aussage glaubte oder wer nicht. Besonders auf Shen blieb Xiangs Blick am längsten hängen. Es herrschte ein Gefühlschaos in dem Raum, wie zerbrochenes Porzellan, dessen ursprüngliches Bild man nicht mehr erkennen konnte. Erst als Shen die Augen verengte, wich Xiang ein wenig an der Wand entlang. „Meinetwegen stellt weiterhin eure Thesen auf!“, schrie er, verfiel aber im nächsten Moment wieder in einen Flüsterton. „Den Beweis trage ich weiterhin mit mir mit.“
Sein nächster Blick fiel zuerst auf Liu dann auf Yin-Yu. Wie ein in die Enge getriebenes Tier drückte sich der blaue Pfau in eine Ecke.
„Ihr wartet doch nur darauf mich zu erlegen, nicht wahr?“, zischte er. „Aber mich werdet ihr nicht kriegen. Nicht solange ich noch atme. Nicht solange ich noch die Gelegenheit habe euch zuerst zu beseitigen.“
Sein Gesicht nahm wieder diesen wahnsinnigen Ausdruck an. Für Shenmi wurde es allmählich unheimlich und drückte sich eng an ihre Mutter.
„Wir gehen besser“, schlug Po schnell vor.
Die Anspannung wurde zu extrem.
Wang hielt das für eine gute Idee. „Ja, gehen wir.“
Der Ochse drückte die anderen nach draußen und der blaue Pfau blieb mit seinen „Beweisen“ alleine zurück. Kaum war die Tür endlich zu, amtete Xiang erleichtert aber auch verbittert auf. Eine Weile blieb er noch stehen, dann schlug er zornig gegen ein paar Gartengeräte, die krachend zu Boden fielen. Anschließend ließ er sich auf die Decken auf den Boden fallen und begann hemmungslos zu weinen.
Man spürte die Erleichterung als alle endlich wieder im Wohnhaus standen. Po musste sich sein Fell schütteln, weil ihm immer noch die Haare zu Berge standen. Keiner sagte ein Wort.
Schließlich hielt der Arzt es für seine Pflicht seinem Patienten einen Rat zu geben.
„Sie sollten sich jetzt besser ins Bett legen“, wandte er sich an Shen.
„Ich bring ihn schon ins Bett“, bot Yin-Yu sich an. Shen erhob keinen Protest dagegen. Er war selber noch etwas in sich gekehrt. Die Pfauenhenne versuchte zu ergründen, was ihn durch den Kopf ging, doch Shen wich ihrem Blick aus und begab sich zur Treppe.
Po sah sich in die Runde um. Dieses ganze Schweigen erdrückte ihn regelrecht. Sein Blick fiel auf den Esstisch, wo noch seine Suppe stand.
„Möchte noch jemand etwas essen?“
Außer Wang schüttelten alle die Köpfe.
„Ich will bei Papa schlafen“, drängte Shenmi und wurde sofort von ihrer Mutter in die Arme genommen.
„Natürlich darfst du das“, sagte Yin-Yu mit einem Lächeln und begaben sich zu dritt in die obere Kammer.
Auch Liu verabschiedete sich und zog sich in eines der anderen Häuser zurück. Sie sprach kein Wort, aber ihre Gedanken kreisten nur um Xiang. Selbst im Schlaf.
Shenmi war überglücklich wieder bei ihren Eltern zu sein und kuschelte sich zwischen sie. Beide redeten nicht viel, sondern wünschten sich nur eine gute Nacht. Eine Weile schwiegen sie. Erst als Shen sich sicher war, dass Shenmi schlief, drückte er sich enger an Yin-Yu.
„Schläfst du schon?“, flüsterte er.
„Nein“, raunte sie.
„Hast du die letzten Tage überhaupt schlafen können?“
Yin-Yu seufzte. „Sie hat mich ständig wachgehalten. Ich sollte ihr sagen, wo Xiang ist.“
Sie konnte sein Gesicht nur schwach im Mondschein erkennen, aber sie bemerkte, wie sich seine Miene verfinsterte und sie ahnte, dass er jederzeit bereit wäre, Chiwa zu erlegen.
Die Pfauenhenne streckte ihren Flügel zu ihm rüber und tastete nach seinem Flügel.
„Sei nicht zu streng mit ihm“, flüsterte sie. „Irgendwie kann ich ihn verstehen. Allein schon bei ihr hab ich gedacht, ich würde nie mehr lebend rauskommen.“
Sie massierte seine Federn, sodass Shens Anspannung ein kleiwenig nachließ. Dennoch schien es unvermeidlich zu sein, dass diese blutige Konfrontation irgendwann eintreffen würde.
„Versuch zu schlafen“, riet Yin-Yu. „Es war ein anstrengender Tag gewesen.“
Nur widerwillig fügte Shen sich ihrer Aufforderung und ließ sich entspannter aufs Kissen sinken. Wieder folgte eine Phase des Schweigens, bis Yin-Yu die Stille unterbrach.
„Shen?“
„Mm?“
„Geht es dir auch wirklich gut?
Das Gesicht des weißen Pfaus drehte sich verwundert zu ihr um. „Ja, wieso?“
Yin-Yu hatte nicht vergessen was Shenmi gesagt hatte, doch dann verwarf sie den Gedanken sofort wieder. „Nur so.“
Schweigend rührte Po in seiner Suppe. Egal ob Xiang die Wahrheit gesagt hatte oder nicht, Tatsache war, dass sie alle auf Chiwas Abschussliste standen.
Sein Blick wanderte zu Wang, der ebenfalls jetzt nur noch teilnahmslos auf seinen Teller starrte.
Po räusperte sich. „Tja, was halten Sie davon?“
Wang zuckte die Achseln. „Egal was war, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie schon was geplant hat.“
Po verengte die Augen. „Dann sollten wir unsere Köpfe anstrengen und ihr zuvorkommen.“
„Solange sie uns nicht findet, haben wir noch nichts zu befürchten.“
Der Panda nickte. „Stimmt. Aber ewig können wir uns auch nicht verstecken.“
Wang stimmte ihm zu und erhob sich. „Wir sollten erst mal versuchen zu schlafen. Morgen haben wir hoffentlich einen klareren Kopf.“
Po hatte nichts dagegen und gähnte laut. „Stimmt. Bis zum Morgen sind es zwar nur noch ein paar Stunden, aber eine Mütze voll Schlaf wäre auch nicht schlecht.“
Der Hunnenkönig verabschiedete sich und begab sich in eines der Gästezimmer der anderen Häuser. Po sah im nach und seufzte.
Jedem war klar, dass Chiwa hinter Xiang her war, doch war er es wert sich für seinen Schutz einzusetzen? Oder sollten sie Chiwa sogar ein Friedensangebot machen? Doch die dunkle Pfauenhenne schien fest dazu entschlossen zu sein ihren Neffen zu beseitigen. Andererseits könnten sie Chiwa auch wegen versuchten Mordes an Shen anklagen. Und Entführung. Sollten sie Xiang vielleicht als Lockvogel benutzen? Oder verbargen sie nur in Wirklichkeit einen Mörder?
Po hielt sich den Kopf.
Wo sollte das noch enden?
Das Rot der Morgendämmerung hing wunderschön über der Stadt Gongmen. Die alte Ziege war schon lange wach und hantierte bereits in der Küche. Aber nicht unbedingt, weil sie eine Frühaufsteherin war. Sie machte sich Sorgen, dass etwas passiert sein könnte. Auch war noch immer keine Nachricht aus der Stadt Mendong eingetroffen und sie hegte ihre Zweifel, ob alles in Ordnung war. Das Einzige was sie beruhigte war, dass der Drachenkrieger mitgekommen war. Sie war sich zwar sicher, dass Po gut auf die beiden aufpassen würde, doch selbst ein Drachenkrieger hatte Schwachstellen.
Seufzend nippte sie an ihrem Tee. Wieso hatte sie nur so ein schreckliches Gefühl im Bauch?
Ihre Grübelei wurde unterbrochen, als Sheng mit seinem kleinen Bruder Zedong die Küche betrat. Dicht gefolgt von Fantao, der sich müde über das Gesicht rieb.
„Na, du siehst aber nicht gerade munter aus“, bemerkte die Wahrsagerin lächelnd. „Ist Xia noch oben?“
„Sie kämmt sich noch die Federn“, antwortete Sheng, der nicht viel für Mädchenkram übrighatte.
Die Ziege schüttelte lächelnd den Kopf. Sheng begab sich mit seinen Brüdern an den Tisch. Die Ziege zählte durch.
„Wo ist Jian?“
„Im Bett“, antwortete Zedong kurz und knapp.
„So? Dann werde ich mal noch nach ihm schauen.“
„Wo sind denn die anderen?“, wollte Zedong wissen.
„Die Fünf?“ Die Ziege strich sich über den Bart. „Die sind schon lange wach. Sie stehen immer mit der Sonne auf.“
Fantao verzog den Schnabel. „Müssen das alle Kung Fu Krieger so machen? Ich könnte darauf verzichten.“
Die Ziege lächelte leicht. „Das hat dein Vater auch manchmal gesagt, als er noch ganz klein war.“
Fantao verzog den Schnabel. „Dann hat er sich aber nicht viel verändert, wenn er morgens schon länger schläft als wir.“
Die Mundwinkel der Ziege sanken wieder. „Na ja, ich hol mal euren kleinen Bruder runter.“
Damit verschwand sie aus der Küche.
Die Ziege ging ein paar Stockwerke höher, wo das Gästezimmer für die Jungs lag. Jian lag tatsächlich noch in den Decken und hielt sein Musikinstrument fest umklammert.
„Aber Junge“, tadelte die Ziege ihn. „Du kannst doch sowas nicht mit ins Bett nehmen.“
„Sonst nimmt man es mir noch weg“, grummelte Jian.
Die Ziege schmunzelte. „Du bist dickköpfig wie dein Vater. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, hat er sich immer daran festgebissen.“
Maulend drehte sich der Pfauenjunge auf den Rücken. „Wann kommt Mama denn wieder?“
„Sehr bald.“
Sie strich dem Jungen über den Kopf. „Aber nun komm, die anderen sind schon auf den Beinen.“
Nur widerwillig ließ der Junge sein Musikinstrument einen Moment lang unbeobachtet und ließ sich ein neues Hemd von der Ziege bringen. Er hätte das Hemd bestimmt falsch angezogen, wenn sie ihm nicht noch darauf aufmerksam gemacht hätte.
„Ach Junge“, kicherte die Wahrsagerin und strich ihm nach getaner Arbeit sein Hemd glatt. „Hast du heimlich wieder in der Nacht musiziert?“
„Es macht einfach Spaß, wenn der Mond am Himmel steht“, klärte Jian sie auf. „Bei dem muss ich keine Farben sehen, um glücklich zu sein.“
Er zuckte zusammen, als die Ziege ihm die Kopffedern zurechtzupfte. „Dazu muss man doch nicht extra zum Mond schauen“, meinte sie. „Deine Mutter hatte auch anfangs ziemliche Schwierigkeiten damit. Aber sie hat gelernt damit umzugehen. Auch ohne Musik.“
Der Pfauenjunge senkte den Blick. „Wäre schön, wenn sie mitgekommen wäre.“
Die Ziege tätschelte ihn an der Schulter. „Na ja, komm, die anderen warten bestimmt schon auf dich.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Xia steckte den Kopf hinein.
„Hat Jian schon wieder verschlafen?“, fragte sie missbilligend.
Die Ziege winkte mit der Hand. „Nein, er hat nur die Zeit vergessen.“ Sie schob den Jungen zur Tür, doch dieser entwand sich noch aus ihren Griffen und holte sein Musikinstrument aus dem Bett.
Die Ziege verdrehte die Augen. „Wie sein Vater.“
Die Sonne hing schon höher über den Dächern. Sheng, Zedong und Fantao waren als erste mit dem Frühstück fertig. Anschließend begaben sie sich auf den Platz, wo die Furiosen Fünf gerade mit den zwei großen Meistern ein paar Übungen machten. Erst als die drei Pfaue erschienen hielten sie inne. Sheng ließ sich nichts anmerken und verneigte sich respektvoll.
„Es ist uns eine Ehre mit euch die Kunst des Kung Fu zu verfeinern“, sagte er nobel.
Seine beiden kleinen Brüder mussten bei dieser Begrüßung kichern.
Die Meister hingegen nahmen es ihm nicht übel. Auch nicht als Zedong sich wagemutig in Position begab. „Hey, wollt ihr mal etwas mit uns Kung Fuen?“
Diese Frage war an die Fünf gerichtet und Monkey erklärte sich sofort dazu bereit.
„Na gut, dann zeig mal was du kannst.“
Kleiner Pfau und Affe verbeugten sich vorher bevor Zedong sofort auf Monkey losging. Doch seine ganzen Angriffe konnten den abwehrenden Handgriffen des behaarten Meisters nichts anhaben.
Meister Ochse und Meister Kroko zogen sich aus dem Getümmel zurück. Als sie außer Hörweite waren, konnte sich der Ochse eine Bemerkung nicht verkneifen.
„Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt gut ist, dass wir ihnen das Training erlauben.“
Meister Kroko sah überrascht zu ihm auf. „Was?“
„Du hast mich schon richtig verstanden.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Shen hatte man auch hart trainiert. Bis er auf die schiefe Bahn bekommen ist.“ Sein Blick fiel auf Sheng und Zedong, die immer am eifrigsten trainierten. „Wer garantiert, dass wir nicht noch einmal denselben Fehler machen?“
„Aber du hast doch zugesagt.“
„Weil sie es gesagt hatte.“
Der Ochse deutete mit einem Kopfnicken auf die alte Ziege, die gerade mit Jian im Huf über den Platz kam, dicht gefolgt von Xia.
„Aber Sheng ist doch nicht so einer und er ist schon erwachsen“, bemerkte das Krokodil. „Er ist umsichtig und gewissenhaft. Er würde nie so etwas tun wie sein Vater in seinem Alter.“
Der Ochse schnaubte. „Schlimm genug, dass er auch noch allein mit seiner Tochter ist.“
Meister Kroko schluckte. „Glaubst du denn wirklich, dass von der Bosheit ihres Vaters etwas auf sie abfärben könnte? Das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür ist sie ein zu gutes Mädchen.“
„War er das anfangs nicht auch gewesen?“, knurrte Meister Ochse düster. „Krank kam er auf die Welt, und genauso krank ist sein Gehirn immer noch.“
Das Krokodil schüttelte missbilligend den Kopf. So sehr er Shen auch manchmal seine früheren Taten übel nahm, so konnte er angesichts seiner Kinder nur schwer von ihm noch schlecht reden. Meister Ochse hingegen schien dafür keine Hemmungen zu haben.
Sein Blick wanderte wieder auf den Übungsplatz, wo gerade Fantao an die Reihe kam. Allerdings war sein Gegenspieler nicht Monkey, sondern Tigress.
Tigerin und Pfau sahen einander an. Tigress hob verwundert die Augenbrauen.
„Warum schaust du denn so entsetzt?“
Fantao schüttelte hastig den Kopf. „Dein Streifen gefallen mir.“
Im Hintergrund erklang ein Gekichere. Tigress versuchte das Lachen ihrer Freunde zu ignorieren und strich sich über die Arme mit einem gezwungenen Lächeln. „Danke.“
Fantao hob die Schnabelwinkel. „Ich könnte auch mal ein Bild von dir malen…“
Er hob seinen Pinsel, doch im nächsten Moment wurde dieser von seiner großen Schwester Xia wieder abgenommen.
„Du sollst nicht malen“, tadelte sie ihn. „Sondern üben.“
Schmollend verzog der Pfau den Schnabel und musste zusehen, wie Xia seinen Lieblingsgegenstand in ihrem Mantel verschwinden ließ.
Widerwillig schluckte Fantao seinen Ärger hinunter und begab sich in Stellung. Dann kam der Start und beide Tiere gingen aufeinander los. Fantao wich mehr Tigress‘ Hieben aus als das er angriff. Stattdessen sprang er um sie herum, bis er einen schnellen Schlag nicht mehr frühzeitig bemerkte und zu Boden fiel. Er schlitterte über die Fliesen, überschlug sich kurz und blieb endlich liegen.
„Oh!“ Erschüttert musste der Junge feststellen, dass ihm dabei eine bunte Schwanzfeder rausgefallen war.
Schnell eilte Tigress zu ihm und hob die Feder auf. „Oh, tut mir leid.“
Sie hielt sie ihm hin. Doch Fantao winkte ab. „Kannst du behalten. Vielleicht kannst du sie Po schenken.“
Wieder erhob sich ein Kichern hinter ihrem Rücken. Mit festem Griff umklammerte die Tigerin die Feder, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. Sie murmelte ein kurzes Danke, steckte die Feder in ihr Hemd und ging mit strammen Schritten an ihren Freunden vorbei, wo sie sich etwas in den Hintergrund stellte. Verwundert sahen die vier Freunde sie an. Es wunderte sie, dass sie sich nicht verärgert zeigte. Oder lag es an den Kindern?
Fantao hingegen hatte erst einmal genug vom Training und gab die Reihe an Jian weiter. Dieser trat mit großer Unsicherheit auf den Platz. Die Fünf wollten es ihm leichter machen und schickten Mantis in den Ring.
Obwohl das grüne Insekt so harmlos aussah, so wusste der Pfauenjunge wie geschickt dieser kleine Meister war und umklammerte ängstlich sein Instrument.
„Komm das brauchst du nicht zum Trainieren“, meinte Xia und nahm ihm die Pipa aus den Flügeln.
„Hey!“ Jian wollte wieder danach greifen, doch seine ältere Schwester ließ sich nicht erweichen und schob ihren Bruder wieder nach vorne.
Viper unterdessen hatte sich zu Tigress gesellt und sah sie prüfend an. „Du bist heute so still. Was ist los?“
Tigress verschränkte die Arme. „Es ist nichts.“
Die Schlange zischelte. „Ach, komm schon. Ich kenn dich doch. Ist es wegen Po?“
Tigress wich ihrem Blick aus und Viper hielt es für das Beste dann doch zu schweigen. Ob wirklich Grund zur Sorge um ihren besten Freund bestand?
Ihre Grübelei wurde unterbrochen als Jian von Mantis einmal zu hart gestoßen wurde und auf sein Knie fiel. Zedong schüttelte missbilligend den Kopf.
„Wie konntest du seinen Angriff übersehen?“, tadelte er seinen Bruder. „Der war doch direkt vor dir.“
Jian musste zugeben, dass er absolut unkonzentriert war, doch das half ihm jetzt nichts gegen sein abgeschrammtes Knie. Schnell eilte die Wahrsagerin zu ihm und half ihm hoch.
Der Junge weinte zwar nicht, aber man sah ihm an, dass es ihm weh tat.
„Ist nicht schlimm“, beruhigte sie ihn. „Das kriegen wir schon wieder hin.“
Mit dem Jungen begab sie sich zur Treppe. Mantis zitterte mit seinen Antennen, dann drehte er sich zu seinen Freunden um.
„Was? Ich hab ihn gar nicht mal hart gestoßen.“
„Dann tritt mal gegen mich an“, forderte Zedong ihn heraus.
Viper und Monkey tauschten verwunderte Blicke aus.
„Der hat ganz schön Kampfgeist“, bemerkte die Schlange.
Die Ziege, die nicht weit von ihnen entfernt stand, hörte nur mit einem halben Ohr zu.
„Wie sein Vater“, murmelte sie, wobei sie in der Zwischenzeit Jians Knie säuberte.
„Ich kann dir auch eine Salbe auftragen, wenn du willst“, bot schließlich an.
Der Junge sah zu ihr hoch. „Könntest du nicht unsere Nanny sein?“
Die Ziege sah ihn verlegen an. „Nun, ich…“
Monkey verkniff sich das Lachen und schien sich sogar zu fragen, ob das Shen überhaupt gefallen würde.
Auf Fantao achtete inzwischen niemand mehr. Der Pfau hatte sich wieder an die Mauer des Palastes zurückgezogen und pinselte wieder mit seinem Pinsel an der Steinwand herum. Nach und nach entstand ein Bild, das mehr und mehr Ähnlichkeit mit Tigress hatte. Der kleine Pfau trat kurz ein paar Schritte zurück und betrachtete stolz sein Werk.
Plötzlich packte ihn etwas am Hemd und riss ihn in die Höhe. Fantao schrie erschrocken auf, sodass die anderen verwundert die Köpfe hoben. Doch noch ehe der Pfauenjunge erst recht um Hilfe schreien konnte, blickte er ein paar Meter über den Boden auf der Mauer in das grinsende Gesicht eines Geckos.
Tongfu klatschte kurz Applaus für den Geier, der den Jungen einfach so dem Boden entrissen hat.
„Irgendwie macht es mir langsam Spaß Pfaue einzusammeln“, scherzte der Gecko. „Das könnte ein neues Hobby für mich werden.“
Fantao hingegen fand das gar nicht zum Lachen. „Hey! Lass mich runter!“
„Halt die Klappe“, fuhr der Gecko ihn an und zwei seiner Leute holten einen großen Sack hervor. „Los rein mit ihm.“
Ohne Umschweife warf der Geier das Kind da rein und der Sack wurde sofort zugeschnürt. Vergeblich versuchte Fantao wieder herauszukommen.
Tongfu kümmerte sich nicht länger darum und wandte sich an sieben seiner Geckos. „Jetzt holt mir noch die zwei restlichen.“
„Hey, lass ihn runter!“, schrie Xia zu ihnen hoch. Auch die anderen waren an den Tatort geeilt.
Tongfu belächelte die Gruppe mit einem gleichgültigen Achselzucken.
„Sorry für den Eintritt ohne Eintrittskarte, aber die Show geht eh schnell zu Ende. Wir brauchen nur die drei bunten kleinen Hühner und dann sind wir auch schon wieder weg.“
Zedong stellte erbost seinen Pfauenkamm auf. „Dann hol uns doch!“
Die Furiosen Fünf waren nicht gerade von Zedongs Übermut begeistert, doch Tongfu hätte sowieso das Angriffssignal gegeben.
Im Nu schossen die Geckos auf die Truppe zu. Tigress und die anderen gingen sofort in Verteidigung über und versuchten die Angreifer abzuwehren. Doch diese sprangen über sie hinüber und vollführten mit ihnen das reinste Katz-und-Maus Spiel.
Sheng und Xia nutzten die Gelegenheit und brachten sich mit Zedong über den Platz in Sicherheit. An der Treppe standen immer noch die Wahrsagerin und Jian und konnten sich nicht erklären was los war.
Zedong hingegen war hellauf begeistert. „Wow, ein richtiger Überfall. Da kann ich ja gleich weiter trainieren.“
Doch Sheng nahm ihn beiseite. „Nein, dazu bist du nicht erfahren genug. Das ist kein Spiel hier. Versteck dich!“
Einer der Geckos hatte die Kung Fu Mauer gerade durchbrochen und raste auf die Gruppe an der Treppe zu. Doch dann donnerte Meister Ochse wie aus dem Nichts hervor und schleuderte den Gecko zur Seite.
Doch dann stürzen sich zwei weitere Geier, die die Geckos nach Gongmen geflogen hatten, auf den Ochsen und er war für einen Moment wieder abgelenkt. Sheng eilte ihm sofort zu Hilfe und wehrte die Flattermänner ab. Xia krallte sich einen Kampfstab und schlug auf den Gecko ein, der sich von Ochses Zusammenprall wieder erholt hatte und beide lieferten sich ein Gefecht ab. Meister Kroko stand zunächst ziemlich verwirrt da. Als zwei weitere Geckos es auf den Platz schafften, nahm auch er am Kampfgeschehen teil.
In diesem Moment fiel Jian sein Musikinstrument wieder ein. Suchend schaute er über den Platz. Die Pipa lag alleine auf den Pflastersteinen. Sofort rannte er darauf zu, noch ehe die Wahrsagerin ihn festhalten konnte.
„Jian!“, rief sie ihm nach. „Bleib hier!“
Doch der Junge hörte nicht auf sie. Aber kaum hatte er die Pipa aufgehoben, bäumte sich vor ihm der größte Geier auf.
„Wo willst du denn so schnell hin, buntes Küken?“, spottete der dunkle Vogel.
Jian umklammerte sein Musikinstrument, als auch er vom Geier gepackt und in seinen Sack gesteckt wurde. Die Ziege musste hilflos mitansehen wie der Junge vom Geier in den Krallen davongetragen wurde. Jetzt war es Zedong, der sich genötigt fühlte etwas zu unternehmen.
„Hey, lass meinen Bruder los!“
Der Pfau sprang auf den Sack, der schon mehrere Meter über den Boden hing, kletterte daran hoch und verabreichte den Geier ein paar Schläge auf den Kopf.
„Aua, was soll das?!“, beschwerte sich der große Geier erbost und versuchte den Jungen wenigstens abzuschütteln. Doch dieser war wendig genug. Der Geier musste nicht mehr wo er hinfliegen sollte. Er war jetzt schon so hoch oben, dass er fast auf Augenhöhe mit der obersten Etage des Palastes stand.
Tongfu, der sich bis jetzt aus der ganzen Rangelei herausgehalten hatte, pfiff den nächsten Geier zu sich.
„Los, da hoch!“, befahl er dem Vogel, der ihn sofort durch die Luft transportierte.
Tigress bemerkte das zuerst. Mit gewaltigen Schlägen schleuderte sie den nächsten Gecko von sich, raste über den Palastplatz und kletterte an der Fassade des Palastes hoch.
Zedong hatte den großen Geier inzwischen soweit gebracht, dass dieser unkontrolliert durch die Luft wirbelte und als Resultat gegen eine Kante des Daches der vorletzten oberen Etage knallte.
Der Sack, in dem Jian noch gefangen war, purzelte einen Stockwerk tiefer und blieb gerade noch am Rand des nächsten Daches hängen.
Sofort sprang Zedong runter und zog den Beutel auf die sichere Dachplatte. Doch noch ehe er seinen Bruder befreien konnte, wurde es im nächsten Moment schwarz um ihn, als Tongfu ihm einen Sack über den Kopf stülpte.
„Ha, hab ich dich!“ Triumphierend hielt er den zappelnden Stoffbeutel über seinen Kopf.
Doch dann sah er die wütende Tigerin die Wände hochrasen und er zog es vor den Rückzug anzutreten. Er packte den zweiten Sack und hechtete mit ihnen übers Dach. Gerade in diesem Moment erreichte Tigress die Etage. Tigress machte einen gewagten Satz nach vorne. Doch noch ehe sie den Gecko erreichen konnte, wurde sie von einem heranrasenden Schatten zur Seite geschleudert. Die große Katze verlor das Gleichgewicht und stürzte vom obersten Dach in die Tiefe.
Der große Geier, der vorhin so heftig gegen das Dach geknallt war und sie so brutal geschupst hatte, lachte. „Kätzchen sollten nicht so hoch oben stehen.“
Tigress wäre bestimmt hart auf den Boden aufgeschlagen, wurde aber gerade noch rechtzeitig von Crane aufgefangen.
Tongfu hatte sich inzwischen die nächsten Geier als Lufttaxi genommen und flog mit der Beute davon. Dann pfiff er einmal laut.
Die anderen Geckos erkannten sein Signal und zogen sich blitzartig zurück. Sie schwangen sich auf weitere Geier und flogen davon.
Als endlich Ruhe eingekehrt war besannen sich die anderen was überhaupt passiert war.
„Wo sind sie?“, fragte Viper völlig aufgewühlt.
„Dort fliegen sie!“ Tigress deutete in eine bestimmte Richtung am Horizont.
„Oh, nein!“, rief Xia geschockt. „Wo bringen sie sie hin?“
„Jede Wette, dass das was mit Shen zu tun hat?“, knurrte Meister Ochse.
Alle sahen ihn verwundert an. „Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Xia.
„Sie fliegen direkt nach Norden. Außerdem ist mir dieser große Geier nicht unbekannt.“
Viper sah ihn fragend an. „Wieso?“
„Das ist Laishi. Ein verrückter Geier. Redet anderen immer ein, er wäre der Vorbote für die Unterwelt. In den letzten Jahren hält er sich an der Hunnengrenze auf.“
Alle sahen einander an, bis Tigress ein Machtwort sprach. „Crane, Mantis, Viper! Fliegt ihnen hinterher.“
Die drei sahen sie verwundert an.
„Und was ist mit euch?“, fragte Viper.
„Wir kommen nach“, mischte Meister Ochse sich ein.
Das verwunderte die Schlange nur noch mehr. „Dafür werdet ihr aber mindestens zwei Tage brauchen.“
Der Ochse verschränkte die Arme. „Wir werden schon schneller da sein als ihr denkt.“
„Jetzt fliegt schon los“, drängte Tigress.
Sofort krallte sich Crane das kleine Insekt und die Schlange und flog nach Norden.
Xia sah ihnen besorgt nach. „Wie sollen wir so schnell hinterherkommen?“
„Ja“, stimmte Meister Kroko ihr zu. „Wie sollen wir so schnell hinterher?“
Der Ochse winkte ab. „Da hab ich schon eine Idee. Kommt mit.“
Die Übriggebliebenen folgten dem Ochsen in den Palast. Von dort bestellte er eine Flugtaube, an die er eine Nachricht ansteckte.
Sein Kollege Meister Kroko sah ihn verwundert dabei zu. „An wen schickst du jetzt einen Brief?“
„Meister Pfeilschneller Adler hat mir mal einen Gefallen geschuldet“, klärte Meister Ochse ihn auf.
„Aber ist er nicht schon lange tot?“, bemerkte das Reptil verwundert.
„Seine Familie sind zwar keine Kung Fu Kämpfer“, belehrte ihn der Ochse, während er die Taube losschickte. „Aber sie könnten uns in dem Fall nützlich sein. Sie sind stark genug um uns bis nach Mendong zu fliegen.“
Xia blieb der Mund offen. „Warum haben Sie das nicht sofort vorgeschlagen, als mein Vater schnell nach Mendong reisen musste? Dann wäre er schneller in Mendong angekommen.“
Meister Ochse sah sie grimmig an. „Dein Vater ist und bleibt ein…“
Meister Kroko zog den Kopf ein. „Sag es bitte nicht…“
„… ein Mörder!“
Meister Kroko schlug sich gegen die Stirn. „Er hat’s schon wieder gesagt.“
Xia ballte die Flügel. „Wollen Sie ihm das für den Rest seines Lebens nachhängen?!“
Sofort begab sich das Krokodil zwischen sie.
„Er war es, er war es!“, versuchte er die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen, doch Meister Ochse dachte nicht daran seinen Satz zu korrigieren. Stattdessen beendete er diese Beurteilung mit einem kräftigen Schlusssatz.
„Daran wird sie nie etwas ändern.“
Xia hätte ihn am liebsten ausgeschimpft, doch Sheng nahm sie beherzt beiseite und die Diskussion war damit vorzeitig beendet.
Die Stunden zogen sich wie Jahre über den Tag. Die Meister und der restliche Teil der Pfauenfamilie hatte sich auf den Palastplatz zurückgezogen und warteten sehnsüchtig auf die Ankunft der Adler.
Tigress hatte sich in ein stilles Eckchen zurückgezogen. Sie hatte die Arme verschränkt und scharrte hier und da mit dem Fuß auf dem Boden.
Monkey bemerkte ihre Nervosität und gesellte sich zu ihr. „Keine Sorge. Ich bin sicher, Po geht es gut.“
Tigress warf ihm einen stechenden Blick zu, weshalb der Affe sich schnell korrigierte. „Aber auch den anderen geht es sicher gut. Bestimmt sind sie in Sicherheit.“
„Aber warum entführen sie dann meine Brüder?“, mischte sich Xia ein. „Erst meine Mutter, jetzt auch noch sie. Was soll das bringen?“
„Ich schätze, das werden wir schon herausfinden“, meinte Monkey.
Im nächsten Moment erklang ein Rauschen über ihre Köpfe. Ehrfurchtsvoll sahen sie nach oben, wo sechs Adler über sie kreisten. Mit einem hohen Luftwirbel landeten sie.
Meister Ochse wandte sich sofort an den vordersten Adler zu. Sie verneigten sich voreinander.
„Danke, dass ihr gekommen seid“, grüßte ihn der Ochse.
Der Adler nickte. „Machen wir doch gerne. Ein guter Freund von Meister Blitzschneller Adler ist uns alle ein Freund.“
„Schon gut“, meinte der Ochse „Wir haben es eilig. Fliegt uns sofort nach Mendong.“
Xias Blick fiel auf die Wahrsagerin, die sich artig im Hintergrund hielt. „Möchtest du nicht mitkommen?“
„Sie hat Flugangst“, klärte Meister Kroko sie auf.
Die Ziege lächelte ihr zu. „Fliegt nur. Ich hoffe es geht den anderen gut.“
Endlich war man zum Abflug fertig. Mit kräftigen Schwingen hoben die Adler mit ihren Passagieren entweder auf den Rücken oder mit den Krallen ab.
Die Ziege winkte ihnen nach. Sie hatte zwar immer noch ein schlimmes Gefühl im Magen, aber sie hoffte, dass alles gut ging.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, verfiel die alte Dame wieder ins Grübeln.
„Shen“, murmelte sie. „Pass auf deine Familie auf.“
Blinzelnd schlug Shen die Augen auf. Sonnenstrahlen drangen zwischen den Vorhängen zu ihm ins Zimmer. Sein Blick wanderte neben sich. Doch außer ihm befand sich keiner im Bett.
Stöhnend drehte er sich wieder auf den Rücken. An seiner Bauchseite verspürte er ein unangenehmes Ziehen. Er hatte sich gestern wohl etwas zu viel bewegt. Dennoch hielt er es nicht länger im Bett aus und erhob sich mühsam. Er begab sich langsam zur Tür und stieg vorsichtig die Treppe runter. In den unteren Räumen befand sich niemand. Die anderen schienen schon gegessen zu haben.
Ohne lange nachzudenken, schlurfte er zur Haustür. Kaum hatte er sie geöffnet, hielt er sich stöhnend die Flügel vor Augen, als ihm die Mittagssonne blendete. Nachdem er sich an das Licht gewöhnt hatte, sah er sich draußen um. Zu seiner Erleichterung stand nur Yin-Yu neben dem Haus auf dem Rasen und sah in die Ferne. Es war gestern alles gar kein Traum gewesen.
Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Sie bemerkte ihn nicht. Die Pfauenhenne schien sehr tief in Gedanken versunken zu sein. Als er direkt hinter ihr stand, hob er die Flügel und umfasste sorgsam ihre Schultern.
Sie schrak kurz zusammen. Erst als sie seine weißen Flügel sah, wurde sie wieder ruhiger.
„Oh, du bist wach?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Aber du solltest nicht aufstehen…“
Er hielt ihr ein paar Federfinger vor den Schnabel. Er wollte von ihr keine Mahnung hören. Sie schloss gehorsam den Mund, was Shen ein Lächeln entlockte. Sie war nie provokant oder gebieterisch, was er an ihr besonders wertschätzte. Doch dann wurde seine Miene wieder ernst. Er ließ seine Flügel auf ihren Flügeln gleiten und sah ihr feste in die Augen.
„Geht es dir auch wirklich gut?“, wollte er wissen.
Sie senkte kurzfristig ihren Blick. „Ja, es geht mir gut…“
„Du wirkst so ausgelaugt“, stellte er fest.
Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Es ist gestern nur so viel passiert.“
Shen verengte die Augen. „Ist noch etwas vorgefallen? Wieso hat man mich nicht geweckt?“
Sie lächelte ihn an. „Nein, bis jetzt ist noch alles ruhig geblieben. Und außerdem, solltest du ausschlafen.“
Sie strich ihm über sein Gesicht, doch überraschenderweise wich er ihrer Berührung aus.
„Wo ist Shenmi?“
„Sie spielt mit ein paar Baumwollpuppen, die man ihr geschenkt hatte.“
Yin-Yu deutete mit dem Kopf hinter Shen. Tatsächlich hockte das weiße Pfauenmädchen vor dem Haus auf dem Hof im Gras. Zwischen den vielen Puppen hatte sie auch ein paar Origami-Figuren gebastelt.
Shen musste bei diesem Anblick lächeln. „Hat sie was gegessen?“
„Relativ wenig“, gab die Pfauenhenne zur Antwort, doch noch bevor Shen seine Tochter auf sich aufmerksam machen konnte, hielt sie ihn mit einer Frage zurück.
„Warum hast du sie überhaupt mitgenommen?“
Shen hielt inne. Dann sah er ihr feste ins Gesicht. „Ich hab sie nicht darum gebeten. Sie hat sich einfach unter das Gepäck geschmuggelt. Ich konnte da gar nichts machen.“
Yin-Yu senkte ihren Blick. „Viel hätte nicht gefehlt, und es wäre noch was passiert.“
Shen umklammerte mit seinen Federfingern ihre Schultern. „Schatz, ich verspreche dir, dass das nie passieren wird.“
Sie sahen einander an. Doch Shens Worte konnten Yin-Yu keinen Mut zusprechen. „Ich weiß auch nicht was mit mir los ist“, fuhr sie verzweifelt fort. „Ich hab so ein eigenartiges Gefühl. Seit heute Morgen erfasst mich so eine Unruhe…“
Tröstend nahm der weiße Pfau sie in die Arme. „Das ist die Aufregung“, beruhigte er sie. „Du weißt doch, wie du unter Stress reagierst.“
Er streichelte ihr über den Rücken. Yin-Yu atmete tief durch. „Mag sein, dass du recht hast.“
Ihr Blick wanderte den Hügel runter, wo die kleine Hütte mit den zwei Wächtern vor der Tür standen. „Vielleicht ist es ja auch wegen…“ Sie brach kurz ab und löste sich aus Shens Umarmung.
Auch Shen konnte es nicht vermeiden, einen Blick auf die Hütte zu werfen und verschränkte die Flügel. „Irgendeine neue Aussage von ihm?“, fragte er forschend.
Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Wir haben ihn bis jetzt in Ruhe gelassen.“
Sie sah ihn an. „Möchtest du mit ihm reden?“
„Nein.“ Shen wandte sich ab. „Und ich will ihn auch nicht mehr sehen.“
Die Pfauenhenne seufzte schwer. „Egal ob du ihn ignorierst oder nicht, aber falls wir das hier durchstehen, dann müssen wir uns dafür entscheiden, was mit ihm passieren soll.“
Shen verdrehte die Augen. „Entscheiden? Über ihn? Wie oft sollen wir das denn noch tun?!“
Er drehte sich hart zu ihr um. „Zweimal haben wir ihm das Leben noch gelassen. Irgendwann ist auch mal meine Geduld am Ende. Egal wie oft wir ihn verschonen, als Resultat erhalten wir nur Ärger.“ Er stützte seine Flügel an einem Zaun ab. „Es mag dir nicht gefallen, aber bei der nächsten Provokation sehe ich mich gezwungen ihn endgültig zu exekutieren.“ Er schwieg für mindestens drei Sekunden bevor er mit bitterer Stimme weitersprach. „Und tu nicht so als wäre ich im Unrecht. Ich kann nicht länger zulassen, dass er dich und die anderen ständig gefährdet.“
Yin-Yu senkte den Kopf. Sie konnte diese Aussage nicht leugnen. Xiang war schon mal aus einem Straflager entkommen. Ob eine isolierte Einkerkerung doch die beste Lösung war, oder sogar ein endgültiges Urteil, von der es keine Wiederkehr gab?
In diesem Moment schaute Shenmi von ihren Spielsachen auf. Als sie ihren Vater neben ihrer Mutter sah, erhob sie sich hastig und rannte auf ihn zu.
„Daddy!“
Shen wandte sich sofort in ihre Richtung, sodass sie in seine Flügel fallen konnte. Beinahe schon bettelnd drückte sich das Mädchen an ihn.
„Geht es dir wieder gut?“, fragte sie.
„Ja, es geht mir bestens“, behauptete er, selbst wenn er wieder ein starkes Seitenstechen verspürte. „Aber lass dich mal ansehen.“
Mit diesen Worten hob er sie etwas hoch und schien sie wirklich gründlich abzusuchen. Anschließend setzte er sie wieder auf den Boden ab, kniete sich vor ihr hin und sah sie ernst an.
„Jetzt sag mir mal, was gestern passiert ist. Hat er dir etwas getan?“
Shenmi sah ihn verwundert an. „Wer?“
„Der blaue Pfau“, klärte Shen sie auf. „Hat er dir wehgetan?“
„Na ja… ähm…“
Das Mädchen wusste nicht was sie antworten sollte, und schaute hilfesuchend zu ihrer Mutter. Diese nickte ihr aufmunternd zu. „Sag ihm ruhig, was du gesehen hast.“
Shenmi sah wieder unsicher zu ihrem Vater, als befürchtete sie etwas Schlimmes. Schließlich zwang sie sich zu einer objektiven Aussage.
„Er… er… er hatte ein Messer im Flügel. Ich hab Angst gehabt und bin weggelaufen, dann kam diese andere Vogelfrau, und hat mich die ganze Zeit umarmt… Au! Papa, du tust mir weh.“
Sofort lockerte Shen seinen Griff um Shenmis Schultern wieder. „Tut mir leid, tut mir leid.“
In diesem Moment legte Yin-Yu ihren Flügel auf seine Schulter. „Du solltest jetzt besser etwas essen. Du hast seit gestern Abend nichts gegessen.“
Shen wollte am liebsten protestieren, doch die Pfauenhenne sah ihn so eindringlich an, dass er seine Wut hinunterschluckte und sich erhob. Er ging an Yin-Yu vorbei, doch noch ehe er im Haus verschwand, flüsterte er ihr noch etwas zu: „Das letzte Wort zu diesem Thema ist noch nicht gesprochen.“
Dann ging er ins Vorzimmer.
Shenmi sah ihrem Vater verwundert nach. „Mama, was ist mit dem blauen Pfau?“
„Nun… vor ihm brauchst du keine Angst mehr zu haben.“ Sie strich ihrer Tochter über das Köpfchen. „Er kann dir gar nichts mehr tun. Er war nur, ziemlich durcheinander.“
„Ist er traurig?“
Yin-Yu zögerte mit der Antwort. Dann nickte sie leicht. „Ich denke schon. – Ich muss deinem Vater jetzt was zu essen besorgen. Spiel doch solange mit dem netten Panda.“
Kaum war ihre Mutter weg, ging Shenmi nachdenklich an den Häusern entlang. Bei dem Gedanken an gestern schauderte sie zwar immer noch, aber wenn ihre Mutter sagte, dass er traurig war, dann konnte man ihn doch wieder fröhlich machen. Vielleicht wäre er dann nicht mehr gemein zu ihr.
Eine Weile grübelte das Mädchen noch. Dann griff sie unter ihr Mäntelchen, wo drunter noch das blaue Papier steckte. Sie betrachtete es eine Weile. Dann setzte sie sich ins Gras und begann zu falten. Sie faltete und faltete… Innerhalb weniger Minuten war sie fertig.
„Po?“
Der Panda schreckte hoch. Er hatte unter einem Baum ein Nickerchen gehalten und stand sofort auf seinen zwei Beinen, als ihn eine Mädchenstimme angesprochen hatte.
„Wer… wo… was?! Wer ist da?... Oh! Ach du bist es.“
Erleichtert sah er auf Shenmi herab, die ihn fragend ansah.
„Darf ich zu dem blauen Pfau?“
Po hob verwundert die Augenbrauen. „Warum willst du dahin?“
„Ich möchte ihm was geben. Vielleicht ist er dann nicht mehr so traurig.“
„Der und traurig?“ Po sah sie verwirrt an. „Der ist mehr etwas… na ja, wie soll ich sagen…“ Er suchte nach einem harmloseren Synonym für „böse“, wobei er zugeben musste, dass Chiwa da noch schlimmer war. „… sehr nervös. Oder eher gereizt, sag ich mal so.“
Shenmi sah ihn bittend an. „Ach bitte.“
Po gab sich geschlagen. „Na gut. Aber du bist vorsichtig, sonst reißt mir dein Vater den Kopf ab.“
Er nahm das Pfauenmädchen an den Flügel und gemeinsam gingen sie zur kleinen Hütte rüber. Besonders wohl war Po nicht bei dieser Sache, doch was sollte Xiang schon machen? Er war unbewaffnet und kampfunfähig. Was sollte da schon passieren? Vielleicht war es sogar ganz gut mal mit friedlichen Absichten seiner grausigen Art entgegenzutreten. Zumindest könnte er sich vorstellen, dass Shifu ihm das so sagen würde.
Die Wächter vor der Hütte schauten verwundert, aber auch streng, auf die beiden herab.
„Dürfen wir kurz rein?“, fragte Po.
Doch die Wächter schüttelten die Köpfe.
„Ohne Erlaubnis darf keiner hier durch“, sagte der Erste.
„Es ist nur ganz kurz“, bat Po weiter. „Keine Sorge. Er kann uns schon nichts tun. Mal ehrlich. Er kann gerade mal nur auf einem Bein stehen. Da kann er gegen einen starken Drachenkrieger doch nicht ankommen.“
Die beiden Wärter tauschten kurz gegenseitige Blicke, dann nickte einer von ihnen. „Na gut, aber nicht lange.“
Er schob den Riegel beiseite und öffnete die Tür. Drinnen war es trotz des hellen Tages dunkel. Nur durch ein einziges kleines Fenster drang Licht in die Abstellkammer für Gartengeräte. Xiang saß auf den Decken an der Wand. Er schielte nur kurz zur Tür rüber, dann starrte er wieder geradeaus.
Po räusperte sich. „Äh, hallo?“
Doch der Pfau ignorierte seine Begrüßung. Po ließ sich nicht beirren und fuhr mit seinen Ausführungen fort. „Äh, die Kleine möchte dir etwas geben.“
Mit diesen Worten schob Po Shenmi nach vorne, wenn auch mit angespannter Haltung. Würde Xiang auch nur eine bedrohliche Bewegung machen, würde er sofort eingreifen.
Zögernd ging das Pfauenmädchen auf den zusammengekauerten Pfau zu.
„Hallo“, begann sie zaghaft. Xiang reagierte immer noch nicht. Unsicher holte Shenmi etwas unter ihrem Flügel hervor.
„Ähm, ich hab hier was für Sie.“
Mit diesen Worten hielt sie etwas blaues Gefaltetes hoch. Erst jetzt drehte der blaue Pfau seinen Kopf in ihre Richtung.
Shenmi versuchte ihn anzulächeln, doch Xiang hätte sie am liebsten mit seinen Augen totgestarrt. Da half auch nicht das, was das Pfauenmädchen ihm zeigte. Es war eine Origami-Figur aus blauem Papier. Genauer gesagt ein blauer Origami-Pfau. Das Mädchen bewegte die gefalteten Schwanzfedern, die man sowohl entfächern als auch absenken konnte, wie bei einem echten Pfau.
„Und was soll das sein?“, fragte Xiang eisig, obwohl er ganz genau wusste, was es war.
Shenmi war ein wenig enttäuscht. So hatte noch nie jemand auf ihre Faltarbeit reagiert, dennoch überwand sie sich dazu ihm zu erläutern, was sie gefaltet hatte.
„Das ist ein blauer Pfau.“ Sie lächelte ihn leicht an. „Ich mag blau.“
Xiang verengte die Augen zu gefährlichen Schlitzen.
Das Mädchen stellte den gefalteten Pfau auf eine Kiste ab. „Das hab ich für Sie gemacht.“
Po hielt sich zwar artig im Hintergrund, aber irgendwie war dem Panda die ganze Sache nicht geheuer. Xiangs Schultern verspannten sich unnatürlich extrem, jetzt begannen sie sogar leicht zu zittern.
Plötzlich schlug der Pfau mit der Faust auf die Papierfigur. „HÖR AUF MICH ZU NERVEN!“, brüllte er sie an und wischte das zerdrückte Papier von der Kiste auf den Boden. „HAU EINFACH AB! LASS MICH IN RUHE!“
Po meinte sein Herz würde aussetzen. Er war so vor den Kopf geschlagen, dass er sich gar nicht mal von der Stelle rühren konnte. Die nächste Sekunde der Stille kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er wagte nicht Shenmi anzusehen. Wenigstens stand das Mädchen mit dem Rücken zu ihm gewandt, sodass er nicht ihr Gesicht sah, aber er konnte sich sehr gut vorstellen, was jetzt passierte.
Das Mädchen sah Xiang zunächst völlig entgeistert an. Dann wandte sie sich mit einem Aufschrei von ihm ab.
„Shenmi!“
Hilflos musste Po mitansehen, wie das Mädchen weinend davonrannte. Po verschwendete keine Zeit und lief ihr sofort hinterher. Doch kaum war er über der Türschwelle, fiel ihm wieder Xiang ein. In Po zogen sich sämtliche Wutmuskeln zusammen und ballte die Fäuste.
Er wollte zurück in die Hütte stürmen und ihn ordentlich eine verpassen, doch die Wärter hatten diese Flucht als Bedrohung gedeutet und sofort wieder die Tür hinter dem Panda geschlossen.
„Hey, lasst mich rein!“, protestierte Po. „Ich schlag ihn zusammen!“
Doch die Wärter ließen ihm keine Möglichkeit die Tür zu erreichen.
„Ohne König Wangs Erlaubnis, dürfen wir sowas nicht dulden“, meinte der erste Ochse.
„Genau“, stimmte der zweite ihm zu. „Bis dahin musst du dich beherrschen, Drachenkrieger.“
Po hielt inne. Beherrschung… Selbstbeherrschung. Selbstbeherrschung.
Was hatte sein Meister über Selbstbeherrschung mal gesagt?
Vor langer Zeit…
„Drachenkrieger“, begann Meister Shifu. „Ich habe dir vieles beigebracht. Du hast gelernt Kraft, Disziplin, Mut, Stärke…“, er räusperte sich. „und Bescheidenheit zu erwerben. - Und doch fehlt dir etwas.“
Po hob überrascht die Augenbrauen. „Was denn? Fliegen? Oder Objekte bewegen? Einen Berg sprengen?“
„Selbstbeherrschung.“
„Hä?“ Po sah ihn verwundert an. „Davon hab ich doch jede Menge. Alleinschon als Ihr mir die Klöße vorgehalten habt, und darauf gewartet habt, wie lange ich es aushalte ohne davon zu essen…“
Der kleine Meister hob die Hand. „Ich spreche nicht von der Selbstbeherrschung der Enthaltung, sondern von der Selbstbeherrschung unter extremen Bedingungen.“
Po hob die Augenbrauen. „Extreme Bedingungen?“
Meister Shifu wandte sich zum Gehen, während der Panda ihm durch den Jadepalast folgte.
„Es ist eine große Stärke selbst unter großen Belastungen nicht die Kontrolle über sich zu verlieren“, erläuterte Meister Shifu. „Dazu gehört seine Wut im Zaum zu halten und die Ruhe zu bewahren.“
Der Panda winkte mit der Hand. „Das ist doch leicht.“
„Dann wollen wir mal sehen wie gut du Selbstbeherrschung umsetzen kannst. Nämlich damit.“
Sie blieben stehen, und Shifu deutete vor sich. Po riss die Augen auf, als er um die Ecke ein Schwein-Baby im Essstuhl sitzen sah, vor ihm eine Schüssel mit Brei.
„Eine extreme Bedingung kann so belastend und nervenzerrend sein wie ein kleines Kind“, fuhr Meister Shifu fort. „das jeden an die Belastungsgrenze drängt.“
Po überlegte kurz, dann lachte er heiter. „Ha, ha, okay, alles klar. Wenn’s weiter nichts ist. Das schaff ich mit der linken Kung Fu Hand.“
Er trat an das Baby im kleinen Stuhl heran und lächelte ihm amüsiert zu. Dann fiel ihm eine Frage ein.
„Okay, und was muss ich jetzt tun?“
„Füttere es“, stellte Shifu ihm die Aufgabe.
Po strich sich übers Kinn. Dann griff er zu einem Löffel, der neben der Breischüssel stand und schöpfte damit einen Löffel voll Brei auf. Anschließend führte er diesen zum Babymund. Doch das kleine Schweinchen dachte nicht daran, diesen Brei zu kosten und drehte den Kopf weg.
„Och, komm schon“, versuchte Po das Baby zu überreden. „Schön den Mund aufmachen. Jetzt kommt der Kranich und serviert dir ein schönes Happi.“
Doch kaum war der volle Löffel wieder in Babyschweinchen-Nähe, haute dieses dem Panda den Löffel aus der Hand und der Brei landete in Pos Gesicht.
„Hey, was soll das?“, beschwerte sich Po und wische sich den Brei aus dem Gesicht.
Shifu lächelte. „In so einer Situation muss man Geduld üben.“
Po seufzte und atmete tief durch. „Okay… Geduld, Geduld… AH!“
Eine weitere Breiladung war in Pos Gesicht gelandet, die das Baby ihm babbelnd zugeworfen hatte und Po war erneut damit beschäftigt, sein Fell vom klebrigen Essen zu befreien. „Hey, was soll das?!“
Shifu lachte. „Übe dich in Selbstbeherrschung.“
Po warf einen Blick an die Zimmerdecke. „Selbstbeherrschung… Selbstbeherrschung…“ Er sah das kichernde Baby mit einem erzwungenen Lächeln an. „Oh, du süßes kleines…“
Das Schweinebaby hatte die Schüssel genommen und die Breiladung flog dem unbeholfenen Panda entgegen. Sofort reagierte der schwarz-weiße Bär und zerschlug das klebrige Geschoss. Brei und Scherben landeten klirrend und klatschend zu Boden.
Verlegen legte Po die Hände zusammen. „Uh, das krieg ich wieder hin… die Schüssel meine ich.“
Er schielte schüchtern zu Shifu rüber. Doch im nächsten Moment begann das Baby vor lauter Frust zu schreien. Verzweifelt hielt Po sich die Ohren zu. „Shhh! Sei doch bitte ruhig…“
Doch dadurch schrie das Baby nur noch lauter.
Shifu schmunzelte amüsiert. „Übe nur weiter, Drachenkrieger. Versuche es zu beruhigen. Ich gehe in der Zwischenzeit meditieren.“
Damit verließ der kleine Meister die beiden, während das Baby nur noch lauter schrie. Da half auch das Ohrenzuhalten nichts. Schließlich hielt Po es nicht mehr länger aus und stieß ebenfalls einen Schrei aus.
„AHH!“
„AHHH!“
Po hielt abrupt inne. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er bei dieser Erinnerung selber noch, wenn auch leiser, aufgeschrien hatte. Die Wächter, die immer noch hinter ihm standen, sahen ihn verwundert an. Po lächelte ihnen verlegen zu. Dann machte er sich hastig davon.
„Okay, okay, Selbstbeherrschung, Selbstbeherrschung“, murmelte Po immer wieder. „Selbstbeherrschung.“
Doch dann fiel ihm etwas anderes ein. Wo war Shenmi hingelaufen? Zu ihren Eltern?
Wenn Shen erfuhr, was passiert war, würde es eine Katastrophe geben. Sofort nahm Po die Beine in die Hand und steuerte auf das Haus zu, in dem sich der weiße Pfau aufhielt.
Yin-Yu war froh, dass eines der Schafe sich dazu bereit erklärt hatte, etwas zu Essen zu kochen. Während dieser Zeit, saß Shen am Essenstisch und hing seinen Gedanken von gestern nach. Yin-Yu saß neben ihm und trank einen Tee.
Schließlich seufzte Shen. „Findest du wirklich ich sehe zu blass aus?“
Die Pfauenhenne sah ihn erschrocken an. „Das ist doch gar nicht wahr.“
Sie stand schnell auf und drückte sich gegen Shens Rücken. „Sie ist eine Teufelin. Auf so eine brauchst du gar nicht zu hören. Die hat doch keine Ahnung.“ Sie massierte seine Schultern. „Für mich ist es völlig egal wie du aussiehst.“
Der weiße Pfau kannte zwar ihre Einstellung, doch im Allgemeinen hatte es die alten Wunden aus seiner Kindheit wieder aufgerissen.
„Es kann für dich auch keine Rolle spielen, weil die Farben dir verwehrt wurden sie zu betrachten. Aber was wäre, wenn du Farben sehen könntest?“
Sie schmiegte sich an ihn. „Wen jemand wie sie nur nach dem Äußeren geht, der wird für immer alleine sein.“ Sie strich ihm übers Gesicht. „Aber bist du allein?“
Ihre Flügel wanderten zu ihm hinunter. So langsam verflogen Shens Anspannung und er genoss ihre Liebkosungen. Es erinnerte ihn immer an die schönen Abende, die sie miteinander verbracht hatten.
Beide fuhren hoch, als die Tür aufgerissen wurde und ein keuchender Panda im Türrahmen stand.
„Shenmi?“, stieß Po aufgeregt hervor. „Ist sie hier?“
Die Pfaueneltern sahen sich verwirrt um. Schließlich schüttelte Yin-Yu den Kopf.
„Nein, nicht dass ich wüsste…“
Shen, dem es äußerst verdächtig vorkam, dass der Panda ihn nicht wie gewohnt zuerst grüßte, sprang von seinem Sitz auf. „Ist etwas passiert?!“
Po wich einen Schritt zurück. „Passiert?“ Er setzte ein gequältes Lächeln auf, sichtlich erleichtert, dass Shenmi nicht sofort zu ihrem Vater gerannt war. „Oh, nein, nein, natürlich nicht. Wir… wir spielen nur Verstecken.“
Er schaute zur Seite und tat so als würde er um die Ecke des Hauses schauen. „Oh, oh, ich sehe sie schon dort drüben…. Hey, Shenmi. Ich hab dich gleich gefunden!“
Mit diesem Jubel rannte Po davon. Shen wollte ihm folgen, doch Yin-Yu hielt ihn an der Schulter fest. „Nein, du schonst dich noch. Bitte, bleib sitzen.“
Po schaute hinter sich. Es fiel eine Zentnerlast von seinen Schultern, als er sah, dass Shen ihm nicht hinterherkam. Doch damit war das Problem für ihn nur halbgelöst.
„Okay, okay, wo kann sie nur sein, wo kann sie nur sein?“
Er sah sich um. Schließlich fiel ihm nichts anderes ein als die Schafe zu fragen, die hier und da ihre Arbeiten im Dorf verrichteten.
Schließlich wurde er fündig, als ihn ein Holzsammler darauf hinwies, dass das Mädchen nach unten in den Wald gerannt war. Schnell steuerte Po in die gewiesene Richtung. Er schaute hinter jedem Baum und jedem Stein, fand sie aber nicht sofort. Erst ein Stück weiter den Berg runter, vernahm er ein Schluchzen. Po stellte die Ohren auf und folgte den weinenden Lauten.
„Shenmi?“ Po reckte den Hals und wühlte sich durch die Büsche. „Shenmi? Bist du das?“
Endlich erblickte er das Mädchen irgendwo vor einem großen Baum im Gras. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden und hatte den Kopf in die Flügel vergraben. Schnell ging Po auf sie zu.
„Shenmi, alles okay?“ Er beugte sich besorgt zu ihr runter. „Sag doch was. Hey.“
Vorsichtig schob er seine Hände unter ihren kleinen Körper, der unter seiner Berührung etwas zitterte. Sie weinte immer noch.
„Na, na, na“, redete Po auf sie ein. „Nun beruhige dich erst mal.“
Er setzte sich hin und nahm das Mädchen auf den Schoss. Allmählich legten sich die schluchzenden Laute, während der Panda ihr über den Kopf streichelte.
„Geht’s wieder?“, erkundigte er sich und neigte sich tiefer zu ihr runter.
Shenmi bewegte ihren Schnabel, der leicht zitterte, sodass sie kaum im Stande war ruhig zu reden. „Er… er… er hat…“
„Ja, ich weiß“, half Po ihr bei dem Satz. „Er hat dein Figürchen kaputt gemacht.“
Po biss sich auf die Unterlippe, um nicht ebenfalls seinen Frust freien Lauf zu lassen. Damit würde er Shenmi nur ein schlechtes Vorbild sein und sein Meister würde das auch nicht gut finden. Schließlich rang Po sich dazu durch, die ganze Sache abzudämpfen, selbst wenn er Xiang dafür ein kleinwenig in Schutz nehmen musste.
„Hör mal, das hat er bestimmt nicht mit Absicht gemacht“, sagte er. „Ich bin sicher… es hat ihm… dass ihm dein Papierfigürchen gefallen hat.“
Shenmi sah ihn mit Tränengefüllten Augen an. „W-warum tut er das dann?“
„Tja, weißt du…“ Das brachte Po erst mal in Erklärungsnot und rieb sich verlegen den Nacken. „Hey, wann hattest du denn mal Streit mit deinen Brüdern gehabt, wo du sogar mal weinen musstes?“
Shenmi schluckte heftig. „Papa… hat… immer aufgepasst…“
Po suchte erneut nach einer Erklärung. „Tja, dann hattest du ja Glück gehabt. Bei ihm hat niemand aufgepasst. Er hatte immer jemanden gehabt, der auf seinem Spielzeug rumgetrampelt ist…“ Po überlegte kurz. Stimmte doch. Wenn Xiangs Behauptung stimmte, dass er von Anbeginn von seiner Mutter drangsaliert wurde, dann konnte man es doch so nennen. Zumindest glaubte er das. „Ja, weißt du“, fuhr er fort. „Weil man gemein zu ihm war, verhält er sich auch gegenüber anderen so.“
Po fand seine Aussage nicht gerade in Ordnung. Im Grunde hatte Xiang kein Recht sich gegenüber einem guten Kind so aufzuführen, doch im Moment fiel Po auf die schnelle nichts Besseres ein, um die Wogen zu glätten. Besonders da Shen sonst noch wirklich Xiang die Kehle „aus Versehen“ durchschneiden könnte.
Wenigstens hatte Shenmi sich wieder etwas beruhigt.
„Glaubst du das wirklich?“, fragte sie unsicher und sah zu ihm hoch.
Po lächelte sie an. „Aber natürlich.“ Er strich ihr eine Träne von der Wange. „Sag, warum bist du nicht zu deinen Eltern gegangen?“
Shenmi senkte ihren Blick. „Ich möchte nicht, dass Papa sich nochmal prügelt.“
Po seufzte niedergeschlagen. Er war irgendwie froh, dass sie die Kämpfe zwischen ihm und ihrem Vater nie mitansehen musste. Aber er wusste, dass man es ihr irgendwann sagen musste. Xia und Sheng wussten bereits über alles Bescheid und waren sich im Klaren, wozu ihr Vater in der Lage war. Wenn Po in Shenmis Augen sah, dann tat es ihm weh, dass sie einen Vater hatte, der so viel Schlimmes in seinem Leben getan hatte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Shenmi beunruhigt, als sie Pos trauriges Gesicht bemerkte.
„Was? Oh, ja, alles okay. Ich hab nur gedacht…“ Er schüttelte hastig den Kopf. „Ich finde, wir sollten jetzt wieder zu den anderen gehen.“
Er lächelte sie an. „Na komm. Wisch dir mal die Krokodilstränen aus den Augen.“
Der Panda zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es ihr vor. Nachdem alle Spuren der Trauer beseitigt waren, stand Po auf.
„Und nur keine Sorge“, ermutigte er sie. „Ich klär das mit ihm. Ich bin sicher, dass er sich bei dir entschuldigen wird.“
Das Mädchen sah ihn schüchtern an. „Sicher?“
„Absolut sicher.“
Und er hoffte, dass er nicht lügen würde.
Nachdem Po die Kleine sicher bei ihren Eltern abgeliefert hatte, Shen wunderte es etwas, dass Shenmi etwas ruhig war, begab sich der Panda mit festen Schritten wieder zur Hütte runter. Nur mit großer Überredenskunst konnte er die Wärter dazu überreden ihn noch einmal durchzulassen. Dennoch erforderte es von Po sämtliche Selbstdisziplin beim Anblick der offenen Tür keinen Kriegsschrei auszurufen. Stattdessen marschierte er mit finsterem Blick hinein. Xiang saß wieder auf den Decken. Als der Schatten des Pandas auf ihn fiel, hob er nur bockig den Kopf. Po verengte die Augen.
„Hey! Eines möchte ich sofort klarstellen!“, donnerte der Drachenkrieger. „Ich warne dich. Wenn du sowas nochmal Shenmi antust, dann lernst du mich richtig kennen!“
Er hob drohend die Fäuste. Doch diese Geste ließ Xiang völlig kalt. Entweder zielte er darauf ab, den Drachenkrieger zu provozieren, oder es war ihm völlig egal, ob Po ihn verprügeln wollte oder nicht. Tonlos und gleichgültig, sah er den Panda an.
„Ach, dir tut also dieses Gör leid?“
Plötzlich huschte ein gemeines Lächeln über seinen Schnabel. Po presste die Fäuste noch fester zusammen. „Ich rate dir, dich bei ihr alsbald zu entschuldigen.“
Xiang gehässiges Grinsen verschwand. Stattdessen sah er den Panda jetzt an, als habe er ihm gerade ein Märchen erzählt. „Entschuldigen?“, fragte er ungläubig. „Ich soll mich entschuldigen?“
Diese Frage verunsicherte den Panda jetzt ein bisschen. „Äh… ja. Das habe ich gesagt.“
Der Schnabel des Pfaus begann zu zittern. „Ich soll mich entschuldigen?! Bei einem Weib???!“ Xiang schien völlig fassungslos zu sein. Dann hob er den Kopf. „Eher würde ich sterben!“
Po meinte sich verhört zu haben. War das Entschuldigen bei einer Frau so erniedrigend für ihn? Der Panda verengte die Augen. Beide starrten sich an. Po wusste nicht was er mehr verabscheuen sollte. Den Pfau selber, oder seine verdrehte Vorstellung von Frauen. Egal wie er es betrachtete, Xiangs Verachtung gegenüber dem anderen Geschlecht war wie ein Schatten, der ihn nicht losließ. Schließlich zog Po sich aus dem visuellen Gefecht zurück und begab sich entrüstet zur Tür. Xiang scherrte sich nicht um die abweisende Haltung des Pandas und sah ihm wütend hinterher.
Liu fühlte sich nicht gut an diesem Morgen. Sie mied bewusst die anderen. Sie hatte Angst vor ihren Blicken. Angst vor ihren Fragen. Im Grunde war sie teilweise mitschuldig an der ganzen Sache. Hätte sie Xiang nicht von den Geckos befreit, dann wären die andern wohl nicht ins Kreuzfeuer geraten. Dennoch scheute sie sich davor es zu bereuen, obwohl sie Xiangs Missetaten genauso wenig gutheißen konnte. Bis zum Mittag verbrachte sie den Tag still und teilnahmslos in ihrem Zimmer, bis sie von draußen Schritte hörte, dicht gefolgt von einem Klopfen an der Tür.
„Herein“, rief sie.
Sie war überrascht den Panda eintreten zu sehen.
„Oh, guten Tag.“ Sie bemerkte Pos ernsten, teils wütenden, Gesichtsausdruck und ihr schwante Böses. „Ist etwas passiert?“
Po ging nochmal tief in sich.
Selbstbeherrschung.
Der Panda atmete nochmal tief durch, bevor er antwortete.
„Also, ich weiß zwar nicht, was Sie an ihm so sympathisch finden“, begann er mit gepresster Stimme. Er hatte immer noch eine ungeheure Wut auf den blauen Pfau. „Aber wenn Sie etwas für ihn tun wollen, dann sollten Sie mal mit ihm reden, dass er sich gefälligst gegenüber bestimmen Personen benehmen soll.“
Liu sah ihn fragend an. „Wieso? Was hat er getan?“
Xiang hob genervt den Kopf, als zum dritten Mal heute die Tür geöffnet wurde. Als er Liu hereinkommen sah, hob er spöttisch die Mundwinkel und erhob sich. „Und ich dachte schon, das Tötungskommando käme hereingestürmt.“
Liu seufzte schwer. „Dann wissen Sie, weshalb ich hier bin?“
Xiang schnaube abfällig. „Weiber halten doch immer zueinander.“
Die Pfauenhenne schluckte diese Beleidigung hinunter. Sie war Xiangs frauenfeindlichen Äußerungen zwar gewohnt, dennoch fand er immer eine neue frische Wunde, in die er in die Seele stechen konnte.
„Hören Sie“, begann sie ruhig. „Ich weiß es ist schwer im Moment. Ich weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht…“
„Deine Verwirrtheit interessiert mich nicht“, schnitt er ihr das Wort ab und sah sie böse an. „Fasel doch nicht so blöd rum. Na los. Sag schon, dass du mir am liebsten an die Gurgel gehen willst, wie dieses Fettungetüm.“
Liu nahm nochmal all ihren Mut zusammen. „Ich bin nicht bekommen, um Sie dafür auszuschimpfen“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich kann nur nicht verstehen, warum Sie sie so verletzt haben. Sie ist doch noch ein Kind.“
Xiang verzog den Schnabel. „Nur ein Kind? So, so. Nur ein Kind.“ Er lehnte sich gegen die Wand. „Je hässlicher eine Pfauenhenne, desto gefährlicher ist sie.“ Der Pfau verengte die Augen. „Hässlich war meine Mutter nicht, aber das hätte sie auch nicht davon abgehalten, mich zu quälen.“
Liu sah ihn mitleidig an. „Aber warum? Sie muss doch einen Grund gehabt haben.“
Xiang hob überrascht die Augenbrauen. „Liegt das nicht auf dem Flügel? Sie war eifersüchtig, weil Männer schöner sind als Frauenpfaue. Allein schon dieses Balg, findet wohl meine Farbe schön. Früher oder später wird sie mich dafür hassen, dass sie nicht so schön ist wie ich. Was bin ich? Ein Ausstellungsstück?!“
Lius Blick fiel auf den kaputtgedrückten Papierpfau auf den Boden in der Ecke, während Xiang weitererzählte. „Genauso wie meine Mutter mit ihrer verruchten Schwester. Wie oft haben die beiden mir zum Spaß die Federn rausgerissen und sich damit geschmückt.
Als ich mich einmal selber verunstalten wollte, drohte meine Mutter mir die Augen auszustechen. Mein Körper wäre nicht mehr meiner. Ich hätte kein Recht auf ihn.“
Liu schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie werden doch wohl nicht glauben, dass alle Frauen so sind?“
Sie ging auf ihn zu und wollte ihn an der Schulter berühren, doch noch ehe sie dazu kam, schlug er ihr den Flügel von sich. „Ihr Frauen seid doch nur auf eines aus: Auf die Schönheit um besser dazustehen!“
„Das ist nicht wahr!“
„Du machst es mit deinen frechen Lügen nur noch schlimmer.“
„Für mich sind Sie mehr als nur ein schöner Pfau…!“
Sie hielt sich erschrocken den Schnabel zu. Selbst Xiang stand wie vereist da. Eine Weile starrten sie sich einander an.
Schließlich stieß der Pfau ein abfälliges Kichern aus. „Tz, du bist viel jünger als ich. Wieso solltest du dich für mich interessieren? Vor allem, da meine Vollkommenheit dahin ist.“
Er sah an seinem lahmen Bein herunter.
„Das würde nichts daran ändern“, wagte Liu zu sagen und hob mit fester Miene den Kopf. „Und außerdem, ich bin über 20. Also alt genug.“
Xiang sah sie verwundert an. Dann winkte er abwertend mit seinem Flügel. „Du bist doch nur eine billige Angestellte. Wenn du nicht auf mein Äußeres aus bist, dann nur auf mein Geld. Falls ich überhaupt noch welches besitze.“
Liu schluckte schwer. Sie war den Tränen nahe, als er ihr wieder die kalte Schulter zeigte. Dennoch fand sie die Kraft ihm das zu sagen, was sie ihm schon immer hätte sagen wollen. „Ich würde vieles für Sie tun.“
Xiang hielt inne. Langsam drehte er den Kopf zu ihr. Sein Gesicht war überfüllt von Skepsis. „Vieles?“
„Außer das illegale“, korrigierte Liu. „Was Sie der Kleinen angetan haben, war schon schlimm genug gewesen. Aber ich würde Ihnen vergeben, wenn Sie es bedauern würden.“
Einen Moment lang wusste Xiang nicht, was er darauf erwidern sollte. Dann wich er ihrem Blick aus.
„Ich bedaure eher, dass ich geboren wurde. Aber noch mehr bedaure ich es, ein Pfau zu sein.“
Es wurde still zwischen ihnen. Doch dann, zu Lius Verwunderung, begann er zu lächeln. Schließlich lachte er sogar ein bisschen.
„Willst du mal was ganz Verrücktes hören?“ Er wartete nicht auf eine Antwort von ihr, sondern fuhr einfach fort. „Ich weiß zwar nicht wie viele Lügen mir meine Mutter aufgetischt hat, aber sie hatte einmal behauptet, ich hätte eine Schwester gehabt.“ Wieder musste er kichern, allerdings war es ein eher krankhaftes Kichern. „Kaum kam es raus, wer von uns der Junge war, den pickte sie sich raus.“ Er deutete auf sich. „Was aus ihr wurde…“
Er schwieg einen kurzen Moment. „Wer weiß. Ein schöner Junge habe ihr genügt, um zu beweisen wer schöner ist… Das andere Küken wäre für sie eh zu hässlich gewesen. Warum sollte es dann noch leben?“
Er schaute amüsiert zu Liu, die ihn entsetzt ansah. Ungerührt redete der Pfau weiter.
„Tja, wenn ich das Mädchen gewesen wäre… Wer weiß. Vielleicht wäre mir dann einiges im Leben erspart geblieben. Wie sagt man doch so schön? Wer schön sein will muss leiden?“
Er strich mit einem Federfinger über ein Regal, als würde ihm das Holz faszinieren. Anschließend wanderte sein gehässiger Blick wieder zur Pfauenhenne, der etwas der Mund offenstand.
„Was denkst du soll ich von Gören halten, die mich um meine Federn beneiden?“
Für einen Moment sah es so aus, als würde Liu etwas sagen wollen, doch dann drehte sie sich einfach um und ging zur Tür. Doch bevor sie sie öffnete, hielt sie noch einmal kurz inne.
„Ich habe mich über 4 Jahre um Sie gekümmert“, flüsterte sie. „Denken Sie wirklich ich hätte nicht mehr als einmal die Gelegenheit gehabt Sie zu schikanieren?“ Sie seufzte. „Ich hab nie eine Sekunde daran gedacht. Denken Sie mal darüber nach.“
Mit diesen Worten zog sie die Tür auf und ließ Xiang einfach alleine.
Draußen lehnte Liu sich gegen einen Baum und atmete ein paar Mal tief durch. Xiang schien mit seinem Hass die ganze Umgebung zu vergiften, sodass sie erst wieder zu sich kommen musste. Es dauerte mindestens eine Minute bis sie wieder klar denken konnte. Schließlich trat sie entschlossen gegen einen Stein.
„Ich werde es ihm beweisen.“
Falls ihr Shenmis Origami-Pfau sehen wollt, dann könnt ihr gerne hier reinschauen:
https://www.youtube.com/watch?v=63h9Ct6MrDw
Das Video stammt nicht von mir, aber so in etwa könnte der Papierpfau aussehen. :-)
Die Sonne stand hoch am Himmel und beleuchtete fröhlich den Tag, obwohl es alles andere als ein guter Tag werden sollte. Zumindest nicht für alle. Und Chiwa bildete da eine große Ausnahme. Gut gelaunt präsentierte sie sich vor einem großen Spiegel, der in einem der vielen Räume stand und war gerade dabei sich eine Diamantenkette um den Hals zu hängen.
Das glitzernde Weiß hob sich prächtig von ihrem dunklen Gefieder ab. Darüber hinaus trug sie ein lila-schwarzes Gewand, an deren Ärmel wieder die langen Stoffstreifen hingen. Sobald Licht auf den Stoff fiel, schimmerte es in den schönsten blau-lila Farben.
Die Pfauenhenne bürstete sich nochmal über die langen buschigen Kopffedern, in denen immer noch die langen Haarnadeln steckten, und betrachtete sich stolz auf der spiegelnden Oberfläche.
Sie beendete ihre Begutachtung erst, als hinter ihr die Tür geöffnet wurde und zwei Geckos ein großes Gemälde hereinschleiften.
„Okay, wo soll das hin?“, erkundigte sich einer der keuchenden Reptilien.
Die Pfauenhenne wies mit einem Federfingerzeig an die Wand neben ihr. „Stellt es erst mal dort ab. Wir können es später immer noch wo anders verlegen.“
„Mit „wir“ meinte sie wohl bloß uns, oder?“, raunte der zweite Gecko.
Chiwa hatte zwar gute Ohren, kümmerte sich aber nicht um das Gemaule ihrer Helfershelfer.
Zufrieden beobachtete sie, wie die Geckos das Gemälde gegen die Wand lehnten.
„Ach“, rief sie begeistert. „Es ist so schön dich wiederzusehen.“
Die zwei Geckos sahen sich verwundert an. Sprach sie gerade mit dem Bild?
Prüfend betrachteten sie das Gemälde, auf dem nicht nur Chiwa selber, sondern auch ihre Schwester drauf abgebildet waren.
Chiwa beachtete nicht die verwirrten Gesichter der Reptilien und ging beinahe wie auf Wolken auf das Bild zu.
„Du siehst wie immer schön heute aus“, redete sie geschwollen weiter und lehnte sich jetzt sogar gegen ihre gemalte Schwester. „Ja, ja, es kann nur zwei schöne Pfauenvögel auf der Welt geben. Mich und dich.“
Der erste Gecko tippte sich an die Stirn. Und noch ehe Chiwa sich weiter mit ihrer Schwester „unterhalten“ konnte, kam ein Trupp Geckos herein, angeführt von Tongfu.
„Ah, Tongfu“, begrüßte Chiwa ihn und wandte sich von ihrer Schwester ab. „Nun, hast du was ich wollte?“
Der Gecko rümpfte die Nase. „Wieso sollte ich das nicht haben? War ne Kleinigkeit gewesen.“
Er wies hinter sich, wo die anderen Geckos die Säcke mit sich mitzerrten. Anschließend kippten sie die Stoffbeutel aus und heraus purzelten drei kleine Pfauenjungen. Einer von ihnen hielt immer noch seine chinesische Pipa umklammert.
Verwundert sahen sich die drei Jungs um. Als sie die dunkle Pfauenhenne sahen, rückten sie eng zusammen, denn Chiwa macht nicht gerade einen freundlichen Eindruck. Fast schon schadenfroh schaute sie auf sie herab.
„Na sieh mal einer an“, säuselte sie und beugte sich etwas zu ihnen hinunter. „Was niedliches hübsches haben wir denn da? Ihr seht gar nicht so herunterkommen aus wie ich dachte.“
Jetzt war es Zedong, der sich mutig vor seine Brüder stellte. „Hey, was fällt ihnen ein uns einfach zu entführen?!“
Chiwas Gesicht verfinsterte sich. „Dir hat wohl nie einer beigebracht sich zuerst vor einer Dame zu verneigen…“
„Nein, du hast keine Manieren!“, schnitt der kleine Pfau ihr das Wort ab. „Man darf Kinder nicht so einfach verschleppen. Mein Vater wird dich verprügeln!“
Plötzlich packte die Pfauenhenne den Jungen am Hals und riss ihn hoch. Zedong versuchte sich aus dem Griff zu befreien und zappelte hilflos in der Luft.
„Ganz schön vorlaut für einen so hässlichen Jungen wie dich“, fauchte Chiwa ihn an. Doch dann glitt ein Lächeln über ihren Schnabel und strich dem gescheckten Jungen über die weißen Federn. „Bist du in Bleichmittel reingefallen?“
Jian drängte sich ängstlich an seinen Bruder Fantao.
„Was wollen Sie von uns?“, fragte er ängstlich.
Doch statt einer Antwort wollte Chiwa erst mit dem frechen Bengel abrechnen.
Sie warf Zedong einfach in die Luft, holte mit den Schärpen ihrer Ärmel aus, und schwang sie wie eine Peitsche. Diese trafen den Jungen im freien Fall und schleuderte ihn gegen die Wand. Doch Zedong war sehr gut trainiert, allerdings wurde er wieder übermütig. Er rappelte sich sofort wieder auf und stieß die herannahenden Geckos von sich, die ihn packen wollten.
Einer der Geckos trug einen Verband um den Arm. Zedong zögerte nicht lange und schlug mit voller Wucht gegen den einbandagierten Arm. Der Gecko schrie auf.
„AU! Nicht schon wieder!“
Der kleine Pfau nutzte den Augenblick der Verwirrung und schlug weiter um sich. Dann sprang er über sie und wollte die Flucht zur Tür antreten. Doch noch ehe er sie erreichen konnte wickelte Chiwa ihn in ihren langen streifenartigen Ärmeln ein. Zedong fiel gefesselt zu Boden und konnte sich nicht mehr bewegen.
Chiwa kicherte. „Du besitzt bei weitem mehr Frechheit als mein Neffe, aber was sollst. Von Bälgern eines hässlichen Entleins hab ich auch nichts anderes erwartet.“
Ihr Blick wanderte zu den zwei anderen kleinen Pfauen.
„Möchte einer von euch noch aus der Reihe tanzen?“, fragte sie streng.
Beide schüttelten hastig die Köpfe.
Chiwa grinste. „Fein, fein. Tongfu. Schaff sie ins Nebenzimmer. Dort bindet ihr sie an die Säulen fest. Aber anders herum als sie anderen. Ich habe was ganz Besonderes mit ihnen vor.“
„Hier muss es sein!“, rief Crane. „Das ist die Stadt Mendong.“
Er flog immer noch mit seinen zwei Freunden in der Luft. Unter ihnen erstreckte sich die Stadt am Fluss.
„Wow, nicht schlecht“, meinte Viper anerkennend.
„Und dort drüben ist der Palast“, sagte Mantis und deutete weiter nach vorne.
„Ja, dort haben sie sich niedergelassen“, bestätigte Crane. „Das hab ich noch aus der Ferne gesehen.“
„Aber wo sollen wir hin?“, fragte Viper.
„Ich würde sagen, wir landen erst mal vor der Tür“, schlug Mantis vor. „Vielleicht ist dort jemand, der uns helfen kann.“
Crane flog ein paar Kreise, dann ging er in Sinkflug über, direkt vor dem Haupttor des Palastes. Dort setzte er die Schlange und die Gottesanbeterin ab. Crane war heilfroh endlich die ganze ungewohnte Last von sich zu haben, obwohl es schon damals eine Leistung von ihm gewesen war seine ganzen vier Freunde zu tragen. Dennoch war die Strecke lang genug gewesen und musste seine Flügel etwas ausruhen.
Prüfend betrachteten sie die große Eingangstür.
„Tigress hat gesagt, wir sollten sie verfolgen“, murmelte Viper nachdenklich. „Aber was machen wir jetzt?“
Mantis zuckte die Insektenachseln. „Wenn Meister Tosender Ochse sagt, sie würden nachkommen, dann kommen sie auch nach.“
„Ja, aber wann? Wir können doch nicht solange hier herumstehen.“
Dem konnte Crane nur zustimmen. „Sie hat recht. Wir müssen sie da rausholen, oder zumindest herausfinden, wo sie sind.“
Mantis kratzte sich am Kopf. „Ich frage mich, wo Po und die anderen sind.“
„Sie waren auf jeden Fall hier gewesen“, meinte Viper.
„Woher weißt du das?“, wollte Crane wissen.
„Ihre Duftspur ist zwar noch von gestern, aber sie waren auf alle Fälle hier.“ Ihr Blick wanderte zur Tür. „Und sie sind hier durchgegangen.“
„Na dann, nichts wie rein“, meinte Crane und begab sich als Erster zur Tür. Zuerst klopfte er an. Als sich nichts tat versuchte er die Tür aufzuziehen, doch in diesem Fall mühte er sich umsonst ab.
„Die Tür ist abgeschlossen“, schlussfolgerte Mantis.
„Das hab ich jetzt auch gemerkt“, sagte Crane keuchend und ließ die Tür wieder los. „Wir müssen uns wohl an einer anderen Stelle Zutritt verschaffen.“
Die drei Meister sahen sich um.
„Wir könnten ja versuchen eines der Fenster öffnen“, schlug Viper vor.
Mantis zitterte mit den Antennen. „Da haben wir aber eine große Auswahl.“
Crane rückte seinen Hut zurecht. „Ich flieg mal um den Palast herum. Vielleicht sehe ich sie sogar.“
Mit diesen Worten flatterte er auf und schwang sich in die Luft.
„Dieses Spielchen hab ich oft mit meinem Neffen gespielt.“
Wie eine Raubkatze ging Chiwa im Raum auf und ab, wobei sie seelenruhig ihre Federfingerspitzen aneinander tippte. Das Zimmer, in der sie sich befand, war nicht gerade das Größte, war aber auch nichts Besonderes. Außer ein paar Schränken und Vasen gab es keine weiteren Wertgegenstände.
Ihr Blick wanderte nach vorne zur Wand, wo mehrere Säulen standen. An jedem hatte man eines der Pfauenjungen angebunden, allerdings mit dem Bauch und Gesicht zur Säule gewandt, sodass Chiwa nur ihre Rücken im Blickfeld hatte. Ihre Flügel waren zusammengebunden, sodass es aussah, als würden sie die Säulen umarmen. Zedong hatte zwar für heute genug Prügel eingesteckt, dennoch fand er Courage genug, um zu versuchen sich aus den Fesseln herauszuwinden. Chiwa kicherte bei diesem Anblick.
„Oh, ja, ich hab es gerne gespielt. Zusammen mit meiner Schwester.“
Sie trat näher an die Jungen heran. Unsicher schauten sie nach hinten und beobachteten die Pfauenhenne mit nervösen Blicken.
Tongfu und seine Leute hatten es sich in eine Ecke gemütlich gemacht und schienen nur darauf zu warten, bis endlich die Essenglocke läuten würde.
„Mit wem von euch soll ich denn zuerst anfangen?“, fragte Chiwa und schaute von einem Pfau zum anderen. Jian zog den Kopf ein, nur Zedong gab seine Befreiungsversuche nicht auf, was die Pfauenhenne zutiefst amüsierte.
„Ich sehe, du bist wohl ein sehr Aktiver.“
Sie schlich sich von hinten an ihn heran an. Anschließend beugte sie sich zu ihm runter, hob seinen Kopf an und beugte ihn sogar etwas nach hinten. Zedong spannte seine Muskeln an vor Angst, als sie ihre Flügelfinger um seinen Kehlkopf legte und ein wenig zudrückte.
„Schön stillhalten“, raunte sie ihm zu.
Crane umrundete das Gebäude und lugte durch jedes Zimmer. Er hielt inne, als er Kinderschreie hörte. Der Kranich wirbelte in der Luft herum und sah sich suchend um. Nachdem er die Quelle der Rufe ausfindig gemacht hatte, steuerte er sofort auf das zugehörige Fenster zu. Dort angekommen lugte er vorsichtig in den Raum hinein.
Ihm blieb der Schnabel offen von dem was er da sah. Schnell machte er kehrt und flog schnurstracks zurück zum Tor.
Viper und Mantis hoben die Köpfe, als sie ihren Freund heranfliegen sahen.
„Und?“, wollte Viper wissen. „Hast du sie…?“
„Kommt schnell mit!“, fiel Crane seiner Freundin ins Wort und krallte sich Schlange und Insekt mit den Krallen. Dann flog er die Strecke zurück aus der er gekommen war.
Schon in der nahen Umgebung konnten sie verzweifelte Rufe hören.
„Was ist da los?“, fragte Viper.
„Seht doch selbst“, sagte Crane und flog ganz dicht an das Fenster heran. Dort krallte er sich an dem Sims fest und auch die anderen suchten den Halt an den mit leichten Vorsprüngen verzierten Wänden.
Zögernd warfen Viper und Mantis einen Blick durch die Scheiben. Beiden blieben die Münder offen. Sie erkannten die drei Pfauenjungen, jeweils einer von ihnen an einer Säule gefesselt. Zedong stand nahe dem Fenster und eine dunkle Pfauenhenne riss ihn immer wieder eine der längeren Schwanzfedern aus dem Federkleid. Die Federn waren zwar noch lange nicht so lange wie von seinem Vater, dennoch waren sie nicht zu übersehen und der Boden war schon übersäht von seinem bunten ehemaligen Pfauenrad. Der Pfauenjunge war inzwischen schon auf die Kniee gesunken, dennoch dachte seine Peinigerin nicht daran ihm eine Pause zu gönnen. Zedong weinte, während die Pfauenhenne ihn Feder für Feder vom Federschwanz herausriss.
Die drei Krieger am Fenster waren fassungslos.
„Wir können nicht mehr länger auf die anderen warten“, meinte Viper, die das Weinen des Jungen allmählich nicht mehr länger ertragen konnte.
„Aber wäre es nicht besser, wenn wir mit Verstärkung da reingehen würden?“, gab Mantis zu Bedenken.
„Hey, Leute. Wir sind Kung Fu Meister“, mischte Crane sich ein. „Wir schaffen das auch nur zu dritt.“
Mantis zitterte mit seinen Antennen. „Also ich weiß nicht…“
„Bitte, mach was“, drängte Viper. Es tat ihr selber weh den Jungen so leiden zu hören.
„Okay“, gab das Insekt sich geschlagen.
„Wer übernimmt wen?“, fragte Crane.
Fantao konnte nicht mehr länger dabei zusehen, wie diese Hexe seinen Bruder quälte.
„Hör auf damit!“, schrie er. „Hör auf damit!“
Chiwa hielt kurz in ihrem Tun inne. „Du kommst noch früh genug dran“, keifte sie ihn unwirsch an und wedelte gehässig mit einer der grün-weißen Federn hin und her. „Und außerdem, könnte das ein nettes Souvenir für eure Eltern werden.“
Jian schluchzte. „Ich will zu meiner Mutter.“
Chiwa wandte sich von Zedong ab, der sich bemühte nicht laut los zu weinen. Jian hatte den Wunsch nur weglaufen zu können, während die Pfauenhenne bedrohlich auf ihn zu kam.
„Dann wirst du eben der nächste, dann kannst du schneller zu deiner Glucke zurück…“
In diesem Moment durchbrach etwas das Fenster. Chiwa war so überrascht, dass sie von dem merkwürdigen Etwas zur Seite gestoßen wurde.
Die Geckos hoben verwundert die Köpfe.
„Da ist ein Aufstand. Wie nett“, bemerkte Tongfu trocken und erhob sich mit seiner Truppe zu einem Gegenangriff.
Inzwischen hatte sich die merkwürdige Gestalt als Kranich, Schlange und Gottesanbeterin entpuppt. Viper und Mantis nahmen sich die Angreifer vor, während Crane sich daran begab die Fesseln der Jungs zu durchtrennen. Doch Chiwa hatte sich sofort wieder gefasst und erhob fluchtend ihre Stimme.
„Ihr verdammten Narren!“, fauchte sie.
Viper wollte sie mit einem Hieb aus dem Raum schleudern, doch die Pfauenhenne wich ihrem Angriff geschickt aus. Sie schwang sich nach vorne, sodass Viper nur die Geckos vor sich hatte.
Crane hatte es inzwischen geschafft die Jungs einzusammeln. Jian klammerte sich wimmernd an ihn, Zedong hingegen hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den unteren Teil seines Rückens, wo ein Großteil seiner stolzen Federn fehlte.
Dem Kranich blieb keine Gelegenheit sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, denn Chiwa kam direkt auf sie zugerast. Ohne zu Zögern packte Crane die drei Jungs und raste mit ihnen auf das aufgebrochene Fenster zu.
Doch Chiwa war schneller und holte mit einem Ärmel aus. Noch bevor der Kranich durch das Fenster fliehen konnte, hatte sie ihn mit ihrem Stoff wie mit einem Lasso eingefangen und schleuderte das Pack wieder ins Zimmer zurück, wo sie gegen die nächste Wand prallten.
Kranich und Pfaue purzelten auseinander. Viper erkannte, dass ihr Manöver misslungen war und überließ Mantis kurzfristig das Feld. „Mach du weiter, ich muss Crane helfen.“
Sofort warf die Schlange sich gegen die Rebellin, doch Chiwa reagierte erneut und warf die Stoffstreifen ihres anderen Ärmels auf die Schlange, die ebenfalls sofort darin eingewickelt wurde. Crane unterdessen schlug mehrere Male mit seinen Flügeln um sich und durchtrennte die Stoffstreifen, die ihn festhielten, sodass er wieder frei wurde. Dann befreite er auf dieselbe Weise Viper.
Noch ehe Chiwa erneut angreifen konnte, warfen sich die zwei Meister gegen sie und setzten sie mit einem Schlag kurzfristig außer Gefecht.
„Schnell weg hier!“, rief Viper.
Sofort sammelte Crane die Jungs wieder ein, und nahm auch noch Viper im Schlepptau. Mantis versetzte den Trupp Geckos nochmal eine ordentliche Portion Prügel bevor auch er sich auf Cranes Hut schwang und es ging in Windeseile wieder aufs Fenster zu.
„Hey!“, rief Tongfu. „Die wollen abhauen!“
Crane beschleunigte seine Flügelschläge. Das Fenster zur Freiheit rückte für sie immer näher…
Plötzlich schrie der Vogel auf, kurz darauf auch Viper.
Mantis sah seine Freunde verwundert an. „Was ist los?“
Cranes Kräfte versagten und der Not-Start endete in einer Bruchlandung.
Mit einem heftigen Schlittern kamen die Flüchtenden auf dem glatten Boden zum Stillstand.
Mantis war der Erste, der sich aus dem ganzen Knäul wieder herauswuselte. Auch die Pfauenjungen erhoben sich, wenn auch noch ganz benommen.
Verwundert schaute das Insekt auf Viper und Crane, die keinen Ton mehr von sich gaben.
Nur im Hintergrund war das schadenfrohe Kichern von Chiwa zu hören.
„Es ist doch immer wieder gut ein Ass im Ärmel zu haben.“
Zufrieden legte sie das Blasrohr mit den Betäubungspfeilen beiseite und ging auf die am Boden liegende Gruppe zu.
Tongfu nutzte sofort die Gelegenheit und nahm mit den anderen die ohnmächtige Schlange und den Kranich sofort im Gewahrsam.
Mantis flüchtete sich mit großen Sprüngen zur Tür, doch Tongfu hielt ihn zurück.
„Bleib stehen, oder wir schlagen deinen Freunden die Köpfe ab!“, drohte er.
Ernüchtert hielt das Insekt an. Nur widerwillig ließ es sich in einem Gefäß einsperren, wo er nicht mehr herauskommen konnte.
Chiwas Blick wanderte auf die drei Kinder, die sich wieder aneinandergedrängt hatten.
„Nur eine freche Bewegung“, fauchte sie. „Und ich reiß euch nicht nur die Federn, sondern auch Flügel und Beine raus!“
Sie wandte sich an Tongfu. „Fesselt sie wieder an die Säulen! Die Eindringlinge sperrt ihr ein!“
Missmutig betrachtete sie ihre abgerissenen Ärmelstreifen.
„Verflixt! Jetzt kann ich mich wieder umziehen!“
Wütend verließ sie den Raum. Tongfu verdrehte genervt die Augen. „Die geht mir mit ihrem Schönheit-Fimmel langsam tierisch auf den Senkel.“
„Geh nicht zu weit weg“, rief Yin-Yu Shen nach, der es vorgezogen hatte für einen Moment ins Freie zu gehen.
„Nur keine Sorge“, beruhigte er sie. Er war ihr wegen ihrer Fürsorge nicht böse, dennoch fand er es etwas peinlich, wenn ihn jemand dabei beobachtet hätte.
Als er endlich ein paar Meter vom Haus entfernt war, atmete er erleichtert auf. Er liebte Yin-Yu sehr, trotzdem kam es ab und zu mal vor, wenn er sich zum Beispiel im Spiegel anschaute, dass er sich fragte, was nur aus ihm geworden war.
Vor vielen Jahren wollte er China mit eiserner Härte bezwingen, und jetzt, was war er jetzt?
Die Wahrsagerin hatte mit ihm oft genug über dieses zwiespältige Thema gesprochen. Sie musste ihn mehr als einmal beruhigen, damit er nicht wieder rückfällig wurde. Anfangs war es extrem schwer gewesen. Doch mit der Zeit legte sich der China-Eroberungsdrang, dennoch flammte er immer wieder auf.
Seufzend schaute der einstige weiße Tyrann über das Tal. Wenn er an damals dachte, begegneten er diesem mit gemischten Gefühlen. Zum einen fragte er sich, ob er Yin-Yu je wieder begegnet wäre, wenn er nicht auf die Worte des Drachenkriegers gehört hätte. Anderseits fragte er sich, was passiert wäre, wenn er den Kampf gegen die Kung Fu Meister gewonnen hätte. Was wäre er heute stattdessen? Ein stolzer unbeugsamer Herrscher? Mit einem mächtigen Reich? Shen malte sich aus, wie China dann aussehen würde. Würden an jeder Ecke Flaggen mit seinem Symbolen hängen? Wachen postiert in jedem Dorf und jeder Stadt? Und vor allem… hätte sich jeder vor ihm verneigt… aus Angst vor seinen Waffen?
Er musste wieder daran denken, wie sich die Dorfbewohner vom Tal des Friedens vor ihm verneigt hatten. Nicht aus Furcht, sondern aus Respekt. Selbst der Panda…
Der weiße Pfau schüttelte den Kopf. Egal wohin seine Gedanken gingen, sie endeten immer bei diesem schwarz-weißen Krieger.
Genervt setzte er sich ins Gras. Zu gerne würde er mal einen Tag erleben, wo er nicht an diesen Panda denken musste. Andererseits konnte er nicht leugnen, dass er wegen ihm nicht tot war…
Shen zuckte zusammen. Der leichte Schmerz in seinem Bauch erinnerte ihn wieder an die Schmerzen im Kerker, im Folterraum… Seine herausgerissenen Federn… sein gebrochener Flügel, sein gebrochenes Bein… Da war niemand gewesen, der ihm beistand… außer einem…
Shen stieß ein Schnauben aus und ließ sich ins Gras fallen. Schon wieder diese schwarz-weiße Sackgasse. Er musste an was anderes denken. Er schaute zum Himmel hoch. Weiße Wolken zogen über ihm am blauen Himmel vorbei…
Wieder stockte sein Gedankengang.
Blau.
„Ich mag blau“, fielen ihm Shenmis Worte wieder ein.
Der Lord drehte den Kopf zur Seite.
Wieso ausgerechnet blau?
Und wieso musste ausgerechnet er blau sein?
Der weiße Pfau stützte sich auf die Ellbogen und sah zur Hütte runter. Bei dem Gedanken, dass dort die Person saß, die fast seine gesamte Zukunft ruiniert hätte, krampfte sich sein Magen zusammen.
Er seufzte.
Seine Zukunft…
Eine Zukunft, die er nicht eingeplant hatte. In seiner ganzen Jugendzeit hatte er auf was ganz anderes hingearbeitet. Schon zu der Zeit, als noch seine Eltern gelebt hatten…
Shens Gedanken machten einen gewaltigen Zeitsprung in die Vergangenheit.
Sein Vater war blau gefärbt gewesen. Lag es deshalb in Shenmis Natur, die Farbe Blau zu mögen?
Er hob den Flügel und beschaute sich seine weißen Federn. Anschließend rieb er seine Federfinger aneinander. Sein Blick wanderte wieder zum Himmel und er hielt seinen weißen Flügel gegen das blaue Firmament.
Wieso war er weiß? Hätte sein Vater sich gerne einen anders gefärbten Sohn gewünscht?
Wenn seine Federn auch blau geworden wären wie die von seinem Vater…
Blaue Federn…
Blau…
Vor fast 40 Jahren…
Shen war gerade ein paar Jahre alt, und war froh nicht mehr das Bett hüten zu müssen, nachdem er immerzu krank geworden war. Zumindest aus seiner Sicht. Eigentlich durfte er nicht aus seinem Zimmer, aber heute hatte er es nicht mehr ausgehalten. Immer, wenn er aus seinem Zimmer entwischt war, hatte man ihn immer wieder eingefangen. Aber heute sollte das nicht passieren. Er hatte sich ein Versteck ausgesucht, wo man ihn nicht so schnell finden würde. Im Schlafzimmer seiner Eltern. Kaum hatte er die Tür geöffnet, huschte er unter das große Bett. Er kicherte innerlich. Hier würde man ihn bestimmt nicht vermuten.
Er blieb auf seinem Bauch liegen und malte sich aus, wie die Hofdamen und Betreuer vergeblich nach ihm suchen würden. Vielleicht hatte er sogar Glück und seine Eltern würden mal nach ihm schauen. In letzter Zeit hatte er sie kaum zu Gesicht bekommen. Keiner von beiden hatte sich in letzter Zeit ernsthaft um ihn bemüht. Dafür war das Personal zuständig.
Während der kleine weiße Pfau so seinen Gedanken nachging, ließ er seelenruhig seinen Blick schweifen. Von dieser Stelle unterm Bett hatte er einen guten Blick auf den Fußboden. Sogar unter die Schränke konnte er sehen.
Er stutzte, als er unter dem Nachttisch etwas entdeckte. Neugierig robbte er darauf zu und griff unter den Schrank, wo er ein kleines schwarzes Kätschen hervorholte. Verwundert betrachtete er es. Es sah nicht sehr wertvoll aus. Die Oberfläche bestand aus schwarzem Grundbemalung, darauf gelbe Verzierungen und um den Rand war es mit Perlmutt beschichtet. Normalerweise wurden solche Sachen ordentlich in die Schränke geräumt, aber doch nicht darunter verstaut, wo sie von Staub beschmutzt werden konnten.
Shen kroch näher an den Bettrand, um im Licht genauer sehen zu können, was da drinnen verborgen war. Er löste den Verschluss und öffnete es. Verwundert schaute er hinein. Statt Gold oder etwas anderes wertvolles vorzufinden, befand sich nichts anderes als eine kleine blaue Feder darinnen.
Shen hob die Augenbrauen. Was war das denn für ein merkwürdiger Schatz?
Er nahm die blaue Feder heraus und betrachtete sie von allen Seiten. Die Feder war klein, doch es war keine Daunenfeder. Sie war stabil und gerade. Es musste von einem Flügel sein, doch dafür war sie viel zu kurz. Er schaute auf seinen Flügel, dann hielt er die blaue kleine Feder an eine seiner Fingerfedern.
„Passt ja.“
Er steckte sie ein und betrachtete die blaue Feder in seinem Flügel zwischen den weißen Federn.
Ob er damit vielleicht sogar fliegen könnte?
Er kroch unter dem Bett hervor und schlug kräftig mit dem Flügel, konnte aber keinen Unterschied feststellen. Vielleicht bräuchte er mehr von dieser kleinen Federsorte.
Er kniete sich hin und schaute unter den Nachtisch, doch darunter war alles leer. Er ging zum anderen großen Schrank rüber, doch darunter befand auch kein Kästchen.
„Shen!“
Erschrocken drehte sich das weiße Küken um. Im Türrahmen stand sein Vater Lord Liang.
Schnell stand Shen auf. „Oh, hallo Papa…“
„Was treibst du hier?“, fragte der blaue Pfau aufgeregt. „Alle anderen suchen schon nach dir! Du solltest doch nicht dein Zimmer verlassen!“
Schüchtern scharrte der Junge mit dem Fuß auf dem Boden. „Mir geht es doch gut…“
„Das meinst auch nur du!“, mahnte Lord Liang streng. „Jetzt geh wieder in dein Zimmer, bevor du wieder umkippst!“
Schmollend trat der junge Pfau den Rückzug an. Doch noch ehe er an seinem Vater vorbei konnte, fiel Liangs Blick auf das offene Kästchen auf den Boden.
Er lief sofort hin. Als er merkte, dass es leer war, wandte er sich aufgebracht an seinen Sohn.
„Shen! Hast du hier was rausgeholt?!“
Shen drehte sich verwundert zu ihm um. „Wieso? Da war nur die hier drin…“
Er hielt die kleine blaue Feder in seinem Flügel hoch.
„GIBT SIE WIEDER HER!“
Lord Liang riss seinem Sohn die Feder aus dem Flügel, als habe er Angst davor, Shen würde sie zerbrechen wie Glas. Der große blaue Pfau drückte die blaue Feder an sich, während der kleine weiße Pfau seinen Vater fragend ansah.
„Wem gehört diese Feder?“, wollte Shen wissen.
Der Pfauenvater zögerte.
„M-mir…“, antwortete er zaghaft.
Es klang irgendwie nicht so überzeugend.
„Jetzt geh wieder in dein Zimmer!“, befahl er streng, noch bevor der Junge ihn weiter mit Fragen bombardieren konnte.
Gekränkt wandte sich Shen zur Tür. Doch bevor er den Raum verließ, schaute das weiße Küken nochmal hinter sich und sah noch wie sein Vater die blaue Feder wieder ins Versteck legte und den Deckel verschloss…
Dieses kleine Kästchen hatte er nie mehr wieder gesehen…
Shen legte die Stirn in Falten. Wem hatte diese blaue Feder gehört? Diese Frage hatte er all die Jahre hindurch schon fast wieder vergessen. Er glaube nicht mehr daran, dass sie von seinem Vater stammte. Vielleicht gehörte sie jemanden von seinen Vorfahren.
Der Pfau hob den Kopf, als er einen dumpfen Schlag gegen einen Baumstamm im Wald vernahm. Anschließend stieß jemand einen gemurmelten Fluch aus dicht gefolgt von gezischten Worten.
„Selbstbeherrschung, Selbstbeherrschung, Selbstbeherrschung!“
Mühsam erhob sich der Pfau und folgte der vor sich hin schimpfenden Stimme. Ein paar Bäume weiter entdeckte er den Panda, der immer wieder gegen einen Baum schlug und dabei ständig erneut das gleiche Wort grummelte.
„Selbstbeherrschung, Selbstbeherrschung…“
„Panda!“
Sofort erstarrte Po zur Salzsäule. „Ja?“
Shen trat aus dem Dickicht heraus und schaute den schwarz-weißen Bären skeptisch an. „Ist das die Kung Fu Art seine Kraft in der Fauna zu verschwenden? Oder ist irgendetwas vorgefallen, was dein Verhalten rechtfertig?“
„Uh, mein Verhalten?“, Po legte verlegen die Hände zusammen. „Äh, sowas mache ich ständig…. Jeden Tag. Oder fast jeden Tag, manchmal verschlage ich auch Steine.“ Er sah sich suchend um. „Oh, hier ist schon einer.“
Schnell hob Po einen kleinen Stein auf. „Siehst du, der Baum war für die Schmerzbewältigung. Jetzt kommt Treffsicherheit.“
Er warf den Stein hoch, dann trat er dagegen. Das Geschoss flog durch die Büsche. Plötzlich schrie jemand erschrocken auf. „HUCH!“
Verwundert hob Po den Kopf. Hatte er aus Versehen jemanden getroffen?
Im nächsten Moment tauchte Liu aus dem Gestrüpp auf.
„Oh, Verzeihung“, entschuldigte sich Po. „Hab ich dich erwischt?“
Doch die Pfauenhenne schüttelte den Kopf. „Nein, ich war nur erschrocken.“
Der Panda war die ganze Sache unangenehm. „Das tut mir sehr leid…“
„Schon gut“, beruhigte Liu ihn. „Ich habe gerade nach Ihnen gesucht.“
„Nach wem? Nach mir oder ihm?“ Po zeigte zwischen sich und Shen, doch Lius Blick blieb auf Po haften.
„Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir nicht bei einer Sache helfen könnten?“
Dem Panda fiel die Kinnlade runter. „Hilfe von mir?“ Doch dann wurde sein Blick wieder ernst. „Bei was?“
Lius Augen wanderten unsicher zu Shen, und dieser ahnte, bei was sie Hilfe suchte.
„Geht es etwa wieder um ihn?“, fragte Shen forschend.
Liu senkte ein wenig den Blick. „Ich möchte nur mich um seine Verletzungen kümmern. Aber er wird mich nicht an sich ranlassen. Von daher benötige ich etwas Unterstützung.“
Po stand zunächst völlig verdattert da. Gerade noch vor kurzem hatte er sich lautstark über Xiang beschwert, und jetzt erwartete sie von ihm, dass er ihr aushalf?
„Tja, also ich weiß nicht…“
„Sie sind doch so stark“, ging Liu ihm dazwischen. „Es wird auch nicht lange dauern.“
Der Panda warf einen Seitenblick zu Shen. Dieser sah ihn streng an.
„Wage es ja nicht, dich mit meinem Feind zu verbünden“, zischte der Pfau.
„Aber wenn sie doch nur mal kurz Hilfe braucht…“
„Kommt gar nicht in Frage!“, schnitt Shen ihm das Wort ab. „Ich erlaube ihm keine Extra-Behandlung.“
Liu kniff die Augen zusammen. „So wie bei Ihnen?“
Shen sah sie böse an. „Was willst du damit sagen?“
Die Pfauenhenne hob den Kopf. „Ich weiß auch eine Menge über Sie. Hätte es Ihnen was genützt, wenn man Sie einfach hätte stehen lassen, als Sie jemanden am meisten brauchten?“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ die beiden ungleichen Krieger einfach stehen.
„Ich warte an der Hütte auf Sie, falls Sie sich dazu entschließend sollten zu kommen“, sagte Liu noch im Weggehen.
Kaum war sie zwischen den Bäumen verschwunden, sah Po Shen verwundert an. Normalerweise verschlug es den weißen Pfau selten die Sprache, doch in diesem Fall schien Liu einen wunden Punkt getroffen zu haben, sodass der weiße Herrscher nicht sofort antworten konnte.
Stattdessen stand Shen jetzt da, sein Gesicht überzogen von Wut und Kränkung. Und dennoch schien es so als hätte ihn jemand brutal wieder in den inneren Sumpf seiner verdreckten Vergangenheit gestoßen.
Po beobachtete ihn noch ein paar Sekunden, dann zuckte er die Achseln und ging weg.
„Panda“, hielt Shen ihn zurück. Seine Stimme klang seltsam monoton. „Wie lange müssen wir noch hier in diesem Dorf herumsitzen?“
„Wang sagte, er würde heute Nachmittag zurückkommen“, antwortete Po. „Er müsste noch ein paar Soldaten mobilisieren, für den Fall eines Falles. Aber er wird heute zurückkommen.“
Dann wandte er sich hastig ab, bevor Shen ihn noch mit etwas anderem konfrontieren würde.
Shen sah dem Panda misstrauisch hinterher.
„Na hoffentlich.“
Xiang war müde auf sein Bettlager gesunken. Diese ganzen Störungen durch den Tag hatten ihn ziemlich fertig gemacht. Umso genervter kauerte er sich auf der Decke zusammen, als er hörte, wie jemand wieder die Tür öffnete.
Der blaue Pfau machte sich nicht die Mühe aufzuschauen und verharrte in seiner Liegeposition, in der Hoffnung übersehen zu werden.
Schritte näherten sich ihm. Zu seinem Schrecken musste er feststellen, dass seine Flügel anfingen zu zittern.
Wieder dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Das verlorene Gefühl allein jemanden ausgeliefert zu sein.
Jemand kam näher… näher… wie seine Mutter…
„Lord Xiang?“
Der blaue Pfau rollte sich blitzartig zur Seite und sprang auf sein gesundes Bein. Dabei blieb er in geduckter Haltung, als würde ihn jeden Moment ein Raubtier anfallen wollen. Seine Körperspannung wuchs, als er Liu vor sich stehen sah. Die Pfauenhenne trug eine kleine Tasche in den Flügeln und schaute ihn ruhig aber entschlossen an.
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich hab nur gedacht, Sie würden schlafen und wollte Sie nicht wecken…“
„Was willst du hier?!“, fauchte er sie an. „Kann mich denn keiner in Ruhe lassen?!“
Liu atmete tief durch. „Ich würde Sie ja in Ruhe lassen, aber Ihre Beine müssen behandelt werden.“
Xiang sah an sich herunter. In seinem lahmen Bein spürte er nichts, nur auf seinem linken pochte es etwas unangenehm, was wohl von den Schnitten von dieser neuen Pflegerin herrührte.
Liu verengte die Augen. Ein paar Stellen hatten sich entzündet. Das war ihr schon gestern aufgefallen, hatte aber bei Xiangs Wut vorläufig nichts machen können.
Jetzt kniete sie sich hin, um einen genaueren Blick auf die Beine zu werfen.
„Ihre Schnittwunde hat sich etwas entzündet. Da hat sich etwas Eiter gebildet. Ich muss es ein wenig öffnen.“
„Öffnen?“
Xiang stieg der Horror in die Glieder. Liu versuchte sich so neutral wie nur möglich zu verhalten und nickte nur.
„Das wird nicht weh tun, nur etwas zwicken. Danach geht es Ihnen wieder besser.“
Der Pfau wich etwas zurück. „Wag es ja nicht! An mir fummelst du nicht herum!“
Liu hatte diese Reaktion erwartet und erhob sich.
„Aber wenn ich es nicht tue, dann werden sich die Wunde noch verschlimmern.“
Xiang drehte den Kopf weg. „Das ist mir egal!“
„Xiang… äh… Verzeihung, Lord Xiang, im schlimmsten Fall können Sie sonst beide Beine nicht mehr bewegen!“
„Dann freu dich. Dann hast du ja mehr Arbeit mit mir.“
Die Pfauenhenne schnappte nach Luft. Dann verengte sie erbost die Augen.
„Na schön. Sie lassen mir keine andere Wahl.“
Im nächsten Moment erschien Pos Kopf im Türrahmen, was Xiang überhaupt nicht behagte.
„Was will der denn schon wieder hier?“, schimpfte er.
„Er wird mir etwas helfen“, klärte Liu ihn auf.
„Helfen wobei?“
Darauf gab der Panda keine Antwort. Mit ernster Miene betrat er die Hütte. Allmählich begriff Xiang was er vor hatte und wich erneut zurück.
„Bleib mir gefälligst vom Leib! Nein!“
Doch Po war viel schneller. Er packte den Pfau an den Schultern und drückte ihn zu Boden.
Xiang war zwar auf einem Bein gelähmt, konnte sich aber immer noch extrem gut wehren.
„Lass mich gefälligst los!“, fluchte er und schlug wie wild auf den Panda ein.
Doch an Po prallten diese Faustschläge problemlos ab.
„Ach, jetzt stell dich nicht so an“, meinte er genervt und legte sich fast mit seinem gesamten schweren Körper auf den Vogel, wobei er ihn die Flügel runterdrückte.
„Geh sofort von mir runter!“, fluchte Xiang.
Liu unterdessen nutzte die Gelegenheit und beugte sich zu Xiangs Beinen runter. Da er ein Bein nicht bewegen konnte, war es für sie kein Problem nur ein Bein mit dem Flügel festzuhalten, um ungestört arbeiten zu können. Als der Pfau ihren Flügel spürte, wollte er sofort sein Bein wegziehen, doch Liu hielt ihn entschlossen fest. Als das nichts half, versuchte der Pfau sie mit Worten zu vertreiben.
„Lass mich los! Lass mich los…!“
„Jetzt sei doch mal ruhig“, entgegnete Po genervt. Er hatte immer noch eine Wut auf den Pfau, hielt seine Rügen aber so gut es ging zurück.
Liu hatte inzwischen ein kleines Skalpell hervorgeholt. Sie war froh, dass Xiang es nicht sah, weil der Panda ihm die Sicht nach hinten verdeckte, stellte sich aber sofort auf einen Protestschrei ein. Die entsprechende Wunde enthielt zwar nicht viel Eiter unter der Haut, dennoch würde Xiang wohl jede Berührung wie ein Messerstich vorkommen.
Sie holte nochmal tief Luft. „Okay, es sieht nicht schlimm aus. Ich muss nicht viel machen, nur ein wenig drücken.“
Po spürte, wie Xiang sich extrem anspannte. Und kaum hatte das Skalpell die Haut berührt, schrie der Pfau auf. Doch noch ehe er alles zusammenfluchen konnte, hielt Po ihm den Schnabel zu. Da konnte Xiang sich wehren so viel er wollte, aber gegen die festen Griffe des Pandas hatte er keine Chance.
„Po?“
Überrascht drehte Po den Kopf zur Tür. „Shenmi? Was machst du denn hier?“
„Tut es ihm wieder weh?“, fragte Shenmi zaghaft, die einsam im Türrahmen stand.
„Ist nichts Schlimmes“, wimmelte Po sie ab. „Bleib nur ruhig draußen.“
Doch das weiße Mädchen betrat den Raum und ging auf die zwei am Bodenliegenden zu.
Als das Mädchen in Xiangs Blickwinkel trat, riss der Pfau seinen Kopf so wild hin und her, dass er kurzfristig seinen Mund freibekam.
„DU VERDAMMTES…!“
„Das lässt du schön bleiben!“, mahnte Po entschieden und hielt Xiang schnell wieder den Schnabel zu.
Shenmi hatte irgendwie keine Angst. Als wäre der Panda wie ein Schutzschild in ihrer Gegenwart. Sie wagte es sogar Xiang so nahe ans Gesicht zu kommen, dass sie ihn fast berühren konnte. Sie tat nichts, sondern schaute nur auf ihn herab.
Liu inzwischen arbeitete so schnell sie konnte. Zum Schluss bestrich sie noch mal alles mit einer desinfizierenden Flüssigkeit und band einen Verband um die geöffnete Stelle. Am Zeh vom lahmen Bein, an dem Chiwa zuletzt herumgesägt hatte, sah es zum Glück besser aus. Die Schnittstelle war schon teilweise wieder gut verheilt. Liu hielt es für das beste es für heute zu belassen und erhob sich nach getaner Arbeit wieder.
„In Ordnung. Du kannst ihn wieder loslassen“.
Kaum hatte der Panda seinen Griff gelockert und stand gerade mal auf den Beinen, als Xiang ihn wutentbrannt einen gewaltigen Tritt versetzte. Po stolperte nach hinten, fand aber noch rechtzeitig seine Balance wieder. Xiang schwang sich geschickt, wenn auch wackelig auf seinen Fuß. Es sah so aus, als habe er vor den Panda zu verprügeln. Als auch noch sein Blick auf die kleine Shenmi fiel, schien er jedoch seine Wut zuerst an der „kleinen Frau“ auslassen zu wollen. Er stürzte nach vorne, doch kaum hatte er sie erreicht, schlug ihm jemand mit voller Wucht in den Brustkorb und der blaue Pfau knallte gegen die Wand. Stöhnend rappelte er sich wieder auf. Als er im nächsten Moment in Shens wütendes Gesicht sah, zog er ein wenig den Kopf ein.
Po war wie gelähmt. Shen hatte den blauen Pfau heftig abgewehrt. Jetzt starrten sich die beiden Rivalen voller Anspannung in die Augen. Es war wie, wenn Wasser auf Feuer traf, und umgekehrt. Selbst Wasser konnte eine ungeheure Zerstörungskraft entfalten. Doch der weiße Pfau hielt seine Macht im Zaum. Stattdessen blickte er nur herablassend auf Xiang herab. Dann drehte er sich zur Überraschung der anderen um und hob Shenmi auf.
„Mach das nicht noch einmal!“, zischte Shen ihn noch an, dann verließ er die Hütte mit seiner kleinen Tochter auf den Arm.
Panda und Pfauenhenne beobachteten alles mit offenen Mündern. Nur Xiang saß keuchend immer noch gegen die Wand gelehnt und schien gar nichts mehr um sich herum wahr zu nehmen, außer die offene Tür, zu der er immer noch nach draußen stierte.
Schließlich beeilten sich die anderen den Raum zu verlassen. Draußen standen Po und Liu erst mal schweigend auf der Wiese. Dann schielte die Pfauenhenne zum Panda rüber.
„Danke für deine Hilfe.“
Po sah sie verwundert an. Dann nickte er. „Bitte, bitte.“
„Jetzt sagt endlich wo sie sind!“
Tongfu wurde mit jeder Sekunde immer ungehaltener. Sie hatten sich inzwischen wieder mit den Geiern aufgemacht und das Schiff eingeholt, welches immer noch den Fluss hinuntersegelte. Doch als sie die gesuchten Flüchtenden nicht fanden, stellten sie die Mannschaft zur Rede.
Der Kapitän, eine Antilope, zuckte nur die Schultern und schwieg.
Der Gecko knirschte mit den Zähnen und hätte am liebsten die Geier auf sie losgelassen, wenn er nicht noch etwas anderes in petto gehabt hätte.
„So, so, du ziehst es also lieber vor den Stummen zu spielen, was?“, knurrte Tongfu bissig. „Na schön. Wie du willst.“
Er schnippte kurz mit den Fingern. Sofort holte ein anderer Gecko einen Stoffbeutel hervor und gab sie Tongfu. Der Gecko griff hinein und holte eine Feder heraus.
Das Gesicht der Antilope versteinerte sich, was Tongfu nur zum Grinsen brachte.
„Na, erkennst du dieses bunte Ding wieder?“
Er schwenkte die kleine grün weiße Pfauenfeder hin und her. „Da wo wir herkommen, haben wir noch massenhaft mehr von diesem Hühnerviech. Und soweit ich das beurteilen kann, sind es wohl die Sprösslinge deines Bosses, nicht wahr? Ja, wir haben sie zu einem kleinen Ausflug überredet. Es stellt sich nur die Frage, ob wir ihnen nicht noch ein Ticket ins Jenseits mitbringen sollen. Natürlich gratis.“
Über ihren Köpfen lachte der Geier Laishi. „Oh ja. Das wäre ein schöner Job für mich.“
Tongfu ignorierte seinen Beitrag und sah erwartungsvoll auf die Crew des Schiffes, die sich mehr als unschlüssig zu sein schien ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben.
Tongfu verengte die Augen. „Oder willst du dafür verantwortlich sein, wenn wir eines der drei Küken tranchieren?“ Er ließ die Feder fallen. „Also, hat das jetzt deinen Mund gelockert?“
Die Antilope schluckte schwer, dann hob sie den Kopf. „Na gut.“
„Da unten ist der Palast!“, rief Xia und deutete von ihrem Adler aus nach unten.
Der Anblick des riesigen Gemäuers rief in der jungen Pfauenhenne wieder Erinnerungen hervor. Seit ihrer Geburt hatte sie ihr Leben in dieser Stadt verbracht, wobei sie nie richtig raus durfte. Eigentlich hatte sie sich geschworen nie wieder einen Fuß auf dieses Gebiet zu setzen, doch heute musste sie eine Ausnahme machen.
Ihr Bruder Sheng hatte weniger Hemmungen seine alte Heimat wieder zu sehen.
„Hat sich nicht viel verändert“, meinte er gelassen.
Meister Ochse wies die Adler an, einmal um das Gebäude herumzukreisen.
„Seht ihr jemanden?“, fragte er. Doch jeder der Anwesenden musste seine Antwort verneinen.
Selbst Tigress, die sehr gute Augen besaß, konnte nicht mal ihre Freunde entdecken.
„Vielleicht sind sie drinnen“, vermutete Monkey.
„Aber wo sind meine Brüder?“, fragte Xia in die Runde.
Meister Kroko konnte nur raten. „Vielleicht sind sie irgendwo in den Bergen verschwunden. Und Mantis, Viper und Crane sind ihnen hinterher.“
„Dann landen wir am Palast“, entschied Meister Ochse. „Mal sehen was der Drachenkrieger dazu sagt.“
Xia verengte die Augen. Was ihr Vater über seine Söhne dachte, schien ihm wohl absolut nicht zu interessieren.
Nachdem die Adler sie dort abgeliefert hatten, verabschiedeten sie sich wieder und flogen davon.
„Merkwürdig“, murmelte Monkey. „Keine Wachen vor dem Tor?“
„Vielleicht haben die gerade Ausgang“, scherzte Meister Kroko.
Meister Ochse verzog den Mund. Dann hob er den Huf und hämmerte kräftig gegen die große Eingangstür. Doch auch nach knapp einer Minute rührte sich nichts. Meister Ochse schlug kräftiger gegen die Tür und diesmal mit Rufen.
„Hallo! Hallo!!!! Aufmachen! Sofort aufmachen!“
Als auch das nichts half versuchte der Ochse die Tür aufzubekommen, doch sie war verschlossen.
Sheng konnte sich das nicht erklären. „Das ist merkwürdig. Normalerweise müsste doch wenigstens einer im Haus sein.“
Meister Kroko sah sich um. „Vielleicht braucht er solange. Bei diesen vielen Zimmern. Vielleicht ist er sogar im Keller und hat uns nicht gehört.“
Nach mehr als fünf Minuten vergeblichen Anklopfens, hielten es auch die anderen nicht mehr länger aus. Tigress suchte die Eingangswand ab. Die Fenster waren zwar hoch, doch mit ihren krallengesetzten Pranken leicht zu erreichen.
„Ich könnte zu einem der Fenster hochklettern“, schlug sie vor.
Monkey sah sie verwundert an. „Wäre das nicht Hausfriedensbruch?“
Sheng verschränkte die Flügel. „Ich denke, dass ist schon okay. Immerhin bin ich auch noch Eigentümer von diesem Gebäude, und aus meiner Sicht, ist das dann nur berechtigter grober Einlass.“
Tigress nickte. „Okay, ich klettere da jetzt hoch.“
„Na gut“, sagte Sheng. „Aber ich komme dann nach. Ich weiß wie es zur Tür geht.“
Die Tigerin kletterte geschickt an der Wand hoch. Oben angekommen schlug sie einen Teil des Fensters ein und öffnete es. Kaum war sie durch, flatterte Sheng hoch und stieg zu ihr ins Zimmer. Drinnen sahen sie sich um.
„Wozu diese vielen Räume?“, fragte Tigress beim Anblick der weißen Laken auf den Möbeln.
„Das war mal ein sehr einladender Palast gewesen“, klärte Sheng sie auf. „Aber seit Xiangs Herrschaft durfte niemand mehr hier herein. Die meisten Zimmer stehen seit Jahren unbenutzt herum.“
Es dauerte eine Weile, bis die beiden auf dem Fußweg die Haupttür von innen erreichten und die Verriegelungen entfernen konnten. Meister Ochse sah sie erwartungsvoll an.
„Und? Habt ihr drinnen jemanden gesehen?“
Tigerin und Pfau zuckten die Achseln.
„Drinnen ist uns keiner begegnet“, meinte Tigress.
Meister Kroko kratzte sich am Kopf. „Vielleicht ist heute keiner zuhause.“
Monkey sah sich suchend um. „Aber wo ist dann Po?“
„Und Vater und Shenmi?“, fügte Sheng hinzu.
„Und was ist mit Mutter?“, fragte Xia in die Runde. Doch auch darauf konnte sich keiner eine Antwort bilden.
„Vielleicht sind sie auf eine andere Spur gekommen“, vermutete Monkey. „Und sind deshalb nicht mehr im Palast.“
Sheng war da nicht so überzeugt. „Aber warum ist dann keiner hier, der auf das Haus aufpasst? Das ergibt keinen Sinn.“
Der Affe zuckte die Achseln. „Vielleicht ging es nicht anders.“
Meister Ochse schnaubte. „Tja, wir haben wohl keine andere Wahl. Sehen wir uns um.“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Dank Sheng und Xia konnten sie sich in dem ganzen Gewirr von Gängen nicht verlaufen. Sie schauten, wenn möglich, in jedes Zimmer. Doch es schien, als wäre der Palast wirklich verlassen worden. Erst als sie in die Küche kamen, bemerkten sie eine Spur von einstigen Aktivitäten.
„Dieser Herd war vor mindestens vielen Stunden benutzt worden“, schlussfolgerte Meister Ochse. Die anderen stimmten ihm zu.
„Sogar das Geschirr ist noch an manchen Stellen feucht“, bemerkte Monkey. „Was hat es eigentlich gegeben?“
„Scheint Suppe gewesen zu sein“, meinte Tigress beim Anblick der Kochgeräte, die gespült worden waren. „Po muss in der Küche hantiert haben.“
Monkey sah sie verwundert an. „Woher willst du das wissen?
Tigress hielt kurz inne, dann deutete sie auf die gewaschenen Schüsseln. „Er stellt die Schüsseln immer auf diese Art zum Trocknen hin.“
Auch Meister Kroko wurde fündig. „Seht mal. Hier liegt eine kleine weiße Feder unter dem Tisch.“
„Die kann nur Shenmi gehören“, meinte Xia.
Monkey tastete den Tisch ab. „Entweder haben die hier nur zu Abend gegessen oder auch gefrühstückt.“
Auf einmal hörten sie ein dumpfes Rumpeln. Alle sahen sich um.
„Das kam aus der Speisekammer“, schlussfolgerte Meister Kroko.
Sofort begaben sie sich dahin. Meister Ochse nahm sich die Freiheit die kleine Tür aufzuziehen.
Allen blieben die Münder offen, als sie da drinnen einen kleinen Gecko erblickten, der die Hände voller Lebensmittel hatte.
Doch noch ehe jemand etwas sagen konnte, sprang der Gecko plötzlich auf und raste aus der Küche.
„Hey, hinterher!“, schrie Meister Ochse. „Stehenbleiben!“
Sofort rannten alle hinterher. Erst als sie in einem der Flure ankamen, hielt Sheng seine Schwester zurück und drängte sie in eine Nische.
„Xia, du bleibst hier.“
Sie sah ihn empört an. „Was?“
„Hier scheint es nicht sicher zu sein“, drängte Sheng. „Du bist noch nicht kampferfahren genug. Nur auf dem Trainingsplatz…“
„Ich hab mich auch gegen die Geckos verteidigt!“, rief Xia aufgebracht.
Doch Sheng blieb bei seiner Meinung. „Sobald wir sicher sind, dass die Luft rein ist, dann holen wir dich.“
Mit diesen Worten rannte er los und ließ die junge Pfauenhenne entrüstet zurück.
„Er ist da reingelaufen!“, rief Meister Ochse.
Mittlerweile hatten sie den Gecko bis in die unteren Stockwerke verfolgt. Dort gelangten sie in einen großen Raum mit kahlen Steinwänden.
Kaum waren sie drinnen, sahen sie den Gecko gerade noch durch eine weitere Tür wieder nach draußen laufen. Sofort steuerten sie alle darauf zu. Doch im nächsten Moment senkte sich eine Steinwand und der Zugang zur Tür war versperrt.
„Was soll das denn?“, beschwerte sich der Ochse.
„Die andere Tür schließt sich auch!“, rief Monkey.
Entsetzt mussten sie zusehen wie der Rückweg ebenfalls jetzt mit einer Steinwand blockiert wurde.
Die Meister sahen sich nach einem anderen Ausweg um. Doch außer diesen zwei Türen, gab es keine Fenster. Nur eine einsame Fackel beleuchtete den Steinraum.
„Sucht die Wände ab“, befahl Meister Ochse und tastete einen Stein nach dem anderen ab, in der Hoffnung, dort einen versteckten Weg zu finden. Doch so sehr sie sich auch bemühten, außer den blockierten zwei Türen, schien es keinen Weg nach draußen zu geben.
„Wir sitzen in der Falle“, kam Tigress verbittert zu dem Schluss.
„Oh, nein, nicht mit mir!“, schrie der Ochse und nahm Anlauf. Dann raste er gegen die verschlossene Tür. Doch außer einem leichten Kratzer erlitt die Steinwand wenig Schaden, wohingegen der Ochse für einen Moment nur noch Sterne sah.
Ratlos sahen sich die anderen an.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Meister Kroko und sah zu Sheng.
Doch der Pfau hatte darauf keine Antwort. „Ich weiß es nicht. Diese Funktion des Raumes war mir bis jetzt unbekannt gewesen.“
Entrüstet lehnte sich Tigress gegen die Wand. „Dann scheint sich hier noch jemand anderes für schlau zu halten.“
Monkey sah sie unsicher an. „Denkst du etwa, diese Person hat auch vielleicht Po…“
Er wollte diesen Gedanken nicht unbedingt aussprechen.
Tigress sah ihn nicht an und keiner wollte weiter über dieses Thema sprechen.
Zufrieden faltete Chiwa ihre Flügel zusammen, nachdem sie den Hebel für die Türen betätigt hatte.
„Tja, es ist schon vom Vorteil, wenn mein Neffe nicht alles wusste, was es in diesem Palast für Möglichkeiten gibt.“
„Ersticken die nicht darin?“, fragte der Gecko, der nach seiner Flucht sich zu ihr gesellt hatte.
„Keine Sorge, es existieren Luftschlitze, aber die sind so klein, da könnte noch nicht mal ein Floh durch.“
Die Pfauenhenne entfernte sich. Der Gecko sah ihr verwundert nach.
„Und was machen wir jetzt mit ihnen?“
Chiwa winkte abwertend mit dem Flügel. „Die können jetzt ruhig eine Weile schmoren. Ich hab etwas gegen Einbrecher. Die machen immer so einen unordentlichen Radau.“
In der Zwischenzeit verharrte Xia weiterhin in ihrem Versteck, wenn auch nur widerwillig. Erst als sie Stimmen im Gang hörte, richtete sie sich auf.
„Sollen wir nicht doch sofort zum Schafdorf?“, hörte sie eine Stimme.
„Ich will nur nicht, dass sie mir gleich an die Gurgel geht, wenn sie erfährt, dass ihr heißverachteter Neffe sich immer noch in der Nähe herumtreibt“, antwortete eine andere ihr bekannte Stimme.
Sie wagte einen Blick um die Ecke. An einer Gangkreuzung sah sie eine Gruppe von Geckos. Die Pfauenhenne erkannte Tongfu sofort wieder, was in ihr eine Wut hochtrieb. Aber noch mehr beschäftigte sie die Frage, ob die anderen auf diese dazugekommenen Eindringlinge vorbereitet waren. Und vor allem, warum waren Po, ihr Vater und ihre kleine Schwester nicht im Palast auffindbar?
Nachdem die Gruppe vorbeigezogen war, verließ sie die Nische und folgte ihnen im sicheren Abstand. Schließlich endete der Gang im Spiegelsaal, ein Raum, der zu beiden Seiten mit Spiegeln bestückt war. Eigentlich war dies der Raum für die Herren, aber Chiwa hat es sich nicht nehmen lassen, um ihr nochmal neues Gewand von allen Seiten zu bewundern.
Als die Pfauenhenne Tongfu hereinkommen sah, wandte sie den Blick von ihren Spiegelbildern ab.
„Oh, schon so früh zurück, Tongfu?“, fragte sie verwundert. „Wo ist meine Ware?“
Der Gecko räusperte sich. „Darüber wollte ich mit Ihnen noch darüber reden.“
Chiwa verengte ein kleinwenig die Augen und zog einen schwarzen Fächer hervor, denn sie mit einem lauten Knall öffnete und sich frische Luft zufächelte.
„Na da bin ich ja neugierig“, sagte sie bissig.
Xia unterdessen hatte sich nahe genug an den Türrahmen zum Spiegelsaal gewagt, um alles mitzuhören. Doch noch ehe sie dem Gespräch folgen konnte, stieß sie jemand von hinten in den Rücken.
„Hey!“, keifte sie eine dunkle Stimme an. „Lauschen ist unhöflich.“
Die junge Pfauenhenne kam nicht mehr dazu sich zu verteidigen. Der schwarze Schatten breitete seine dunklen Flügel aus, packte sie mit seinen Krallen und zerrte sie brutal in den Spiegelsaal. Xia wollte sich sofort wieder aufrappeln und zum Angriff übergehen. Doch der schwarze Geier ließ ihr dazu keine Gelegenheit. Er schlug das Mädchen zu Boden, sprang auf ihren Rücken und presste sie mit dem Bauch nach unten.
Chiwa blieb der Mund offen. „Ist heute Tag der offenen Tür?“, beschwerte sie sich und ihr giftiger Blick wanderte zu Tongfu. Der Gecko zeigte sich höchst verwundert.
„Ich hab sie nicht hierhergebracht!“, rief er. „Ich dachte, die wäre in Gongmen.“
Wieder klappte die Pfauenhenne ihren Fächer lautstark auf und zu. „Na offensichtlich nicht. Sonst wäre sie ja nicht hier. Genauso wie der Rest von ihnen.“
Dem Gecko-Anführer klappte die Kinnlade runter. „Hä? Versteh ich nicht.“
Chiwa rümpfte den Schnabel und wandte sich an den Geier. „Ah, Laishi, lange nicht mehr gesehen. Was macht das Totengräber-Geschäft?“
Der Geier kicherte. „Oh, es welkt, im positiven Sinn gesagt.“
„Runter von mir!“, rief Xia, die mühsam den Kopf hob. „Wo sind meine Brüder?! Ich will meine Brüder! Wo sind sie?!!“
Chiwa verengte die Augen und versetzte Xia mahnend mit dem Fächer ein paar leichte Schläge auf den Kopf. „Na, na, na. Benimm dich mal. Ich nehme an, dann bist du wohl die nicht-leibliche Tochter von Xiang.“
Xia sah sie verwundert an. „Woher wissen Sie das?“
„Deine Mutter und ich hatten ein bisschen geplaudert, und haben dabei die Zeit vergessen.“
Xias Augen weiteren sich. „Meine Mutter? Wo ist sie?“
„Abgehauen“, antwortete Chiwa. „Zusammen mit dem Rest, die hier noch gestern Abend sich in meiner Residenz breit gemacht haben.“
„Ihre Residenz?“ Xia verstand noch nicht alles, doch im Moment wollte sie nur eines wissen, als ihr der Gecko wieder ins Blickfeld rückte. „Warum haben Sie meine Brüder entführen lassen!? Wo sind sie?!“
„Diese Maßnahme war notwendig“, entgegnete die ältere Pfauenhenne. „Man wollte ihn mir nicht überlassen.“
„Von wem reden Sie?“
„Von meinen Neffen Xiang.“
Das ließ Xia erst einmal verstummen. Sie hatte nie viel über Xiangs Familie gewusst. Xiang hatte sich immer dagegen gesträubt nur etwas darüber zu sagen. Einzig nur die Familiengalerie war ihr bekannt. Xia hatte Mühe alles im Kopf zu sortieren, doch dann wurde ihr etwas anderes bewusst.
„Heißt das, Xiang war auch hier?“, fragte sie fassungslos.
Chiwa hob verwundert die Augenbrauen. „So, wolltest du ihn gerne sehen? Wenn dann hast du ihn nur knapp verpasst.“
Xias Flügel verkrampften sich. „Ich hasse ihn!“, schrie sie. „Ich will ihn nie wieder sehen! Wo ist mein Vater?! Und meine Mutter?!“
Chiwa hob mahnend den Flügel. „Nun zügele mal deine Zunge!“
Ihr Blick wanderte zu Tongfu. „Also, was ist jetzt? Hast du nicht ausgeführt, was ich wollte?“
„Ich sagte doch, dass ich einen Grund dazu haben“, verteidigte sich der Gecko.
Die Pfauenhenne nahm den Gecko beiseite und scheuchte ihn in einen Gang, wo sie ungestört miteinander reden konnten.
Dann entfächerte die Pfauenhenne ihren Fächer und sah ihn streng an. „Also, ich höre.“
„Die Geflohenen sind nicht wie angenommen wieder nach Hause geschippert“, erzählte Tongfu. „Sondern unterwegs abgestiegen. Sogar ganz in der Nähe. Ich dachte, Sie wollten dann selber ihnen direkt den Hals durchschneiden. Oder was auch immer.“
Chiwa überlegte. „Mm, klingt zwar frohlockend. Doch mir deswegen die Mühe zu machen… Nein, geh vor wie vereinbart. Überbring ihnen die Nachricht, dass sie mir meinen Neffen ausliefern sollen, sonst kann er sich seine Bälger als Wodupuppen ins Fenster hängen.“
Der Gecko knöterte genervt und zuckte die Achseln. „Na schön, dachte nur, der Panda könnte sonst wieder Ärger machen. Wenn er schon damals einen Pfau mit Waffen übers Kreuz legen konnte. Sieht nicht so aus als ob der Rest von den andern dumm ist, wenn die uns schon so austricksen konnten.“
Chiwa legte die Stirn in Falten und ihr Blick wanderte dabei zu Xia rüber, die immer noch unter den Klauen des Geiers kauerte.
„Warte mal einen Moment“, befahl sie und hielt mit dem Fuß den Gecko am Schwanz fest.
„Hey!“ Entrüstet zog Tongfu seinen Schwanz wieder an sich. Doch die Pfauenhenne kümmerte sich nicht länger um ihn und kehrte in den Spiegelsaal zurück. Xia schaute zu ihr auf, während Chiwa misstrauisch auf sie herabblickte.
„Du scheinst deinen Ex-Vater nicht sonderlich zu mögen, oder?“, fragte die dunkle Pfauenhenne belanglos.
Xia verengte verbittert die Augen. Chiwa war dieser Ausdruck nicht entgangen und redete weiter.
„Ich hab so allerhand gehört, was er angestellt hatte“, fuhr sie mit neutraler Stimme fort. „Zum Beispiel auch, dass er ziemlich milde davongekommen ist, nachdem er beinahe jeden von euch umgelegt hatte.“
Xia schnaubte. Sie ärgerte sich bis heute noch, dass Xiang nicht wenigstens in den Kerker geworfen wurde.
„Tja“, meinte Chiwa und fächelte sich erneut Luft mit dem Fächer zu. „Wegen ihm, habe auch ich einen Verlust erlitten, den er nie wieder gut machen kann.“ Sie seufzte. „Er war nicht immer ein braver Junge gewesen, weshalb ich ihm eine harte Strafe unterziehen möchte, die man ihm nie gegeben hatte. Doch als ich das tun wollte, sind mir die anderen dazwischengekommen. Vielleicht werden sie es ja noch einmal verhindern. Offensichtlich sympathisieren sie sehr mit meinem verkommenen Neffen, sodass ich etwas Überredenskunst mit Hilfe der drei Sprösslingen benötige. Ich wollte ihnen damit nur einen Tausch vorschlagen.“
Xia schwieg betroffen. Chiwa drehte sich zu ihr um. „Und was ist mit dir? Möchtest du das auch?“
Xias Flügel verkrampften sich.
Da war noch viel mehr, was ihr die Zornesglut hochtrieb….
Vor über 20 Jahren…
Das kleine Pfauenküken-Mädchen konnte nicht um Hilfe schreien. Selbst wenn sie es täte, so würde man sie nicht hören. Das Zimmer ihrer Mutter war zu weit entfernt und ihre Türe war abgeschlossen. Ängstlich drückte sie sich in die Ecke von ihrem Kinderzimmer.
Der blaue Pfau stand drohend vor ihr und schaute böse auf sie herab. Irgendetwas Metallisches blitzte im Mondlicht auf.
„Ich werde dich lehren dich nicht gegen mich zu stellen!“
Er kam näher. Das Mädchen begann zu weinen…
„Also?“, hakte Chiwa nach. „Würde es dir gefallen, wenn er eine harte Strafe erhält?“
Xia sah zu ihr entschlossen auf. „Ja, das will ich!“
Die dunkle Pfauenhenne sah sie etwas überrascht an. Doch dann zuckte sie die Achseln. „Dann machen wir es doch kurz und einfach. Du sorgst dafür, dass Xiang zu mir kommt, und erhältst dafür deine Brüder.“
Xia hob die Augenbrauen. „Tun Sie ihnen auch nichts an?“
Chiwa rümpfte den Schnabel. „An ihnen hab ich kein Interesse. Ich will nur ihn. Richtete es so ein, dass du Xiang an meine Leute an einer bestimmten Stelle übergibst. Er wird irgendwo von deinen Freunden draußen versteckt gehalten. Dann bekommst du auch deine drei Brüder. Sobald Xiang bei mir ist, werden auch die andern freigelassen.“
Xia riss die Augen auf. „Die anderen? Heißt das…?“
„Ich hab sie nur in einen Raum sperren lassen“, beruhigte Chiwa sie. „Es geht ihnen gut. Ich möchte nur ungern mir Ärger einhandeln.“ Sie hob die Augenbrauen. „Oder ändert das etwas an deiner Entscheidung?“ Sie wedelte wieder mit ihrem Fächer vor ihr Gesicht. „Es sei denn du willst, dass Xiang doch eventuell ungeschoren davonkommt. Obwohl mir das sehr missfallen würde…“
„Nein, ich mach was Sie wollen!“, fuhr Xia ihr dazwischen. „Wenn sie dafür jeden freilassen.“
„Aber natürlich. Solange du tust, was ich dir sage.“
Sie beobachtete die junge Dame ganz genau. Es schien ihr etwas zuwider zu sein, ihren Eltern etwas zu verschweigen. Doch dann kamen Xia die Bilder ihrer Kindheit wieder in den Sinn, die sie zum frösteln brachte.
„Ich bin einverstanden“, rief Xia. „Was genau soll ich tun?“
Chiwa kicherte innerlich. Heute musste ihr Glückstag sein.
Es war schon später Mittag, als Po sich endlich dazu aufraffte sich etwas zu bewegen. Seit Stunden wartete er schon auf Wangs Rückkehr und das ganze Rumsitzen machte den Drachenkrieger allmählich nervös. Ständig hatte er das Gefühl von jemanden beobachtet zu werden und schaute hinter jeden Strauch nach.
Schließlich schüttelte er über sich selber den Kopf. „Das ist doch lächerlich“, murmelte er. „Po, du brauchst etwas Ablenkung.“
Er strich sich über seinen Bauch. Aber er hatte schon bereits zu Mittag gegessen. Als der Panda Yin-Yu neben dem Haus mit Shenmi erblickte, die gerade wieder mit ein paar Puppen spielte, gab Po sich einen Ruck und ging zu ihnen rüber.
„Hey!“, begrüßte er die beiden.
Yin-Yu lächelte ihn an. „Oh, hallo.“
„Schon irgendetwas gehört von Wang?“, fragte Po hoffnungsvoll.
Doch Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Leider nein.“
Der Panda seufzte enttäuscht. Dann wanderte sein Blick auf Shenmi herunter.
„Und bei dir? Alles okay?“
Er hatte immer noch Gewissensbisse von dem was heute alles vorgefallen war. Doch das Mädchen schien sich wieder gut erholt zu haben und hielt ihm sogar eine Puppe hoch.
„Die hat doch was von ihrem Vater“, dachte Po mit einem Lächeln. Dann sah er sich suchend um.
„Wo ist Shen?“, fragte er.
„Dort drüben“, antwortete Yin-Yu und deutete einen Hügel hoch.
Po legte die Stirn in Falten. Dachte der Pfau schon wieder nach? Allmählich fragte sich der Panda, ob er sich für diese Art der Beschäftigung des weißen Herrschers ein Wort überlegen sollte. Doch Po verwarf diesen Gedanken wieder und krackzelte den Hügel hoch. Shen bemerkte ihn zwar, grüßte ihn aber nicht sofort. Erst als der Panda zu einem Räuspern ansetzte, reagierte er.
„Was ist dein Gesuch, Panda?“, fragte Shen mit ruhiger, bedächtiger Stimme.
„Was sollte den diese Aktion vorhin?“, fragte Po.
„Wovon redest du?“
Po zuckte die Achseln. „Also, ich hab eher gedacht, du würdest ihm an die Gurgel gehen.“
Shen verzog etwas die Schnabelwinkel. „Panda, ich bin nicht so unkontrolliert wie du denkst.“
Po hob verwundert die Augenbrauen. „Wirklich nicht?“
Der weiße Pfau verschränkte beleidigt die Flügel und sah ihn streng an. „Hast du etwas anderes gedacht?“
„Nein, nein, natürlich nicht. Ich dachte nur…“
Po musste wieder an damals denken. Shens Wutanfall auf dem Schiffswrack in Gongmen war ihm immer noch tief in Erinnerung. Oder Shens Zerstörungsdrang. Damals war ihm völlig egal gewesen, wen er in die Luft jagte. Hauptsache der Weg war für seinen Eroberungsfeldzug frei gewesen.
„Was hast du wieder gedacht?“, hakte Shen nach.
Der Panda winkte ab. „Nichts für ungut. Ich wollte mich nur erkundigen, ob ich mir keine Sorgen machen muss, dass zwischen euch beiden wieder ein Krieg ausbricht.“
Er lächelte verschmitzt, was Shen weniger amüsant fand.
Po sah ihn neugierig an. „Äh, was soll eigentlich jetzt mit ihm passieren?“
Shen wich seinem Blick aus. „Das ist ein Punkt, über dem wir uns nicht unterhalten müssen.“
Der Panda verzog die Mundwinkel. „Mit anderen Worten, du weißt es nicht. Oder du willst nicht darüber nachdenken.“
Der Pfau drehte ihm den Rücken zu. „Wenn du nur deswegen hierhergekommen bist, dann wäre es das beste für dich, wenn du das Gespräch beendest.“
Po schnaubte, doch er gab nach. „Na schön. Aber etwas möchte ich noch wissen.“
Shen hob eine Augenbraue. „Und das wäre?“
Der Panda trat näher an ihn heran. „Hast du Yin-Yu schon was erzählt?“
„Was meinst du?“
„Von deinen Schwächeanfällen. Hast du mit ihr darüber geredet?“
Shen seufzte genervt. „Nein.“
Po war nicht unbedingt eingeschnappt über diese kurze Antwort, wollte aber nicht jetzt schon aufhören darüber zu sprechen.
„Na schön, wenn du schon nicht mit ihr darüber reden willst, dann sag mir, wenn du dich nicht gut fühlst. Hast du heute schon was geha…?“
„Panda!“, schnitt Shen ihm das Wort ab. „Ich schätze es zwar, dass du offensichtlich denkst, meinen Leibarzt zu spielen, aber ich kann immer noch gut auf mich selber achtgeben. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Ich hab Kämpfe geführt, da warst du noch nicht auf der Welt gewesen!“
Pos Gesicht verfinsterte sich für einen kurzen Moment.
„Die Kämpfe hab ich in meinem ersten Lebensjahr noch mitbekommen“, dachte er, sprach es aber nicht aus. Er wollte keinen alten Streit aufkommen lassen. Stattdessen senkte er reuevoll den Blick. „Na gut, aber sag mir falls was ist. Ich will nicht die Verantwortung tragen, wenn deine Frau um dich trauern muss.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und suchte sich einen Platz auf der Wiese in der Sonne.
Shen sah ihn mit verkrampfter Haltung nach. Es ärgerte ihn maßlos, dass dieser Panda sich jetzt auch noch so ähnlich aufführte wie seine Familie, die ihn ständig eingesperrt hatten. Nie durfte er wie andere Kinder sein, aus Angst, dass er wieder krank werden könnte.
Seine Federfinger krallten sich in seine Robe. Dann schaute er an sich herunter. Wieso ließ sein Körper ihn ausgerechnet jetzt im Stich?
Er kniff die Augen zusammen. In Augenblicken wie diesen würde er am liebsten schreien, doch da es jeder hätte hören können, zog er es vor seinen Platz zu verlassen und seinen Frust in einem Spaziergang abzureagieren.
Nachdenklich beobachtete Yin-Yu wie Shen sich entfernte. Po lag mehrere Meter weiter weg im Gras und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Sie seufzte. Sie war froh, dass es zwischen den beiden einigermaßen entspannt zuging und sie hoffte, dass es für die Zukunft auch so bleiben würde.
„Entschuldigung.“
Sie drehte sich verwundert um, als sie Lius Stimme hinter sich hörte. Die junge Pfauenhenne sah sie verlegen an und rieb sich nervös die Flügel.
„Was dagegen, wenn ich Ihnen etwas Gesellschaft leiste?“, fragte sie.
Yin-Yu nickte. „Natürlich nicht.“
Lius Blick wanderte zu Shenmi. „Ich wollte mich nochmal für die ganzen Unannehmlichkeiten entschuldigen“, begann sie. „Ich weiß nicht, ob es anderes gekommen wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte.“
Yin-Yu lächelte ihr aufmunternd zu. „Das ist schon in Ordnung. Ich weiß wie schwer es mit ihm sein kann.“
Liu senkte den Blick. „Nun, ich kenne ihn noch nicht lange…“ Sie schaute schüchtern zu der Lady hoch. „Wie lange waren Sie miteinander verheiratet gewesen?“
Yin-Yu seufzte schwer. Sie sprach nur ungern darüber.
„Fast 20 Jahre.“ Sie hielt kurz inne. „Genauer gesagt, 19 Jahre und 6 Monate bis ich mich von ihm getrennt habe.“
Liu legte leicht den Kopf schief. „Und Ihre Ehe… war nicht so gut gelaufen, oder?“
„Hat er dir was davon erzählt?“
Liu schüttelte den Kopf. „Darüber hatte er nie gesprochen. Das Einzige was er gut konnte, war sich über mich zu beschweren.“
Yin-Yu musste etwas schmunzeln. „Ja, das kann er gut.“
Liu legte kurz eine Pause ein, bevor sie weitere Fragen stellte. „Warum ist es zwischen Ihnen und ihm nie besser geworden?“
Da musste Yin-Yu selber kurz nachdenken. „Nun, er hat nie etwas an sich herankommen lassen. Wir lebten in der Ehe so distanziert wie Feuer das Wasser meidet.“
Liu hob die Augenbrauen. „Haben Sie gewusst, dass er nachts Albträume hat?“
Die Pfauenlady schien sich darüber zu wundern, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, wir haben nie zusammen in einem Zimmer geschlafen. Ich durfte nachts nicht mal mit meinen Kindern zusammen sein. Jede Nacht musste jeder in seinem eigenen Zimmer bleiben. Er selber schloss die Türen immer ab. Ab und zu ist er sogar nachts herumgeschlichen und hat geprüft, ob die Türen auch wirklich verschlossen waren.“
Lius Flügel spannten sich ein wenig an. „Warum hat es dennoch nie mit ihm funktioniert?“
Yin-Yu schaute auf die Landschaft hinaus. „Auch wenn er nett zu mir gewesen wäre, so hab ich Shen zuerst geliebt und das hat sich auch nie geändert. Selbst wenn Shen gestorben wäre, so hätte nie einer sein Platz in meinem Herzen ersetzen können.“
Sie schaute wieder zu Liu, die wiederum ziemlich nachdenklich aussah. „Also lag es hauptsächlich daran, dass er nicht der Mann war, für den Sie jede Bemühung geopfert hätten.“
Yin-Yu sah sie verwundert an. „Wie steht es denn bei dir?“
Liu errötete leicht unter den Federn. „Äh, nun… was soll ich sagen? Ich bin eigentlich nur seine Pflegerin.“
Yin-Yu war nicht so überzeugt, dass die jüngere Pfauenhenne wirklich so dachte. „Aber du wünschtest dir, es wäre mehr, oder?“
Liu wich ihrem Blick aus. Wieder erinnerte sie an die erste Begegnung mit Xiang. War es doch nur Mitleid mit ihm gewesen, oder… oder redete sie sich das andere nur ein?
„Hey, da kommt Wang!“, schrie Po und rannte an ihnen vorbei den Hügel runter.
„Wurde aber auch Zeit“, murmelte der weiße Pfau, der noch ihn Hörweite stand und sich ebenfalls runter ans Dorf begab.
An den ersten Häusern war Wang schon vorbei und schaute die Herankommenden verlegen an.
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, entschuldigte er sich. „Aber die meisten meiner Leute waren außer Dienst gewesen.“
„Macht doch nichts“, nahm Po seine Entschuldigung an.
„Es wäre jedoch schon von Nöten zu wissen was Sache ist“, mischte Shen sich ein.
Wang nickte und kam auch gleich zur Sache. „Also soweit ich das beurteilen kann, wäre das Stürmen des Palastes kein Problem. Ich kann so viele Soldaten einsetzen, dass wir die ganze Stadt auf den Kopf stellen können.“
„Und was bringt uns das am Ende?“, fragte Shen misstrauisch. „Damit erreichen wir höchstens, dass sie sich aus dem Staub macht. Ich nehme doch an, dass sie jeden toten Winkel in der Stadt kennt, oder?“
Der Hunnenkönig zuckte die Achseln. „Tja, oder ihr kommt ihrem Willen nach und gebt ihr was sie will.“
„Das werden Sie doch nicht tun, oder?“, fragte Liu erschrocken, die ebenfalls angelaufen kam.
Po rieb sich übers Kinn. „Oder, ich meine, wenn wir sie nicht einfangen können, dann müssten wir sie eben herauslocken.“
Lius Augen weiteren sich. „Sie wollen Xiang als Köder auslegen? Das wird er nicht akzeptieren!“
„Aber wenn er weiß, dass ihm dabei nichts passieren kann…“
„Er traut niemanden“, beharrte Liu auf ihre Aussage. „Er wird nein sagen.“
Shen verengte die Augen. „Und wie sollen wir sonst vorgehen, wenn ich mir die Frage erlauben dürfte?“
Darauf wusste Liu erst mal nichts zu antworten. Schließlich konnte sie nur noch eines sagen: „Man kann ihn nicht dazu zwingen. Ich halte das für keine gute Idee.“
In diesem Moment kam einer der Ochsen-Soldaten angelaufen, der die ganze Zeit am Fuße des Hügels zum Dorf gestanden hatte. Wang sah ihn überrascht an.
„Was gibt es denn?“
„Das ist eine Dame“, erklärte der Ochse. „Sie sagt, ihre Eltern wären hier.“
Alle sahen überrascht auf, doch ihre Verblüffung wurde übertroffen, als auf einmal ein bekanntes Gesicht hinter dem Soldaten auftauchte.
„Xia?“
Die Pfauenhenne winkte schüchtern mit dem Flügel. „Hallo.“
Po fiel die Kinnlade runter. „Was machst du denn hier?“
„Ich vermute, sowas ähnliches wie Shenmi.“
„Xia!“
Im nächsten Moment kam Shenmi angelaufen und rannte auf ihre große Schwester zu, die sie in die Flügel nahm. Mittlerweile hatte sich auch Yin-Yu nach unten ans Dorf begeben und war völlig von der Rolle ihre große Tochter zu sehen.
„Kind, wie kommst du denn hierher?“, fragte sie.
Po konnte in ihrer Fragerei nur miteinstimmen. „Ja, und überhaupt, woher wusstest du, dass wir hier sind?“
Xia setzte ihre kleine Schwester ab und rannte auf ihre Mutter zu, ohne die Fragen zu beantworten.
„Ich bin ja so froh, dass es dir gut geht“, sagte sie erleichtert und umarmte sie.
Dabei fiel ihr Blick auch auf ihren Vater, der hingegen aber weniger über ihr Auftauchen erfreut zu sein schien. Man sah ihm zwar an, dass er überrascht war, doch dann wandelte sich seine Verwunderung in verärgerte Besorgnis.
„Warum bist du hierhergekommen?“, begann er ernst. „Du solltest doch mit den anderen in Gongmen bleiben.“
Po sah sich aufgeregt um. „Oh, sind die anderen etwa auch hier?“
Xia biss die Schnabellippen zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. „Tut mir leid, aber ich musste kommen. Ich hab mir Sorgen um euch gemacht.“
Shen verengte die Augen. „Außer uns wusste niemand, dass wir hier sind und nicht mehr in Mendong. Wie hast du uns gefunden?“
Xia rieb sich nervös den Nacken. „Man hat mir auf dem Hinweg berichtet, dass man euch hier gesehen hatte.“
Das rief in Po einen Schock hervor. „Oh weiha! Wenn schon andere uns gesehen haben, dann wird sich das wohl rumgesprochen haben. Wir müssen jetzt sofort handeln, bevor sie uns noch auflauert. Vielleicht ist sie sogar schon hier!“
„Was ist denn eigentlich genau passiert?“, wollte Xia wissen.
Po hielt mitten in seinem nervösen Gerede inne. „Das ist eine verworrene, lange Geschichte.“
Po berichteten in kürze was sich ereignet hatte. Xia kannte zwar schon die halbe Geschichte, als die dann auch noch die andere Version hörte, wurde ihr klar, was alles dahintersteckte. Nachdem der Panda seine Erzählung beendet hatte, konnte Shen es nicht unterlassen einen Tadel auszusprechen.
„Du siehst, du hättest wirklich nicht hierherkommen sollen.“
Xia senkte ihren Blick. „Tut mir leid. Aber ich musste kommen.“
„Wir sollten uns jetzt besser einen Plan überlegen“, drängte Po.
Damit war Shen ausnahmsweise einverstanden. „Gut. Aber am besten drinnen, nicht draußen.“
Wang hatte nichts dagegen. „Meinetwegen.“
Während die anderen zu den oberen Häusern hochmarschierten, wandte sich Yin-Yu an Xia. „Kind, du musst doch bestimmt müde sein.“
Xia lächelte leicht. „Es geht schon. Sag mir eines, Mutter. Wo ist Xiang jetzt genau?“
Ihre Mutter sah sie überrascht an. „Nun, dort drüben.“ Sie deutete auf die kleine Hütte weiter oben. „Aber reden wir besser nicht mehr darüber. Komm, ich bring dir was zu essen.“
Sie führte Xia ins Haus. Doch noch ehe sie über die Türschwelle trat, tauchte Shen auf einmal neben ihr auf. Xia sah ihn etwas ängstlich an. Der Blick ihres Vaters war sehr ernst.
„Bist du mit einem Schiff hierhergekommen?“, erkundigte sich Shen.
Xia schluckte. „Ja.“
Das Lügen bereitete ihr Bauchschmerzen. Zu ihrer Erleichterung nickte Shen nur und begab sich zu einem anderen Haus, wo Po und Wang sich schon drinnen versammelt hatten. Auch Liu war mitgekommen, nur um sicher zu gehen, dass man nichts hinter Xiangs Rücken beschloss.
Xia sah ihrem Vater noch eine Weile nach, dann wanderte ihr Blick zur Hütte rüber.
Zwei Wachen standen davor. Xia verengte die Augen. Das erschwerte die ganze Sache. Da musste sie sich etwas einfallen lassen.
„Mutter!“, rief sie in den Essraum.
Yin-Yu hob den Kopf. „Ja?“
„Ich vertrete mir noch kurz die Beine. Bin gleich wieder da.“
Sie wollte schnell weg, doch Shenmi hielt sich noch an ihrem Hemdzipfel fest. „Darf ich mitkommen?“
Doch Xia lehnte ab. „Nein, du wartest hier. Ich komme gleich wieder.“
Mit diesen Worten hechtete die Pfauenhenne ums Haus herum, ging kurz hinter dem Hügel und kam anschließend in einem gehenden aber schnellen Tempo in die Nähe der Hütte heran.
„Entschuldigung“, rief sie den Wachen zu. „Ich glaube, ich hab jemanden herumschleichen sehen.“
Die beiden Wachposten warfen sich verwunderte Blicke zu.
„Jemanden herumschleichen sehen?“ wiederholte einer von ihnen ungläubig.
Xia nickte. „Ja, es war klein und schuppig. Ich glaube, es war ein Gecko.“
Bei diesem letzten Wort läutete bei beiden die Alarmglocken. „Wo hast du ihn gesehen?!“
Xia zeigte den Hügel runter in den Wald am Ende des Dorfes. „Dort unten. Er ist dort verschwunden. Schaut doch mal nach. Vielleicht holt ihr ihn noch ein.“
Sofort rannten die beiden Ochsen-Wächter los. Kaum waren sie außer Sichtweite griff Xia schnell unter ihr Hemd und zog einen Dolch hervor. Mit zittrigen Federfingern strich sie darüber. Mit einem Schlag verspürte sie Angst. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Sie versteckte den Dolch unter dem Flügel und öffnete die Tür von der Hütte.
Genervt erhob sich der blaue Pfau, als sich die Tür heute zum x-ten Mal öffnete. „Meine Güte! Könnt ihr mich nicht einmal in Ruhe lassen?!“
Er erstarrte, als er in der Tür nicht wie angenommen Liu, sondern seine ehemalige Tochter stehen sah.
„Was willst du denn hier?“, knurrte er sie an. „Willst du dich jetzt auch noch an mir auslassen? Das wird nicht funktionieren.“
Xia verengte die Augen. „Ich hab keine Zeit für eine Plauderstunde mit dir, weshalb ich es kurz machen möchte.“
Sie zog den Dolch hervor. Xiang riss die Augen auf. „Was willst du damit?“
„Wir werden jetzt an einen Ort gehen, wo wir ungestört reden können.“
Xiang wurde zwar etwas Bange bei dem Anblick, hatte aber bei weitem nicht so eine große Angst wie vor Liu, Yin-Yu oder Chiwa.
Der blaue Pfau atmete einmal tief durch. „Na, na, wo ist denn mein kleines Mädchen, das versprochen hatte brav zu sein?“
Er versuchte seine aufkommende Panik zu unterdrücken, auch wenn seine Flügel leicht zitterten. Xia war immer noch das verschüchterte kleine Küken, was er zum Gehorsam gezwungen hatte. Er war sich sicher, dass sie diesen Gehorsam nicht so leicht brechen würde.
Erst als Xia ihn wütend anstierte, war er sich doch nicht mehr so sicher.
„Was bist du denn?“, spottete er. „Denkst du wirklich du kannst mich damit erstechen? Hast du schon mal jemanden erstochen? Komm schon. Das bringst du doch nicht fertig.“
Er lachte heiser, wenn auch mit etwas zittriger Stimme.
Xia stieß ein Schnauben aus. „Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, dass du von damals kennst, und herumkommandieren konntest wie es dir passte.“
Xiang verengte die Augen, behielt aber seinen gehässigen Gesichtsausdruck wie eine Maske. „Wie nett. Dann bin ich gespannt, wie du mich hier herausholen willst.“
Er deutete auf sein lahmes Bein. „Lach ruhig darüber. Weglaufen kann ich eh nicht, aber auch nicht weggehen.“ Er lächelte kalt, als er Xias zögernde Haltung bemerkte. „Sieh einer an. Meine Erziehung bei dir scheint ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben.“
Die darauffolgende Ohrfeige von Xias Flügel ließ ihn zu Boden fallen. Das ernüchterte den blauen Pfau fürs erste. Keuchend erhob er sich und sah zu Xia hoch. Das Mädchen hatte feuchte Augen, hielt die Tränen der Wut aber noch zurück. Stattdessen packte sie ihren ehemaligen Vater am Flügel und zerrte ihn hoch.
„Nur einen Laut und ich kann noch härter zuschlagen!“, fauchte sie ihn an.
Mit einem verärgerten Gesichtsausdruck rieb sich Xiang über seine Wange. „Dein Vater ist wirklich ein unverfrorener Straßenvogel.“
Shenmi reckte den Hals. Sie fand es sehr merkwürdigt, dass Xia einfach so in die Hütte dürfte. Dem kleinen Mädchen stockte der Atem, als sie Xia mit Xiang herauskommen sah, wobei Xia ihn mehr hinter sich her schleifte. Shenmi wusste nicht was sie machen sollte und verharrte in ihrem Versteck in einem Gebüsch.
Xia sah sich nochmal um, dann zerrte sie den blauen Pfau in den Wald.
„Jetzt hör endlich auf dem Unsinn!“, befahl Xiang, allerdings stieß er bei seiner ehemaligen Tochter auf taube Ohren. Es wäre für ihn vielleicht kein Problem gewesen, Xia mit ein paar Schlägen außer Gefecht zu setzen, allerdings hielt sie immer noch den Dolch im Flügel, was ihn von diesem Vorhaben abhielt.
Nach einer Weile kamen sie an einer Lichtung an, wo Xia den Pfau absetzte. Dort richtete Xiang sich etwas auf seinem gesunden Bein auf und stierte Xia an. Diese wiederum hielt den Dolch weiterhin schützend vor sich.
Xiang kicherte spöttisch. „Ach, komm schon. Das wirst du nicht wagen. Man wird nicht darüber erfreut sein, dass du einen Wehrlosen niederschlägst.“
Xia verengte die Augen. „Wer sagt denn, dass ich dich töten werde?“
Noch ehe Xiang über ihre Worte nachdenken konnte, raschelte es auf einmal in einem der Büsche. Xiang entwich die Farbe unter seinen Federn, als er die Geckos hinter ein paar Sträuchern auftauchen sah, dicht gefolgt von Laishi und ein paar anderen Geiern.
„Das wurde aber auch Zeit“, knurrte Tongfu. „Der Job fing langsam an langweilig zu werden.“
Xiangs entsetzter Blick wanderte zu Xia. Sie wiederum sah ihn nur emotionslos an.
„D-das hast du nicht getan!“, schrie er sie an. „Sag mir, dass du das nicht getan hast!“
Xia schaute weg.
Tongfu hingegen konnte über seine Verzweiflung nur lachen. „Und ich hoffentlich auch, dass es das letzte Mal sein wird, dass wir dich einfangen müssen. – Packt ihn!“
Xiang sprang soweit er konnte und wich noch ihren Griffen aus, doch das genügte nicht. Hätte er fliegen oder weglaufen können, hätte er vielleicht eine Chance gehabt, doch es war ein leichtes für die Geckos ihn am Ende zu fassen und zu fixieren.
„Lasst mich los!“, schrie er sie an. „Ich gehe nicht wieder zurück!“
Einer hielt ihm den Schnabel zu, während der Rest damit begann ihn zu fesseln.
„Da hast du schon recht“, meinte Tongfu belanglos. „Du wirst nicht gehen, aber wir fliegen dich zurück.“
Laishi kicherte und setzte noch einen drauf. „Nett gesagt. Nicht der letzte Gang, aber der letzte Flug.“
Xiang wehrte sich wie verrückt. Seine letzte Hoffnung wäre eventuell noch Xia, doch von ihr konnte er am aller wenigsten Hilfe erwarten. Sie schaute ihn noch nicht einmal an. In seiner Not wollte er schreien, doch als man ihm den Schnabel verschnürte, war auch diese Mühe umsonst.
„Na los, rein mit dir!“ Mit aller Gewalt packten sie den Pfau in einen großen Sack und banden die oberen Enden zu.
„Und wo sind jetzt meine Brüder?“, wollte Xia wissen.
Tongfu grinste. „Natürlich kannst du sie haben.“
Er schnippte mit den Fingern, woraufhin ein anderer Geier mit einem kleinen Sack auftauchte.
„Hier, bitte sehr.“
Der Sack fiel Xia vor die Füße. Verwundert starrte sie darauf. Der Beutel schien zwar mit etwas gefüllt zu sein, doch er wirkte viel zu leicht. Hastig öffnete sie ihn. Doch alles was sie da herausholte waren lauter kleine herausgerissene Pfauenfedern.
Entsetzt ließ die den Beutel fallen. „Was habt ihr mit ihnen gemacht?! Das ist gegen die Vereinbarung!“
Tongfu zuckte die Achseln. „Sorry, Kleine. Mit diesen Resten musst du dich begnügen. Aber Miss Chiwa hat andere Pläne mit den Jungs. Je weniger Pfaue es auf der Welt gibt, desto besser für ihr Image.“
Xia ballte die Fäuste vor Zorn. „DU ELENDER…!“
Im nächsten Augenblick traf sie ein harter Schlag auf den Hinterkopf. Bewusstlos sank sie zu Boden.
„Aber du wirst auch nichts mehr sagen“, kommentierte Tongfu trocken. „Niemand wird es erfahren.“
Laishi rieb sich die Flügel. „Ich sehe, heute wird ein arbeitsreicher Tag für mich.“
So langsam begann Xia sich wieder zu regen und der Gecko wollte es schnell beenden. Er gab dem anderen Gecko, der ihr so hart auf den Kopf geschlagen hatte, ein Zeichen.
Dieser verstand und griff nach dem Dolch, den Xia hat fallen lassen. Anschließend packte er das Mädchen an den Kammfedern und drückte die Klinge an ihre Kehle.
Plötzlich trat jemand den Gecko so heftig, dass dieser durch die Luft geschleudert wurde. In der nächsten Sekunde stellte sich ein weißer Vogel der Bande in den Weg, direkt vor Xia.
Tongfu knirschte mit den Zähnen. „Wie zur Hölle kommt der denn hierher?!“
Shen positionierte sich in Angriffsstellung und fauchte sie wütend an. „Wehe ihr rührt sie noch einmal an!“
Der Gecko stieß einen Schrei aus. „Tranchiert ihn!“
Shen hatte sich in aller Eile einen Stock im Wald besorgt und schlug damit blitzschnell um sich. Die herangesprungenen Geckos konnte er locker abwehren. Doch als auch noch Laishi und seine Geierbande anrückte, ging das dem Pfau an seine Leistungsgrenze. Dennoch kämpfte er verbissen weiter.
Laishi erhob sich hoch in die Luft und ging in Sturzflug über. „Aus dem mache ich einen weißen Vogelengel und häng ihn über meine Tür.“
Shen zeigte keine Angst vor seinem Angriff. Er nahm Anlauf und sprang den herannahenden Geier entgegen. Doch plötzlich geriet er ins Taumeln. Er versuchte wieder die Kontrolle über sich zu bekommen, doch sein Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. In seinem halben Blackout sah er noch den Schatten auf sich zurasen. Doch dann verschwand dieser urplötzlich aus einem Blickfeld als, ein gewaltiger Schlag den Geier zur Seite katapultierte.
Zitternd stand Shen auf seinen Beinen und starrte auf Po, der ganz plötzlich neben ihm aufgetaucht war, mit erhobenen Fäusten.
„Hey, wollt ihr wieder eins auf die Finger haben?!“
Tongfu rief zum Rückzug auf. „Los wir hauen ab!“
In Sekunden schnelle hatten sich Geckos und Geier wieder gesammelt. Die Reptilien schwangen sich auf die Vögel und flogen mit ihnen davon. Po sprang vor und erwischte einem der Geier noch an den Schwanzfedern, doch der Flugstart war zu schnell, sodass der Panda am Ende nur ein paar Federn in den Pfoten hielt. Entrüstet beobachtete er wie die Bande sich durch die Luft davonmachte.
„Verdammt!“, schimpfte er.
Er drehte sich zum keuchenden Pfau um. „Alles okay?“
Shen atmete ein paar Male tief ein und aus. „Kümmer dich nicht darum“, stieß er hervor und sein Blick wanderte zur am Boden liegenden Pfauenhenne.
„Und was willst du der feinen Lady jetzt erzählen?“, fragte einer der Geckos Tongfu.
Der Gecko knurrte ihn gereizt an. „Wir müssen es ihr ja nicht sofort auf die Nase binden. Hauptsache wir haben erst mal ihn.“
Er deutete auf den Stoffbeutel, den einer der Geier in den Krallen hielt. Allerdings bemerkte dieser nicht, dass er ein paar kleine Gramm mehr wog. Ohne, dass es jemand bemerkte, hatte sich Shenmi an den Stoffsack festgekrallt. Ängstlich schaute das weiße Mädchen nach unten und hielt sich noch fester an den Stoff fest. Sie spürte, wie Xiang trotz seiner Gefangenschaft im Beutel heftig zappelte. Sie kniff die Augen zusammen und wünschte sich ihr Vater wäre wenigstens bei ihr.
„Kind, komm wieder zu dir!“
Xia blinzelte. Ihr Kopf tat furchtbar weh. Sie lag im Halbdunkeln und konnte nur schwer sofort was erkennen. Erst als sich ihre Mutter zu ihr herunterbeugte, riss sie die Augen auf.
„Mutter?“ Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie befand sich auf einem Bett in einem Zimmer. „Was ist passiert?“
„Das frage ich eher dich“, meldete sich die Stimme ihres Vaters zu Wort.
Erschrocken schaute sie neben sich. Shen stand mit verschränkten Flügeln am anderen Ende des Bettes und sah streng auf sie herab. „Du bist nicht mit dem Schiff gekommen, habe ich nicht recht?“
Xia senkte den Kopf.
Jetzt tauchte auch Po auf. „Woher weißt du das?“, wollte der Panda wissen.
Shen verdrehte die Augen und warf ihm einen genervten Blick zu. „Das Schiff fährt seit gestern Nacht zurück. Wenn sie auf den Flussweg gekommen wäre, dann hätte es ihr zweifelsohne begegnen müssen und hätte sofort gewusst was los war.“ Sein Blick fiel wieder auf seine Tochter. „Aber du redetest nur davon, dass man es dir unterwegs erzählt habe. Wäre es unser Schiff gewesen, wärst du bestimmt anfangs nicht so ruhig geblieben.“
Xia schnappte nach Luft und zog den Kopf nur noch weiter ein. Yin-Yu sah sie mitleidig an. Doch noch ehe sie etwas sagen konnte, stürmte Liu auf sie zu und packte sie an den Schultern.
„Was hast du mit Xiang gemacht?!“, schrie sie sie an und schüttelte sie heftig.
Yin-Yu ergriff sie von hinten und versuchte sie wegzuziehen. „Beruhige dich bitte“, flehte sie. „Lass sie doch erst mal reden.“
„Lass mich los!“, herrschte Liu sie an.
„Wenn du sie schlagen willst“, ging Shen dazwischen, „dann musst du zuerst gegen mich antreten.“
Liu hielt inne. Der weiße Pfau sah sie herausfordernd an. „Willst du das?“
Die Pfauenhenne schluckte. Im Kämpfen hatte sie keine Erfahrungen, und sie wusste, wie gut Shen kämpfen konnte. Mit geduckter Haltung zog sie sich freiwillig etwas zurück.
„Sie hat sie.“
Alle sahen Xia überrascht an.
„Wer hat wen?“, fragte Yin-Yu.
„Alle“, flüsterte sie.
Po sprang auf. „Jetzt sag doch mal was los ist!“
Xia rang nach Luft. „Chiwa hat die Meister, und meine Brüder.“
Po fiel die Kinnlade runter. „Hä? Wie jetzt?“
Yin-Yu beugte sich zu Xia vor und versuchte irgendwie Augenkontakt zu ihr zu finden. „Kind, was ist denn passiert?“
Shen sagte nichts, doch man merkte, dass er angespannt war. Po sah ihn verständnislos an, oder war Shen in Wahrheit genauso aufgeregt wie die anderen?
„Man hat sie entführt“, fuhr Xia stoßweise fort. „In Gongmen. Geckos mit Geiern waren aufgetaucht, und haben die drei mitgenommen. Wir sind ihnen dann nach, mit Adlern sind wir ihnen nachgeflogen… Viper, Crane und Mantis sind ihnen direkt hinterher, wir haben sie aber nicht mehr gesehen.“
Bestürzt hielt ihre Mutter sie an den Schultern. „Warum hast du uns das nicht sofort gesagt?!“
Xia sagte nichts, stattdessen begann sie leise zu schluchzen. „Ich sollte ihr Xiang übergeben…“
Po konnte sich das gar nicht erklären. „Aber wir hatten doch einen Plan, oder zumindest fast… zumindest waren wir kurz davor gewesen einen Plan zu entwickeln.“
Yin-Yu hatte ihre Tochter inzwischen soweit bekommen, dass sie sie ansah. „Xia, warum? Das passt doch nicht zu dir.“
„Sie hätte den anderen doch was angetan“, brachte Xia mühsam hervor.
„Und dafür musstest du ihn ins Messer laufen lassen?!“ Wieder wollte sich Liu auf sie stürzten, doch Po konnte sie gerade noch im letzten Moment abfangen. Wang stand still in einer Ecke und wusste nicht, ob er sich einmischen sollte. Liu war immer schwerer zu bändigen.
„Wie konntest du das tun?! Wie konntest du das tun?!“
„Schluss jetzt!“, schrie Shen und schob seinen Flügel zwischen die beiden.
„Sie hatte kein Recht dazu!“, schrie Liu ihn an.
„Aufhören!“ Shen stieß sie brutal zur Seite. „Ich will nichts mehr davon hören!“
Diese Zurechtweisung ließ die junge Pfauenhenne vorerst erstarren. Mit großen Augen sah sie den weißen Pfau an. Dann begann sie zu zittern. Yin-Yu legte beruhigend ihre Flügel auf ihre Schultern.
Shens Seitenblick fiel auf Xia, die ihr Gesicht in den Flügel vergraben hatte.
„Geht raus“, befahl Shen mit gefasster Stimme. „Ich möchte kurz mit ihr alleine reden.“
Er tauschte einen kurzen Blick mit Yin-Yu aus. Diese nickte. Sanft schob sie Liu aus dem Zimmer. Auch Wang zog sich schnell zurück. Shens mahnender Blick fiel auf Po. „Panda, das gilt auch für dich.“
Po seufzte. „Na schön.“ Er entfernte sich, wobei er nicht vergaß die Tür hinter sich zuzumachen. Als Shen und Xia endlich alleine waren, kehrte Stille ein. Es wurde so still im Raum, dass man das raschelnde Geräusch von Shens Robe hören konnte, wenn er sich bewegte. Xia saß immer noch auf dem Bett. Zwar hatte sie die Flügel wieder runtergenommen, starrte stattdessen aber jetzt teilnahmslos auf den Boden. Shen hingegen stand direkt vor ihr und schaute sie schweigend an. Die Augen des weißen Pfaus waren immer noch etwas angespannt. Dann seufzte er.
„Xia, ich bin nicht hier, um dich zu rügen“, begann er mit ruhiger Stimme. „Aber ich möchte dennoch den Grund wissen, warum du sogar dafür soweit gegangen bist, zu lügen.“ Er machte eine kurze Pause. „Doch bestimmt nicht nur, weil sie deine Brüder in ihrer Gewalt hat. Da steckt doch noch mehr dahinter.“
Sie schwieg und Shen startete einen neuen Versuch.
„Willst du es mir nicht sagen?“
Wieder hüllte sie sich in Schweigen.
Shen drehte sich um, und verschränkte die Flügel auf seinen Rücken. „Ich weiß, dass er kein guter Vater gewesen war. Selbst ich weiß noch nicht mal, ob ich je ein guter Vater für euch gewesen wäre, wenn zwischen mir und deiner Mutter nie etwas dazwischen gekommen wäre.“
Er schaute hinter sich. An Xias Haltung hatte sich immer noch nichts geändert. Sie saß immer noch da mit gesenktem Blick. Shen verengte die Augen.
„Xia, du kannst mir nichts vormachen. Es sei denn, du zögerst deine Erklärung absichtlich hinaus, damit er keine Überlebenschance hat.“
Erst jetzt zuckte die junge Pfauenhenne ein wenig zusammen.
„Ganz gleich wie sehr du ihn hasst, ich weiß wie es ist den Drang zu verspüren, jemanden so tief in den Abgrund zu stoßen, dass nichts mehr von ihm übrigbleibt.“ Er schmunzelte leicht. „In dieser Hinsicht bist du mir irgendwie ähnlich.“
Xia umarmte sich selber. Shen hob die Augenbrauen und drehte sich jetzt vollständig zu ihr um und ging sogar ein paar Schritte auf sie zu.
„Xia, ich kenne dich jetzt seit fast 6 Jahren“, fuhr Shen fort. „Und ich kann die Zeit nie mehr zurückdrehen bis zu deiner Geburt, aber ich kann nicht in dich schauen was in den Jahren davor war.“ Er sah sie eindringlich an. „Warum hast du so einen großen Hass auf ihn?“
Langsam hob sie den Kopf und sah ihn an.
Als sich ihre Blicke trafen, wich sie seinen Augen schnell wieder aus. Doch Shen wartete geduldig bis sie den Schnabel bewegte.
„Mutter weiß nichts davon“, begann sie leise. „Ich war gerade ein paar Jahre alt gewesen…“
Vor knapp 20 Jahren…
Xiang frühstückte immer alleine. Im Grunde nahm er sogar jedes Essen alleine ein, sodass selbst eine Mahlzeit keine Gelegenheit bot, als Familie miteinander zu sprechen. So kam es, dass man sich erst überhaupt sah, wenn der blaue Pfau sich von seiner Mahlzeit am Morgen erhob und die Türen zu den Räumen aufschloss, damit man auch den anderen das Frühstück auf ihre Zimmer bringen konnte. Außer ihm war niemand diese Aufgabe zuteil und er tat es stets in Begleitung von Wachen. Zuerst schloss er das Zimmer von seinem Sohn Sheng auf. Sheng war schon immer fertig angezogen und wartete nur darauf sein Frühstück zu erhalten. Im Grunde war er der Einzige, dem von allen dreien mehr Freiheiten erlaubt waren. Wenn sein Vater ihm die Erlaubnis erteilte sein Zimmer zu verlassen, war der erste Anlauf immer der Trainingsplatz, obwohl er erst 5 Jahre alt war. Aber das geschah erst, nachdem er sein Frühstück beendet hatte.
Als nächstes kam seine Frau Yin-Yu an der Reihe. Auch sie war immer fertig angezogen und wartete brav an einem Tisch, wenn ihr Mann das Zimmer betrat. Dann neigte sie immer schweigend den Kopf. Sie redeten so gut wie nie miteinander. Vor allem da Xiang es ihr verboten hatte. Nachdem auch sie ihr Essen erhalten hatte, begab er sich zuletzt immer ins Zimmer von seiner Tochter. Normalerweise war auch sie immer fertig, wenn er hereinkam, doch an diesem Tag, war es anders. Kaum hatte der blaue Herrscher die Tür aufgeschlossen kam ihm ein aufgeregtes kleines Pfauenmädchen in Schlafanzug entgegen.
„Daddy, ich hatte einen Albtraum!“
Sie warf sich gegen ihn und klammerte sich an seiner Robe fest. Doch er schob sie von sich.
„Warum bist du noch nicht fertig?!“, herrschte er sie an.
Das verschreckte Mädchen blieb ängstlich vor ihm stehen und schaute mit großen Augen zu ihm hoch. „Aber ich hatte Angst.“
Xiang schnaubte abfällig. „Mach dich nicht lächerlich. Zieh dich an, sonst kannst du das Frühstück vergessen!“
Er drehte ihr kalt den Rücken zu, zog sich in den Flur zurück und schlug die Tür laut zu. Er wartete ein paar Minuten, dann trat er ohne Vorwarnung wieder ins Zimmer. Zu seiner Zufriedenheit war das Mädchen fertig angekleidet.
Am gleichen Abend…
Das Tablett vom Abendessen war abgedeckt. Kaum hatten die Bediensteten das Zimmer von Yin-Yu mit den Tellern verlassen, schloss Xiang die Tür ab, die er erst wieder am nächsten Morgen öffnen würde. Als letztes kam wie immer Xias Zimmertür dran. Wenigstens hatte auch sie brav ihren Teller leergegessen. Die Bediensteten räumten den Tisch ab. Doch als Xiang gerade im Begriff war, die Tür zuzumachen, rannte das Mädchen schnell auf ihn zu.
„Daddy! Ich will zu Mama!“
Xiang meinte sich verhört zu haben und sah sie empört an. „Nein! Jeder bleibt in seinem Zimmer!“
„Aber ich habe Angst. Vielleicht träume ich heute schon wieder sowas schlimmes.“
„Und ich hab dir gesagt, dass das nicht in Frage kommt! Jeder schläft in seinem eigenen Bett!“
„Aber ich kann gar nicht schlafen!“
„Dein Pech.“
Doch noch ehe der blaue Pfau aus dem Zimmer gehen konnte, klammerte sich Xia an sein Bein fest. „Bitte, bitte, bitte!“
„Ich sagte, nein!“
Der blaue Pfau schüttelte sie ab. Doch dann rannte Xia an ihm vorbei in den Flur, doch Xiang bekam sie noch am Arm zu fassen.
„Hab ich dir nicht befohlen, im Zimmer zu bleiben?!“, fauchte er.
Xia sah ihn bockig an. „Ich werde solange nicht aufhören bis ich zu Mama darf!“
Xiang holte mit dem Flügel aus. Zuerst sah es so aus, als würde er sie schlagen wollen, doch dann hielt er inne. Ein kaltes Lächeln glitt über seinen Schnabel.
„So, du willst also nachts nicht alleine sein?“
Das Pfauenmädchen schüttelte den Kopf.
Der Flügel des blauen Pfaus ballte sich zu einer Faust, ließ sie aber wieder sinken.
„Ich sehe, ich habe dich in letzter Zeit wohl ziemlich oft alleine gelassen, nicht wahr?“
Seine Stimme klang seltsam monoton, doch das Mädchen dachte sich nichts dabei. Zu ihrer Überraschung ließ er sie los.
„Na schön“, sagte er. „Ich lasse die Tür auf, aber du gehst nur raus, wenn du auch wirklich Albträume hast.“
„Darf ich dann zu Mama?“, fragte Xia ungläubig.
Xiangs Mundwinkel hoben sich erneut. „Aber natürlich darfst du das.“
„Danke, Daddy!“ Überglücklich umarmte das Mädchen ihren Vater. Doch Xiang erwiderte diese Umarmung nicht. Er stand nur da, sein Gesicht überzogen von Schatten. Er sah seiner Tochter noch nicht mal nach wie sie wieder in ihrem Zimmer verschwand.
Es war schon fast eine Stunde her, seit das Mädchen sich ins Bett begeben hatte. Sie traute sich zuerst nicht die Augen zuzumachen. Der Albtraum von letzter Nacht jagte ihr immer noch Angst ein, war aber ein wenig beruhigter, dass sie jederzeit zu ihrer Mutter laufen konnte.
Auf einmal hob sie den Kopf. Sie meinte ein Geräusch auf dem Flur gehört zu haben. Nach einer Weile der Stille legte sie sich wieder hin. Doch im nächsten Moment fuhr sie hoch. Jemand hatte die Tür aufgemacht. Ein Schatten betrat das Zimmer.
„Wer ist da?“, fragte das Mädchen mit erstickter Stimme.
Der Schatten trat ins Mondlicht und enthüllte die Gestalt von Xiang. Zuerst freute sich seine Tochter ihn zu sehen, doch dann hielt sie inne. Irgendetwas war an der Haltung des Pfaus höchst unnatürlich. Seine Flügel hingen an ihm herunter, er selber stand kerzengerade, sein Kopf hoch aufgerichtet. Seine Augen waren weit offen, als wäre ihm ein Geist begegnet. Sein Blick war auf seine Tochter gerichtet.
„Daddy?“ Xia sah ihn verwundert an. „Was ist los?“
„Du hattest mir doch zugestimmt, dass ich dich zu oft alleine gelassen haben, nicht wahr?“, begann er mit tonloser Stimme.
Xia zog etwas den Kopf ein. Irgendetwas an ihm jagte ihr Angst ein. Als habe nicht er, sondern eine andere Person seinen Körper übernommen.
Xiang stand zuerst völlig bewegungslos vor ihrem Bett. Doch dann hoben sich wie auf Kommando seine Mundwinkel zu einem merkwürdigen Grinsen. „Fein, dann kann ich das nachholen, was ich vorhin versäumt habe.“
Xia erschrak, als er ein Messer unter seinen Flügel hervorholte.
„Was willst du damit?“, fragte sie unsicher.
Doch statt einer sofortigen Antwort ging er an ihrem Bett entlang, bis er an das Kopfende ankam. „Du hast mir heute widersprochen“, sagte er von oben herab. „Kleine Kinder werden immer bestraft, wenn sie ihrem Vater nicht gehorchen.“
Er hob das Messer an. Xia sprang panisch aus dem Bett und wollte zur Tür rennen. Doch Xiang rauschte an ihr vorbei und versperrte ihr den Fluchtweg. Zu ihrem Entsetzen zog er auch noch den Schlüssel hervor und verschloss die Tür. Anschließend hob er wieder das Messer.
Xia sah sich hastig nach einem Versteck um. Ihr Blick fiel auf ihr Bett. Sie rutschte über den Boden und wollte unter dem Bett verschwinden, doch Xiang schlitterte ihr hinterher. Er packte sie am Bein und warf sie zur Seite. Xia landete in einer Ecke des Zimmers.
Ihr blieb keine Zeit mehr erneut wegzulaufen, denn im nächsten Augenblick war Xiang schon bei ihr. Ängstlich presste sie sich gegen die Wand. Ihre Augen suchten nach dem Messer, das er irgendwo versteckt hielt. Das kleine Pfauenküken-Mädchen konnte nicht um Hilfe schreien. Selbst wenn sie es täte, so würde man sie nicht hören. Das Zimmer ihrer Mutter war zu weit entfernt und ihre Tür war abgeschlossen. Ihre Atmung beschleunigte sich vor Angst.
Der blaue Pfau stand drohend vor ihr und schaute böse auf sie herab. Wieder blitzte das Messer im Mondlicht auf.
„Ich werde dich lehren, dich nicht gegen mich zu stellen!“, hallten ihr Xiangs Worte in den Ohren.
Er kam näher. Das Mädchen begann zu weinen. Als er seinen Flügel nach ihr ausstreckte, schrie sie auf.
„NEI…!“
Er hielt ihr den Schnabel zu. Anschließend packte er sie und drückte sie auf das Bett. Ihr kleiner Körper hatte keine Chance gegen seine Kraft. Er beugte sich über sie. Seine Augen stierten beinahe teuflisch auf sie herab.
„Na, hast du jetzt immer noch Albträume, oder nicht?“ Er drückte sie noch tiefer ins Kissen. „Sonst werde ich in Zukunft dein Albtraum sein. Und ich garantiere dir, dass du nie wieder schlafen wirst.“ Er drückte ihr auf die Kehle. Das Mädchen strampelte mit den Füßen und versuchte ihn zu treten. Doch der große Pfau stellte einen Fuß auf ihre Beinchen. Nachdem diese bewegungsunfähig waren, nahm er seinen Flügel von ihrem Mund und streckte ihren kleinen Flügel auf dem Bett aus. Er stützte seinen Ellbogen auf ihren Brustkorb ab. Dann tauchte wieder das Messer auf, das sich auf ihren Flügel herabsenkte. Mit aller Kraft versuchte sie ihren Flügel wegzuziehen, sodass Xiang Mühe hatte sie zu fixieren.
„Halt still!“, zischte er.
Das Mädchen wandte sich in seinem Griff. „Nein, nein, nein…“
Sie schrie auf, als das Messer ihre dünne Haut unter den Federn durchschnitt. Im nächsten Moment presste er ihr erneut seinen Flügel auf ihren Mund, sodass sie fast erstickte.
Xiangs Gesicht war jetzt ganz dicht über ihr und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Solange du lebst“, raunte er ihr unheilvoll zu. „Solange bleibst du in meinem Haus.“ Er hielt ihr das Messer vors Gesicht. „Entweder die Tür bleibt jede Nacht geschlossen, oder ich komme jede Nacht zu dir durch die offene Tür.“ Die Klinge berührte ihren Schnabel. „Und solltest du dich noch einmal nicht fügen… dann muss ich dich nochmal bestrafen.“
Wieder wanderte das Messer zu ihrem Flügel. Sie riss die Augen auf und schrie durch seinen Flügel auf ihrem Schnabel.
„Nein!“ Xia schrie auf und hielt sich den Kopf. „Er hat nicht aufgehört!“
Schnell umfasste ihr Vater ihre Flügel. „Wie kommt es, dass Mutter es nicht am nächsten Tag bemerkt hatte?“
„Xiang behauptete ich wäre krank“, brachte Xia mühsam hervor. „Mutter durfte nicht zu mir, unter den Vorwand sie könnte sich anstecken. Über eine Woche.“
Shen verengte die Augen. „Hat er dich dann wieder so misshandelt?“
Ihre Fingerfedern drückten sich um seine Flügel. „Ab und zu ist er nachts in mein Zimmer gekommen und war herumgeschlichen wie ein Raubtier. Nur einmal hatte er mir das Messer an meine Kehle gehalten, während ich im Bett lag und mit einem Lächeln zu mir gesagt: „Du hast keine Macht über mich.““ Xias Flügel verkrampften sich. „Er hatte gelacht. Nur gelacht.“
Sie schaute zu ihrem Vater auf. „Seitdem hab ich ihn nie mehr um irgendetwas gebeten und die Türen blieb dann auch immer verschlossen. Und er hat mir gedroht, sollte ich Mutter was davon erzählen, würder er mich umbringen.“ Sie schluckte schwer. „Ich weiß, es war wohl nicht richtig gewesen, aber verstehst du… ich war so wütend gewesen, als er damals nicht so hart bestraft wurde… ich hab mich so betrogen gefühlt… und gerade heute… da ist mir alles wieder hochgekommen.“
Sie zuckte zusammen, als Shen ihr über den Kopf strich. „Tu mir den gefallen und sag mir in Zukunft immer alles.“ Er hob ein wenig die Mundwinkel. „Zumindest das Notwendigste.“
Xia kniff die Augen zusammen und die Tränen kullerten ihr über die Wangen. Dann fiel sie ihm um den Hals und weinte. Ihre Federfinger krallten sich in seine Robe am Rücken.
Shen sagte nichts. Er ließ ihren inneren Schmerz freien Lauf. Langsam schlang er seine Flügel um sie. In diesem Moment, bedauerte er es zutiefst, dass er nicht schon damals für sie da gewesen war, als sie ihn am meisten gebraucht hatte. Warum hatte sein Instinkt ihn nie gerufen oder bestand keine instinktive Bindung zu seinen Kindern? Der weiße Pfau seufzte schwer und schwor sich, dass da nie wieder passieren würde.
Draußen vor dem Haus marschierte Po unruhig auf und ab. „Meine Güte, das dauert aber lange. Wir müssen langsam los.“
Yin-Yu hatte sich mit Liu auf eine Bank zurückgezogen. Die Jüngere hatte sich inzwischen wieder beruhigt, aber ihre Flügel waren immer noch verkrampft auf ihren Beinen gepresst.
Yin-Yu reichte ihr ein Taschentuch. Liu nahm es dankbar entgegen und tupfte sich die Augen ab. Suchend sah Yin-Yu sich um. Bei der ganzen Aufregung hatte sie was Wichtiges vergessen und es war ihr erst jetzt bewusst geworden, dass jemand fehlte.
„Po, hast du eigentlich Shenmi irgendwo gesehen?“
Der Panda sah sie verwundert an. „Äh, nein, hab ich nicht.“
„Entschuldigung.“
Alle waren mehr als überrascht, als auf einmal ein Schaf auftauchte.
„Ich war eben beim Holzsammeln gewesen“, berichtete es. „Ich hab gesehen wie eine Schar von Geiern über die Wälder geflogen war. Und an einem Stoffbeutel hing ein weißes Etwas fest. Ich dachte, es könnte vielleicht sein… aber ich dachte, ich frage mal nach…“
Yin-Yu sprang auf. „Shenmi! Oh nein! Sie wird doch wohl nicht jetzt bei dieser Verrückten sein!“
Po fuhr der Schock in die Glieder. Zum Glück kam endlich Shen durch die Tür. Sofort rannte seine Frau auf ihn zu. „Shen! Shenmi ist weg! Man hat gesehen wie sie weggeschleppt wurde nach Mendong!“
Shen schnaubte verärgert und verfluchte Xiang heute zum millionsten Mal. Wieso musste er auch seinen Vater so ähnlichsehen? Shenmi war einfach hin und weg von seiner Erscheinung.
„Das ist nicht eure Schuld. Ich hätte es wissen müssen, aber anscheinend kann ich noch nicht mal auf mein eigenes Kind aufpassen.“
Po sah ihn verwundert an. „Wie kommst du denn jetzt auf sowas?“
Shen schüttelte den Kopf. „Darüber können wir ein anderes Mal reden.“ Er schaute zur Sonne hoch. „Es ist gerade mal knapp eine halbe Stunde her. Aber ich bin sicher, dass wir uns nicht unbedingt Sorgen um sie machen müssen. So wie ich das beurteilen kann, wird sie sich zuerst an Xiang zu schaffen machen.“
Das veranlasste Liu von der Bank aufzuspringen. „Macht ihr euch den keine Gedanken um ihn?! Meinetwegen kann er euch egal sein! Aber mir nicht! Vielleicht ist es ja auch schon zu spät!“
In diesem Moment meldete sich Wang zu Wort. „Wenn es so dringend ist, dann bleibt uns wohl keine andere Wahl als das Gebäude zu stürmen.“
„Und was ist, wenn sie uns sieht und noch einen unserer Freunde umlegt?“, gab Po zu Bedenken. „Das können wir nicht riskieren.“
Shen schnaubte und drückte Yin-Yu beruhigend aber entschlossen an sich. „Alles hat einen Schwachpunkt. Auch ein Gebäude.“
„Ich wüsste, wie wir da unbemerkt reinkommen können.“
Alle sahen Liu verwundert an. Diese räusperte sich geräuschvoll. Wahrscheinlich um eine erneute Panikattacke zu unterdrücken. „Am Fuße des Berges gibt es einen Zugang zu den Geheimgängen. Allerdings führt dort nur ein einziger Lift nach oben, es könnten nur ein paar auf einmal reinkommen, aber wir würden nicht auf die Gefahr laufen entdeckt werden. Zumindest solange man die Geheimgänge nicht bewacht.“
Po ließ sich auf den Boden fallen. „Das hätte man uns ja auch wirklich eher sagen können.“
„Dazu ist nicht die Zeit, Panda“, tadelte Shen ihn. „Nun kommt, wir verschwenden nur unnötig Zeit!“
Mit diesen Worten verschwand er ins Haus, wo er in die Küche ging. Dort holte er sich jedes Messer, dass er finden konnte.
„Was machst du da, Shen?“, fragte Po, der ihm gefolgt war.
„Was wohl? Ich bewaffne mich, das sieht man doch.“
„Aber du hattest doch gestern noch eine Operation gehabt“, gab Po zu Bedenken. „Das ist bestimmt nicht gut, wenn du jetzt schon…“
„Panda, ich kann hier nicht nur rumsitzen!“, fuhr Shen ihn an. „Glaub bloß nicht, ich hätte nie unter extremen Bedingungen gekämpft. Im Exil hatte ich schon Kämpfe ausgetragen, da war ich noch schlimmer dran gewesen!“
Er stieß den Panda beiseite und rauschte Richtung Haustür.
„Shen, warte!“, rief Po ihm nach. „Was ist mit deinem Schwächeanfall?“
Der Pfau hielt inne.
„Je mehr du dich anstrengst“, fuhr Po fort. „Desto eher ist die Wahrscheinlichkeit, dass im entscheidenden Moment deine Kräfte nachlassen.“
Shen schwieg, doch dann schlug er hart gegen den Türrahmen. „Egal was passieren wird… aber mich muss gehen.“
Er rannte nach draußen. Po stieß einen tiefen Seufzer aus. „Diese Dickköpfigkeit. Das muss in der Familie liegen.“
Chiwa stand seelenruhig in einem der vielen Zimmer und strich mit einem kleinen Schleifstein über ein Messer. Anschließend betrachtete sie die scharfe Klinge und strich mit der Fingerfeder drüber, die die kleinen Federäste sofort durchschnitten. Zufrieden legte sie das Messer auf ein Tuch auf einem Tisch ab, wo schon viele andere Messer drauf lagen, darunter auch Shens Federmesser, die sie dem weißen Pfau entnommen hatte. Schon seit Stunden wartete sie darauf, dass Tongfu zurückkommen würde. Ihre Warterei hatte ein Ende, als sich endlich die Tür öffnete.
„Na endlich!“, rief Chiwa und lief dem Gecko entgegen, wie ein Kind, dass sehnsüchtig auf sein Weihnachtsgeschenk gewartet hatte. Kurz vor dem Reptil blieb sie stehen und sah ihn erwartungsvoll an. „Und? Hast du es?“
Tongfu seufzte genervt. „Hier, bitte sehr.“
Die anderen Geckos schleiften einen Sack hinter sich her, den sie anschließend öffneten und den Inhalt auskippten. Der gefesselte blaue Pfau rollte über den Boden. Xiang hatte zunächst Mühe sich nach dieser ganzen Tortur zu orientieren. Als er Chiwa vor sich stehen sah, zog er den Kopf ein.
Seine Tante begrüßte ihn überschwänglich. „Ach, ich hab dich ja so vermisst!“
Sie schlang ihre Flügel um ihren Neffen, die Xiang alles andere als angenehm empfand. Er wandte sich heftig aus ihrer Umarmung und rutschte etwas von ihr weg.
„Na, na, na, du willst doch nicht so unhöflich sein, und eine Begrüßung von deiner Tante ablehnen, oder?“, tadelte sie ihn. „Aber da ein so besonderer Tag für dich heute ist, will ich mal darüber hinwegsehen.“
Sie lächelte ihn an, was Xiang den Horror hochfahren ließ. Verzweifelt zerrte er an seinen Fesseln. Chiwa schmunzelte amüsiert und legte einen Flügel auf seine Schulter.
„Nur die Ruhe, hier hört dich sowieso keiner. Ich hab sogar schon alles für dich vorbereitet.“
Ihre Federfinger krallten sich in sein Hemd. Xiang stieß einen dumpfen Schrei aus. Wegen der Schnur um seinen Schnabel konnte er nicht reden, was Chiwa aber in keinster Weise ausmachte. Stattdessen lachet sie und tätschelte seine Wange. „Immer noch so schreckhaft, wie süß von dir“, scherzte sie.
Dann fiel ihr Blick auf Tongfu. „Und hast du die unscheinbare Henne beseitigt, so wie ich es wollte?“
Der Gecko schluckte, ließ sich aber nichts anmerken. „Ja, alles ist so gelaufen wie geplant“, und kreuzte die Finger auf dem Rücken. „Können wir jetzt unseren Lohn haben?“
„Erst wenn ich meinem Neffen sein letztes Geleit gegeben habe.“
Ihr Blick fiel wieder auf Xiang, der trotz seines gefesselten Zustandes versuchte, wegzukriechen. Doch Chiwa packte ihren Neffen an den gefesselten Flügeln.
„Nun komm, wir haben eine Menge nachzuholen – als Familie.“
Sie schleifte ihn über den Boden, da konnte der blaue Pfau sich wehren und jammern so viel er wollte. Tongfu musste wohl oder übel noch auf sein Geld warten, und er hoffte nur, dass es nicht zu lange dauern würde. Er zog sich mit seinen Leuten in den Gang zurück und ließ die beiden alleine, ohne dabei die kleine weiße Gestalt zu bemerken, die sich zwischen die Säulen an der Wand des Zimmers geschlichen hatte und das Geschehen beobachtete.
So langsam wachten Viper und Crane wieder aus ihrer Betäubung auf. Zuerst wussten sie nicht, wo sie sich befanden und sahen sich um. Schließlich mussten sie feststellen, dass sie in einem Käfig saßen, der an einer Kette von der Decke baumelte. Rund um sie herum war es dunkel, nur eine Fackel spendete Licht.
„Hey, Leute, geht es euch gut?“, hörten sie die Stimme von Mantis, der in einem noch viel kleineren Stahlkasten mit Luftlöchern neben ihnen hing.
„Ich denke schon“, antwortete Viper und bewegte ihr noch teils taube Zunge.
„Wo sind die Kinder?“, fragte sie, als sie nicht entdecken konnte.
„Die haben sie in eine andere Zelle gesteckt“, berichtete Mantis. „Dieser Palast scheint nicht nur viele Zimmer, sondern auch viele Kerkerräume zu besitzen.“
Crane und Viper tauschten unsichere Blicke aus.
„Was hat sie mit den Kindern gemacht?“, wollte Crane wissen.
Doch Mantis schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich weiß nur, dass einer von ihnen, ich glaube es war Zedong, mächtig geschimpft hatte, als man sie hier nach einer Weile hier heruntergebracht hatte.“
Viper zischte traurig. „Dann hat sie wohl ihnen weiter die Federn herausgerissen.“
„Na ja“, meinte Mantis. „Wenigstens sind wir noch alle am Leben.“
Crane seufzte. „Ja, fragt sich nur wie lange.“
„Die anderen sind noch draußen“, bemerkte Viper. „Ich bin sicher, dass sie uns noch rausholen werden.“
Ein paar Zellentüren weiter hockten die drei Pfauenjungen, allerdings nicht in einem Käfig wie die drei Meister. Man war sich wohl ziemlich sicher, dass sie nicht abhauen konnten. Im Moment waren die Kinder eh noch sehr durcheinander von den ganzen schlimmen Ereignissen. Chiwa war nicht gerade sanft mit ihnen umgegangen, als sie auch noch dem letzten die schönen kurzen Pfauenfedern entfernt hatte. Jian ging es am aller übelsten. Er war immer noch völlig verstört. Fantao hielt in trösten in den Flügeln. Einzig nur Zedong war mehr wütend als ängstlich. Empört ging er in der Zelle auf und ab und trat immer wieder gegen die Kerkertür.
„Diese blöde Pute!“, fauchte er und rieb sich über seinen Hintern. Wenigstens war das restliche Gefieder noch dran, sodass er keine kahlen Stellen besaß.
„Ich will zu Mama!“, jammerte Jian.
Zedong knurrte leise. „Mama ist aber nicht hier.“ Er setzte sich auf den Boden und starrte wütend vor sich hin. „Du ich schwöre dir, wenn ich die zu fassen kriege, dann schlag ich sie in Grund und Boden.“
Fantao seufzte. „Lass uns lieber warten. Vielleicht holt uns ja jemand hier raus.“
Zedong schaute zweifelnd zur Tür. „Wenn einer kommen wird dann Dad.“ Er schaute zu Jian rüber, der sich wieder seine kleine Pipa genommen hatte und die Saiten ein wenig zupfte. Zedong versuchte zu lächeln. „Kopf hoch, ich bin mir sicher, dass er kommen wird. Ihn kann nicht so leicht etwas aufhalten.“
Er dachte daran, wie er Shen manchmal bei seinen Kampfübungen beobachtet hatte. Damals wollte er unbedingt so sein wie er. Doch als er ihn gefragt hatte, ob er ihm seine Kampfkunst beibringen könnte, hatte sein Vater es merkwürdigerweise abgelehnt und bat ihn stattdessen mit Sheng zu trainieren. Zedong konnte sich das bis heute nicht erklären, schwor sich aber irgendwann genauso gut zu sein wie sein Vater. Er schlang seine Flügel um sich. „Dad, wo bist du?“
Im verschlossenen großen Raum, waren die anderen immer noch ratlos. Seit sich die zwei Türen geschlossen hatten, ist gar nichts mehr passiert.
„Wie lange müssen wir denn noch hierbleiben?“, beschwerte sich Meister Kroko, der es langsam nicht mehr länger in dem steinernen Gefängnis aushalten konnte.
„Ich kann nur hoffen, dass uns irgendwann noch jemand hier rausholt, bevor wir hier verhungern“, meinte Monkey besorgt.
Tigress, die immer noch gegen die Wand gelehnt stand, konnte diesem nur emotionslos zustimmen. „Falls Po nicht ebenfalls eingesperrt ist, dann haben wir eine gute Chance.“
„Solange ihn der weiße Vogel nicht ein Bein gestellt hat“, grunzte Meister Ochse verbissen.
Meister Kroko verdrehte die Augen. „Als ob er das nötig hätte. Wenn er erfährt, dass seine drei Jungs hier sind, wird er schon kommen.“
„Und was ist, wenn er uns hier schmachten lässt?“, knurrte Meister Ochse zurück.
„Ich bin ja auch noch hier“, mischte Sheng sich ein. „Von daher würde ich mir keine Sorgen machen, dass wir hier bis an unser Lebensende hier vergammeln müssen.“ Er verschränkte nachdenklich die Flügel und fragte sich, was aus Viper, Crane und Mantis und seinen Brüdern geworden ist. „Was immer auch mit den anderen passiert ist, ich hoffe nur, dass Xia sich in Sicherheit bringen konnte.“
Xiang zitterten vor Angst, während Chiwa die Seile um seine Flügel enger zog. Der blaue Pfau lag auf dem Rücken, ausgestreckt auf einem Tisch, seine Flügel und Beine mit jeweils einem Seil an einem Tischbein festgebunden. Nachdem das letzte Seil seinen Platz gefunden hatte, beschaute Chiwa sich zufrieden ihre Arbeit. Anschließend streckte sie ihren Flügel nach ihrem hilflosen Neffen aus und strich mit einem Federfinger über seinen Kopf, über seinen Schnabel, dann über seinen Hals. Der ganze Körper des Pfaus bebte unkontrolliert unter ihrer Berührung. Er murmelte etwas, was wie ein Flehen klang. Die Schnur trug er immer noch um seinen Schnabel. Doch seiner Tante ließ sein Bitten völlig kalt. Mit langsamen Schritten begab sie sich zum kleinen Tisch, wo die vielen Messer lagen. Mit einem wehmütigen Lächeln hob sie eines der Messer auf und betrachtete sich darin im Spiegelbild.
„Ach, mein lieber Xiang“, säuselte sie vor sich hin. „Ich dachte schon, ich müsste dich beerdigen, wenn mir schon die ersten grauen Federn gesprossen wären. Aber das wäre doch sehr unfein, oder?“
Sie schielte mit ihren dunklen Augen zu ihm rüber. Doch Xiang sah sie nicht an. Er starrte an die Zimmerdecke und atmete so schwer und schnell, dass sich sein Brustkorb sichtbar hob und senkte.
Chiwa schmunzelte und begab sich wieder zu ihm, wobei sie sich flüsternd zu ihm herunterbeugte. „Na, hat dich dein ehemaliges Töchterchen so nett zu mir geführt, dass du dich jetzt darüber ärgerst?“
In dieser Sekunde sog Xiang scharf die Luft ein. Die dunkle Pfauenhenne lachte.
„Hab ich den wunden Punkt getroffen, ja? Oh, tu kannst einem wirklich leidtun.“
Sie wandte sich wieder ab. Dem blauen Pfau stiegen inzwischen allmählich die Tränen in die Augen. Egal was andere behaupteten, aber für ihn war es klar, dass alle Frauen nur Verräter waren.
„Ich entschuldige mich für die Verzögerung“, redete Chiwa weiter, wobei sie das eine Messer wieder an seinen Platz legte und stattdessen eines von Shens Federmessern in den Flügel nahm. „Es wäre bestimmt schneller gegangen, wenn du dich nicht selber so tief in den Abgrund gestoßen hättest.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Ich frage mich, was deine Mutter heute von dir denken würde. Ihr eigener Sohn, von den Hunnen festgenommen? Wie peinlich.“
Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah tadelnd auf ihn herab. „Das hat mir die Arbeit doppelt erschwert. Denn man wollte nicht rausrücken, wohin sie dich verfrachtet hatten.“ Sie kam näher. Xiang spannte seine Muskeln an. Chiwa verzog den Schnabel und strich Xiang eine Feder glatt. „Also wirklich, du hast dich mit deinem Gefieder auch nicht gut gehalten. Du bist wirklich kein Ebenbild von einem Mann.“
Sie betrachtete das Federmesser in ihren Flügeln und drehte es nachdenklich. „Aber keine Sorge. Bald musst du dich nicht mehr länger mit deinem Aussehen herumquälen.“ Erneut strich sie über die scharfen Klingen. „Und eigentlich müsste ich diesem bleichen Vogel danken. Er hat meine Fantasie etwas angekurbelt.“ Xiang erstarrte, als sich das Federmesser zu ihm herabsenkte und sie die spitze Klinge auf seinen Brustkorb drückte. „Du kannst also genau dabei zusehen, wie dein Herz langsam aufhört zu schlagen.“
Ihr Blick wanderte zur Seite. „Und gib dir gefälligst Mühe. Deine Mutter schaut uns ebenfalls dabei zu.“
Xiang schaute zur Seite. Das Ölgemälde von seiner Mutter und seiner Tante stand nicht weit von ihnen entfernt an der Wand gelehnt. Xiang kniff die Augen zusammen, was Chiwa nur amüsierte.
„Das weckt Erinnerungen, nicht wahr?“, raunte sie ihm zu. „Nur wirst du diesmal keine Möglichkeit haben, dich deiner Strafe zu entziehen.“ Sie strich ihm über den Brustkorb. „Ich werde ihre Arbeit für sie beenden. Aber nach meiner Methode. Meine Schwester war da mehr ein Freund der Strangulation.“ Sie drückte ihm ein wenig den Hals zu. „Aber ich bevorzuge immer noch die scharfkantige Methode.“ Wieder hielt sie ihm das Messer vor. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er darauf. Chiwa kicherte. „Ich sehe, du willst es mir am liebsten aus dem Flügel reißen, nicht wahr?“
Sie erhob sich und legte ihm spaßeshalber das Federmesser in seinen linken Flügel. Xiangs Flügel zitterte, als er das Messer in seiner befiederten Hand spürte.
„Na, willst du es haben?“, spottete sie.
Xiang packte zu, doch Chiwa riss es ihm wieder aus der Hand. „Oh nein, du bekommst es nicht“, kicherte sie. „Böse Jungs bekommen gar nichts mehr. Ein Jammer, dass du ein böser Junge gewesen warst. Böse Jungs werde immer bestraft. Merk dir das. Immer.“
Xiangs Atmung beschleunigte sich. Dann zerrte er an den Seilen.
Ich war nicht böse gewesen! Es war Notwehr gewesen… absolute Notwehr…
Vor über 30 Jahren…
Er wollte um Hilfe schreien. Doch niemand konnte ihn hören. Nicht mal das Universum kam ihm zu Hilfe. Er schaute hinter sich. Nein, sie stand immer noch hinter ihm. Sie hatte absichtlich eine Pause gemacht, nur um ihn noch länger zu quälen.
Er schrie erneut auf, doch wegen dem Knebel im Mund erstickte er fast. Das war jetzt schon die 20te Feder seiner Farbenpracht, die sie ihm herausriss.
„Ich hab dir gesagt, du sollst mitzählen!“, fauchte eine Frauenstimme hinter ihm.
Der junge blaue Pfau schluckte schwer.
„Mpmff.pf.f“, murmelte er.
Die dunkle Pfauenhenne hinter ihm verschränkte genervt die Flügel. „Das konntest du wirklich schon mal besser… aber was solls.“
Etwas Metallisches fiel zu Boden. Der Pfau schaute hinter sich. Sie hatte das Messer weggeworfen und lag jetzt einen Meter von ihm entfernt.
„Es wird eh langsam Zeit, sich zu verabschieden.“
Sie entfernte sich. Wegen dem spärlichen Licht im Raum verlor er sie kurzfristig aus den Augen. Am liebsten wäre er jetzt weggelaufen, doch er konnte nicht.
Vergeblich rüttelte er an den Stricken. Seine Flügel waren an einer Säule zusammen festgebunden, sodass er mit dem Gesicht zum Balken stand. Er stöhnte erschöpft. Der junge Pfau war ein einziges Chaos, was seine Erscheinung anbelangte. Seine herausgerissenen Pfauenfedern lagen überall verstreut auf den Boden herum. Seine einst so ordentliche Robe war am Rücken durchtrennt, komplett auseinandergerissen. Sein Knebel war triefend nass vom den vielen Tränen, die ihm übers Gesicht liefen. Sein Rücken überzog blutige Stellen, die sie ihm mit dem Messer zugefügt hatte.
Er hörte sie leise kichern. Erneut stieg in ihm die Panik hoch.
Wieder wanderte sein Blick zum Messer rüber, das immer noch auf dem Boden lag. Er streckte seinen Fuß danach aus, doch er konnte es nicht erreichen. Verzweifelt zog er an den Stricken um seinen Flügeln und streckte sich weiter aus. Dabei berührte er eine der langen Schwanzfedern. Dann wusste er, was er machen konnte. Er packte mit seinen Krallen eine von den langen Federn und schob es Richtung Messer. Die Mitte der Feder konnte das Messer berühren. Keuchend zog er den metallischen scharfen Gegenstand näher und näher zu sich heran. Ihm blieb fast das Herz vor Aufregung stehen, als er das Messer endlich in seinem Fuß fühlte. Zitternd schob er das Messer weiter über den Boden, umklammerte den Griff und hob ihn zu seinen Flügeln, wo er sofort damit begann die Klinge an den Fesseln zu reiben.
Er erschrak, als sich ihm ein Schatten von hinten näherte. Im schwachen Licht erkannte er eine Schnur, die sie zwischen ihren Flügeln spannte. Sie lachte.
„Du warst wirklich ein ungezogener Junge gewesen.“ Sie zog seinen Kopf näher zu sich heran. „Jetzt wird es Zeit für einen Gute-Nacht-Kuss.“
Im nächsten Moment fühlte Xiang das Seil um seinen Hals, das sich schnell zuzog. Er rang nach Luft, aber wegen dem Knebel bekam er nur noch weniger Sauerstoff in die Lungen. Sie zog noch enger zu. Xiang wurde es langsam schwarz vor Augen. Doch das Messer hielt er immer noch feste umklammert. Schwer atmend rieb er die Klinge weiter an den Stricken, die seine Flügel zusammenhielten. Er bekam keine Luft mehr. Seine Schneidebewegungen wurden jetzt nur noch mechanisch durchgeführt. Er konnte nicht mehr denken. Seine Augen rollten nach hinten. Dann fühlte er wie sich der Strick um seine Flügel löste. Seine Flügel waren frei, das Messer hielt er in seiner Todesangst immer noch fest. Wie in Trance stach er damit hinter sich. Der darauffolgende Schrei hallte ihm noch lange in den Ohren. Er zog das Messer wieder zurück und stach nochmal zu, immer und immer wieder. Endlich ließ die Enge um seinen Hals nach. Zuerst drehte sich alles um ihn. Er wusste nur noch, wie er zu Boden sank. Es fühlte sich an, als würde er in eine Tiefe fallen, die ihn sanft auffing. Eine Weile lag er auf kalten Marmorstein. Er begann zu frieren. Alles schmerzte. Am meisten sein Kopf, der langsam durch die wiedergewonnene Luft wieder zu arbeiten begann. Allmählich verflog die Schwere. Mühsam erhob er sich. Etwas lag neben ihm, ausgestreckt und bewegungslos. Er fühlte etwas Merkwürdiges zwischen seinen Federfingern. Sein Blick wanderte auf den Boden. Da war etwas Nasses. Er hob seine Flügel und zerreib die dunkelrote Flüssigkeit zwischen seinen Federfingern. Sprachlos starrte er darauf. Dann wurde es ihm klar und begann zu zittern.
„Ich hab sie umgebracht, ich hab sie umgebracht…“
Xiang kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
„Nein, es war nicht meine Schuld gewesen!“, schrie er in Gedanken. „Sie war es gewesen, sie war es gewesen…!“
„Nun denn“, holten ihn Chiwas Worte zurück. „Fangen wir doch dort an, wo wir aufgehört haben.“
Xiang zog an den Seilen und schrie herum. „MMmOOOOO!“
Chiwa quittierte das nur mit einem schnippischen Wimpernzucken. „Tz, ich hab noch nicht mal angefangen, und schon brüllst du herum wie ein kleines Kind.“ Sie strich über die Messerklinge. „Du wirst wohl nie erwachsen.“
Das weiße Federmesser nährte sich ihm. Vergeblich versuchte der Pfau dem herannahenden Messer auszuweichen. Genervt hielt sie ihn fest. „Nun halt doch endlich mal still. Das ist ja furchtbar mit dir.“
„Hier muss es gewesen sein!“
Liu deutete auf eine Felsenwand. Schnell rannten alle dorthin. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis sie die geheime Tür gefunden hatten. Kaum war sie offen, rannte Liu zuerst rein, wobei sie auch noch den Militärarzt mitriss. Dieser hatte sich spontan dazu bereit erklärt mitzukommen. Für den Fall, falls es doch was für ihn zu tun gab.
„Okay“, rief Wang in die Runde. „Wer kommt noch mit?“
Diese Frage war hauptsächlich an die anderen gestellt. Für den Ochsen war es wohl keine Frage, dass Shen und Po auf jeden Fall mitkamen.
Huan meldete sich sofort freiwillig. Da er der Verwalter des Gebäudes war, konnte er sie am besten durch die Räume führen.
„Ich komme auch mit“, meldete sich Yin-Yu zu Wort.
„Ich auch“, schloss Xia sich an.
Shen verengte die Augen. „Ihr seid nicht trainiert genug. Ich kann nicht garantieren, dass man euch nicht angreift.“ Doch dann lächelte er. „Aber ich nehme an, dass ich euch eh nicht dazu überreden kann, draußen zu bleiben, oder?“
„Nein!“, verneinten die zwei Pfauenhennen.
Po verzog den Mund. „Das muss wieder in der Familie liegen.“
Er beugte sich zu Shen vor. „Fühlst du dich denn fit genug?“, raunte er ihm zu.
Shen schielte düster zu ihm rüber. „Bleibt mir eine andere Wahl?“
Wang nickte und wandte sich an seine Soldaten. „Na gut, die anderen warten draußen. Sobald wir das Signal geben, kommt ihr die Treppe hoch.“
Damit verschwand der Rest im Geheimgang.
„Jetzt beeilt euch doch bitte!“, rief Liu ihnen zu.
Po seufzte und hoffte, dass Xiang bei ihrer Ankunft noch an einem Stück war. Ansonsten befürchtete er, würde er sein Essen nicht im Magen halten können.
Xiang kniff die Augen zusammen. Die Klinge durchdrang seine Haut auf seinem Brustkorb, allerdings nicht tief. Chiwa grinste. Dieser Pfau wollte nicht schreien, aber sie war sich sicher, dass er es nicht mehr lange zurückhalten würde. Langsam fuhr sie mit dem Messer weiter runter.
„Hey, lassen Sie ihn!“
Chiwa fuhr hoch. Selbst Xiang riss die Augen auf. Zu seiner Erleichterung nahm seine Tante das Messer weg. Zitternd hob er den Kopf. Er konnte nicht glauben, was er sah. Shenmi hatte Chiwa am Kleid gepackt und zog kräftig daran.
Verärgert stieß die dunkle Pfauenhenne sie weg. „Verschwinde gefälligst, du kleines Gör. Erwachsene stört man nicht bei der Arbeit! - Tongfu!“
Sofort sprang die Tür auf und der Gecko eilte herein. „Was ist denn jetzt schon wieder…“
Er erstarrte, als er das Pfauenmädchen neben der Pfauenhenne stehen sah.
„Hast du dein Diplom im Selbständigem Denken in einem Kindergarten abgeschlossen, oder was?“, fuhr Chiwa ihn an. „Schaff mir gefälligst dieses Ding vom Hals!“
Zuerst stand Tongfu völlig verwirrt da. Doch dann nickte er hastig und packte das Mädchen an den Flügeln. Shenmi wehrte sich heftig.
„Lass mich los!“
Chiwa schnaubte entrüstet. „Dieses Federvieh ist die reinste Plage.“
Sie beugte sich erneut über Xiang und wollte dort weiter machen, wo sie mit dem Schneiden aufgehört hatte. Auf dem blauen Federkleid hatte sich inzwischen schon ein kleiner Blutfleck gebildet. Chiwa lachte und rieb mit ihrem Flügel über die blutverschmierte Stelle. Xiang wandte sich unter ihrer Berührung. Er wolle weg, nur weg von diesem Ort.
„Hey, lassen Sie ihn in Ruhe!“, schrie Shenmi.
Chiwa stieß ein genervtes Schnauben aus. „Meine Güte, bring das kleine Monster endlich weg!“
„Sofort.“ Tongfu zerrte das Mädchen hinter sich her. Shenmi stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Sie hörte Xiang laut schreien, wenn auch mit dumpfen Lauten. Chiwa hingegen verfiel in ein fieses Lachen.
„Lass ihn in Ruhe, du hässliche Gans!“
Tongfu erstarrte zur Salzsäule. Zuerst meine er sich verhört zu haben. Doch als jetzt auch noch Chiwa wie vom Donner gerührt dastand, da wusste er, dass sie wirklich das Wort gesagt hatte.
Hässlich.
Plötzlich drehte sich die Pfauenhenne zu ihr um. Ihr Gesicht war verzerrt von Wut.
„WIE?! WIE HAST DU MICH GENANNT?!“
Chiwa sah so fuchsteufelswild aus, dass sogar Tongfu eine Heidenangst bekam. Er wich zurück. Chiwa hatte mit dem Messer ausgeholt und ließ es auf das Mädchen niedersausen.
„ICH BRING DICH UM!“
Schreiend rannte Shenmi davon, hinaus in den Flur. Chiwa verfehlte sie nur ganz knapp. Das Federmesser bohrte sich in den Marmorboden. Wutschnaubend stand sie wieder auf. Ihr zorniger Blick wanderte zu Tongfu.
„Was stehst du hier herum?!!“, brüllte sie. „Fang das Gör gefälligst ein!!“
Sofort rannte Tongfu nach draußen und winkte seinen Leuten im Flur zu, die sich über das rennende weiße Mädchen sehr gewundert hatten.
„Und du!“ Chiwa richtete ihr Augenmerk kurz auf ihren Neffen. „Du rührst dich nicht von der Stelle! Ich komme gleich wieder!“
Sie ließ das eine Federmesser im Boden stecken und krallte sich ein anderes Messer. Kaum war sie aus dem Raum gerauscht, zerrte der blaue Pfau an den Seilen.
Es kam Liu wie eine Ewigkeit vor, bis der Lift endlich die oberste Etage erreicht hatte.
„Schon recht nützlich so ein Aufzug“, bemerkte Po anerkennend.
„Wir müssen hier lang“, wies Liu sie weiter an. „Von hier aus geht es in die Kellerräume.“
Liu lief den anderen immer weit voraus. Po war sich sicher, dass sie am liebsten alleine weitergelaufen wäre. Endlich kamen sie zur Geheimtür, die in den Keller führte. Der Panda sah sich verwundert um.
„Waren wir hier nicht schon mal gewesen?“
„Hört auf zu reden!“, schnitt Liu ihm das Wort ab. „Wir müssen ihn finden!“ Sie raste die Treppe hoch, den Arzt riss sie immer noch hinter sich her.
„Warte“, hielt Shen sie zurück. „Xia, weißt du, wo deine Brüder sind?“
Doch Xia schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab nicht gesehen, wohin man sie gebracht hatte.“
„Vermutlich im Kerker“, meinte Wang.
Shen nickte. „Gut, wir teilen uns auf. Ihr sucht im Kerker nach ihnen. Ich gehe mit ihr.“
Liu sah ihn verwundert an. „Mit mir?“
Shen warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Nicht wegen ihn!“, zischte er. „Wegen meiner Tochter.“
Liu zog demütig den Kopf ein. „Natürlich, tut mir leid.“
„Äh, ich sehe mich auch etwas im Gewölbe um“, meldete Po sich zu Wort. „Kann doch sein, dass meine Freunde dort auch sind.“
Shen hatte nichts dagegen. „Meinetwegen, mach was du willst.“
Er sah zu Yin-Yu. Diese umfasste seine Flügel. „Und du bist dir sicher?“
Insgeheim hoffte sie, dass Shenmi irgendwo gefangen gehalten wurde, und nicht in den Flügeln dieser Wahrsinnigen gelandet war. Doch Shen scheute sich nicht davor es zu vermuten.
„Falls Shenmi nicht im Kerker ist, werde ich sie höchstwahrscheinlich bei ihm finden.“
Er wandte sich ab. Er wollte nicht noch mehr Zeit vergeuden, was vor allem Liu nur recht sein konnte. Schnell verschwanden die zwei Pfauenvögel mit dem Militärarzt in die obersten Stockwerke.
„Tja“, begann Po nach einer Weile. „Dann sehen wir uns mal um. Mister Huan, wo genau geht es zum Kerker?“
Shenmi wusste nicht wie lange sie schon lief, aber sie spürte wie ihre Kräfte langsam nachließen. Dennoch konnte sie sich nicht entscheiden, in welchen Raum sie flüchten sollte. Ständig trieb sie die Angst vom Entdeckt werden immer wieder vom neuen zur Flucht an.
Plötzlich hielt sie inne. Sie kannte diesen Gang, und auch diese Tür.
Wieder hörte sie fluchende Stimmen hinter sich. Schnell schob sie die Tür auf und huschte hinein.
Chiwa sah gerade noch wie die Tür zuging. Sie rannte schneller. Kaum hatte sie die Tür erreicht, stieß sie sie mit lautem Krachen auf. Wutschnaubend schaute sie sich um. Sie befanden sich im großen Kunstraum. Die Geckos kamen ihr keuchend hinterher.
„Na los, zeig dich! Wo bist du, du kleine Ratte?!“, fauchte Chiwa.
Im Raum war es still. Nichts rührte sich. Jedes Bild und jeder Farbkasten standen immer noch an seinem Platz.
Wie ein Raubtier rieb Chiwa über die Klinge von ihrem Messer. „Ich finde dich schon, du weiße Pestbeule.“
Plötzlich flog etwas durch die Luft. Es landete genau in Chiwas Gesicht. Die Geckos wichen erschrocken zur Seite, als grüne Farbspritzer auf sie herniederregneten, dicht gefolgt von einem Papierknäul. Verwundert hob Tongfu es auf. Es war ein Origami-Würfel, der mit grüner Farbe gefüllt gewesen war.
„Meine Güte! Wie sehe ich denn jetzt aus?!“ Entsetzt befühlte Chiwa ihr Gesicht, das über und über mit grüner Farbe beschmiert war.
Der nächste mit Farbe gefüllte Origami-Würfel traf den Gecko mit dem Verband am Arm ebenfalls direkt ins Gesicht. Tongfu, der direkt neben ihm stand, bekam einen solchen Schrecken, dass er mit der Faust ausholte und ihn schlug.
„Autsch!“
„Sorry“, entschuldigte sich Tongfu. „Ich hab dich nicht erkannt, ich dachte zu wärst ein Ungeheuer.“
Chiwa hatte sich inzwischen wieder von ihrem Schock erhol und schäumte jetzt vor Wut.
„OH! Ich reiße ihr jede Feder einzeln raus! – Sucht sie!!!“
Chiwa winkte nach rechts und nach links. Die Geckos verteilten sich. Aufmerksam gingen sie an jedem Regal vorbei, die gefüllt waren mit Mal-Utensilien und Kunst-Literatur.
„Na endlich sind wir da“, rief Po erleichtert.
Sofort rannte der Panda von einer Zellentür zur anderen. Endlich gelangte er zu einer Eisentür, die fest verschlossen war. „Hier muss jemand drinnen sein.“
Po griff nach dem Schlüssel, der daneben hing. Er schloss die Zellentür auf und sprang hinein.
Dort fand er einen großen und einen kleinen Käfig vor. Po erkannte Viper und Crane sofort.
Diese waren nicht unbedingt überrascht ihren schwarz-weißen Freund zu sehen.
„Po! Es geht dir gut“, rief Viper erleichtert.
„Hey! Leute! Ihr seid hier!“ Po sprang zu ihnen hoch, hielt aber sofort inne, als er nur Viper und Crane im Käfig erblickte. „Aber… wo sind denn die anderen?“
„Die Jungs sind in irgendeiner anderen Zelle eingesperrt“, berichtete Mantis, nachdem König Wang ihm aus dem Eisenkasten befreit hatte. „Wo die anderen sind, wissen wir leider auch nicht. Vielleicht sind sie auch irgendwo hier unten.“
Die Jungs sahen erschrocken auf, als jemand sich an der Tür ihrer Zelle zu schaffen machte.
„Wer kommt da?“, fragte Jian ängstlich.
Die Tür öffnete sich und ein Schatten tauchte im Türrahmen auf. Zuerst wichen die Jungs erschrocken zurück. Nur Zedong sprang in die Presche.
„Komm nur nicht näher, du fiese Pute!“
„Aber Kinder.“
Die Gestalt trat ins Fackellicht.
„MUM!“
Sofort stürmte Jian auf seine Mutter zu, die andern folgten ihm. Überglücklich schloss Yin-Yu sie in die Flügel. „Meine Kleinen. Ich bin so froh, dass es euch gut geht…“
Sie strich den Jungen über den Rücken, doch sie merkte sofort, dass sich etwas verändert hatte.
„Was…“
„Sie hat uns die Federn rausgerissen!“, rief Zedong aufgebracht. „Die war ganz gemein gewesen!“
Yin-Yu sah sie bestürzt an. Jian begann zu weinen. Tröstend drückte sie ihn an sich. „Das tut mir ja so leid.“
„Wir haben versucht das zu verhindern“, klärte Viper sie auf. „Aber sie hat uns mit irgendetwas betäubt. Da konnten wir nichts mehr machen.“
Yin-Yu versuchte Jian zu beruhigen. „Keine Sorge. Die wachsen ja wieder nach.“
„Ich will sie schlagen!“, rief Zedong und stürmte raus zur Tür, wurde aber von seiner großen Schwester abgefangen. „Besser nicht“, riet sie ihm. „Um die kümmert sich schon Vater.“
Zedong sah sie überrascht an. „Vater ist auch hier?“
„Hey, Kumpel!“, begrüßte ihn Po.
Der kleine weißgefleckte Pfau sah ihn überrascht an. „Drachenkrieger? Du auch hier?“
Po lächelte ihn an, wurde aber sofort wieder ernst. „Ich hab jede Zellentür abgeklappert. Aber Tigress, Monkey und die anderen Meister sind nirgendwo zu finden.“
„Oh nein, Shenmi ist nicht hier!“, rief Yin-Yu erschrocken. „Dann muss sie doch bei ihr sein.“
Po verengte die Augen. „Ich werde nachsehen. Geht ihr schon mal wieder zurück. Ich muss sowieso noch die anderen finden.“
„Po, wir kommen mit dir“, bot Viper sich an.
„Das ist sehr nett, aber die anderen brauchen auch etwas Schutz.“
„Dann lass wenigstens Viper mitkommen“, meinte Crane. „Wir begleiten die anderen zurück.“
„Gut, dann gehe ich mit dem Drachenkrieger mit“, sagte Wang.
Po hob den Daumen. „Alles klar. Gehen wir ein paar böse Buben aufmöbeln. Oder genauer gesagt, eine böse Tante. Wünscht mir Glück!“
Damit verschwanden Po, Wang und Viper in den Gängen.
Huan rieb sich den Kopf. „Dann sollten wir uns besser sofort auf den Weg machen.“
Yin-Yu nickte. „Ist gut.“
Sie nahm Jian auf den Arm, der immer noch ein wenig schluchzte, wobei er sein Musikinstrument immer noch fest umklammert hielt.
„Ist ja gut, wir gehen nach Hause“, redete seine Mutter beruhigend auf ihn ein. „Xia, nimmst du Fantao und Zedong.“
Xia nickte und wollte Zedong an den Flügel nehmen, doch dieser wich seiner Schwester aus. „Ich will aber auch kämpfen!“, protestierte Zedong und wollte Po hinterherrennen.
„Nein, wir gehen jetzt zurück“, sagte Xia entschieden. „Nun komm.“
Xiang lag in der Zwischenzeit erschöpft auf dem Tisch. Er hatte den Versuch sich von den Stricken loszureißen inzwischen aufgegeben. Er hob ängstlich den Kopf, als er Schritte im Gang vernahm. Seine Atmung beschleunigte sich erneut. Plötzlich tauchte die Gestalt einer Pfauenhenne in der Tür auf. Er schrie auf und zappelte wie verrückt.
„Xiang!“
Liu vergaß den Titel „Lord“ und rannte auf ihn zu. Xiang hatte noch nicht mitbekommen, wer ihn gerufen hatte und lag völlig verkrampft in den Seilen. Er wartete nur auf den nächsten Schmerz, den man ihn bereiten würde. Als ihn stattdessen sanfte Flügel und eine besorgte Stimme empfing, öffnete er zögernd die Augen. Er meinte seine Sinne würden ihm einen Streich spielen, als er Liu sah.
„Was hat sie mit dir gemacht?“, fragte sie besorgt, beim Anblick vom Blutfleck auf seinem Brustkorb. „Keine Sorge. Ich hol dich hier raus.“
Sie schnappet sich eines der Messer vom Tisch und durchtrennte schnell die Seile, die den Pfau festhielten. Kaum war er frei, riss Xiang sich die Schnur vom Schnabel. Schwer atmend rang er nach Luft. Liu hielt ihn beruhigend an den Schultern.
„Doktor, könnten Sie sich das schnell ansehen!“
Sofort kam der Affe herbeigeeilt. In der Zwischenzeit war auch Shen eingetroffen. Sein Blick fiel sofort auf das Federmesser, dass im Boden steckte. Anschließend wanderte sein Blick zum Tisch.
„Sieh mal einer an. Da sind sie ja.“ Shen hob eines seiner Federmesser auf, das auf dem Tuch auf dem Tisch lag.
Prüfend tastete der Arzt Xiangs Wunde ab. „Keine Sorge. Ist nur eine oberflächliche Schnittwunde. Nichts Ernstes.“
„W-was machst du hier?“, brachte Xiang mühsam hervor.
Liu sah ihn überrascht an. „Dachtest du wirklich, ich würde dich einfach alleine lassen?“
„War Shenmi hier gewesen?“, wollte Shen wissen und sah Xiang streng an.
„W-wie?“ Der blaue Pfau war noch völlig neben sich.
„Wo ist Shenmi?!“, schrie Shen ihn an und packte ihn am Hemd. „Wo ist meine Tochter?!“
Xiang wies zur Tür. „Da raus. Irgendwo hin.“
Shen ließ ihn los. Er schnappte sich die Federmesser vom Tisch und rannte den Gang runter.
Liu sah ihm nach. Sie hatte schon Angst gehabt er würde sich noch auf Xiang stürzen. Ihr Blick wanderte wieder auf Xiang, der immer noch zittrig war.
„Komm, ich bring dich von hier weg“, bot sie ihm an. Nur mit Mühe bekam sie ihn vom Tisch runter und brachte ihn mit Hilfe des Arztes aus dem Zimmer.
„Am besten wir gehen zum Ausgang“, beschloss Liu. „Xiang, weißt du wo es zur Haupttür geht?“
Xiang stand völlig teilnahmslos da. Erst als Liu vor seinem Gesicht mit dem Flügel wedelte, reagierte er und deutete den Gang nach rechts. „Dort hin.“
Po hielt inne. Er befand sich noch in der unteren Etage, als ihm ein krachendes, dumpfes Geräusch aufhorchen ließ.
„Hey, habt ihr das auch gehört?“, fragte er und wandte sich an Viper und Wang. Sie lauschten angestrengt.
„Ja, jetzt hab ich es auch gehört“, bestätigte Wang. „Was kann das sein?“
„Diese schmetternden Geräusche kenne ich“, sagte Po. „Das kann nur von Meister Tosender Ochse sein.“
„Dann müssen die anderen irgendwo in der Nähe sein“, meinte Viper.
Sie folgten den Schlägen, als ob irgendjemand die Wände verprügeln würde. Endlich kamen sie an der gesuchten Stelle an.
„Es kommt von hinter dieser Steinwand“, bemerkte Po und drücket dagegen. „Puh, die lässt sich aber nicht öffnen.“
„Po, sieh mal hier. Hier ist ein Hebel.“ Viper deutete um die Ecke.
„Oh, mal sehen ob das unser Problem löst.“ Er legte den Hebel um.
„Das hat doch gar keinen Zweck“, seufzte Meister Kroko, während sein Freund Meister Tosender Ochse nicht aufhörte gegen die verschlossene Steinwand zu schlagen.
„Unsinn!“, schnaubte der Ochse. „Irgendwann muss sie nachgeben. Kein Stein auf der Welt konnte sich mir dauerhaft widersetzen.“
Er nahm erneut Anlauf. Mit einem lauten Schrei raste er dagegen. Allerdings ging sein Lauf diesmal ins Leere. Die Steinwand hatte sich urplötzlich geöffnet und der Ochse rauschte gegen die nächstdicke Wand gegenüber.
Erschrocken sahen die anderen Gefangenen auf.
„Was war das denn?“, wunderte sich Monkey. „Hat die Wand jetzt Angst bekommen?“
„Hey! Leute!“, begrüßte sie ein strahlender Panda.
„Po!“
Die anderen konnten ihr Glück kaum fassen, als sie den Drachenkrieger hereinstürmen sahen.
Schnell zählte Po durch. „… fünf… und sechs.“ Er deutete auf sich. „Ja! Wir sind alle wieder zusammen!“
Voller Freude umarmte er Tigress und Monkey. „Ich hab mir ja solche Sorgen um euch gemacht! Ihr doch euch auch um mich, oder etwa nicht?“
„Wieso sechs?“, fragte Monkey verwundert. „Wo sind Crane, Viper und Mantis?“
„Ich bin hier“, meldete sich Viper.
Po rieb sich verlegen den Kopf. „Oh, tschuldigung, hab ich vergessen zu sagen. Denen geht es bestens. Crane und Mantis bringen Yin-Yu und die anderen in Sicherheit.“
„Yin-Yu?“ Tigress hob verwundert die Augenbrauen. „Ist sie doch hier gewesen?“
„Und die Jungs, was ist mit ihnen?“, wollte Sheng wissen.
Po sah ihn überrascht an. „Oh, du bist auch hier? Oh, natürlich. Deine Schwester war ja auch hier.“
„Xia?“ Sheng sprang auf. „Wie geht es ihr?“
„Es geht allen gut. Keine Sorge“, beruhigte Po hin. „Auch Shen… zumindest hoffe ich das.“
„So, so“, mischte sich nun Meister Ochse in das Gespräch ein, nachdem er sich von der Begegnung mit der anderen Wand erholt hatte. „Und wo ist er jetzt?“
„Vermutlich dort, wo wir auch hinwollen. Aber das ist eine lange Geschichte. Kommt, ich erzähl sie euch unterwegs. Erst mal müssen wir diese verrückte Taube finden.“
„Eine Taube?“, fragte Monkey überrascht.
„Und hier ist wirklich ein Aufzug?“, fragte Zedong aufgeregt.
„Ja, gleich hier drüben“, sagte Xia und deutete den Gang nach vorne. Als sie endlich im Schacht angekommen waren, hielten sie inne.
„Wo ist er denn?“
Diese Frage stellen sich jetzt auch der Rest der Gruppe. Der Lift war verschwunden.
„Vor kurzem war er doch noch oben gewesen“, beharrte Xia.
„Vielleicht benutzt ihn gerade ein anderer“, vermutete Mantis.
„Das glaube ich nicht“, meinte Yin-Yu, die immer noch Jian im Arm trug. „Sonst würde man doch etwas hören.“
„Ihr hört gleich was anderes“, sprach auf einmal eine düstere Stimme über ihren Köpfen. „Nämlich eure Todesschreie.“
Auf den Balken saßen fast fünf Geier, einer davon war Laishi und blickte Mordlüsten auf sie herab.
„Weg hier!“, schrie Xia und drängte alle wieder zurück in den Gang, noch bevor die Geier sich auf sie stürzen konnten. Crane wehrte den heranrasenden Laishi gerade noch ab, und verschwand schnell mit den anderen durch den Geheimgang zurück in den Keller.
„Wo lang jetzt?“, fragte Xia ihre Mutter im Rennen.
„Am besten zum Eingang. Vielleicht sind die Soldaten ja schon dort.“
Im großen Kunstraum, hatte sich Shenmi auf die oberste Stufe eines Regales versteckt und lugte vorsichtig nach unten. Zwei Geckos, Tongfu und ein anderer, befanden sich direkt neben dem Regal.
„Schauen wir mal oben nach“, schlug der Gecko-Anführer vor, was Shenmi die Panik hochtrieb. Schnell krallte sie sich ein paar Papierstreifen, die sie sich mitgenommen hatte und faltete so schnell sie nur konnte.
In der Zwischenzeit erklommen die zwei Geckos das Holzregal. Doch kaum waren sie oben flogen ihnen spitze Gegenstände entgegen.
„Autsch! Hey, was soll das?“
Schnell warf Shenmi ihnen noch ein paar weitere Papierflieger entgegen, dann sprang sie vom Regal und flüchtete um die Ecke.
„Hey, wir haben sie!“, schrie Tongfu und rannte ihr hinterher.
Als er um die Regal-Ecke bog, war sie verschwunden. „Hey, wo ist sie hin?“
Er hielt inne, als er einen kleinen Schatten an der Wand erblickte. „Hab ich dich“, dachte er Gecko triumphierend.
Er sprang um die Ecke und stürzte sich auf die kleine Figur, die den Schatten auf die Wand geworfen hatte.
„Haaa! Hä? Was…?“
Verwundert erhob er sich, denn was er in den Händen hielt war kein Pfauenmädchen, sondern nur eine Pfau-Papierfigur.
„Hey!“, rief ein anderer Gecko auf der anderen Seite der Regale. „Hier ist sie!“
Er sprang. Doch dann… „Das ist ja nur eine Origamifigur.“
Tongfu schnaubte wütend.
„Sucht weiter. Eine davon muss echt sein!“
Die Geckos schwärmten erneut aus. Doch jedes Mal, wenn sie meinten den Schatten des Mädchens zu sehen, fanden sie immer nur eine Pfaufigur aus Papier vor.
Shenmi hatte sich in der Zwischenzeit über die Leiter auf die balkonähnliche Etage geflüchtet. Von hier aus, konnte man die oberen Fenster erreichen, die den Malern wahrscheinlich dazu gedient hatten von diesem Punkt aus, einen schönen Blick auf die Stadt zu haben.
Während die Geckos im unteren Bereich des großen Zimmers damit beschäftigt waren das Mädchen zu finden, öffnete sie lautlos eines der Fenster. Sie lugte über den Rand. Von hier aus ging es tief nach unten. Sie schluckte schwer. Doch der Eingang zum Zimmer wurde bewacht. Sie konnte sich nicht in den Flur flüchten. Schnell schnappte sie sich einen Papierdrachen, der zur Deko in einer Ecke stand und kletterte aufs Fenstersims. Sie selber war nicht schwer, sie könnte locker damit durchs Fenster entkommen und wegfliegen.
Sie holte nochmal tief Luft, dann stieß sie sich von der Fensterbank ab und segelte nach draußen. Der Wind war stark und gab dem Flugdrachen auftrieb.
Plötzlich umwickelte ein Stoffstreifen das weiße Pfauenmädchen. Der Stoff strafte sich und Shenmi wurde wieder zurück ins Zimmer gezogen. Im nächsten Moment fand sie sich in den Flügeln von Chiwa wieder, die das Mädchen mit ihren Ärmelstreifen wie ein Lasso in der Luft eingefangen hatte. Shenmi erstarrte vor Angst. Chiwa war zwar immer noch im Gesicht mit grüner Farbe beschmiert, doch ihr böser Blick ließ jedem das Blut in den Adern gefrieren.
Doch noch bevor Shenmi schreien konnte, hielt die dunkle Pfauenhenne ihr eisern den Schnabel zu.
„Du kleine hässliche Kröte!“, fauchte sie. „Ich drehe dir den Hals um!“
In diesem Moment tauchten Tongfu und die anderen auf. „Da ist sie ja endlich…“
Er presste die Lippen zusammen, als er Chiwa im Sonnenlicht sah.
Die Pfauenhenne kniff zornig die Augen zusammen. „Hört auf zu lachen! Hol mir einen Schüssel Wasser damit ich diesen Sud aus dem Gesicht abwaschen kann!“
Mürrisch rieb Chiwa sich das Gesicht trocken. Wenigstens war die Farbe nicht wasserfest, sonst hätte sie noch alles in Grund und Boden geschrien. Shenmi lag zusammengeschnürt zwischen ein paar Geckos und sah hilflos zu, wie Chiwa das Tuch in eine Ecke schmiss und ihre vor Wut glühenden Augen wieder auf sie richtete.
Shenmi zog den Kopf ein, als Chiwa sie packte. „Jetzt gehen wir zurück zu meinem Neffen“, zischte sie. Sie hatte ein teuflisches Grinsen im Gesicht. „Dann kannst du ihm Gesellschaft leisten.“
Shen rannte durch die Gänge. Sie musste irgendwo sein. Sein Herzschlag beschleunigte sich mit jeder Minute. Der Gedanke, dass ihr irgendetwas zugestoßen war, würde er sich nie verzeihen.
Plötzlich hielt er mitten im Lauf inne. Irgendwo schrie ein kleines Mädchen.
„Shenmi!“
Po sah sich verwundert in den Gängen um. „Hey, habt ihr das auch gehört.“
„Mm, klang wie ein Mädchen“, meinte Viper.
„Wo kam das her?“, fragte Monkey.
„Das kam von dort drüben!“, rief Po und rannte den anderen voraus in den nächsten prunkvollen Korridor.
„Hör endlich auf, du verdammtes Ding!“, fluchte Chiwa und schlug dem Mädchen auf den Schnabel. „Du wirst nachher noch genug schreien.“
Sie hielt inne. Irgendetwas rannte auf sie zu. Sie drehte sich um. Sie erblickte gerade noch die weiße Figur am anderen Ende des Ganges. Shen zögerte keine Minute und warf seine Federmesser auf sie. In Chiwas Augen blitzte es. Doch noch ehe die Federmesser sie erreichen konnten, schwang sie sich herum, zog ihren schwarzen Fächer hervor und fing die Federmesser wie in Zeitlupe, einer nach dem anderen, ein.
Als Shen das sah, war er für einen kurzen Augenblick wie gelähmt. Diesen Moment nutzte die dunkle Pfauenhenne schamlos aus. Sie schleuderte die eingefangenen Federmesser wieder mit voller Wucht auf den weißen Pfau. Shen reagierte eine zehntel Sekunde zu spät.
Er sprang zur Seite, aber er wusste, dass dieser Sprung nicht ausreichen würde. Plötzlich stieß ihn etwas zur Seite, der seinen Sprung beschleunigte. Ein schneidender Schmerz durchbohrte seinen linken Flügel nahe der Schulter kurz bevor er auf den Boden aufschlug, dicht gefolgt von einem dumpfen Aufprall neben ihm.
Die fünf Meister, Sheng und König Wang konnten nicht glauben, was Po da machte. Shen stand nur ein paar Meter weiter weg von ihnen. Po schaute um die Ecke. Chiwa hatte Shens Federmesser ohne Probleme mit dem Fächer eingefangen. Po ahnte, sie würde sie zurückwerfen. Für Shen war es schon zu spät. Er würde den Ausweichsprung nicht packen. Po warf sich nach vorne und stieß den weißen Pfau zur Seite. Kaum waren beide zu Boden gefallen, richtete Shen sich keuchend auf. Po lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr.
Tigress riss die Augen auf. „Nein!“
Sprachlos starrte Shen auf den am Boden liegenden Panda. Tigress war die Erste, die bei ihm war. Als sie den Panda berührte, stöhnte er leise.
„Ich bin okay, ich bin okay“, murmelte Po mühsam. „Ich bin nur etwas…“
Endlich kam auch Bewegung in den Pfau. Er beugte sich vor und schob Pos Arme zur Seite. Zwei seiner Federmesser steckten in seinem Bauch. Dieser Anblick ließ Shen zurückschrecken. Es war seltsam seine Federmesser in dem Panda zu sehen, mit denen er ihn schon vor Jahren erstechen wollte. Damals hätte ihn das große Freude bereitet. Jetzt spürte er nur ein widerliches Gefühl in sich aufsteigen. Es war kein Vergleich zu damals.
In diesem Moment kamen auch Meister Tosender Ochse, Meister Kroko, Monkey, Wang und Sheng herbeigeeilt.
„Drachenkrieger, ist alles in Ordnung?“, fragte Wang besorgt.
„Was hast du getan?!“, herrschte Meister Ochse den Pfau an. „Dich kann man wohl keine Sekunde alleine lassen!“
„Aha, offensichtlich wimmeln hier noch mehr Kakerlaken in diesem Gebäude“, unterbrach Chiwas Stimme die Wut des Kung-Fu-Meisters.
Mit drohenden Schritten kam die Pfauenhenne näher, das Mädchen hielt sie immer noch feste gepackt in den Flügeln. Shenmis Augen weiteten sich entsetzt, als sie den Panda so daliegen sah. Tigress lehnte Po gegen die Wand.
„Nur keine Sorge“, stöhnte Po. „I-ich ab doch ein dichtes Fell.“
Tigress begutachtete die Federmesser, wagte aber nicht sie herauszuziehen. Das Blut an den Schnittstellen trat nur langsam aus und färbte das weiße Fell rot. Die Augen der Tigerin verengten sich vor Wut. Sie wandte sich um, doch noch ehe sie sich auf Chiwa stürzen konnte, drückte diese dem weißen Mädchen das Messer vor die Kehle.
„Na, na, na“, mahnte Chiwa. „Nur einen Schritt näher und wir haben hier nochmal einen Unfall.“
Sie drückte dem Mädchen spielerisch die Messerspitze entgegen, was jeden Anwesenden erstarren ließ.
Shengs Blick wanderte zu seinem Vater, der völlig benommen am Boden kniete.
„Vater“, hauchte er erschrocken.
Shen sah ihn etwas beschämt an, versuchte ihn aber anzulächeln. „Schön, dass es dir gut geht.“
Doch das war nicht das, was Sheng gemeint hatte. „Du siehst aber auch nicht gut aus.“
„Wieso?“
Sheng deutete auf Shens linken Flügel, der sich blutrot gefärbt hatte. Schnell riss Shen sich etwas von seiner Robe ab und band mit dem Stoffstreifen den oberen Teil seines Flügels ab.
„Also“, begann Chiwa mit gekünstelter Mütterlichkeit. „Bevor sich noch einer hier ernsthaft verletzt, finde ich, sollten wir besser einen Ort aufsuchen, wo wir etwas ungestörter sein können.“
Sie wedelte mit dem Messer vor Shenmis Gesicht. „Wenn ihr bitte die große Güte hättet mir zu folgen?“
Sie versetzte Tongfu einen Tritt.
„Autsch!“ Empört sah der Gecko zu ihr auf. „Was hab ich denn jetzt schon wieder gemacht?“
„Wenn du deinen vollen Lohn erhalten willst, dann verlange ich ab jetzt keine Fehler mehr!“, knurrte sie ihn an. „Also los jetzt!“
Gehorsam setzte sich die Gruppe in Bewegung. Auf Po nahm Chiwa keine Rücksicht, sodass Meister Ochse und Wang dazu gezwungen waren, den Panda mit extremster Vorsicht durch die Gänge zu tragen. Chiwa ging ihnen voraus, stets dabei das Messer vor Shenmis Kehle haltend.
Shens Augen verengten sich. Er ahnte wo sie hin wollte und er konnte nicht sagen, was sie erwarten würde. Endlich hatten sie das Zimmer erreicht, in dem Chiwa ursprünglich ihren Neffen zurückgelassen hatte. Wie vom Donner gerührt blieb die Pfauenhenne stehen, als sie den Tisch leer vorfand.
„Wo ist er?!“, schrie sie. „Geht denn heute alles daneben?!“
Tongfu zog zerknirscht den Kopf ein und konnte nur hoffen, dass das alles nicht wegen der jungen Pfauenhenne passiert war, die er zu seinem Pech nicht beseitigen konnte.
„Es ist mir ein Rätsel“, murmelte er kleinlaut. „Heute muss irgendwie der Wurm drin sein…“
„Er kann noch nicht weit sein!“, schnitt die dunkle Pfauenhenne ihm das Wort ab.
„Und wo sollen wir suchen?“, fragte Tongfu. „Er kann jetzt überall sein…“
„Ich finde ihn schon!“
Chiwa stürzte zum Tisch und krallte sich jedes Messer was sie noch dort finden konnte. Anschließend drehte sie sich wutschnaubend zu den Gefangenen um.
„Und ihr, rein mit euch!“
Sie wies in den Raum. Gehorsam fügten sie sich. Meister Ochse und Wang brachten den verletzten Drachenkrieger in eine Ecke des Zimmers. Grimmig betrachtete die violette Pfauenhenne die Gruppe. „Und erwische ich einen von euch draußen, dann mach ich sie kalt!“
Damit zog die Pfauenhenne mit einem lauten Knall die Tür zu, verschloss sie und machte sich laut schimpfend mit dem Mädchen in den Fängen davon.
Tongfu räusperte sich. „Und wo sollen wir ihn suchen?“
Chiwa fauchte ihn böse an. „Das lass man meine Sorge sein! Ihr habt heute schon genug verbockt! Schaut euch lieber um, ob hier nicht noch mehr Kakerlaken herumlungern! VERSCHWINDET!“
Sofort rannten die Geckos davon, während Chiwa sich ihren eigenen Weg suchte. Shenmi schrie, doch nachdem Chiwa ihr erneut einen Klaps auf den Schnabel gegeben hatte, verstummte sie.
Im Raum hinter der Tür kehrte Stille ein bis Meister Ochse das Wort ergriff.
„Na großartig!“, schimpfte er und sah Shen wutschnaubend an. „Lässt man jemanden wie dich einmal alleine, und schon machst du wieder Ärger!“
Shen knurrte gereizt. „Ich hab niemanden drum gebeten hierherzukommen!“
„Jetzt regt euch nicht so auf!“, ging Meister Kroko schnell dazwischen und wandte sich wieder an seinen Freund. „Wir sollten uns jetzt besser um den Drachenkrieger kümmern, oder etwa nicht?“
Der Ochse stieß ein lautes Schnauben aus, bevor er sich von dem weißen Pfau wieder abwandte.
„Wir brauchen einen Arzt!“, rief Tigress.
„Da habt ihr Glück“, meinte Wang. „Wir haben zur Vorsicht den Arzt mitgebracht, aber wo ist er jetzt?“
Sein Blick wanderte zu Shen.
„Er war zuletzt bei Xiang“, sagte Shen schnell. „Wo sie jetzt sind, weiß ich nicht.“
„Nein…“, wehrte Po ab. „Ihr… ihr müsst Shenmi retten…“
„Wir werden dich aber nicht im Stich lassen“, meinte Tigress entschieden.
„Das ist schon okay…“, sagte Po schnell. „Das ist schon okay.“
Seine verkrampften Augen sahen zum Pfau auf. Dieser sah ihn mit Schatten auf dem Gesicht an. „Panda, warum?“
Po lächelte leicht. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass die Kinder ohne Vater aufwachsen…“
Der Panda krampfte zusammen. Alle sahen ihn betroffen an.
Meister Ochse hingegen kochte vor Wut. „So, ich hoffe du bist jetzt zufrieden.“
Shen fuhr hoch. „Denkst du, ich hab das mit Absicht gemacht?!“
Meister Ochse stieß ein lautes Schnauben aus. „Was hast du dir auch dabei gedacht?! Wie dumm bist du gewesen wieder dein Messerwerferspiel zu treiben?! Das ist hier kein Schlachtfeld, wo du alles in die Luft jagen kannst!“
Shens Pfauenkamm zitterte. „ICH HABE NUR VERSUCHT MEINE TOCHTER ZU RETTEN!“
Meister Ochse stampfte mit dem Huf auf. „WENN DU EIN GUTER VATER WÄRST, DANN WÄRE SIE ERST GAR NICHT IN GEFAHR GERATEN!“
Shen erstarrte. Dann senkte er den Blick, seine Flügel ballten sich zu Fäusten. Seine Augenlider zuckten nervös.
„Ich hab doch versucht sie zu retten“, zischte er.
Der Ochse schnaubte abfällig. „Deine Leichtsinnigkeit hat uns nur noch weiter ins Verderben gestürzt“, tadelte er mit Blick auf den verletzten Panda. „Du magst vielleicht deine Vorsätze haben, aber deinen Wahnsinn kannst du nie abschalten.“
Shen kniff die Augen zusammen. Er drehte allen den Rücken zu und presste einen Flügel gegen die Wand, wo er sich bebend vor Wut abstützte. Und ohne, dass es jemand sah, rannen ihm die Tränen über die Wangen.
Meister Kroko räusperte sich. „Ach komm schon, wir sind alle etwas aufgedreht. Das hast du doch nicht ernst gemeint…“
„Ist doch wahr!“, schnauzte Meister Ochse ihn an. „Was denkst du, sollen wir jetzt machen?“
Shen bekam von dem ganzen Gerede, das die anderen führten, nichts mehr mit. Um ihn herum drehte sich alles. Er rieb sich die Schläfen. Was war nur los mit ihm? Normalerweise war er es immer gewesen, der Forderungen gestellt hatte. Er hatte ein Heer besessen, eine Armee geführt… Eine Kriegsflotte gesteuert.
Seine Krallen kratzten auf den Boden. Irgendetwas loderte in seinen Fingerfedern und fraß ihn innerlich auf.
Schließlich hob er ruckartig den Kopf.
„… wo kann der Arzt nur sein?“, fragte Monkey.
König Wang legte die Stirn in Falten. „Es könnte auch sein, dass er das Gebäude bereits verlassen hat.“
„Dann suchen wir ihn eben“, meinte Tigress entschieden. „Ein anderer Teil sucht nach Shenmi.“
„Dazu müssten wir aber erst die Tür aufmachen…“
Meister Ochse hielt inne.
Meister Kroko fiel die Kinnlade runter. „Aber… die ist ja offen…“
Alle starrten zur Tür. Shen war weg, nur eine Feder lag noch auf dem Boden, mit denen er das Schloss aufgeschlossen hatte.
„Hoffentlich sind wir bald da“, dachte Liu im Stillen. Mühsam stützte sie Xiang ab. Der Pfau reagierte kaum. Er war noch ziemlich wackelig auf seinem gesunden Bein. Da war es schon vom Vorteil den Arzt dabei zu haben, der ihr dabei half. Plötzlich hörten sie, wie jemand auf sie zu gerannt kam.
„Oh nein!“, rief Liu. „Da ist sie wahrscheinlich schon. Schnell weg hier!“
Die Schritte kamen näher. Plötzlich schwang wich etwas über ihre Köpfe durch die Luft. Wie der Wind kam das Wesen vor ihnen zum Stillstand und stellte sich ihnen in den Weg. Liu riss die Augen auf.
„Lord Shen?“ Sie wich etwas zurück. Der weiße Pfau stand vor ihnen in geduckter Haltung, was wie eine Kampfgeste aussah. „W-was ist los?“
„Ich habe geahnt, dass ihr Richtung Ausgang gehen würdet“, fauchte er.
Er packe Xiang am Flügel und riss ihn ihr weg. „Er kommt mit mir mit!“
Liu sah ihn fassungslos an. „Was?! Nein, das können Sie ihm nicht antun… wir waren uns doch einig…“
Er stieß sie zur Seite. „Jetzt spielen wir nach meinen Regeln!“, schrie er sie an. „Allmählich komme ich mir vor wie in einer Irrenanstalt!“
Ohne Gnade zerrte er den blauen Pfau hinter sich her.
„Hey! Wo willst du hin?!“, schrie Xiang aufgebracht und versuchte sich am Teppich festzuhalten.
„Wir statten deiner Tante einen Besuch ab.“
In Xiang stieg die Panik hoch. „Nein! Nein! Lass mich los…!“
Shen schlug ihm hart in den Rücken. Der blaue Pfau sackte stöhnend zusammen. Kaum war das erledigt, zerrte Shen ihn weiter den Flur runter.
„Du hast mir das eingebrockt, jetzt kannst du es auch wieder ausbaden!“
„Was haben Sie mit ihm vor?“, wollte Liu wissen.
Shen drehte sich blitzschnell zu ihr um und sah sie böse an. „Wenn du dich nützlich machen willst, dann hab ich schon eine Aufgabe für dich! – Und was Sie angeht…“ Er wandte sich an den Militärarzt. „Ich würde Ihnen raten sich auf der Ostseite des Gebäudes umzusehen, wo Sie gerade hergekommen sind. Da gibt es Arbeit für Sie.“
„Ist es noch weit bis zum Ausgang?“, fragte Crane im Flug und sah auf die Flüchtenden herab, die durch den Korridor liefen.
„Nur noch durch diesen Gang“, rief Yin-Yu zu ihm hoch.
In diesem Moment tauchte Laishi hinter ihnen auf. Alle schrien erschrocken auf und rannten noch schneller. Crane und Mantis gingen sofort zur Verteidigung über und Laishi und seine Gefolge erlitten ein paar harte Kung-Fu-Schläge, die sie für einen Moment außer Gefecht setzten. Zum Glück tauchte endlich die langersehnte große Tür auf.
Xia wähnte sich am Ziel. „Dort drüben ist der Ausgang…!“
Plötzlich blieben alle stehen. Vor der Tür stand ein Gecko und sah die herannahende Truppe verwundert an. Doch dann stellte sich das Reptil entschieden vor die Tür. „Wo wollt ihr denn hin? Hier geht keiner…!“
Mantis versetzte ihn einen harten Hieb und der Weg war frei.
„Schnell weg hier!“
Doch plötzlich stieß jemand die Tür von außen auf. Alle erstarrten als eine große Bärin im dunklen, breiten Qipao auftauchte.
„Hu, wer ist das denn?“, fragte Zedong und starrten mit großen Augen zu der Riesin hoch.
„Man hat mich eingeladen hierherzukommen“, brummte sie. „Denn anscheinend haben einige keine Manieren wie man ein Haus betritt.“ Sie rieb sich grimmig die Füße. „Aber diese Treppen…“
„Na, das wurde aber auch Zeit. Duona, hab ich nicht recht?“, meinte Laishi, der kurz darauf sich zu der gestoppten Gruppe mit seinen vier anderen Geiern dazugesellte. „Chiwa hat mich schon von deiner Ankunft unterrichtet.“
Duonas Blick wanderte zu der Gruppe, die vorhin noch die Tür nehmen wollten. Jetzt drängen sich alle gegen die Wand der Eingangshalle. Vor ihnen die Bärin, hinter ihnen Laishi mit seinen vier Geiern.
Crane und Mantis tauschten kurz Blicke untereinander aus. Dann stellten sie sich vor Xia, Yin-Yu, die drei Jungs und Huan.
„Dann müsst ihr aber zuerst an uns vorbeikommen!“, meinte Mantis entschieden.
Duona knackte mit den Fingern. Laishi kicherte nur. „Ach, wie niedlich. Da bin ich aber neugierig.“
Sie rückten näher. Crane und Mantis spannten sich an. Plötzlich stieß Laishi vor und packte sich Mantis, doch der Geier wurde von dem kleinen Insekt sofort herumgeschleudert. Er war wirklich stärker als er aussah. Crane schwang sich in die Luft und schlug schnelle Haken in der Halle, um den Geiern auszuweichen, die sich jetzt auf ihn konzentrierten. Der Kranich wich ihren Angriffen aus. Plötzlich tauchte Duona wie aus dem Nichts auf und schlug den Vogel mit voller Wucht in den Rücken. Mantis kam ihm sofort zu Hilfe und sprang um die Bärin herum, die ihre Mühe hatte mit ihren langsamen Reaktionen das Insekt einzufangen.
Zedong konnte es nicht mehr länger aushalten. „Ich helfe dir!“
„Zedong!“
Doch der Ruf seiner Mutter konnte den aufgeregten Jungen nicht aufhalten. Er stieß sich vom Boden ab und schlug Duona zielsicher ins Gesicht. Wütend wollte die Bärin jetzt ihn packen, doch Zedong wich ihren Griffen geschickt aus. Schließlich schlug Duona mit den Fäusten nach ihm. Doch Zedong schaffte es immer wieder wegzuspringen, sodass der Boden von ihren Schlägen Risse bekam.
Yin-Yu kam sich ziemlich hilflos vor. Sie hatte nicht gerade sehr viel trainiert. Sie war die ganzen vier Jahre nur mit den Kindern beschäftigt gewesen. Ihre Muskeln spannten sich immer weiter an, als Zedong immer mehr an seine Grenzen kam. Sie schrie auf, als ein Geier den gescheckten kleinen Pfau zu packen bekam. Yin-Yu war kurz davor sich auf ihn zu stürzen, doch plötzlich stieß ein anderer gescheckter Pfau den Geier zur Seite, sodass dieser Zedong wieder losließ. Zedong flog durch die Luft und fand sich im nächsten Moment in Shengs Flügeln wieder.
„Was machst du denn für Sachen?“, fragte Sheng mit einem lächelnden Kopfschütteln.
„Sheng!“
Zedong umarmte seinen großen Bruder. Dann sah er sich suchend um.
„Wo sind die anderen?“
„Wir haben uns aufgeteilt. Sie müssten aber auch irgendwann kommen.“
Laishi war nicht gerade angetan von dem neuen Konkurrenten und rief zu einem neuen Angriff. Sheng sah seinen Bruder an.
„Ich denke, es wird Zeit, dass wir ein Spiel spielen“, meinte er.
Zedong sah ihn neugierig an. „Ein Spiel? Wie beim Training?“
„Genau, wir machen es wie beim Training.“
„Blindflug?“
Zedong wurde ganz aufgeregt. Sheng nickte ihm zu. „Ja, Blindflug… Hey!“ Er winkte die Geier zu sich rüber. „Fangt uns doch, wenn ihr könnt!“
Die zwei Piebald-Pfaue rannten auseinander.
„Los, ihnen nach!“, wies Laishi seine Kumpanen an, die sich jeweils zwei und zwei aufteilten, zwei immer einem anderen Pfau hinterher. Als Sheng und Zedong merkten, dass die Geier ihnen dicht auf den Fersen waren, machten sie kehrt und flogen aufeinander zu. Die Geier sprangen ihnen hinterher. Doch noch ehe die zwei Pfaue miteinander kollidierten, schwangen sie ihre Flügel und flogen jeweils zur Seite. Ihre Verfolger direkt hinter ihnen, knallten zusammen. Benommen segelten die Geier zu Boden.
Zedong jubelte. „Juh, das hat Spaß gemacht!“
Laishi schwang sich wütend vor sie. „Die anderen mögt ihr vielleicht hereinlegen können, aber nicht mich!“
Im nächsten Moment sprang Fantao vor ihm und schaute skeptisch zum Geieranführer hoch. „Tz, dir fehlt ja noch Farbe im Gesicht.“
Der Geier beugte sich zu dem Pfauenjungen runter. „Hä? Was war das eben?“
Im nächsten Moment pinselte Fantao mit seinem Pinsel auf dem Geiergesicht, mit einer Farbe, die er immer unter seinem Hemd mittrug.
Erschrocken wich der Geier zurück. „Hey! Was soll das denn?!“
In diesem Moment stand einer der anderen Geier auf, nachdem dieser sich von der Kollision erholt hatte. Dieser bekam von diesem angemalten Gesicht seines Anführers einen solchen Schrecken, dass er ausholte und Laishi ins Gesicht schlug.
„Autsch!“
„Oh, sorry“, entschuldigte sich sein Kollege. „Ich hab dich gar nicht erkannt.“
Knurrend stand Laishi wieder auf. „Jetzt reicht es mir! Duona, was stehts du so blöd herum? Mach mal was!“
Die Bärin packte Xia und Yin-Yu. Jian bekam einen mächtigen Schrecken.
„Hey! Lass meine Mutter in Ruhe!“
Wütend hämmerte der Pfauenjunge mit seiner chinesischen Laute gegen ihr Bein. Die Bärin hob ihren großen Fuß und trat zu. Der Fuß zertrümmerte das Musikinstrument in kleine Teile. Fassungslos starrte Jian auf die Zerstörung. Dann zuckten seine Augenwinkel.
„NIEMAND MACHT MEINE MUSIK KAPUTT!“
Der kleine grüne Pfau sprang auf und schlug zu, wo er nur konnte. So schnell konnte die Bärin nicht gucken. Der kleine Pfau versetzte ihr in seiner Wut so harte Hiebe, dass die Bärin zu Boden fiel.
Alle starrten Jian verwundert an. Dann sank der kleine grüne Pfau zusammen und weinte.
Schnell eilte Yin-Yu zu ihm rüber und hielt ihn in den Flügeln. „Nicht weinen, es wird doch alles wieder gut.“
Zedong schaute verwundert auf die k.o. geschlagene Duona herab. „Cool.“
In diesem Moment bäumte sich Laishi drohend hinter ihnen auf. „Jetzt reicht es mir! Ich werde euch noch…!“
Plötzlich stieß etwas den Geier zur Seite. Tigress stand da, dicht gefolgt von Meister Ochse und Meister Kroko.
Jetzt wurde es dem Geier doch wirklich zu viel und flatterte hastig nach draußen durch die Tür.
„Wie kommt ihr denn hierher?“, fragte Yin-Yu verwundert.
„Wir hatten Schreie gehört“, antwortete Meister Ochse.
Jetzt tauchte auch Wang auf. „Ist der Arzt hier? Habt ihr den Arzt gefunden?“
Yin-Yu verstand überhaupt nichts mehr. „Was? Einen Arzt? Oh nein! Ist etwas mit Shen?!“
„Nein, es ist nichts, Mutter“, versuchte Sheng sie zu beruhigen.
„Oder mit Shenmi?“
Sheng nahm sie beiseite. „Es ist alles in Ordnung.“
Wang nahm die aufgeregte Pfauenhenne zu sich. „Nur keine Sorge. Wir haben alles im Griff.“
Er wandte sich an die anderen. „Der Rest wartetet am besten draußen. Ich zünde inzwischen den Feuerwerkskörper, um das Signal für meine Leute zu geben.“
Tigress nickte. „Na schön. Dann suchen wir weiter nach dem Arzt.“
„Ich komme mit euch“, bot Sheng sich an. „Bevor ihr euch noch verlauft.“
Insgeheim hoffte er, dass sie Shen irgendwo begegneten. So wie er seinen Vater kannte, hatte er sich in seiner Not etwas ausgedacht, was nicht ganz ungefährlich war.
„Aber nur damit eines klar ist. Ich bin immer noch dagegen!“, sagte Liu entschieden.
Sie zerrte das Gepäck hinter sich her, das Shen sich am Tag zuvor in den Palast hat bringen lassen. Sie befanden in einem riesigen Saal, was wohl als Festsaal gedient hatte.
Auf der linken Seite befanden sich mehrere große Balkonfester, die zu einem großen Balkon nach draußen führten, der genauso lang war wie der Saal selber. Hinten und rechts befanden sich jeweils Türen. Und um den Saal herum ging ein Laufgang mit einer verzierten Balustrade. Es war wie ein langgezogener kleiner schmaler Balkon, der um den Saal herum verlief. Vermutlich wo die Gäste dann dort sich auch oben aufhalten konnten. Am Ende des Saals stand ein großer Thron, der für den Gastgeber des Palastes reserviert war und von dort die Gäste überschauen konnte.
Shen hatte Xiang in der Zwischenzeit mit einem Seil verschnürt und ihn vor dem Thron auf den Boden abgelegt. Hilflos lag der blaue Pfau gefesselt davor und versuchte sich irgendwie aus den Fesseln herauszuwinden.
Shen schaute spöttisch auf ihn herab. „Na, das weckt Erinnerungen, nicht wahr?“
„Binde mich sofort los!“, befahl Xiang.
Doch Shen winkte seine laute Bitte mit einer abwerteten Flügelbewegung ab.
„Schrei ruhig weiter. Auf diese Art und Weise gibst du einen perfekten Lockvogel ab.“
„Aber ihm wird doch nichts passieren, oder?“, fragte Liu besorgt.
„Hör auf zu reden!“, herrschte der weiße Pfau sie an. „Pack einfach die Sachen aus.“
Liu warf einen Blick in die Säcke.
„Schleppen Sie sowas immer im Reisegepäck mit sich herum?“
Shen knurrte genervt. Seufzend lehnte sich die Pfauenhenne gegen das Gepäck.
„Was brauchen Sie denn jetzt?“
„Gib mir das grüne Gefäß raus.“
Liu rümpfte den Schnabel, aber sie tat was er verlangte. Nach einigem Suchen fand sie mehrere Behälter, die wie Flaschen geformt und mit einer Flüssigkeit gefüllt waren. Shen nahm ihr sofort die erste Flasche ab. Diese kippte er zur Lius Verwunderung um Xiang herum auf dem Boden aus.
Liu schnupperte. Die Flüssigkeit hatte so einen eigenartigen Geruch. „Was ist das?“
„Das wirst du noch sehen“, antwortete Shen.
Die Flasche war leer.
„Gib mir die andere“, befahl er.
Liu tat es, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Ihre Augen weiteten sich, als Shen damit auf Xiang zuging.
„Schön stillhalten“, sagte Shen und kippte den Inhalt über den blauen Pfau aus.
„Hey! Was soll das?!“
Xiang versuchet noch dem Übergießen auszuweichen, doch er konnte nicht verhindern, dass der weiße Pfau ihn damit völlig eintränkte.
Liu wurde das zu viel. „Jetzt sagen Sie mir endlich was das ist, sonst mache ich nicht mit!“
Shen rümpfte den Schnabel. „Das hier ist eine neue Erfindung von mir. Eine brennbare Flüssigkeit. Schnell entflammbar und sehr leicht entzündlich.“
„Bist du wahnsinnig?!“, schrie Xiang.
Liu entwich die Farbe aus dem Gesicht. „Heißt, dass Sie wollen ihn…?“
Shen hob den Flügel. „Solange du tust was ich dir sage, wird nichts passieren.“
„Aber ist das nicht zu gefährlich?“
Shen zuckte die Achseln. „Nenn es wie du willst. Ich denke, es wird Zeit, dass hier mal wieder ein paar Gäste sich amüsieren können. Ich sorg schon mal für die Festbeleuchtung.“
Er grinste Xiang an, der beim Anblick der entflammbaren Flüssigkeit auf dem Boden und auf ihn selber in Panik geriet.
„Willst du etwa alles in Brand stecken?! Das ist immer noch mein Haus!“
„Wolltest du nicht auch meine Stadt in die Luft jagen? Ich denk mal, damit wären wir quitt.“
Liu fühlte sich genötigt etwas zu sagen. „Aber das können Sie doch nicht so riskieren!“
Shen stieß sie weg. „Entweder du spielst mit, oder du kannst nicht nur seinen Tod, sondern auch noch den Tod von einem kleinen Mädchen verschulden! Kannst du so viel auf deinen Schultern tragen?!“
Liu senkte den Blick. „Versprechen sie mir bitte nur, dass ihm nichts passiert.“
Shen sah sie ernst an. Dann schielte er zu Xiang rüber.
„Tu einfach was ich dir sage.“ Er winkte mit dem Flügel. „Jetzt gib mir die rote Flasche rüber.“
Mit einem schweren Seufzer tat Liu was er forderte. Shen kippte auch diese Flasche aus, diesmal allerdings in der Mitte des Saals und an den Wänden entlang. Anschließend füllte er eine Schale mit dem Brennöl.
Nach getaner Arbeit wandte er sich an Xiang. „So, du wirst jetzt deine Tante rufen.“
Xiang schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das werde ich nicht!“
Shen verengte die Augen. „Wie du willst, dann locke ich sie auch auf eine andere Art hierher.“
Er nahm ein paar Knaller aus dem Gepäck und zündete sie an.
Tigress, Meister Ochse und Sheng zuckte zusammen, als laute Knallgeräusche durch den Palast jagten. Sie waren immer noch damit beschäftigt den Arzt ausfindig zu machen.
„Wo kam das her?“, fragte sich Tigress.
„Besser wir schauen nach“, entschied Meister Ochse, doch Sheng hielt ihn zurück.
„Nein, das sind die Zünder von Vater. Lasst ihn. Er wird es alleine tun wollen.“
Liu verharrte hinter dem Thron im Saal. Seit den gezündeten Feuerwerkskörpern war schon fast eine Minute vergangen.
„Vielleicht hat sie ja nichts gehört“, wisperte sie.
Shen, der auf dem Laufgang-Balkon über dem Thron geduckt verharrte, zischte ihr zu. „Sie wird kommen.“
Wie aufs Stichwort waren auf einmal Schritte zu hören, die aus dem Gang bis in den Saal hallten. Xiang hielt den Atem an. Doch Weglaufen war sinnlos für ihn. Dann erschien ein Schatten im Eingang. Die violette Pfauenhenne sah sich um. Das Mädchen zappelte in Chiwa Griff. Chiwa hielt ihr den Schnabel zu, sodass sie nur dumpfe Laute von sich geben konnte, aber man sah in ihren Augen wie verängstigt sie war.
Die Pfauenhenne richtete ihr funkelndes Augenmerk auf Xiang.
„Sieh mal einer an“, sagte sie. „Wer hat dich denn hierher verfrachtet?“
Sie näherte sich ihm, wobei sie immer wieder sich umsah. Sie merkte, dass hier was faul war.
„Also, wer versteckt sich hier?!“, schrie sie in den Saal.
Als sie keine Antwort erhielt, ging sie weiter auf Xiang zu, jedoch immer das Messer auf Shenmis Hals gepresst.
„Ich warne dich!“, fauchte sie. „Wenn das hier ein Spie ist, dann kann das tödlich enden…“
Sie hielt inne, als sie etwas Nasses unter ihren Füßen fühlte. Verwundert schaute sie an sich runter. Der ganze Boden unter ihr war nass.
„Besser du bleibst stehen!“
Chiwa sah nach oben, wo der weiße Pfau auf dem Laufgang auf der Balustrade stand.
„Wie bist du aus dem Zimmer rausgekommen?“, fuhr sie ihn an.
Shen hob eine brennende Fackel hoch. „Wenn du sie oder mich tötest, dann lasse ich das hier fallen.“
Chiwa lachte. „Wie nett. Willst du mit dem Feuer spielen?“
„Wunderst du dich nicht auf was du stehst? Dann schau her.“
Shen steckte die Fackel in die Schale. Das Öl schoss in einer Stichflamme fast bis an die Decke.
„Diese Flüssigkeit auf der du stehst ist brennbar. Wenn du mich tötest, dann fällt diese Fackel runter und es geht alles in Flammen auf!“
Chiwa blieb für einen Moment der Mund offen, doch dann zog sie die Augen zusammen.
„Du vergisst, dass ich dein Krümmel im Flügel habe.“
Sie drückte das Messer auf Shenmis Brust. In Shens Gesicht zuckte es, doch er schaffte es, die Ruhe zu bewahren. Stattdessen zwang er ein Grinsen auf seinen Schnabel.
„Dafür wirst du dann in Flammen stehen und deine Schönheit ruinieren.“ Er drehte die brennende Fackel in seinem Flügel „Vielleicht wirst du sogar als Leiche verschandelt begraben. Nicht gerade ein schöner Tod.“
Dies ließ die Pfauenhenne in ihrem Tötungsvorhaben zögern.
„Also, wir können es uns so schwer machen, oder einfacher.“
„Und das wäre?“
„Ein Tausch. Meine Tochter gegen ihn.“
Chiwa verengte die Augen. „Erst haut ihr mit ihm ab und jetzt lieferst du ihn mir freiwillig aus? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“
Shen holte tief Luft und stieß ein abfälliges Schnauben auf, wobei sein hassgefüllter Blick auf Xiang ruhte.
„Für die anderen vielleicht. Aber für mich hat er keine Bedeutung. Er hat mehr als einmal meine Familie bedroht. Dafür kann er kein gutes Zeugnis erwarten. Mit ihm kannst du meinetwegen machen was du willst. Ich will nur meine Tochter. Und du nur deinen Neffen. Also. Tauschen wir und du bekommst ihn, unbeschadet. Es sei denn, du willst doch lieber unter Feuer stehen.“
Für einen Moment stand Chiwa völlig versteinert da. Dann huschte ein böses Lächeln über ihren Schnabel. „Du bist ein ganz schön fieser Vogel.“
„Ist ein Talent.“
„Na schön. Hier hast du sie.“
Sie warf das Mädchen nach oben, wo Shen sie auffing. Doch im nächsten Moment warf Chiwa ein Messer hinterher. Doch Shen war diesmal schneller. Er packte die Fackel mit dem Fuß und mit dem freien Flügel wehrte er das Geschoss ab. Das Messer landete irgendwo in einer Ecke.
„Diesmal nicht.“ Er grinste Chiwa an.
Er nahm die Fackel wieder in den Flügel und ließ Chiwa nicht aus den Augen.
„Schön da stehen bleiben.“
Shen ging den Laufgang des Zimmerbalkons entlang, während Chiwa ihn wütend von unten nachstierte. Plötzlich warf Shen eine Pulvergranate. In Sekundenschnelle war alles voller Rauch. Selbst Xiang, der immer noch am Boden lag, konnte nichts sehen. Doch dann fühlte er Flügel um sich. Er kannte Lius Griff und er wehrte sich nicht dagegen. Die junge Pfauenhenne riss Xiang mit sich mit und rannte wie blind durch den Saal Richtung Ausgang des Saals, wo sie auf Shen traf. Mittlerweile hatte sich der Rauch wieder verzogen.
Chiwa hatte sich inzwischen wieder erholt und rannte ihnen hinterher. Shen zögerte nicht lange und warf die Fackel auf das Öl, dass er zuvor rund um den Saal ausgeschüttet hatte. In nur einer Sekunde erhob sich eine Flammenwand, die den hinteren Teil des Saals umhüllte, in der Chiwa drin verschwand.
Liu schrie erschrocken auf und klammerte sich an Xiang. „Wie konnten Sie das tun?! Er wird noch verbrennen!“
Shen zuckte die Achseln. „Unsinn. Die Flüssigkeit in der grünen Flasche, die ich auf ihn geschüttet habe, ist nur behandeltes Wasser. Absolut unbrennbar. Nur das in der roten Flasche war das Brennbare gewesen.“
Liu sah ihn mit offenem Schnabel an. „Warum haben Sie das nicht gesagt?“
Shen grinste. „Es sollte doch echt wirken.“
In der Zwischenzeit hatte Shen seine kleine Tochter aus den Fesseln befreit. Die Kleine war noch ein bisschen verstört. Erst als Shen sanft seine Flügel um sie legte, beruhigte sie sich wieder.
„Daddy, ich will nach Hause“, wimmerte das Mädchen.
„Ja, ja“, redete Shen auf sie ein. „Wir gehen ja jetzt Heim.“
Mittlerweile hatte auch Liu um Xiang die Fesseln gelöst. Wütend richtete sich der blaue Pfau auf.
„Mach das ja nicht nochmal mit mir!“, fauchte er Shen an.
Die Flammen im Saal züngelten und leckten sich an den Wänden hoch.
„Verschwinden wir von hier“, sagte Shen entschieden und machte kehrt.
Liu blieb nichts anderes übrig als Xiang wieder abzustützen und gemeinsam eilten sie in den Flur. Doch im nächsten Moment kamen ihnen im Korridor Stimmen entgegen, die Tongfu gehörte.
„Der Knall kam von hier! Beeilt euch! Ich will noch mein Geld kriegen! Nicht, dass die Pute in die Luft geflogen ist…“
Wie angewurzelt blieben die Geckos stehen und starrten die Pfauenvögel verdutzt an.
„Hey, wo ist denn die alte Schachtel?“, fragte Tongfu verwundert, als er Shenmi in Shens Flügeln sah.
Schnell setzte Shen seine Tochter auf dem Boden ab.
„Ich mach das schon.“
Mit diesen Worten warf Sehn sich nach vorne und schlug die ersten Geckos beiseite.
„Hey!“, rief Tongfu empört. „Los auf ihn!“
Liu wartete, in der Hoffnung eine Lücke in dem Tumult zu finden. Doch die Geckos wollten dem Pfau keine Möglichkeit lassen sich einen Weg zu bahnen. Tongfu war der Einzige, der am Rand stand und alles beobachtete. Dann kam ihm ein Gedanke. Er wartete noch einen kurzen Moment, dann sprang er vor und zielte mit dem Fuß direkt in Shens Bauch.
Der weiße Pfau schrie auf und krampfte auf den Boden zusammen. Dabei hielt er sich die Operationswunde, auf die Tongfu zu brutal getreten hatte.
Tongfu grinste. „Da hab ich wohl den wunden Punkt getroffen, was?“
Doch Tongfu ließ es nicht dabei und zielte jetzt auf seinen verwundeten Flügel. Und immer wieder, wenn Shen einen erneuten Gegenangriff startete, traten die Geckos ihn auf die Schnittwunde am Bauch. Liu sah ein, dass der Pfau nicht mehr in der Lage war zu kämpfen. Sie selber hatte keine Kampferfahrungen und Xiang konnte wegen seinem lahmen Bein erst recht nicht.
„Weg hier!“ Sie schubst alle zurück in die Halle. Dort schmiss sie die Türe zu und verriegelte sie, sodass die Geckos wütend hinter der Türe zurückblieben. Doch in Sicherheit waren sie noch lange nicht. Schon im Rücken spürten sie die Feuerbrunst im Saal.
„Das war ja eine tolle Idee von dir gewesen!“, schimpfte Xiang sarkastisch. „Noch so ein blendender Einfall?“
Shens Blick wanderte zu den Balkonfenster. „Zum Balkon!“
Plötzlich löste sich einer der Bodenplatten vor ihnen. Kurz darauf sprang eine dunkle Gestalt aus dem Boden. Allen blieben die Schnäbel offen, als Chiwa wie ein wutschnaubendes Raubtier vor ihnen stand.
„Mein Neffe kennt wirklich nicht jeden Winkel von diesem Haus. Weshalb es auch mit Recht mein Haus ist. Und das meiner Schwester.“ Sie grinste. „Man kann die Bodenplatten locker mit einem Messer anheben.“ Sie drehte ein Messer in ihren Flügelspitzen. „Wo wir wieder beim Thema wären.“
Liu drückte Xiang an sich. Shen verengte die Augen. Chiwa war nicht nur auf Xiang aus. Diese Teufelin würde auch keinen Halt vor seiner kleinen Tochter machen. Er schielte zu Liu rüber. Diese fing seinen Blick auf.
Plötzlich warf der Pfau Chiwa ein Pulver ins Gesicht. Die dunkle Pfauenhenne wich kurzfristig geblendet zurück.
„Schnell, auf den Balkon!“, schrie Shen die anderen an und stürzte zu dem Gepäck, dass er in die Ecke des Saals verstaut hatte. Dort holte er sich einen Wushu Podao hervor, ein kurzes Schwert mit einem langen Griff, wie eine Lanze. Liu wagte ihn nicht zu fragen, ob er sowas immer mit sich herumschleppte. Stattdessen zerrte sie Xiang mühsam mit sich mit, während Shenmi ihnen zögernd hinterherlief.
In der nächsten Sekunde hatte Chiwa das Pulver aus ihrem Gesicht gewischt und schaute sich nach ihren Opfern um.
„Ewig werdet ihr mir gar nicht entkommen!“
Noch ehe sie die Verfolgung aufnehmen konnte, stellte sich Shen ihr in den Weg.
„Nur einen Schritt näher an meine Tochter und ich schlitze dich auf!“
Er hielt die Lanze vor sich, doch Chiwa quittierte das nur mit einem breiten Grinsen, das im Schein des Feuers noch dämonischer wirkte, als es schon war.
Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf den weißen Pfau. Shen wich ihr aus und versuchte sie mit dem spitzen Ende zu treffen, doch auch die dunkle Pfauenhenne besaß gute Reflexe und die beiden lieferten sich ein ständiges Katz- und Mausspiel.
Draußen auf dem Balkon schaute Liu über die Brüstung, wo es sehr tief runter ging.
„Auch nicht gerade ein guter Fluchtweg“, bemerkte Xiang.
„Dann müssen wir versuchen zu fliegen.“
Xiang wich zurück. „Fliegen? Niemals!“
„Aber wenn es doch die einzige Möglichkeit ist die wir haben?“ Liu Blick fiel auf Shenmi. „Ich könnte sie tragen. Sie können doch selber fliegen.“
„Ich kann nicht fliegen!“, schrie Xiang sie an. „Weil dein feiner Freund mir die Schultern verletzt hat!“
Liu verdrehte die Augen. „Woher wollen Sie das wissen? Sie haben es doch noch nie versucht! Sie versuchen nie etwas! Sie geben sich nur selber auf und vergraben sich nur in Selbstmitleid! Sie wollen es ja noch nicht mal versuchen!“
Plötzlich tauchte ein großer Schatten über ihnen auf. Laishi packte sich Xiang und schwang sich mit ihm in die Luft. Liu reagierte sofort und packte den Geier an den Krallen.
„Hey, lassen Sie ihn los!“
„Kommt nicht in Frage!“ Der Geier lachte. „Ich werde ihn ausstopfen. Wie seinen Vater.“
„Seht mal! Dort oben!“
Zedong deutete nach oben, wo man nur halb den Balkon sehen konnte.
Er stand mit den anderen immer noch vor dem Haupteingang und warteten auf die Ankunft von Wangs Soldaten.
„Dort liegt der Festsaal“, meinte Yin-Yu.
Erst jetzt bemerkten sie den leichten Rauch, der in den Himmel von dieser Etage aufstieg.
Über dem Balkon flatterte etwas in der Luft.
„Ist das nicht…“
Tigress verengte die Augen und sah wie Laishi nicht nur Xiang, sondern auch Liu mit sich hochriss, allerdings hatte der Geier mühe zwei große Vögel zu schleppen, sodass er kaum hochkam.
„Crane, hilf ihnen!“, rief die Tigerin ihrem Freund zu.
Sofort schoss der Kranich zum Balkon.
Inzwischen waren auch die Soldaten oben im Palast angekommen. Wang winkte sie zu sich rüber. Es war Zeit den Palast zu stürmen. „Los, nach oben!“
Damit verschwanden sie im Gebäude. Auch Yin-Yu rannte ihnen hinterher. Sie hatte große Angst um Shen und Shenmi. Warum waren sie noch nicht draußen?
Liu klammerte sich an den Geier. „Lassen Sie ihn endlich los!“
Doch der Geier dachte nicht daran loszulassen und versuchte die Pfauenhenne abzuschütteln.
In diesem Moment knallte Crane gegen den Geier. Laishi ließ Xiang fallen. Auch Liu landete unsanft auf Boden. Die beiden Vögel flatterten wüst in den Himmel und bekämpften sich dort weiter. Mit angehaltenem Atem sah Liu zu, wie die zwei Vögel im Gebirge verschwanden.
Shen gab sein Bestes Chiwa nicht nach draußen auf den Balkon zu lassen. Und für eine Moment sah es sogar aus, als ob er kurz davor war, der Pfauenhenne an die Grenzen zu treiben. Doch plötzlich…
Dem Pfau schwand die Sicht vor Augen. Für einen Moment sah er alles schwarz. Er schüttelte heftig den Kopf, konnte aber den aufkommenden Anfall nicht verhindern.
Diese Sekunde der Unaufmerksamkeit wurde ihm zum Verhängnis. Chiwa nutzte seinen Schwächeanfall und schleuderte ihn mit den schwingenden Ärmelstreifen gegen die Wand.
Stöhnend blieb Shen am Boden liegen. Sein Kreislauf musste sich erst wieder erholen. Chiwa hätte ihn vielleicht aufgespießt, wenn sie nicht auf was anderes aus gewesen wäre. Mordlüsten sah sie sich um, wie ein Vampir. Dann fiel ihr Blick nach draußen auf den Balkon.
„Komm schon!“, forderte Liu den blauen Pfau auf. „Wir müssen fliegen! Versuchen Sie es doch wenigstens!“
Doch Xiang sträubte sich entschieden dagegen. „Nein, nicht in einem Millionen Jahren!“
„Umso besser.“
Beide Pfauenvögel erstarrten, als Chiwa urplötzlich am anderen Ende des Balkons stand.
Die dunkle Pfauenhenne grinste sie hämisch an und machte einen Schritt auf sie zu. Sofort rannte Liu ihr entgegen und stellte sich ihr in den Weg.
„Lassen Sie ihn endlich in Ruhe! Sie sollten sich besser an ihre eigene Nase fassen! Sie hatten kein Recht gehabt ihn so zu misshandeln!“
„Geht mir aus dem Weg, du hässliche Schlampe!“
Chiwa stieß sie zur Seite und schleuderte sie weg. Liu rollte über den Boden und stieß gegen das gegenüberliegende Balkongelände. Chiwas Blick wanderte zu ihrem Neffen, der wie erstarrt auf einem Bein auf dem Balkon stand. Die dunkle Pfauenhenne rieb sich die Flügel.
„Und jetzt kommen wir endlich zu dir. Anscheinend will niemand, dass ich dir einen langsamen Tod beschere. Nun denn, dann machen wir es eben kurz und schmerzlos. So wie du es immer haben wolltest.“
Sie zog ein Messer aus dem Flügel raus. Xiang starrte sie mit Horror an.
„Du bist wirklich wie deine Schwester!“, schrie er sie an, was Chiwa nur ein Lachen entlockte.
„Dann werde ich dir auch das sagen, was sie dir auch als höfliche Dame gesagt hätte, mein feiner schöner Neffe. Wir werden dir die letzte Ehre erweisen.“
Der dunklen Pfauenhenne überzog ein fieses Grinsen. Sie hob das Messer mit dem Flügel und zielte damit auf Xiang. Xiangs Blick wanderte nach hinten zum Balkonrand. Entweder er sprang, oder seine Tante erwischte ihn. Schließlich wandte er sich ab und kroch schnell zur Brüstung vor.
„Oh, nein, so nicht mehr!“, schrie Chiwa und warf das Messer auf ihn.
Doch noch ehe das Messer den blauen Pfau treffen konnte, warf sich ein Schatten vor ihm. Xiang hörte einen erstickten Schrei hinter sich. Flügel klammerten sich von hinten um ihn.
Er schaute hinter sich und sah in das Gesicht von Liu. Beide fielen zu Boden. Entsetzt starrte Xiang auf ihren Rücken. Das Messer hatte Liu knapp zwischen die Schultern getroffen und steckte nun drin fest.
Zuerst stand Chiwa wie erstarrt, doch dann ging sie wütend auf die beiden zu.
„Du verdammtes Miststück!“, schrie sie „Du verdammtes Federvieh! Hau gefälligst ab!“
Sie packte Liu an den Schultern und versuchte sie von Xiang wegzuzerren, doch Liu wollte ihn nicht loslassen und klammerte sie eisern an den blauen Pfau fest, trotz des Messers in ihrem Rücken.
Im nächsten Moment rannte etwas Weißes auf Chiwa zu.
„Hey, lass ihn in Ruhe!“, schrie Shenmi sie an.
Chiwa bebte vor Wut.
„Du! Dich werde ich auch noch ausstopfen!“
Sie stürzte sich auf sie. Shenmi schrie auf und raste über den Balkon.
„Hilfe! PAPA!“
Shen richtete sich stöhnend auf. Er schüttelte mehrere Male heftig den Kopf, doch die Anstrengung von vorhin hatte seinem Zustand ziemlich zugesetzt. Mühsam hievte er sich an die Wand hoch und schaffte es sich auf den Beinen zu halten. In diesem Moment sah er Shenmi auf sich zu rennen, dicht gefolgt von einer wütenden Pfauenhenne. Der weiße Pfau fand keine Kraft mehr zu kämpfen. Stattdessen warf er sich nach vorne und schlang seine Flügel um das Mädchen. Chiwa hielt an und stierte wütend auf die zwei weißen Vögel herab.
„Das reicht mir jetzt!“ Sie nahm ihre beiden Ärmelstreifen und schwang sie kurz in die Luft. „Euch hässliches Gesindel leg ich zuerst um! Dann kann ich endlich meinen Neffen für seine Missetaten büßen lassen!“
Chiwa schwang ihre Ärmel und schlug den weißen Pfau wie mit Peitschen von beiden Seiten.
Shen fiel zur Seite, hielt Shenmi aber weiterhin geschützt in den Flügeln. Chiwa steigerte sich immer weiter in Rage. Sie wickelte ihre langen Ärmelstreifen um den weißen Pfau und schleuderte ihn mit voller Wucht durch eines der Balkonfenster. In einem Scherbenregen krachte der Pfau nach draußen, rollte über den Balkon und kam am Geländer zum Stehen. Verängstigt lugte Shenmi aus seinen Flügeln raus. Sie zog den Kopf ein, als Chiwa über den Balkon auf sie zu kam. Ihre Ärmelstreifen immer noch feste umklammert, die sie immer noch wie Peitschen um sich schwang.
„Daddy, wach auf!“ Panisch rüttelte ihren Vater. Shen krampfte zusammen. Er konnte Shenmi zwar hören, aber er hatte immer noch einen leeren Kopf.
Chiwa kicherte böse. „Du bist wirklich ein erbärmlicher Schwächling.“
Shenmi schrie auf, als Chiwa sie am Hals packte. „Tja, mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen.“
„Dad!“
„Hier ist der Festsaal!“, rief Yin-Yu und deutete zur Tür.
Doch dann blieben Wang und die Soldaten verwundert stehen.
„Was zum…?“
Tongfu, der immer noch mit seinen Geckos vor der Tür stand, sah die Truppe verwundert an.
Wang winkte seine Soldaten nach vorne. „Verhaftet sie!“
In diesem Moment sprang Shen auf. Er entriss Chiwa Shenmi aus den Flügeln und steckte sie unter seinen Mantel, den er anschließend wieder schützend über sie legte. Dann lehnte er stöhnend am dem Balkongelände. Diese Aktion machte Chiwa nur noch wütender. Sie bündelte erneut ihre Ärmelstreifen von ihrem rechten Ärmel und schleuderte sie gegen den Pfau. Die Stoffe knallten laut gegen den weißen Körper. Doch Shen blieb, wenn auch ein kleinwenig schwankend, stehen. Sein Flügel hatte wieder zu bluten angefangen, ebenso auch seine Bauchwunde. Doch er blieb standhaft.
Chiwa bebte vor Wut. War dieser hässliche Vogel durch nichts zu Fall zu bringen?
Schließlich konnte Shen sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er sackte zusammen.
„Du bist ein ganz schön zäher Vogel“, bemerkte Chiwa anerkennend und beugte sich über den weißen Pfau. „Der Vater opfert sich für sein Töchterchen, wie niedlich.“
Sie packte Shen, riss ihn hoch und drückte ihn über die Brüstung des Balkons.
Xiang, der immer noch wie betäubt etwas weiter weg in Lius Flügeln lag, fand endlich wieder die Kraft seine Flügel zu bewegen und strich über Lius Rücken, wo er das Messer fühlen konnte. Seine Fingerfedern umklammerten das Mordinstrument und zog kräftig daran.
Unterdessen wurde Shen schwindelig, während Chiwa ihn weiter über den Rand schob und drohte ihn vom Balkon zu stürzen.
„Laishi erwartet dich schon unten“, höhnte sie.
Plötzlich vernahm die violette Pfauenhenne ein Geräusch hinter sich. Sie drehte sich um, doch im nächsten Moment sprang sie etwas an und etwas stach zu.
Ein greller Schrei zerriss die Luft.
„Es ist vorbei!“
Wang schaute auf die Geckos herab, die jetzt alle von seinen Soldaten festgehalten wurden.
Tongfu schnaubte. „100 gegen 11 das ist unfair!“
Wang ließ dieses Argument völlig kalt. „Los, Tür einrennen!“
Sofort warfen sich mehrere Soldaten gegen die Tür. Diese gab nach und der Weg war endlich frei. Wang versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Das Feuer hatte schon weit im Saal um sich gegriffen.
„Löscht sofort das Feuer!“, rief er seinen Soldaten zu.
Dann sah er sich um. Wo waren die anderen?
Sein Blick wanderte rüber zu den zertrümmerten Balkonfensterscheiben. „Dort hin!“
Yin-Yu, die auch gerade in den Saal kam, blieb beim Anblick des Feuers erstarrt stehen.
„Grund gütiger Himmel, wo ist Shen?“
Ihr Blick wanderte zum Balkon, wo sie eine weiße Figur erblickte.
„Shen!“
Sie rannte nach draußen. Wang folgte ihr dicht auf den Fersen. Auf dem Balkon angekommen, blieben sie verwundert stehen und starrten auf das Bild, das sich ihnen bot.
Shen lag keuchend und erschöpft gegen das Balkongeländer gelehnt, Shenmi hatte sich unter seiner Robe wieder hervorgewagt und rüttelte ängstlich an ihm herum. Als sie ihre Mutter erblickte rannte sie auf sie zu. „Mama!“
Schnell fing Yin-Yu das aufgeregte Mädchen auf. Dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden, von dem was sie sah. Vor ihnen lag ein dunkler Körper auf dem Boden. Davor saß Xiang, halb aufgerichtet am Boden und starrte wie betäubt auf den Körper.
Der blaue Pfau drehte sich zu ihnen um. Seine Augen waren weit offen. „Sie… sie liegt da wie meine Mutter.“
Im nächsten Moment stieß er ein keuchendes Stöhnen aus und brach weinend zusammen.
Wang trat näher heran und starrte auf den Körper, der einst Chiwa gewesen war. Sie lag auf den Rücken, ihre Flügel von sich gestreckt, die Augen weit aufgerissen. Das Messer steckte genau in ihrem Herz.
Wang rümpfte die Nase. „Schätze, die kann uns nicht mehr gefährlich werden.“
Yin-Yu rauschte an ihm vorbei und rannte zu Shen. „Shen!“
In diesem Moment tauchten auch Xia, Zedong, Fantao und Jian auf und sahen gerade noch wie ihre Mutter ihren Vater aufhob.
„Vater!“
Alle eilten zu ihm rüber und umringten den weißen Pfau.
Shen blinzelte. „Was… was ist mit Shenmi?“, murmelte er.
„Es geht ihr gut“, redete Yin-Yu beruhigend auf ihn ein und streichelte seinen Kopf. „Es geht ihr gut.“
„Es geht ihr gut…“, murmelte Shen fast ungläubig. Erleichterung machte sich in ihm breit. „Es geht ihr gut…“ Ein Lächeln huschte über seinen Schnabel. Tränen stiegen ihm in die Augen. „Das ist schön zu hören.“
Er schloss die Augen, immer noch mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Alle sahen ihn erschrocken an.
„Shen!“ Hastig sah sich Yin-Yu um. „Ist der Arzt hier?!“
„Ich werde ihn sofort holen lassen“, versicherte Wang. „Der wird heute keine Ruhe mehr haben.“
Sein Blick wanderte zu einer anderen Figur am Balkongelände, die er zuvor nicht sofort bemerkt hatte. Der Ochse ging auf sie zu und schaute auf Liu herab, deren Rücken blutrot gefärbt war.
„Ich glaube, hier brauchen wir auch einen Arzt!“
Wangs Blick wanderte wieder zu Xiang und seiner toten Tante mit dem Messer in der Brust. Ohne dass der Hunnenkönig es wusste, es war dasselbe Messer, was Xiang Liu aus dem Rücken gezogen und womit er anschließend seine eigene Tante erstochen hatte.
Xiang bekam von allem was um ihn herum passierte nichts mit. Auch nicht als Wang neben ihm stand und ihn auf die Schulter tippte. Er saß einfach nur da und weinte.
Die Abenddämmerung strahlte mit ihrem letzten Sonnenlicht eine beruhigende Wirkung aus. Selbst Shen konnte dieses Gefühl nicht leugnen. Er stand in einem der vielen Korridore des Palastes und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Sein Flügel steckte in einer Bandage und sein Auge war etwas angeschwollen. Wenigstens konnte niemand die blauen Flecken unter seinem Gefieder sehen, höchstens den Blutfleck von der wieder aufgegangenen Operationswunde, die nur notdürftig gesäubert worden war. Ihm schmerzte immer noch jeder Muskel den Chiwa ihm mit ihren Schlägen zugefügt hatte. Ansonsten besaß er keine schlimmen Wunden. Er war nur erschöpft, hatte der Arzt bei seiner Ankunft diagnostiziert und es hatte zur Erleichterung seiner Familie nicht mehr lange gedauert bis der weiße Pfau wieder zu sich kam. Es war wie eine Erlösung für ihn gewesen sich fallen zu lassen, nachdem er seine letzten Kräfte verbraucht hatte.
Ein paar Schritte hinter dem weißen Herrscher hockten die fünf Meister, daneben auch Meister Tosender Ochse und Meister Kroko und warfen hin und wieder einen Blick auf eine Tür. Shen hatte den Tadel des Ochsen, dass er wieder alles in Brand gesteckt hatte, notdürftig mit Humor eingesteckt. Zudem brachte nach diesen Ereignissen des Tags kaum einer noch ein Wort heraus. Jeder war am Limit und jeder hätte am liebsten diesen Ort verlassen, wenn da nicht eine große Sorge übriggeblieben wäre.
Shens Blick wanderte weiter nach hinten, wo auch Yin-Yu und die Kinder saßen. Die drei Jungs hatten sich eng an ihre Mutter gedrückt und schliefen. Auch Shenmi hatte sich auf den Schoß von ihrer Mutter gekuschelt. Alle waren ziemlich erschöpft. Selbst Sheng und Xia entkam ab und zu ein Gähnen.
Endlich öffnete sich die Tür. Alle hoben gleichzeitig die Köpfe. Der ehemalige Militärarzt zog sich seinen weißen Kittel aus und schaute in die Runde.
„Wie geht es ihm?“, fragte Tigress sofort.
Der Affe massierte sich die Finger. „Nun, er hat ein… na ja, dickes Fell, das wird schon wieder. Es hätte schlimmer kommen können, aber er wird alsbald wieder auf den Beinen sein.“
Erleichterung machte sich unter den Freunden breit. Nur Yin-Yu war noch um jemand anderen besorgt.
„Und was ist mit ihr?“, erkundigte sie sich.
Der Militärarzt verschränkte die Arme auf den Rücken und beugte sich zu der Lady vor. „Die hatte mehr als Glück gehabt. Obwohl er ihr das Messer herausgezogen hatte, so haben sich die Blutungen noch in Grenzen gehalten.“ Er rümpfte die Nase. „Es hätte wirklich schlimmer kommen können. Ich sage immer, nie einen Gegenstand ohne Arzt aus dem Körper herausnehmen.“
„Können wir zu ihm?“, fragte Monkey ungeduldig.
Der Arzt zuckte die Achseln. „Der wird noch etwas benebelt sein vom Betäubungsmittel. Aber ihr könnt ja versuchen mit ihm Kontakt aufzunehmen.“
Leise betraten die Freunde das Zimmer. Auch die Kinder folgten ihnen. Xia und Sheng sahen ihre Mutter fragend an. Doch diese hatte nichts dagegen, um nach dem Drachenkrieger zu sehen. Einzig nur Shen hielt sich im Hintergrund.
Im Raum standen zwei Betten. In einem befand der Panda. Er lag immer noch in der Narkose.
Shenmi sprang aufs Bett und sah den Panda besorgt an. „Po, hast du jetzt auch Schmerzen?“
„Ich glaube kaum, dass er dich hören kann“, meinte Mantis und tippte prüfend auf Pos Nase.
Yin-Yu, die jetzt ebenfalls in den Raum gekommen war, sah zu Liu rüber, die in einem anderen Bett untergebracht war. Sie lag auf dem Bauch, wohl um die Wunde im Rücken nicht zu belasten. Yin-Yu schaute ihr über die Schulter, doch die jüngere Pfauenhenne war noch nicht bei Bewusstsein.
Auf einmal erfüllte ein Murmeln den Raum. Der Panda hatte angefangen zu blinzeln. „Hey, Leute“, grüßte Po mit müder Stimme.
„Po!“
Seine fünf Freunde beugten sich besorgt über ihn. Selbst Xia und Sheng reckten die Hälse. Im nächsten Moment zwängte sich Meister Ochse vor und schob die anderen zur Seite. „Drachenkrieger, wenn ich eine Bestrafung aussetzen soll, dann sag es mir!“
Po sah den Meister müde an. „Bestrafung? Für wen… Wo ist Shen?“
„Dort drüben steht er“, antwortete Mantis und deutete in den Hintergrund.
Po sah den weißen Pfau prüfend an. „Siehst ja ziemlich mitgenommen aus. Alles noch okay bei dir?“
Normalerweise hätte Shen ihn jetzt böse angeschaut, doch stattdessen musste der Pfau schmunzeln. „Du siehst auch nicht gerade besser aus.“
Po lächelte. „Keine Sorge. Ich hab ein… dichtes Fell.“
„Ein Glück, dass du keine Diät gemacht hast“, scherzte Mantis.
„Was ist denn eigentlich passiert?“, wollte Po wissen. „Mm… Wo ist denn diese verrückte Tante?“
„Sie ist tot“, antwortete Tigress für die anderen.
„Mm…“ Po spitzte die Ohren. „Uh… und wer hat es getan?“
Sein Blick wanderte zu einer weißen Figur, die noch etwas weiter weg von seinem Bett stand.
„Nein, es war nicht er“, korrigierte Viper seinen Blick. „Es war Xiang.“
Po setzte sich ruckartig auf. „Wa… Autsch!“
„Po, du solltest noch liegen bleiben“, mahnte Tigress besorgt und drückte den Panda wieder aufs Kissen.
Shen verschränkte die Flügel und trat näher neben den Panda ans Bett heran. „Ja, da hilft dir auch nicht dein… dichtes Fell.“
Po sah ihn überrascht an. „Du hast gerade einen Witz gemacht, nicht wahr?“ Er hob die Tatze und gab dem Vogel einen Seitenstoß. „Ach, übrigens. Deine Messer sind wirklich scharf. Mein Kompliment.“
Shen rümpfte den Schnabel, dann lächelte er. „Du solltest besser aufhören, dich als Zielscheibe vor mir aufzustellen, Po.“
Po lächelte. „He, he, ja klar, du… Moment! Hast du gerade meinen Namen gesagt?“
Shen erstarrte, dann hob er den Kopf. „Nein, hab ich nicht.“
„Doch, doch!“, beharrte der Panda. „Du hast meinen Namen gesagt!“
Shen wandte sich ab. „Nein, hab ich nicht.“
„Du hast aber meinen Namen gesagt…!“
Shen ignorierte die weiteren Worte des Pandas und warf Yin-Yu einen entschuldigen Blick zu, dass er ohnehin jetzt gehen wollte. Die Pfauenhenne nickte ihm zu und der weiße Pfau verließ den Raum, während Po vor lauter Begeisterung im Bett herumwippte, was allerdings seinen frischen Wunden nicht so gut bekam. „HEY! Er hat meinen Namen gesagt! Habt ihr das gehört? Er hat meinen Namen gesagt… Autsch!“
Nachdenklich schritt der weiße Lord die prächtigen Gänge entlang. Er hatte den Drachenkrieger, diesen Panda, zwar nur ungern beim Namen genannt, aber es war schon ein merkwürdiges Gefühl mit seinem Ex-Erzfeind so zu reden. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als ihm beim Stichwort „Feind“ noch etwas anderes einfiel.
Er sah auf, als er Wang im Korridor auf sich zukommen sah. Der Hunnenkönig sah Shen erwartungsvoll an. „Und?“
„Er ist aufgewacht“, beantwortete Shen die Frage bezüglich des Drachenkriegers. „Er scheint keine bleibenden Schäden erlitten zu haben.“ Doch das war nicht der Grund, weshalb Shen das Zimmer verlassen hatte. „Was ist mit ihm?“
Wang deutete auf den Boden. „Wir haben ihn in die untersten Stockwerke untergebracht. Er steht unter Bewachung. Wollen Sie ihn sehen? Für ein einwandfreies Gespräch kann ich aber nicht garantieren.“
Der weiße Lord verschränkte nachdenklich die Flügel. Er musste nicht nur an das neuliche Gespräch mit Liu denken, sondern auch daran, dass er durch Xiangs Handeln ihn schlecht jetzt zum Tode verurteilen konnte.
Schließlich hob er den Kopf und nickte. „Dann bring mich zu ihm.“
Bei dem Zimmer handelte es sich eher um einen großen kahlen Kellerraum. Wang öffnete die Tür und Shens Blick fiel sofort auf den blauen Pfau. Xiang saß auf dem Boden, rechts und links von ihm standen zwei große Wachleute. Wegen seinem lahmen Bein hielt man es nicht für nötig ihn anzuketten. Als der weiße Pfau eintrat, hob Xiang nur flüchtig den Kopf. Er war immer noch völlig betäubt von seiner Aktion gegenüber seiner Tante und war nicht mehr so selbstbewusst wie am Anfang. Man hätte fast den Eindruck haben können, er habe Angst seine Tante würde irgendwie nochmal wiederkommen.
Wang stellte sich vor ihm auf und verschränkte die Arme, während Shen sich neben ihn gestellte. Eine Weile sagte keiner ein Wort, bis es dem am Boden liegenden Pfau langsam zu viel wurde.
„Was starrt ihr mich alle so an?“, murmelte Xiang verbittert.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich mit dir anstellen soll“, knurrte Wang.
Xiang saß nur da mit gesenktem Blick. Er schluckte schwer. Dann lächelte er gezwungen. „Dann mach es dir doch leichter“, schlug er schüchtern vor. „Schlag mich doch einfach nieder, dann stehe ich euch wenigstens nicht mehr im Weg.“ Er hob den Kopf. „Oder was hindert euch daran?“
König Wang stieß ein Schnauben aus. „Es kommt eher darauf an, was du vorhast.“
Xiang schmunzelte bitter. „Was soll ich denn schon vorhaben?“ Sein Blick wanderte auf sein gelähmtes Bein. „Zu was Vernünftigen tauge ich doch eh nicht mehr.“
„Das hat aber vorhin ganz anders ausgesehen“, meinte Shen.
Der blaue Pfau kniff die Augen zusammen. „Ich hab sie einfach gehasst! Nur gehasst! Ich hab nur auf eine Gelegenheit gewartet.“
Die beiden Herrscher tauschten kurz Blicke untereinander aus, dann rieb Wang sich über den Nacken. „Normalerweise würde ich dich was weiß ich wohin schicken“, meinte er streng. „Aber wir wollen uns dir gegenüber auch nicht unfair verhalten…“
Xiangs Flügel verkrampften sich. Dann richtete er ruckartig seinen Oberkörper auf und sah den Ochsen giftig an. „Ich gehe nicht wieder dorthin! Dazu habt ihr kein Recht!“
König Wang ballte die Fäuste. „Ich war mehr als nachsichtig mit dir gewesen, dich in eine Kurresidenz zu schicken…!“
„Verdammt nochmal!“, schrie Xiang ihn an. „Ich will keine Nachsicht! Ich will keine Milderung! Ich will keine Gnade! Und noch am wenigsten will ich Mitleid!“
Shen zog die Augenbrauen zusammen. „Was willst du eigentlich?“
„Ihr sollt verschwinden!“, befahl Xiang mit bockigem Unterton. „Alle! Das ist immer noch mein Haus!“
Wang meinte sich verhört zu haben. Allein schon die Unverschämtheit dieses blauen Pfaus trieb in ihm die Weißglut hoch. „Dir ist die ganze Sache wohl zu Kopf gestiegen, oder?!“
Xiang stieß ein lautes Fauchen aus. „Nur weil ich nicht laufen kann, heißt das noch lange nicht, dass ihr mich herumschubsten könnt, wie es euch passt!“
Yin-Yu sah auf, als sie merkte, wie sich im Nachbarbett etwas bewegte. Schnell verließ sie die versammelten Kung-Fu-Krieger und begab sich an Lius Krankenlager. Die junge Pfauenhenne begann zu blinzeln, wirkte aber noch sehr benommen.
„Xiang…“, murmelte sie.
Yin-Yu nahm ihren Flügel in ihren. Die Pfauenhenne im Bett reagierte auf ihre Berührung und schaute zu ihr auf. Yin-Yu zwang sich zu einem Lächeln. Doch noch ehe sie sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen konnte, wollte Liu dringend etwas anderes wissen.
„Wie geht es ihm?“, fragte sie mit schwacher Stimme.
Yin-Yu wusste sofort wen sie meinte. „Es geht ihm gut. Er hat keine Verletzungen erlitten.“
Sie spürte, wie Liu ihren Griff um ihren Flügel erwiderte.
„Bitte, bitte…“, flehte sie. „Sperrt ihn nicht ein wie ein Tier… Er mag es nicht eingesperrt zu sein.“ Sie begann zu schluchzen.
Die anderen, die noch um das Bett des Drachenkriegers versammelt waren, hoben überrascht die Köpfe, während Liu ungehindert weiterflehte. „Bitte… bitte… er soll nicht leiden… er hat doch schon genug durchgemacht…“
Yin-Yu beugte sich über sie. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Sie legte ihre Flügel um sie, was Liu wiederum letztendlich zum Weinen brachte. Yin-Yu konnte nicht sagen, ob es nicht auch die Nachwirkungen vom Narkosemittel waren und wandte sich an den ehemaligen Militärarzt. „Doktor, könnten Sie ihr etwas zur Beruhigung geben?“
Der Affe zuckte die Achseln. „Meinetwegen. Hier kommt man ja eh nicht zur Ruhe. So hab ich mir meinen Ruhestand nicht gerade vorgestellt.“
„Tröste dich, Kumpel“, meinte Po im Nebenbett. „Unser Urlaub ist auch ins Wasser gefallen…“ Er hielt kurz inne. „Ach du meine Güte! Unser Urlaub!“ Niedergeschlagen ließ er sich aufs Kissen sinken. „Adieu, schöne Wasserrutsche.“
Unterdessen verließ Yin-Yu eilig das Zimmer und schritt durch die Gänge. So wie sie Xiang kannte, würde er sich nur wieder in Rage reden. Und Shen war jemand, der selten seinen Zorn kontrollieren konnte, wenn er wirklich wütend war. Trafen diese beiden aufeinander, konnte es nur eine Katastrophe geben.
„DAS IST MEIN HAUS!“, brüllte Xiang. „ICH LASS MICH HIER NICHT RAUSJAGEN!“
Shen verengte die Augen und stieß den blauen Pfau wütend an. „Schweig! Außerdem hab ich noch nicht vergessen, das du meine Tochter entführt hast! Am liebsten würde ich dich…!“
„Na dann mach es doch!“, stachelte der blaue Pfau ihn frech an.
Er schrie auf, als Shen auf ihn draufsprang und ihn mit dem Fuß zu Boden drückte und ihm dabei feste in die Augen sah. „Außerdem gilt das nicht nur für sie!“ Er beugte sich noch weiter runter, sodass sich fast ihre Köpfe berührten. „Ich weiß, was du mit Xia gemacht hast!“
Jetzt war es Xiang, der bedrohlich die Augen verengte. „Hat sie doch gepetzt? Eigentlich habe ich es ihr verboten, jemanden etwas zu sagen…“
Er stieß einen erstickten Schrei aus, als Shen ihn weiter zu Boden drückte.
„Hey!“, beschwerte sich er blaue Pfau. „Verlangst du etwa von mir, dass ich mich jetzt bei ihr entschuldige?!“
Shen grub seine Krallen in seinen Hals. „Noch nicht mal dafür würde es reichen…!“
„Jetzt reicht es aber!“ Wang schob die beiden Pfaue auseinander, wobei seine Wut sich nur gegen Xiang richtete. „Du scheinst wohl zu vergessen, in was für einer Lage du bist! Egal was damals gewesen war, das ändert nichts an der Tatsache, dass du eine Strafe verdient hast.“
Xiang lag keuchend auf den Boden und stierte mit vor Hass brennenden Augen zu dem Hunnenkönig hoch. Doch dann hoben sich seine Schnabelwinkel zu einem bösen Lächeln. „Ich würde es zu gerne sehen, wie du tot vor mir auf dem Boden liegst.“
Wieder ballten sich Wangs Hufe zu Fäusten.
„Xiang, hör endlich auf damit!“, hallte Yin-Yus Stimme plötzlich in den Raum. „Du kannst ja dein Haus behalten, wenn du dich nur beruhigen würdest.“
Wang und Shen sahen gleichzeitig auf. „Was?!“
Selbst Xiang war für einen Moment völlig irritiert, während Yin-Yu mit festen Schritten auf ihn zuging. „Wir geben dir die Chance dazu, wenn du dich nicht weiterhin wie ein Irrer aufführen und mal vernünftig mit uns reden würdest.“
Xiang bog drohend seinen Hals. „Nachdem ihr mich so behandelt habt?!“
„Du hättest an unsere Stelle genauso gehandelt!“, verteidigte Yin-Yu ihren Standpunkt. „Jetzt tu uns den Gefallen und atme erst mal tief durch.“
Sie sah ihn bittend an. Sie stand jetzt direkt von ihm. Doch von Ruhe konnte bei Xiang keine Rede sein. Im Gegenteil. Er sprang auf sein linkes Bein und wollte sie schlagen, doch Yin-Yu hob noch rechtzeitig ihren Flügel. Xiang sah sie mit weiten Augen an. Zum ersten Mal hatte sie seine Ohrfeige abgewehrt. Yin-Yu ging sogar noch soweit, dass sie seinen Flügel festhielt und ihren Exmann gezwungenermaßen wieder zu Boden drückte.
Noch immer völlig von der Rolle starrte Xiang sie an, dann senkte er ergeben den Blick. Er schien sich wohl gegen niemanden mehr behaupten zu können.
Yin-Yu rieb sich nervös die Flügel. „Versuch es doch wenigstens. Die Zeit kannst du nicht mehr zurückdrehen. Entweder du tust es heute, oder du kannst morgen ins Gefängnis gehen. Mach deine Mutter nicht dafür verantwortlich, dass du dein ganzes Leben noch weiter ruinierst.“
Xiang stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Du hast leicht reden.“
„Nein, ich weiß wovon ich spreche“, entgegnete Yin-Yu mit fester Stimme. „Ich kann dich in irgendeiner Weise verstehen.“
Ihr Exmann lachte auf. „Seit wann ist dein Hirn gescheit genug, um einmal etwas zu kapieren?“
„Weil ich in einer ähnlichen Situation war wie du.“ Noch ehe Xiang eine weitere niederträchtige Bemerkung äußern konnte, fuhr sie schnell fort: „Hast du dich nie gewundert, warum meine Mutter so plötzlich nach ihrer Ankunft in der Stadt verstarb?“
Shens Augen weiteten sich. Er wusste, was mit ihrer Mutter passiert war, dennoch fragte er sich, ob es so klug war, Xiang davon in Kenntnis zu setzen. Doch er unterbrach sie nicht. Xiang hingegen interessierte diese Aussage herzlich wenig. „Es war die absolute Ausnahme gewesen, dass ich ihr überhaupt Zutritt nach Mendong gewährt hatte. In den Palast hab ich sie erst gar nicht reingelassen.“
Yin-Yu seufzte. „Du weißt, dass ich schwanger war vor unsere Heirat.“
Xiangs Flügel krampften sich kurz zusammen.
„Meine Mutter hatte es auch gewusst. Sie wollte mir die Kinder wegnehmen und ihnen schlimme Dinge antun. Ich hab’s nicht zulassen können, also hab ich es getan.“
Es folgte eine Pause, die in Xiang eine gewisse Neugier hervorrief. „Was hast du getan?“
Die Pfauenhenne schluckte. „Versteh mich nicht falsch. Ich hätte ja auch weglaufen können, aber sie hielt mich eisern in ihrer Gewalt, bis ich die Eier gelegt hätte. Von daher hatte sie mir keine andere Wahl gelassen. Entweder das Leben meiner Kinder, oder sie.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich habe es aus Notwehr getan.“
Eine Weile sprach keiner ein Wort. Wang verhielt sich neutral. Yin-Yu hatte ihm gegenüber kein Geheimnis daraus gemacht und er nahm es ihr sogar nicht übel. Shen ließ Xiang hingegen nicht aus den Augen und beobachtete genau seine Reaktion. Und Xiang schien für einen Moment wirklich mit einem Schlag seine Sprache verloren zu haben. Er starrte Yin-Yu nur ungläubig an. Ob ihre Erklärung jetzt alles in seinem Universum auf den Kopf gestellt hatte? Oder ob das jetzt nur seine Ansicht verstärkt hatte, dass alle Frauen gefährlich waren?
Doch noch ehe er ein Wort über die Schnabellippen bringen konnte, hob Yin-Yu mahnend den Flügel. „Deine Mutter und deine Tante hatte nicht das Recht auf diese Art und Weise dein Leben zu bestimmen. Ich hab es auch nie so weit kommen lassen, wobei sie mir alles in meiner Jugend genommen hatte. Ich hab 17 Jahre ohne Shen gelebt. 17 Jahre meines Lebens, die ich nie mehr aufholen kann. Aber ich lebe jeden Moment aus. Ich muss die Vergangenheit ausschalten. Denk nicht länger darüber nach, was du im Leben versäumt hast, sondern was du noch vor dir hast. Und was du tun kannst.“
Sie näherte sich ihm. Xiang duckte sie auf den Boden, wie ein ängstlicher Hund. Als Yin-Yu ihren Flügel auf seiner Schulter niederließ, begann er zu zittern. Doch die Pfauenhenne ließ sich nicht beirren und versuchte ihm weiterhin ins Gewissen zu reden. „Gehe es langsam an. Ruh dich erst mal aus und überleg dir, was du dann machen willst.“
Plötzlich wich Xiang von ihr weg und presste sich gegen die Wand. „Haltet ihr mich für blind?! Ich weiß doch ganz genau, was ihr in eurem Hinterkopf ausheckt...!“
„Xiang!“, unterbrach seine Exfrau seine Wutrede. „Wenn du so weiter machst, dann verlierst du nicht nur deine Freiheit, sondern auch im schlimmsten Fall dein Leben.“ Sie warf Shen einen leichten Seitenblick zu. Ein erneutes Mal würde der weiße Pfau eine Schandtat nicht durchgehen lassen. Dessen war sie sich absolut sicher. „Willst du das wirklich riskieren?!“
Das brachte den blauen Pfau erst mal zum Verstummen. Er schien sogar selber nicht zu wissen, was er denken sollte, weshalb Yin-Yu die Gelegenheit ergriff und einen erneuten Versuch wagte. „Xiang. Sieh uns doch an. Sind wir bewaffnet? Wir wollen dich nicht bedrohen.“ Sie wollte ihren Exmann nicht weiter drängen und zog einen Schlussstrich. „Du kannst es immer noch ändern. Denk einfach darüber nach. Sag Huan in welches Zimmer du möchtest und er wird dich dorthin bringen. Wir werden dich nicht bewachen und wir werden dich nicht einsperren. Du sollst alles aus freiem Willen wählen.“
Shen und Wang warfen sich einander verstohlene Blicke zu. Ihnen beide schwebte die Frage über den Kopf, ob Yin-Yu das ernst meinte. Auch Xiang schien sich das zu fragen, doch Yin-Yu sah ihn nur feste an, dann senkte sie den Blick. „Diesmal ist es deine Entscheidung.“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Auf dem Rückweg kam sie an Shen vorbei. Ihre Blicke trafen sich kurz. Yin-Yu sah ihn mit der Frage an, ob sie das Richtige gesagt hatte. Doch Shen senkte nur den Blick und sagte kein Wort.
„Dass du ihn nicht hinrichten lassen willst, das kann ich noch verstehen, aber nicht indem du ihm seinen Wohnsitz wieder überschreibst!“
Beide hatten sich in einem der vielen Zimmer zurückgezogen und Shen war nicht gerade von dem Ergebnis begeistert.
„Shen.“ Versöhnlich legte die Pfauenhenne ihre Flügel auf seine Schultern. „Ich weiß, es ist mit einem Risiko verbunden, aber ich konnte nicht anders.“
Shen verenge die Augen. „Das ist ein gefährliches Wagnis. Er ist zwar körperlich eingeschränkt. Aber er könnte jederzeit jemanden anstiften. Ich traue ihm nicht.“
„Ich ja genauso wenig.“
„Warum willst du es dann wagen?“
„Ich tue es ja nicht nur wegen ihm, sondern auch wegen jemand anderem.“
Shen hob die Augenbrauen, während Yin-Yu es ihm erklärte. „Sie ist aufgewacht. Sie fragt ständig, was mit Xiang ist.“
Sie warf Shen einen bittenden Blick zu, wobei dies auf wenig Verständnis stieß.
„Und was erwartest du jetzt von mir?“, zischte er.
Sie senkte ihre silbernen Augen, was in Shen den Argwohn wieder heraufbeschwor.
„Ach, komm schon.“ Shen wandte sich von ihr ab. „Du willst mir doch nicht sagen, dass sie ihn mag.“
„Bist du wirklich davon überzeugt, oder willst du es nur nicht wahrhaben?“
„Es ist unmöglich.“
„Aber ich weiß es.“
„Woher?!“
„Weil ich dasselbe für dich getan hätte.“ Shen sah sie überrascht an, doch Yin-Yu beharrte auf ihre Aussage. „Wäre die Kanone auf dich gefallen, ich hätte mich vor dich geworfen. Es wäre ihr gegenüber nicht fair. Sie hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt.“
Über Shens Gesicht zogen sich düstere Schatten. „Ich brauchte aber nicht tausend Anläufe um das zu begreifen.“ Er schränkte die Flügel. „Wenn wir ihm das durchgehen lassen, dann verlangt er als Nächstes, dass er die Vollmacht wieder bekommt. Und wenn wir ihm auch das durchgehen lassen…“
Yin-Yu schüttelte bedauernswert den Kopf und drehte ihm den Rücken zu. „Alles ist grau.“
Shen sah sie überrascht an.
„Nicht im buchstäblichen Sinne“, fügte die Pfauenhenne hinzu. „Es ist nur… Ich finde hier keine klare Linie. Zwischen schwarz und weiß. Was wird er werden? Schwarz oder weiß? Düster oder hell?“ Sie sah ihn an. „Was warst du gewesen?“
Shen stieß ein lautes Schnauben aus. „Das wäre jetzt schon das dritte Mal! Er will es ja gar nicht einsehen.“
Yin-Yu seufzte. „Ich gebe ihm noch Zeit. Ich hätte sie dir auch so gegeben.“
Sie bemerkte, wie Shens Flügel sich leicht verkrampften. „Und wer garantiert dir, dass es diesmal funktionieren wird?“
Yin-Yu senkte den Blick. So tief, dass man meinen könnte, ihr würde etwas weh tun. „Shen, ich sage es nur ungern, aber ihr seid euch irgendwie ähnlich.“
Shen wandte sich beleidigt ab. Dasselbe hatte die alte Ziege auch schon behauptet und er mochte es überhaupt nicht, dass man ihn mit ihm verglich. Auch Yin-Yu wollte dieses Thema nicht mehr ansprechen. „Aber lassen wir es dabei. Wir sollten besser morgen weiter darüber reden.“ Sie sah sich um. Ein Schauer durchlief ihren Körper.
Shen bemerkte wie sie sich selber umarmte. „Was hast du?“
„Nach all der ganzen Aufregung, hab ich schon fast wieder vergessen, wo ich bin.“
Der weiße Pfau sah sie verwundert an. „Vergessen?“
„Als ich hierherkam, war ich am verzweifelt gewesen, dass ich dich nie wiedersehen würde. Du wusstest nicht, wo ich war und ich wusste nicht, was aus dir wurde. Hier wurde ich gehalten wie in einem Käfig. Und meine Mutter…“ Sie umarmte sich selber. „Ich weiß nicht was mit den Kindern passiert wäre, wenn ich sie nicht…“
Schnell legte Shen seine Flügel auf ihre Schultern. „Denk einfach nicht mehr an sie. Sie existiert nicht mehr. Es ist vorbei. Jetzt haben wir nur noch uns. Da reißt uns keiner mehr auseinander. Auch heute nicht mehr.“ Er lehnte sich an sie. „Denkst du, du kannst sich überwinden hier zu übernachten?“
Er dachte daran, dass dieses Gebäude Yin-Yu nicht nur der Vergangenheit wegen plagte, sondern jetzt auch noch das, was vor ein paar Tagen passiert war. Es war als läge auf diesem Palast ein Fluch, in dem man nie Ruhe finden konnte.
„Lange möchte ich nicht mehr hierbleiben“, sagte sie leise. „Tu mir nur den Gefallen und lass mich solange wir hier sind nicht alleine. Zumindest nachts nicht.“
Er drückte sie an sich, so als würde das Gebäude mit Krallen nach ihnen greifen. „Dann versuchen wir die Nacht heute durchzustehen.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Beide hoben die Köpfe.
„Herein“, sagte Yin-Yu zögernd.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und nicht nur Xia steckte den Kopf rein, sondern auch die vier kleinen Pfauenkinder, die schnell hereinstürmten und ihre Eltern umringten.
„Was habt ihr gesprochen?“, fragte Xia schnell, bevor ihre jüngeren Geschwister ihre Eltern mit Fragen bombardierten.
„Das wird sich noch zeigen“, wehrte Yin-Yu ihre Frage ab und hob Shenmi auf den Arm. Sie wollte heute nicht mehr über Xiang sprechen. „Meint ihr, ihr könnt euch dazu überwinden, hier zu übernachten?“, fragte sie stattdessen.
Xia schaute sich um. Sie hasste dieses Haus, aber solange ihre Eltern bei ihr waren…
„Solange wir nicht einzeln in einem Zimmer schlafen müssen“, sagte sie schließlich.
Shen lächelte leicht. „Da wird uns schon was einfallen. Keine Sorge.“
In diesem Moment kam Sheng herein. Shens Augen vergrößerten sich, als er sah, was sein Sohn in den Flügeln hielt. „Hier, Vater.“
Er reichte ihm sein Lanzenschwert. „Die Soldaten hatten es in einer Ecke gefunden.“
Shen nahm es dankbar entgegen und betrachtete es nachdenklich. Er fing einen Blick von Yin-Yu auf und der weiße Pfau gab ihr mit einer strengen Geste zu verstehen, dass das letzte Wort zu ihrem vorherigen Diskussionsthema noch nicht gesprochen worden war.
Draußen war es bereits stockdunkle Nacht, als sich endlich der Letzte im Palast, mit Ausnahme der Wachen, zu Bett begeben hatte. Die Furiosen Fünf hatten es vorgezogen bei Po zu übernachten, während die zwei anderen Meister ein Zimmer für sich bezogen, was bei der Anzahl der vielen Zimmer kein Problem gewesen war. Liu war vom Beruhigungsmittel, das ihr der Arzt verabreicht hatte, immer noch so benommen, dass sie noch nicht aufgewacht war. Shen belegte mit Yin-Yu und den Kindern ein großes Zimmer. Das große Bett teilte er nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit den vier kleinen Kindern, während Sheng und Xia je ein eigenes kleineres Bett bekamen.
Es kehrte Ruhe ein. Jeder schlief tief und fest… bis auf einen.
Xiang wälzte sich im Bett hin und her. Das Zimmer, in das Huan ihn gebracht hatte, lag zwar weit genug von seinem ehemaligen Kinderzimmer entfernt, dennoch hatte er einen unruhigen Schlaf. Ab und zu schreckte er hoch. Als ihm dann bewusst wurde, was heute passiert war, wurde er wieder ruhiger und legte sich wieder hin. Als es draußen langsam zu dämmern begann, hielt der blaue Pfau diese Phasen nicht mehr länger aus und setzte sich auf. Sein Blick fiel auf die Zimmertür. Sie war nicht abgeschlossen, sonst schloss er die Tür bevorzugt immer ab. Als kleines Kind hatte er nie die Chance dazu gehabt, um sich vor den grausigen Besuchen seiner Mutter zu schützen. Ein eiskalter Schauder durchzog seinen Körper. Er kniff die Augen zusammen. Es war doch vorbei. Seine Fingerfedern krallten sich in die Bettdecke. Am liebsten würde er aufspringen und mit einem Schlag alle aus dem Palast werfen.
Er schaute rüber zur Wand. Dort befand sich eine Geheimtür. Er könnte dorthin humpeln und abhauen. Oder lauerte ihn dort jemand auf? Vielleicht sogar der weiße Pfau? Er seufzte. Er könnte weglaufen, wenn er wollte, hatte seine Exfrau gemeint. Sollte er das?
Eine Weile saß er teilnahmslos da. Dann rutschte er über die Bettkante. Er stöhnte auf. Sein linkes Bein schmerze vor lauter Muskelkater. Wütend schlug er darauf. Nachdem er sein lahmes rechtes Bein nochmal x-Mal verflucht hatte, humpelte er auf seinem gesunden linken Bein zur Tür rüber und öffnete sie. Er schaute nach rechts und nach links, doch der Korridor war leer.
Blinzelnd schlug Liu die Augen auf. Zuerst wusste sie nicht, wo sie sich befand. Doch als sie die Schmerzen im Rücken spürte, fiel es ihr wieder ein. Nachdem sich der anfängliche Schwindel gelegt hatte, wagte sie es sich ein wenig aufzurichten und sich umzusehen. Po schlief etwas weiter weg im Bett. Seine Freunde lagen um ihn herum. Ihr Blick schweifte weiter durchs Zimmer, doch ansonsten war niemand hier. Der Pfauenhenne durchfuhr ein Zittern. Wo konnte er sein? Sie wollte den Panda und seine Freunde nicht wecken, andererseits konnte sie auch nicht die ganze Zeit im Bett bleiben. Sie musste jemanden fragen, der noch wach war. Mühsam und vorsichtig stieg sie aus dem Bett. Einmal schrie sie fast, als sie ihren Rücken dabei zu heftig bewegte. Keuchend lehnte sie sich gegen einen Tisch. Nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte, schleppte sie sich zur Tür und ging raus auf den Gang. In diesem Moment erhob sich Tigress, die die Pfauenhenne gerade noch zur Tür rausgehen gesehen hatte und wollte ihr folgen, doch eine Stimme hielt sie davon ab.
„Lass sie gehen“, murmelte Po, dem das Verschwinden der jungen Pfauenhenne auch nicht entgangen war. „Sie muss wissen was sie tut.“
Shen richtete sich ruckartig auf. Jemand schlich draußen auf dem Korridor herum. Sein Blick wanderte zum Fenster. Draußen begann es zu dämmern. Nachdenklich schaute er auf Yin-Yu und überlegte, ob er sie wecken sollte, oder nicht. Schließlich entschied er sich zu Sheng rüber zu gehen und stattdessen ihn zu wecken. Der Piebald-Pfau war recht überrascht seinen Vater so früh neben seinem Bett stehen zu sehen, doch der weiße Pfau hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf.
„Sheng, pass auf deine Mutter auf“, flüsterte er ihm zu. „Ich komme gleich wieder.“
Mit diesen Worten nahm er sein langes Schwert und schlüpfte raus auf den Gang. Zu seiner Verwunderung war er leer. Er wirbelte herum, als er tapsige Schritte im anderen Gang vernahm. Rasch rannte er darauf zu und sprang um die Ecke, sein Lanzenschwert schwang er voran und zielte auf die Person. Liu erschrak so sehr, dass sie auf den Boden fiel. Die Schwerspitze kam kurz vor ihrem Gesicht zum Stillstand. Überrascht hielt der weiße Pfau inne.
„Was treibst du dich denn hier herum?!“, fragte er streng.
Liu zog den Kopf ein. „Ich wollte mich nur nach Xiang erkundigen.“
„Und dafür musstest du aufstehen?“
„Ich wollte die anderen nicht wecken“, erklärte sie, „sondern mich nach einem Wächter umsehen.“
Shen zog die Augenbrauen zusammen. „Mit diesen Verletzungen?“ Liu schwieg. Shen sah sie nur an, dann lachte er. „Du bist ja verrückt!“
Liu ignorierte seine Bemerkung und senkte den Blick. „Ich habe es im Bett einfach nicht mehr ausgehalten.“ Sie schaute zu ihm auf. „Wie geht es ihm?“
Der weiße Pfau stieß einen zischenden Laut aus. Er schob sein Schwert vor und hielt die Spitze unter ihren Schnabel und hob ihr Kinn an. Liu wich nicht weg. Shen verengte die Augen. „Warum? Warum liegt dir so viel daran?“
Die Pfauenhenne seufzte leise. „Sie müssten es doch am allerbesten wissen. Weil Sie jemanden haben, den Sie sehr gerne haben.“
Diese Aussage verwirrte Shen mehr als dass sie ihn wütend machte. Die Pfauenhenne vor ihm wich seinem Blick nicht aus. Sie schien es wirklich ernst zu meinen.
Plötzlich war nicht weit entfernt ein Poltern zu hören. Shen wirbelte herum und hechtete um die andere Ecke des Ganges. Liu hob neugierig den Kopf. Sie erschrak erneut, als ein blauer Pfau nach vorne geschubst wurde. Xiang purzelte über den Teppich. Doch noch ehe er sich aufrichten konnte, hielt Shen ihm auch schon sein Schwert wieder vor. Beim Anblick dieser scharfen Waffe fühlte Xiang wieder die Schmerzen in den Schultern, die Shen ihm vor Jahren zugefügt hatte, dennoch verhielt Xiang sich nicht ängstlich und beide stierten sich an.
„Wolltest du etwa abhauen?“, fauchte Shen ihn an.
„Das ist mein Haus“, antwortete Xiang bissig. „Da kann ich gehen und stehen wie ich will!“
Liu schaute ängstlich von einem zum anderen. Sie hatte die Befürchtung, dass die Sache wieder eskalieren könnte. Shen bemerkte ihre Angst und ging auf Distanz, konnte aber seinen giftigen Blick nicht von seinem Rivalen lösen. Dann ging er um ihn herum. Xiang ging nicht auf sein Spiel ein und folgte ihm nicht mit seinen Augen. Stattdessen lag er halb aufgerichtet auf dem Teppichboden und stieß lautstark die Luft auf. „Es bedeutet dir sehr viel mich so zu sehen, nicht wahr?“
Shen trat wieder in sein Blickfeld. „Urteile zu fällen gehören nicht gerade zu meiner Lieblingsbeschäftigung“, meinte er abfällig.
„Du hast kein Recht ein Urteil über mich zu fällen!“, ging Xiang ihm dazwischen. „Nicht in meiner Stadt. Du hast sie noch nicht einmal erobert-“
Er brach abrupt ab, als Shen wieder sein Schwert vor ihm hielt. „Meine Nerven sind ohnehin schon am Limit“, knurrte der weiße Pfau. „Ich würde dir raten mich nicht unnötig zu reizen!“
„Bitte!“, flehte Liu auf einmal. „Hört doch bitte auf zu streiten.“
Der weiße Pfau warf ihr einen bitterbösen Blick zu. Sie hatte Angst um ihn, was ihm gar nicht passte. Eine Weile behielt er seine Stellung, doch dann tippte er Xiang kurz mit der Schwertspitze mahnend am Kinn, dann zog er es zurück. Er warf einen kurzen Seitenblick zu Liu rüber, dann grinste er spöttisch. „Ich denke, ihr seid beide verrückt.“
Mit diesen Worten entfernte sich der weiße Pfau und ließ die beiden alleine. Den beiden Pfauenvögel überraschte sein schnelles Einlenken und für einen Moment saßen beide da und sprachen kein Wort. Schließlich wagte es Xiang zu ihr rüberzuschauen. Sie saß immer noch auf dem Boden, wie er, und schien ihn genau anzusehen. Sie fragte sich, ob er ihren letzten Satz von vorhin mitbekommen hatte. Doch sie hielt es für das klügste ihn nicht darauf anzusprechen. Sie war nur froh, ihn unversehrt zu sehen, doch Xiang konnte wohl nicht das gleiche von sich behaupten.
„Was machst du eigentlich hier?“, knurrte er und hievte sich mühsam an der Wand hoch, sodass er wieder auf einem Bein stand. „Wenn du schon so hier herumturnst, dann kann die Wunde ja nicht so schlimm gewesen sein.“
„Ich wollte sehen wie es Ihnen geht“, klärte Liu ihn auf.
„Mit diesen Verletzungen?“ Xiang blieb kurz der Schnabel offen, bevor er ein spöttisches Lachen ausstieß. „Tz, du bist ja verrückt.“
Liu senkte erneut den Blick. „Ich hab mir Sorgen um Sie gemacht.“
„Du hättest ja auch nur fragen brauchen.“
„Ich war bewusstlos gewesen.“
„Das ist keine Entschuldigung.“ Er lehnte seinen Rücken gegen die Wand und verschränkte die Flügel, wobei er sie streng ansah. „Was willst du eigentlich von mir?“
„Von Ihnen?“ Liu sah ihn überrascht an, dann seufzte sie schwer. „Ich verlange gar nichts von Ihnen.“
„Und warum bist du mir dann ständig hinterher?“
Liu wich seinem Blick aus. Doch damit gab Xiang sich nicht zufrieden, sondern verlangte eine Antwort. „Was willst du?!“
„Ich will nur nicht, dass Ihnen was passiert“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Wieso?“ Er sah sie an, mit einem Blick: Sag und es knallt. Liu hielt den Schnabel geschlossen, doch Xiang sprach es selber aus. „Schon wieder dieses Mitleid. Nicht wahr?“
Lius Atmung beschleunigte sich, aus Angst, er könnte wieder einen Wutanfall bekommen. „Es… es ist nicht nur das.“
„Was dann?!“, fuhr er sie gereizt an. „Nur weil ich reich bin? Davon wirst du keinen Deut zu sehen bekommen. Das heißt, falls ich je wieder an mein Vermögen herankomme.“
Die Pfauenhenne rang kurz nach Luft. „Mir liegt nichts an Ihrem Besitz! Ich möchte doch nur… Wer, außer mir, soll sich denn sonst um Sie kümmern?“
Sie lehnte sich gegen die Wand. Ihr Rücken tat ihr weh. Xiang verengte skeptisch die Augen. Die Pfauenhenne sah ihn so eindringlich an, dass er meinte, sie würde jeden Moment zu weinen anfangen. Doch dann erinnerte er sich daran, was sich in der Kurresidenz ereignet hatte. „Ich dachte, du wolltest mich loswerden? Du wolltest dich noch nicht mehr um mich kümmern.“
Lius Fingerfedern gruben sich in den Teppich. „Das… das hab ich nicht so gemeint.“
Xiang hob geringschätzig den Kopf. „Ach, jetzt auf einmal?“ Er drehte ihr den Rücken zu. „Machen wir uns doch nichts vor. Es ist das Beste, wenn du so bald wie möglich wieder von hier verschwindest…“
„Nein!“ Zu Xiangs Überraschung warf sie sich nach vorne und krallte sich an seinem Hemd fest. Vergeblich versuchte er sich von ihr loszureißen. Als das nichts half, wollte er nach ihr treten, doch mit nur einem Bein ging das schlecht und der Pfau fiel der Länge nach auf den Boden. Erschrocken beugte Liu sich zu ihm runter. „Alles in Ordnung?“
Xiang lag keuchend auf der Seite und starrte auf den Boden. „Warum ich?“, murmelte er. Erst dann wanderte sein Blick wieder zu ihr. „Warum ich?“
Lius Flügel begannen zu zittern. „Ich kann Sie zu nichts zwingen, ich kann Sie nur darum bitten.“ Sie ließ ihn los. „Wenn Ihr es wünscht, dann gehe ich wieder. Ich wollte Ihnen nie schaden.“ Sie rutschte etwas von ihm weg. „Ich hätte mir nur gewünscht, wir könnten… wir könnten…“ Sie scheute sich davor den Satz zu Ende zu sprechen. Sie fürchtete sich vor den Folgen. Doch genau das forderte Xiang von ihr. „Was dachtest du?!“
Liu schluckte schwer. „… Freunde sein.“
Sie schrie auf, als Xiang sie ansprang und ihre Rückenwunde dabei schmerzhaft zusetzte, dennoch fand sie die Kraft ihm ins Gesicht zu schauen. Die Augen des blauen Pfaus funkelten sie böse an. Seine Fußkrallen schoben sich zu ihrem Kehlkopf hoch. „Du verdammtes…!“
„Ich meine das ernst!“, ging sie dazwischen und hielt seinen Fuß fest. „Ich will Ihnen helfen! Bitte, lassen Sie mich Ihnen doch helfen. Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.“
„Ich lasse kein Weib dauerhaft in meine Nähe!“, zischte er.
„Können wir es nicht wenigstens versuchen?“, bat sie.
Xiang kniff die Augen zusammen. „Wenn du glaubst, dir etwas von mir erschleichen zu können…!“
„Wenn Sie mir egal wären, dann hätte ich nicht meinen Rücken für Sie geopfert!“
Dieser Satz veranlasste den blauen Pfau vorerst inne zu halten, doch noch bevor es soweit war, dass er wieder zu einem neuen Gegenargument ansetzen konnte, kam Liu ihm zuvor.
„Ich will nur bei Ihnen bleiben.“ Sie verstärkte ihren Griff kurzfristig um sein Bein. „Wenn es nicht geht, dann können Sie mich immer noch wegschicken.“
Es kehrte Still ein, nur die aufgeregten Atemzüge der beiden waren zu hören. Liu blieb weiterhin auf ihrem verwundeten Rücken liegen, während Xiang mit strenger Miene auf ihrem Oberkörper lag und seine Fußkrallen immer noch auf ihrem Hals gepresst hielt. Zögernd strich Liu mit ihren Fingerfederspitzen über sein Bein. Allmählich verflog Xiangs Anspannung und rief ihn ihm wieder Erinnerungen hervor von ihrer Fürsorge, während seiner Genesung. Schließlich verringerte er seinen Druck auf ihrem Hals.
„Da bist du ja!“
Beide sahen auf. Sie staunten nicht schlecht als Ihnen ein alter Pika entgegenkam. Schnell stieg Xiang von Liu runter.
„Herr Furu?“ Liu war für einen Moment völlig von der Rolle. „Was machen Sie denn hier?“
„Nach langer Suche muss an endlich erfahren, dass sich Personal und Patient meilenweit entfernt haben“, beschwerte sich das kleine Säugetier. „Noch dazu ohne Genehmigung.“
„Das war ein Versehen gewesen, wir wurden verschleppt.“
„Du hast gegen die Anweisungen gehandelt.“
Liu nahm einen tiefen Atemzug. „Ich hab ihn begleitet und mich um ihn gekümmert. Das ist meine Aufgabe.“
„Deine Aufgabe wäre es gewesen, ihn wieder in die Residenz zu schicken. Du hast versäumt dich zu melden und dabei noch einem Staatsfeind einen Meineid geleistet.“
„Ich kann es Ihnen erklären, ich…“
„Du bist gefeuert! Du kehrst ab sofort wieder in die Wäscherei zurück, wo du hingehörst. Und du“, diesmal galt dieser Satz Xiang. „Du bist natürlich auch entlassen!“
Der blaue Pfau verschränkte die Flügel. „Das ist der erste vernünftige Satz, denn ich je von Ihnen gehört habe“, bemerkte er sarkastisch. „Aber sie geht nirgendwo hin. Sie haben hier gar nichts zu sagen.“
Dem Pika fiel kurz die Kinnlade runter. Doch nur für einen Moment. „Werde du mal nicht unverschämt!“
„Nicht in diesem Ton mit mir!“, schimpfte Xiang und packte den Pika am Kragen.
Empört zappelte Herr Furu in der Luft. „Hey, runterlassen, runterlassen!“
„Was ist denn hier für ein Aufruhr?“, beschwerte sich auf einmal eine andere Stimme und König Wang erschien auf der Bildfläche. „Kann man denn in diesem Haus nicht ein einziges Mal Ruhe haben?“
Als sein Blick auf Liu fiel, wunderte es ihn, dass nicht wenigstens sie sich im Bett befand. Xiang hingegen kümmerte sich überhaupt nicht um den Hunnenkönig und begann Herr Furu zu schütteln. „Ach, du feuerst sie einfach so, ja? Das könnte dir so passen!“
„Sie ist nur eine Angestellte“, belehrte der Pika ihn. „Und sie geht wieder in die Wäscherei!“
Liu wünschte sich, sie könnte im Boden versinken, während Xiang Herr Furu grob wieder auf den Boden fallen ließ. „Aber sie geht nicht mit Ihnen mit. - Wang?“
Wang hob genervt die Augenbrauen. Es nervte ihn, dass er ihn nur mit Wang statt mit König Wang ansprach. „Was ist?“
„Ich hab doch wohl Zugriff auf mein Vermögen, oder?“
Der Ochse schnaubte. „Solange du dir nichts damit Illegales damit erwirbst.“
„Dann kaufe ich sie Ihnen ab. Dann arbeitet sie hier. Zumindest bis sie sich dazu in der Lage fühlt.“
Herr Furu fiel erneut die Kinnlade runter, bevor er sie wieder hob und drohend mit dem Finger auf den blauen Pfau zeigte. „Hey, wir sind hier nicht auf einem Sklavenmarkt.“
Liu hingegen sah Xiang völlig entgeistert an. „Wollen Sie das wirklich?“
Grimmig drehte sich Xiang zu ihr um. „Nur weil ich eine Hilfe brauche“, zischte er ihr zu. „Dass du lange hier bleibst, hab ich noch nicht entschieden!“
Wang rümpfte die Nase. „Als ob er was zu entscheiden hätte. Noch ist nicht entschieden, wieviel du hier zu sagen hast.“
Empört schaute Xiang ihn an. „Ich dachte, meine Ex hat mir mein Heim überlassen, oder etwa nicht?“
Wang winkte abfällig mit dem Huf. „Meinetwegen.“ Er hatte keine Lust sich noch weiter mit diesem Pfau zu streiten, dennoch konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen. „Und warum ausgerechnet sie?“
Xiangs Haltung versteifte sich kurzfristig, vor allem da Liu ihn wieder erwartungsvoll ansah. Dann wedelte er wütend mit den Flügeln. „Warum wohl? Als nächstes schickt man mir noch einen Gorilla oder einen Elefanten. Da ist sie schon das mindere Übel!“
Wang runzelte missmutig die Stirn. „Wer’s glaubt…“ Aber mehr sagte er besser nicht.
Shen verschränkte die Flügel. Er hatte sich nach seinem Weggang nicht allzu weit entfernt und alles mitangehört. Er stierte an die Wand, dann schüttelte er mit einem giftigen Schmunzeln den Kopf.
„Der ist mir doch überhaupt nicht ähnlich“, dachte er und ging nachdenklich durch die Gänge.
Ein paar Ecken weiter stand Sheng mit seiner Mutter Yin-Yu, die ebenfalls das Gespräch belauscht hatten. Die ältere Pfauenhenne lehnte sich an die Wand und seufzte wehmütig.
Vielleicht war das ja der erste Schritt. Für beide.
Ein paar Tage später…
„Wow, ich fühle mich so gut wie neu… Autsch!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich Po über seinen noch einbandagierten Bauch.
„Du solltest es nicht so übertreiben“, mahnte Tigress ihn.
Sie befanden sich am Eingang des Palastes und waren kurz davor aufzubrechen. Po hatte sich nach alldem schnell wieder erholt und auch die anderen hatten die schlimmen Ereignisse verarbeitet. Sogar die kleinen Kinder, die gerade mit ihrer Mutter aus dem Tor kamen.
Wang befand sich ebenfalls schon dort mit ein paar Wachleuten. Xiang stand schmollend neben ihm mit verschränken Flügeln. Nur ungern hatte der blaue Pfau sich zu einem letzten Treffen mit seiner Exfrau überreden lassen, bevor sie wieder nach Gongmen reiste. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er sich solange in einem Zimmer eingeschlossen bis das Feld wieder frei war. Doch auch Liu befand sich am Palasteingang und wollte sich ebenfalls verabschieden. Von Zeit zu Zeit erhoffte sie sich Augenkontakt von Xiang, doch dieser mied bewusst ihren Blick und hoffte nur darauf, dass der Tag irgendwann zu Ende war.
Yin-Yu nahm die drei kleinen Jungs dicht an sich, während sie zum Ausgang oder auch Eingang gingen. Shenmi befand sich nicht unter ihnen. Das weiße Mädchen hatte es vorgezogen sich eng an ihren Vater zu halten, der in einigem Abstand hinter seiner Frau herging.
Die ganze Zeit hatte sie die Kinder nicht an Xiang herangelassen. Beide hielten es für das Beste, ihn nicht mit den Kindern zusammenzubringen, dafür war Xiang immer noch zu angespannt. Besonders Shen war wachsam wie ein Wachhund. Alleinschon das Xiang es geschafft hatte, Shenmi zu entführen, ließ in ihm jedes Mal die Nackenfedern aufstellen.
Yin-Yu nickte König Wang kurz zu, dieser wünschte ihr eine gute Reise. Anschließend wanderte ihr Blick zu ihrem Exmann, der sie böse ansah.
„Xiang“, begann sie zögernd. „Das sind meine Kinder.“
Ein Blick hätte nicht abfälliger ausfallen können, als der den Xiang auf die drei kleinen Pfauen warf. Er hatte zum ersten Mal von ihnen gehört, als die alte Ziege ihn von dem Schlupf unterrichtet hatte, was er allerdings nicht so gut aufgefasst hatte. Aber auch die Jungs sahen den blauen Pfau jetzt zum ersten Mal.
„Der sieht aus wie Großvater“, platzte es aus Jian heraus, woraufhin seine Mutter ihm schnell den Schnabel zuhielt.
Xiangs Augenlider nahmen sofort einen verkrampften Ausdruck an, doch noch ehe er seinen Ärger in Worten fassen konnte, stellte sich Shen ihm in den Weg. Beide Pfaue durchbohrten sich mit vernichtenden Blicken, während Yin-Yu die Gelegenheit nutzte und mit den Jungs davoneilte. Sie hielt erst an, als sie neben Liu stand. Diese nickte ihr ergeben zu. Yin-Yu lächelte und umarmte sie.
„Viel Glück“, flüsterte sie ihr zu.
Dann beeilte sie sich zur Tür zu gehen, denn Xiang wollte sie bestimmt nicht noch länger in seiner Nähe haben. Kaum war sie weg, ging auch Shen einen Schritt zurück und nickte Xiang eisig zu. „Auf Nie mehr-Wiedersehen.“
„Das hoffe ich ebenso“, entgegnete der blaue Pfau bissig.
Shenmi, die sich hinter Shen versteckt hatte, sah etwas schüchtern zu Xiang hoch. Sie versuchte ihn anzulächeln, doch Xiang schnaubte nur und strafte sie mit abweisender Miene. Shen tätschelte dem Mädchen beruhigend den Kopf, dann entfernte er sich endgültig.
Po, der die Szene um die Ecke beobachtet hatte, fröstelte unter seinem dichten Fell.
„Das war mehr als eine eisige Verabschiedung gewesen“, dachte er. „Dagegen war selbst der tiefste Winter eine milde Luft gewesen.“
Er beeilte sich, sich zu den andern hinzuzugesellen. Xia und Sheng standen schon auf den ersten Treppenstufen. Sie hatten Xiang nicht mehr sehen wollen. Vor allem Xia befürchtete, dass dann wieder alles von damals wieder in ihr hochkommen würde. Wang begleitete alle vor die Tür, während Xiang es vorzog im Haus zu bleiben. Doch als Liu ihm erneut einen Blick zuwarf, drehte er ihr einfach den Rücken zu und humpelte davon.
Draußen wollte Shen sich noch nach dem Stand der Dinge erkundigen. „Und? Wie sieht die Sachlage aus?“
„Die Geckos wurden inhaftiert“, berichtete Wang. „Ebenso auch Duona. Herr Furu ist da wieder etwas kleiner geworden, als er mitbekam, dass er noch eine Kriminelle in sein Haus gelassen hatte.“
„Und Laishi?“
„Der ist nach dem Kampf abgehauen. Was weiß ich wohin, ich hoffe nur, er richtet nicht irgendwo anders weiter Unheil an.“
Shens Seitenblick wanderte kurz auf den Palast. „Können wir uns darauf verlassen, dass Sie ein wachsames Auge auf ihn werfen?“
Der Hunnenkönig zuckte die Achseln. „Solange er nichts anstellt.“
„Ich denke, dass das nicht passieren wird“, meinte Yin-Yu.
Shen sah sie skeptisch an. „Was macht dich eigentlich so sicher?“
„Ich würde sagen, Erfahrung.“
Shen blieb einen kurzen Moment der Schnabel offen, während Po ihm einen Schulterklopfer gab. „Da bin ich mir sicher, dass sie da sehr viel Erfahrung gesammelt hat, was Shen?“
Er lächelte den Pfau an. Dieser wiegte weniger überzeugt den Kopf. „Vielleicht – Panda.“
Das ließ Pos Mundwinkel wieder im Keller versinken. „Hey, ich dachte wir…“
„Du solltest nicht zu viel denken, Panda. Wir sollten besser eilen, das Schiff wartet.“
Damit hob er Shenmi auf den Arm und stieg mit den andern die lange Treppe runter in die Stadt, während Po verdattert auf der obersten Stufe stehenblieb und fast vergaß sich von Wang gebührend zu verabschieden.
Unterwegs konnte Zedong seiner Begeisterung nicht zügeln und redete aufgeregt drauflos.
„Das hättest du sehen sollen, Dad. Wie Jian den großen Bären k.o. geschlagen hatte.
Der ist zu Boden gekracht wie ein Baum! – Und du Dad, du warst so cool gewesen. Du hast fast das ganze Gebäude in Brand gesteckt!“
Shen konnte ein Schmunzeln nicht unterlassen. „Tja, vielleicht weil ich im Palast der Flammen geboren bin, muss wohl in der Familie liegen.“ Sein Blick wanderte zu Yin-Yu. „Tut mir leid, dass ich dich damit erschreckt hatte.“
Die Pfauenhenne lächelte und schob ihn weiter vor. Sie wollte einfach nicht mehr darüber nachdenken. „Schon gut. Beeilen wir uns besser zum Schiff zu kommen. Die anderen warten bestimmt schon.“
Am Hafen angekommen, wurde sie schon von den zwei Meistern am Schiff erwartet. Meister Tosender Ochse begegnete dem ehemaligen Herrscher von Gongmen mit einer säuerlichen Geste. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du noch nach Gongmen willst“, knurrte er.
Shen hob aufmüpfig den Kopf. „Ich hab da noch etwas zu erledigen.“
Mit diesen Worten ging er mit den anderen über die Brücke, während Meister Ochse ihm mit grimmiger Miene folgte.
„Und was?“, hackte er nach, als sie auf dem Schiffsdeck angekommen waren. „Doch nicht etwa etwas Ungesetzliches…?“
Shen drehte sich blitzschnell zu dem Ochsen um, doch noch ehe es zu einem Gefecht kam, nahm Po den aufgebrachten Ochsen beiseite. „Hey, Kumpel. Ich hab ganz vergessen zu sagen, dass mich dein Einsatz zutiefst in meinem Kung-Fu-Herzen berührt hat…“
Yin-Yu nutzte sofort den Augenblick der Ablenkung und zog Shen schnell aus der Streitzone. Nur widerwillig ließ der weiße Pfau sich von ihr zu einem anderen Teil des Schiffes führen. Als Meister Ochse bemerkte, dass der Vogel sich zurückgezogen hatte, schob er den Panda schnaubend zur Seite. „Ist ja schon gut. Nicht der Rede wert.“ Mit diesen Worten entfernte er sich und zog sich in eine andere Ecke des Schiffes zurück. Po seufzte niedergeschlagen. Meister Kroko konnte ihm da nur beipflichten und stieß ebenfalls einen tiefen Seufzer aus.
Nachdenklich lehnte sich Po über die Reling. „Ich hab eigentlich gehofft, dass nach alldem sich die Wogen zwischen ihnen mal glätten würden.“ Lustlos tippte der Panda mit den Fingern auf dem Holz herum. „Ich frage mich, wann die mal ihr Kriegsbeil begraben werden.“
Meister Kroko stützte seine Ellbogen auf der Reling ab. „Da würde ich mir wenig Hoffnung machen. Egal was der einstige Prinz von Gongmen tun wird, den Mord an seinen besten Freund wird er ihm nie verzeihen können. Und ehrlich gesagt, fällt es mir bis heute immer noch schwer, das zu verkraften.“
Po warf dem Krokodil einen ängstlichen Seitenblick zu. „Bist du dir da ganz sicher? Vielleicht ändert sich doch eines Tages etwas zwischen ihnen.“
Der Kung-Fu-Meister legte die schuppige Stirn in Falten. „Eher schneit es im Sommer.“
Endlich legte das Schiff ab und fuhr den Fluss hinunter. Eine Weile behielten die Passagiere die Stadt Mendong noch im Auge, bis sie hinter der nächsten Flussbiegung verschwunden war. Xia atmete erleichtert auf.
„Hast du immer noch Angst vor ihm?“, erklang hinter ihr die Stimme ihres Vaters.
Erschrocken drehte sich die junge Pfauenhenne zu ihm um, doch noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte Shen schon seine Flügel auf ihre gelegt und sah sie eindringlich an.
Xia senkte den Blick. Ihre Flügel zitterten. Shen seufzte schwer. „Ich kann dir nicht versprechen, dass du ihm nie wieder begegnen wirst, aber ich verspreche dir, dass er dich nie wieder bedrohen wird.“
Xia rang nach Luft. „Ich wünsche, ich könnte es glauben.“
Shen umarmte sie hastig. Xia zögerte zuerst seine Umarmung zu erwidern, dann schlang sie ihre Flügel um ihn. „Nur bitte, sag Mutter nichts davon“, flüsterte sie. „Ich will nicht, dass sie sich Vorwürfe macht.“
Shen strich ihr beruhigend über den Rücken. „Keine Sorge. Das werde ich.“
„Shen?“
Schnell lösten sich die beiden voneinander, als Yin-Yu hinzukam. Dieses schaute beunruhig von einem zum anderen. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Nein, nein“, wimmelte Shen sie ab. „Es ging um was Persönliches. Und…“ Er hielt einen kurzen Moment inne. „Und ich wollte auch mit dir etwas besprechen. Können wir kurz wo anders hingehen?“
Zögernd willigte Yin-Yu ein und gemeinsam zogen sie sich bis ans äußerste Ende des Schiffes zurück. Po beobachtete sie aus dem Augenwinkel, unterließ es aber ihnen heimlich zu folgen. Nachdem Shen sich davon überzeugt hatte, dass sie alleine waren, lehnte er sich an die Reling und starrte ins Wasser. Yin-Yu wollte ihn nicht drängen und wartete bis er anfing.
„Wie stark ist Schnee für dich?“, begann der weiße Pfau nach einigem Zögern und mehrmaligen Luftholen.
Die Pfauenhenne sah ihn verwundert an. „Für wie stark ich Schnee halte? Nun…“
Sie wusste nicht, was sie von dieser Frage halten sollte. Shen erleichterte ihr die Suche nach einer Antwort und redete mit stockender Stimme weiter. „Schnee ist stark,… aber zerbrechlich. Ähm… Wenn es in die Sonne kommt,… dann schmilzt es.“
Der weiße Pfau hielt sich den Flügel vors Gesicht. Diese ganze Interpretatiererei, dafür hatte er irgendwie kein Talent. Yin-Yu sah ihn fragend von der Seite an. Schließlich drehte sich Shen zu ihr um und nahm einen tiefen Atemzug. „Du kennst mein Leben. Wir kennen uns in und auswendig. Du mich und ich dich. Und wir wollten uns nie etwas voneinander verheimlichen.“ Er legte die Flügel zusammen und rieb sich die Fingerfederspitzen. „Ich wollte schon immer mehr sein, als das was ich bin… Also… das heißt…“
Yin-Yu sah ihn mitleidig an. „Geht es um deine Schwächeanfälle, weswegen du nicht mit den Jungs trainieren wolltest?“
Shen fuhr hoch. „Woher weißt du…?“ Er biss die Schnabellippen zusammen. „Hat sie etwa wieder mit dir geschwatzt?“, bohrte er wütend und dachte dabei an die alte Ziege.
Yin-Yu schüttelte den Kopf. „Sie hat nie mit mir darüber gesprochen“, erklärte sie mit ruhiger Stimme. „Ich hab es nur vermutet und später war ich mir dann sicher, dass es dir seelisch nicht mehr so gut ging wie früher.“
Shens Flügel verkrampften sich kurz. „Wie lange weißt du es schon?“
Yin-Yu wiegte den Kopf. „Schon seit über einem Jahr. Es hat mich zunächst stutzig gemacht, dass du es abgelehnt hattest den Kindern etwas von dir beizubringen, wie du es immer tun wolltest. Und als du dann noch eingewilligt hast, dass sie in Gongmen mit den Meistern trainieren sollten, obwohl du das Kung-Fu immer verachtet hattest, da ahnte ich, dass etwas nicht stimmen konnte. Vor allem, weil du selber sehr im Trainieren nachgelassen hattest und immer müde warst.“ Sie sah ihn warm an. „Aber eines hatte die alte Dame mir nicht verheimlicht. Nämlich, dass du ärztliche Behandlungen ablehnst.“
Eine Weile starrten sie sich schweigend an, dann senkte Shen seinen Blick. Schnell ging Yin-Yu auf ihn zu und legte ihre Flügel auf seine Schultern. „Shen“, bat sie eindringlich. „Ich will dich nicht verlieren, aber ich wollte dich auch nie drängen etwas zu tun, was du nicht willst.“
Langsam hob der weiße Pfau den Kopf. „Ganz ehrlich“, begann er mit bedächtiger Stimme. „In den letzten Tagen ist mir klar geworden, dass es wohl nicht anders gehen wird, wenn ich für euch noch da sein möchte.“
Sein Blick fiel auf die kleinen Kinder, die gerade dabei waren, die Spielsachen auszupacken, die ihre Mutter aus dem Palast für sie mitgebracht hatte. Vor allem auf Shenmi blieb sein Blick hängen. Hätte er schon eher Medikamente eingenommen, dann wäre die Sache schlimm ausgegangen, wenn Xiang nicht in diesem Moment… Shen vertrieb den Gedanken sofort wieder. Dass er Xiang eine Art Dank schuldete, wollte er sich nicht eingestehen.
Yin-Yu rieb ihre Fingerfedern auf seinen Schultern. „Schatz, egal was andere über dich sagen würden, aber seit dem ersten Tag, an dem ich dich sah, bist du für mich das stärkste Wesen in der ganzen Welt gewesen. Und du bist es auch noch heute für mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mein Leben noch als wertvoll ansehen würde, wenn du nicht gewesen wärst. Ich war damals vielleicht soweit gewesen mich umzubringen. Meinen Eltern war ich nichts wert. Aber ich hatte andererseits wohl auch mehr Angst vor dem Tod gehabt. Ich traute mich nicht über diese Schwelle zu treten. Es wäre wohl das Beste gewesen, wenn es ein anderer getan hätte. Selbst wenn du es gewesen wärst.“
Shen erinnerte sich. Bei ihrem ersten Treffen im Exil hatte er wirklich zuerst vorgehabt sie exekutieren zu lassen, im Glauben sie wollte seine Pläne ausspionieren.
„Du gibst mir schon Stärke, wenn du in meiner Nähe bist“, fuhr Yin-Yu fort. „Und sei es auch nur ein Teil von dir. Allein schon unsere zwei ersten Kinder gaben mir den Sinn nicht vor Verzweiflung zu zerbrechen.“ Sie sah ihn traurig an. „Aber ohne deine Gegenwart würde es mir schwer fallen nicht stark zu sein. Ich weiß, dass kling vielleicht… es tut mir leid, dass ich nicht die starke Frau bin, die du vielleicht gerne in deinen Träumen wolltest. Auch wegen den kleinen Kindern hab ich nicht trainiert. Am allerwenigsten wir zusammen.“
Shen zog die Augenbrauen zusammen. „Dann werden wir daran wohl was ändern müssen.“
Ihr Blick wanderte zu ihm auf. „Du lässt es also machen?“
Shen zögerte mit seiner Zusage. „Du wirst doch niemanden was davon sagen, oder? Vor allem nicht ihm.“ Er nickte mit dem Kopf zu Meister Ochse rüber.
Yin-Yu verzog ein wenig spielerisch den Schnabel. „Hab ich das jemals getan?“ Sie strich ihm eine Falte in seiner Robe glatt. „Ich denke, die Kinder werden sich freuen, dass du mal etwas mit ihnen gemeinsam unternimmst.“
„Meinst du das ernst, Dad?“ Überrascht drehten sich die Pfauen-Eltern um. Zedong hatte sich an sie herangeschlichen und sah erwartungsvoll zu seinem Vater auf. „Du willst wirklich mit uns trainieren?“
Weißer Pfau und Pfauenhenne warfen sich kurz einen flüchtigen Blick zu, dann beugte sich Shen zu dem kleinen Piebald-Pfau runter. „Ja, wir werden etwas mehr Zeit miteinander verbringen. Dann sparen wir uns die andauernden Reisen nach Gongmen.“
Zedong fiel ihm um den Hals und klammerte sich an ihn fest. Shen war gezwungen ihn hochzuheben. Doch dann kamen auch die anderen Kinder angerannt und rannten aufgeregt um ihre Eltern herum.
Po belächelte die heitere Stimmung und seufzte tief.
„Po“, holte ihm die Stimme von Tigress zurück, die zusammen mit den anderen Furiosen Fünf zu ihm rüberkam. „Du siehst so nachdenklich aus. Stimmt etwas nicht?“
„Äh, nein, ich dachte nur…“ Po überlegte kurz. „Eigentlich hab ich mir nur überlegt, ob wir auch einen Lift im Jade-Palast einbauen könnten. Ich meine, so ein Lift wäre doch sehr praktisch. Da könnte man eine Menge Zeit sparen.“ Er grinste, doch dies stieß bei seinen Freunden nicht gerade auf Begeisterung. Verwundert schaute Po sie an. „Nicht?“
„Die steht jetzt schon seit Tagen dort.“ Stirnrunzelnd beobachtete ein Schaf die alte Ziege, die bis jetzt ihren Platz am Gongmen-Hafen nicht verlassen hatte. „Wenn’s Nacht ist macht sie ein Lagerfeuer an und wartet und am Tag sitzt und geht sie auf der Stelle und wartet immer noch. Das ist doch nicht normal.“
Sein Nachbar, ein anderes Schaf, zuckte die Achseln. „Sie scheint auf ein Schiff zu warten.“
In diesem Moment hob die alte Ziege den Kopf, als sie ein Schiff am Horizont erblickte. Ihre Angst und Freude wuchsen, als das Schiff den Hafen ansteuerte. Schnell begab sie sich zu dem Steg und wartete nervös bis es anlegte. Auf dem Deck winkten ihr sofort vier kleine Pfauenküken zu ihr rüber. Der Wahrsagerin fielen tausend Steine von der Seele, als sie jeden wohlauf erblickte. Als dann endlich die Brücke runtergelassen wurde, stürmten die kleinen Kinder auf sie zu. „Dem Himmel sei Dank“, rief die alte Ziege, „euch ist nichts passiert! Ich hab mir solche Sorgen um euch gemacht.“
„Wir haben dir viel zu erzählen!“, rief Zedong aufgeregt.
Der Ziege blieb kurz der Mund offen, als sie die verschwundenen Schwanzfedern der Jungs bemerkte. „Aber, was ist denn mit euren Federn passiert?“
„Das ist eine lange Geschichte“, mischte Po sich schnell ein und ging der alten Ziege mit ausgebreiteten Armen entgegen.
„So?“, meinte die Ziege und erwiderte eine kurze Umarmung des Pandas, nachdem sie die Verbände begutachtet hatte. „Das hört sich ja sehr aufregend an.“ Sie sah sich um. Dann kamen auch Yin-Yu, Xia und Sheng auf sie zu und begrüßten sie herzlich. Die alte Ziege hielt erst inne, als Shen auf sie zukam.
„Du meine Güte“, sagte die alte Frau, beim Anblick von Shens noch teilweise blutige Robe. Der weiße Pfau hatte es vorgezogen keine fremde Kleidung anzuziehen und hatte so gut wie möglich versucht die Flecken aus seiner Robe wieder herauszubekommen, was ihm aber nicht ganz gelungen war. „Du siehst aus, als hättest du was erlebt“, fuhr die Ziege fort und beeilte sich einen Schutzfleck von Shens Hemd wegzurubbeln.
„Könntest du das bitte lassen?!“, schimpfte Shen, doch er fasste sich sofort wieder und nahm die Ziege kurz beiseite. „Ich wollte dich sowieso noch etwas fragen. Das ist auch der Grund weshalb ich hier bin.“
Die Ziege sah ihn erwartungsvoll an. „Ja, was möchtest du wissen, Shen?“
Zuerst fiel es Shen schwer die Frage zu stellen und rang sich zu einem ersten Satz durch. „Ich wollte dich fragen, ob du… Weißt du noch,…?“
„Wenn du wissen willst, wo der Arzt ist, bei dem du frühster als kleines Küken gewesen warst“, führte die Ziege den Satz weiter aus, „der wohnt noch in derselben Straße.“
Shen blieb kurz der Schnabel offen. „Du hast es also auch die ganze Zeit gewusst.“
Die Ziege schmunzelte. „Ich kenne dich viel zu gut, als dass du es mir verschweigen könntest.“
„Und warum hast du mich nicht zu überreden versucht zum Arzt zu gehen?“
„Hättest du denn auf mich gehört?“
Shen überlegte einen ganz kurzen Augenblick und runzelte die Stirn bevor er antwortete. „Nein.“
Die Wahrsagerin kicherte. Dann nahm sie seinen Flügel und tätschelte seine Fingerfedern. „Immer noch derselbe Junge von damals.“
Sie lächelte ihn an und er steckte diese Bemerkung ebenfalls mit einem Lächeln ein.
Ein paar Wochen später…
Er fror, obwohl es eigentlich nicht kalt war. Aber allein schon der Anblick genügte, um ihn zum Zittern zu bringen. Mit bebenden Flügeln lehnte sich Xiang an den Türrahmen seines ehemaligen Kinderzimmers. Die Erinnerung an damals werde er zwar nie löschen können, dennoch war es eine innere Erleichterung für ihn, dass die, die ihm als letzte nach dem Leben getrachtet hatte, für immer beseitigt war. Wenn auch mit einer bitteren Wehmut, dass es seine eigene Familie gewesen war, die ihn so gehasst hatte. Sein Fingerfedern gruben sich ins Holz.
„Hey, alles in Ordnung mit Ihnen?“
Sie Stimme von Liu ließ ihn zusammenfahren. „Was willst du denn hier?!“, fauchte er sie an.
Die Pfauenhenne neigte verlegen den Kopf. „Ich… ich hab mich nur gefragt, wo Sie sind und da dachte ich, Sie wären hier…“
Sie zog den Kopf ein, als Xiang sie so streng ansah. Doch dann seufzte er und wandte sich ab.
„Ach übrigens“, beeilte sich Liu zu sagen, „danke für das Zimmer.“
Xiang hielt kurz inne. „Gewöhn dich nur nicht daran“, bemerkte er spitz.
Er stützte sich an der Wand ab und versuchte humpelnd vorwärts zu kommen mit einem Bein. Doch dann stolperte er aus Versehen und landete ungewollt auf dem Boden. Schnell eilte Liu zu ihm hin. „Kommen Sie. Ich helfe Ihnen.“
Sachte schob sie ihre Flügel unter seine Achseln. Sie hielt kurz inne, als Xiang unter ihrer Berührung zusammenzuckte. Sie schluckte, behielt aber ihre Ruhe. „Keine Sorge. Ich helf Ihnen hoch.“
Etwas mühsam schaffte sie es, Xiangs Flügel auf ihre Schultern zu legen. Als sich ihre Flügel berührten, verweilte die Pfauenhenne einen Moment. Irgendwie war alles anders als in der Zeit in der Residenz.
„Bist du eingeschlafen?“, bemerkte Xiang sarkastisch.
„Oh, nein, natürlich nicht.“ Schnell erhob sie sich, sodass beide wieder aufrecht standen. Sie spürte seine Anspannung, die sich aber allmählich wieder legte und gemeinsam verließen sie den Raum. Während sie ihres Weges gingen, musste Liu immer darüber nachdenken, was wohl am nächsten Tag sein würde. Und es machte ihr manchmal Angst, doch vielleicht gab es ja doch Hoffnung für sie beide. Nur vielleicht. Zumindest hoffte sie das. Sogar sehr.
Er fühlte sich frei. Nie würde er zugeben, dass er sich seit dem Arztbesuch in Gongmen wieder wie neu geboren fühlte. Er hatte zwar gehofft für den Rest seines Lebens ohne diese Medikamente auskommen zu müssen, aber wenigstens musste er sie nicht jeden Tag einnehmen, doch die alte Ziege mahnte ihn, dass er genau drauf achten sollte.
Der weiße Pfau sah zum sichelförmigen Mond auf. Er war froh wieder in seiner eigenen Stadt Yin Yan zu sein, wo er nicht mehr den Blicken der Kung-Fu-Meister ausgesetzt war. Hier konnte er unter sich sein und so leben wie er es wollte. Er hatte sich in den späten Abendstunden in eine einsame Ecke des Hofes begeben und spielte mit seinem Schatten, den der schwache Mond auf die Erde warf. Der weiße Pfau schwang sein Lanzenschwert. Es durchschnitt fast lautlos die Luft. Er vollführte Drehungen wie in einem Tanz. Es war ein Tanz in dem er sich sicher fühlen konnte. Früher hatte er Angst gehabt, er könnte sich verletzen, doch seine Bewegungen waren jetzt so eingefleischt in seinem Geist, dass er jede Bewegung und Balance im Schlaf vollführen könnte.
Plötzlich wurde die Harmonie durch ein Geräusch unterbrochen. Der weiße Pfau reagierte blitzschnell, hielt dann aber sofort inne, als die Schwertspitze nur ein paar Millimeter vor Yin-Yus Schnabelspitze zum Stillstand kam.
„Meine Güte, hast du mich erschreckt“, hauchte sie fassungslos.
Shen zog sein Schwert zurück. „Tut mir leid. Ich hatte gedacht…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern drehte sein Lanzenschwert im Flügel.
Yin-Yu lächelte. „Du siehst gut aus. Die Behandlung scheint dir gut getan zu haben.“
Shen wollte nicht darauf eingehen und vollführte wieder seine Bewegungsübungen.
„Warum bist du hier?“, wollte Yin-Yu wissen.
„Ich wollte nur kurz alleine sein“, antwortete Shen bedächtig.
„Oh, okay. Hab ich dich bei irgendetwas gestört?“
„Nein, ich wollte mich nur etwas bewegen.“
Die Pfauenhenne schmunzelte. „Das hab ich gesehen.“
Beide warfen sich neckische Blicke zu. Shen ließ sich von ihrer Anwesenheit nicht stören und vollführte eine erneute Drehung mit dem scharfen Instrument.
„Bring es mir bitte bei.“
Shen hielt inne und sah Yin-Yu überrascht an. Diese stand felsenfest vor ihm und sah ihn bittend an. Der weiße Pfau runzelte die Stirn und fragte sich, ob sie es wirklich ernst gemeint hatte. Sie wollte seine Techniken lernen? Sie hatte sich stets davor gescheut Kriegswaffen in die Flügel zu nehmen. Sie hatte es immer wieder aufgeschoben und jetzt tauchte sie wie aus heiterem Himmel auf und bat um Unterricht bei ihm?
Eine Weile sahen sie sich schweigend an, dann schwang er das Schwert kurz durch die Luft, fing es wieder mit den Flügeln auf und schob die Schwertspitze vor ihr Gesicht. Yin-Yu hielt ganz still, doch sie hatte keine Angst. Sie wusste, er würde sie nicht verletzten wollen. Anschließend senkte Shen das Lanzenschwert und überreichte es ihr mit beiden Flügeln. Zögernd nahm sie es ihm ab.
„Vorsicht“, mahnte er. „Scharf.“
Behutsam umfasste sie den langen Schwertgriff. Es war schwerer als sie gedacht hatte, aber es war gut zu halten. Sachte bewegte sie es, schließlich traute sie sich es mit nur einem Flügel zu halten und schwang es langsam und vorsichtig hin und her, auf und ab.
Über Shens Schnabelwinkel huschte ein Lächeln während er sie dabei beobachtete. Irgendwie hatte er sich zwar schon eine Frau gewünscht, die genauso ein Kämpfer war wie er, doch so wie sie war sollte sie bleiben.
Yin-Yu bemühte sich das Lanzenschwert etwas kräftiger kreisen zu lassen. Doch dann kippte sie zur Seite. Shen fing sie noch schnell auf. „Du wirst noch lernen die Balance zu halten“, flüsterte er ihr aufmunternd zu.
Nachdenklich betrachtete Yin-Yu das Lanzenschwert in ihren Flügeln. „Bei dir sieht das so leicht aus.“
Sie drehte sich zu ihm um, und er sah sie warmherzig an. „Du wirst dich daran gewöhnen.“
Er legte seine Flügel auf ihre, die immer noch den langen Schwertgriff umklammert hielten.
„Traust du mir das wirklich zu?“, fragte sie unsicher.
Er lächelte. „Ich weiß es.“
Ihre Schnäbel näherten sich bis sie sich berührten.
„Ich wusste doch, dass die wieder knutschen.“ Fantao verzog den Schnabel.
Zedong konnte sich ihm da nur anschließen, als sein Vater und seine Mutter sich noch intensiver küssten. „Ja, igitt.“
Jian hingegen konnte nur den Kopf schütteln und strich über seine neue Pipa.
„Pssst!“, zischte seine Brüder ihm zu. „Die hören uns noch.“
„Papa und Mama sehen aber glücklich aus“, bemerkte Shenmi. Sie wusste zwar nicht was dieses Schnabeldrücken sollte, aber ihre Eltern schienen es regelrecht zu genießen.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte Xia, die gerade des Weges vorbeikam, als sie nach ihren kleinen Geschwistern gesucht hatte.
„Mom und Dad knutschen wieder rum“, bemerkte Zedong.
Xia blieb kurz der Schnabel offen, als sie ihre Eltern küssend in einem einsamen Eck im Hof stehen sah. Das Lanzenschwert hielten sie dabei immer noch umklammert.
„Ab ins Bett mit euch!“, befahl sie und schob die Kleinen zur Seite.
„Oh, jetzt wo es gerade interessant wird“, beschwerte sich Fantao.
„Für sowas habt ihr immer noch Zeit, wenn ihr erwachsen seid“, belehrte seine ältere Schwester ihn.
Zedong drehte sich zu ihr um. „Ach, und wann hast du mal jemanden abgeknutscht?“ Er grinste während Xia verdattert dastand.
„Äh… natürlich noch nie einen. Also los mit euch ins Bett!“
„Dann wird es aber Zeit, bevor du zu alt wirst“, neckte Zedong weiter und rannte schnell weg, bevor seine Schwester ihn noch einen Schubs verpasste.
Shen und Yin-Yu hatten von der heimlichen Observation gar nichts mitbekommen. Sie waren zu sehr damit beschäftigt sich mit ihren Schnäbeln zu liebkosen. Dabei drehte sich das Lanzenschwert ein wenig, sodass das Mondlicht reflektiert wurde. Shen reagierte auf den Lichtreiz und schaute sofort zur Lichtquelle. Yin-Yu sah ihn überrascht an, weil er so plötzlich den Kuss unterbrochen hatte. Shen sah sich angespannt um. Beruhigend streichelte die Pfauenhenne seine Flügel. „Shen, es war nur der Mond.“
„Mag sein“, flüsterte Shen misstrauisch. „Ich hatte nur gedacht…“
Yin-Yu seufzte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Xiang uns wieder etwas Schlimmes antun wird.“
Sie erschrak kurz bei Shens düsteren Gesichtsausdruck. Shen wollte sich den Abend nicht vermiesen lassen und schaute zum Mond auf, der sichelförmig über der Stadt leuchtete.
Shen kniff die Augen zusammen.
„Was hast du?“, fragte Yin-Yu besorgt.
Shen schüttelte den Kopf. „Mm, es ist nichts… es ist nur…“
Der weiße Pfau wusste nicht wieso, aber manchmal, wenn er zum Mond hochschaue, kam es ihm so vor, als würde noch jemand anderes mitschauen. Shen verscheuchte diesen Gedanken sofort wieder und gab eine andere Erklärung ab. „Es kling vielleicht kindisch, aber manchmal erinnert mich diese Sichelform an eine gebogene weiße Feder.“
Er lächelte ihr zu und Yin-Yu lächelte erleichtert mit.
„Das hab ich auch oft gemacht“, bemerkte sie heiter. „Der Mond ist das Einzige, was abends neutral ist. Er hat keine Farben.“ Sie schmiegte sich an ihn. „Er ist weiß wie du.“
Shen schmunzelte. „Oder weiß wie Schnee.“
Die Pfauenhenne kicherte bei dieser Bemerkung und ihre Schnäbel näherten sich erneut.
Irgendwo in Japan...
Er zitterte. Nicht vor Kälte. Auch nicht vor Angst. Mit Tränen in den Augen sah er zum sichelförmigen Mond auf. Wie so oft. Und ständig hatte er das Gefühl, dass er nicht der Einzige war, der dort hochsah. Er hob seinen weißen Flügel und streckte sie durch das vergitterte Fenster dem Mond entgegen. Er wünschte er könnte raus aus dieser quälenden Falle. Er ließ den Flügel wieder sinken. Er krallte seine Fingerfedern um die Gitterstäbe und presste die Stirn dagegen.
Eine Weile verharrte der weiße Vogel in dieser Position. Zitternd verkrampften sich seine Flügel um das Gitter. Schließlich konnte er nicht anders und begann leise zu weinen. Jede Sekunde wünschte er sich, er könnte weg von hier. Aber da war niemand, der von seiner Existenz wusste. Niemand der ihm beistand. Er war allein. Alleine und vergessen von der Gesellschaft da draußen.
Ein Knacken ließ ihn zusammenfahren. Jemand öffnete die Tür. Eine dunkle Gestalt trat ein. In den Pfoten hielt sie ein Tablett, dass sie auf den Tisch knallte.
„Deine Medizin“, sagte eine drohende Stimme auf Japanisch.
Langsam drehte sich der weiße Vogel zu der schwarzen Gestalt um. Sein Puls beschleunigte sich vor Angst. In den letzten Jahren gab es kaum noch Momente wo er nüchtern war, ohne, dass man die „Medizin“ in ihn reinzwang.
Traurig schaute der Vogel wieder zur leuchtenden Sichel am Himmel hoch. Sie war gebogen wie eine weiße Feder und ließ ihn nur an eine Person denken.
„Medizin!“, schnauzte die dunkle Gestalt hinter ihm. Sie packte den weißen Vogel an der Schulter und riss ihn vom Fenster weg. Erneut war er den Tränen nahe. In den letzten Augenblicken seines nüchternen Zustandes ging ihm nur noch ein Gedanke durch den klaren Kopf: „Der Mond ist weiß. So weiß wie ich… und du.“
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Kapitel: | 36 | |
Sätze: | 10.467 | |
Wörter: | 111.434 | |
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