Irgendwann würde er ihn töten…
Die im Wind wogenden Überreste des Blattwerks schoben sich wieder und wieder in Severus‘ Blickfeld. Fast als wollten sie ihn schonen, bewahren vor dem, was er sah. Doch das Bild, von den schwarzen Ästen wild zerschnitten, bohrte sich doch Grausamkeit in seinen Geist. Mit stockendem Atem, mit zugeschnürter Kehle und einem erdbebengleichen Trommeln in der Brust, presste Severus in seinem Hinterhalt sich enger an den schützenden Baum, sog in wirrem Masochismus den Eindruck seiner Sinne in sich auf wie ein Schwamm. Die raue Rinde des Stamms schrammte die Wange, schürfte die blasse Haut auf zu einem Mosaik aus zarten, roten Gerinnseln. Doch der Schmerz scherte Severus nicht. Nichts schnitt tiefer als das, was seine Augen ertragen mussten. In seinem Magen gärte der Zorn. Wie ein Kessel, zu spät vom Feuer genommen. Wie ein Kessel kurz vor der Explosion. Schon krampfte sich die Hand um seinen Zauberstab. Schon entwich durch die zusammengepressten Zähne schnaubend, pfeifend der Dampf des inneren Überdrucks. Auf seinen Lippen lag stumm schon der Fluch, honigsüß und in brennender Erwartung ausgesprochen zu werden. Schon rührten sich seine Finger. Schon zuckten sie…
Doch zuckten sie nur. Das kalte, blanke Entsetzen, das der Anblick in seine Glieder goss, dieser Anblick, der in seinen Augen schmerzte wie Bindehautkrebs, ließ ihn erstarren. Hände, Arme, Beine, Füße – sie alle waren versteinert, bleiern schwer und unbeweglich. Sein Geist hingegen wankte. Wankte wie auf einem Schiff im Sturm, drohend ins Meer des Wahnsinns zu fallen. Severus suchte nach Halt, doch vergeblich. Die nächste Welle an Gefühlen spülte ihn über Bord und er trieb, trieb durch den Anblick wie durch einen düsteren Traum. Es konnte, durfte nicht wahr sein, was er sah! Wie konnte ER es wagen?! Wie konnte ER seine dreckigen Krallen in ihr Haar gleiten lassen, das goldene Rot ihrer Locken mit seinem Schmutz besudeln? Wie konnte ER es wagen, ihre feinen Ohren mit dem Missklang seiner Stimme zu beleidigen. Wie konnte ER sich erdreisten, ihren Engelsmund mit seiner Teufelszunge zu entweihen?! Das kostbare Grün ihrer Jadeaugen mit dem billigen Öl seiner Worte zum Glanz zu polieren und ihre Brüste begaffen wie die einer billigen Straßenhure auf der Nokturngasse?!
Severus trat einen Schritt vor, den einzigen, den sein angespannter Körper hergab. Leise und langsam pirschte er sich er heran, nahm sein Opfer ins Visier.
Irgendwann würde er ihn töten…
Es war nicht so, dass er es nicht geahnt hätte. Nicht in seinen schlimmsten Albträumen immer befürchtet hätte, dass es einmal so weit kommen würde. Dass er SIE einmal in seinen Armen wiederfinden würde. Er hatte immer gewusst, gespürt, dass dieser Abschaum namens James Potter seine widerlichen Klauen nach ihr ausstreckte. Sein Mund quoll nur so über vor lüsternem Geifer, wenn die beiden sich begegneten. Wie er sie ansah, wie er ihr nachstarrte. Doch Lily war SEIN Mädchen, SEINES! Bisher waren es nur vage Ängste gewesen, eine Zukunft gleich eines Damoklesschwerts. Doch als Severus in diesem, seinem letzten Jahr, aus den Ferien nach Hogwarts zurücklehrte, hatte der Wind sich gedreht. Gerüchte machten die Runde, die ihm jede Farbe aus dem Gesicht trieben und schwindelnd zu Boden brachten. Die Welt hatte sich vor seinen Augen gedreht und sein Magen war in die Knie gesunken, als er das erste Mal davon hörte. Fast hätte er sich im Jungenklo übergeben. Doch ein Slytherin zeigt keine Schwäche! Man hatte die beiden gesehen, wie sie sich im Schatten einer Biegung säuselnd verabredet hatten. Man hatte gesehen, wie sie sich im Aufgang zum Astronomieturm küssten. Im Unterricht klebten sie auf einmal zusammen, als hätte jemand einen Dauerklebefluch auf sie gewirkt. Es war zum Kotzen!
Und Severus hatte begonnen, sich an SEINE Fersen zu heften. Hatte grimmig Puzzleteile gesammelt, jedes davon ein weiterer Stich in sein Herz. Die kam Erkenntnis schleichend, rang hart mit seinem Willen. Es durfte, durfte, durfte einfach nicht sein. Es war ein langer und zäher Kampf. Bis jetzt, bis zu diesem Anblick als die Erkenntnis endgültig gewann und alles in ihm in Trümmer schlug. Ein Schlag in den Magen, der seine Waffen niederstreckte. Doch nicht alle! Nicht alle. Ihm blieb der Zauberstab in seiner Hand. Ihm blieb der Fluch auf der Lippe. Die Wut in seinem Magen und die Gunst der Stunde.
Schnell hob Severus die Hand. Die Überraschung war auf seiner Seite. Vor IHREN Augen durfte er nicht zu weit gehen, durfte SIE nicht entsetzen. Doch um ihn zu blamieren, in Grund und Boden zu beschämen, sollte es reichen. Severus spitze die Lippen, flüsterte die Worte, schwang den Stab. Ein Würgen entrang sich Potters Kehle, als seine klebrigen Quasten ihre zarten Lippen berührten. Überrascht weiteten sich IHRE Augen, als IHRE zarten Hände ihn im Reflex von sich stießen. Schon röchelte ER, krümmte sich zum Speien. Ekel, tiefster Ekel, von Mitgefühl kaum übertüncht, breitete sich wie ein willkommenes Zeichen auf ihrem lieben Gesicht aus, als ER sein Drecksmaul aufriss und die schleimige, kriechende Schneckenmasse auf ihre Schuluniform ergoss. Für einen Augenblick durchzuckte Mitleid für SIE seine Brust. IHR hätte er sofort seine Sachen geliehen. Doch er durfte sich nicht verraten, nicht vor ihre Augen treten. Und so gewann der Triumph. Der Triumph, diesen Kuss vereitelt zu haben. Mit einem bitterbösen Lächeln zog Severus sich zurück, schlich davon, lautlos wie eine Fledermaus in der Nacht.
„Hüte dich, James Potter, wenn wir alleine sind“, flüsterte er leise und grimmig, voll des Dursts nach Blut. Des süßen Gifts der Rache. Irgendwann würde SIE nicht mehr in seinen Armen liegen.
Irgendwann würde er ihn töten…
Würde er? Auf halbem Wege, im Gefühl unbeobachtet zu sein, bremste Severus seine Schritte und drehte sich vorsichtig um. Die Buche, der See, der Schauplatz des grausamen Schauspiels, lag weit hinter ihm. Sinnend reckte er die Nase in die Luft, roch den beißenden Geruch brennender Schornsteine. Doch in sich, in seiner Seele, fand er zu seiner Überraschung kein Feuer mehr. Der raue Wind des Spätherbstes, der über die Schlossgründe zog, hatte unbemerkt das Hochgefühl verweht, das ihn eben noch wie auf Gewitterwolken gehen ließ. Mit jedem Schritt war der Kampfgeist ein wenig mehr erloschen. Die Tat war vollbracht. Für heute zumindest. Kälte umfing Severus nun, ließ nicht nur seinen Körper zittern. Schon fiel Schnee, wo eben doch die Siegesgewissheit loderte. Dunklen Nebeln gleich stiegen düsterere, schwächende Gefühle in ihm auf. Der Genuss des Triumphs war nur ein Spiel des Augenblicks. Zerflossen schon in Elend und Verzweiflung. Die Lippen noch immer zornig fest verschlossen, spürte Severus etwas Kühles, Feuchtes in seinen Augenwinkeln. Leise wisperte der Wind, flößte ihm Gedanken ein: Was wäre, wenn er SIE niemals als Schlammblut beschimpft hätte. Würde er dann nun dort unten am See sitzen und SIE in seinen Armen halten?
Doch ein Slytherin weinte nicht. Hart schluckte Severus seine bitteren Gefühle hinunter, verschloss seine Ohren gegen die heuchlerischen Lügen des Winds. Es war nicht seine Schuld. Es war Potter, allein Potter. ER hatte SIE ihm weggenommen. Er, der grinsende Teufel in Person, der nicht einmal davor zurückgeschreckt war, ihn durch die falsche Heldentat einer angeblichen Lebensrettung zu demütigen. Wütend trampelte Severus durch faulendes Laub. Wütend riss er die Portaltür auf, wütend stapfte er auf die Treppe zu, die hinab zum Gemeinschaftsraum führte. Unten, im grünen Licht, begegnete ihm Mulciber als auf den Jungenschlafsaal zuhielt.
„Was hast du vor?“, rief ihm der Kumpel nach, als er ihn ohne ihn eines Blickes zu würdigen links liegen ließ.
„Einen Mord planen“, zischte Severus leise zur Antwort, „Avada Kedavra und aus“.
Vor seinem Blick lagen sie in Eintracht auf seinem Bett, als hinter ihm die Tür mit unheilvollem Klang eines Gefängnistors in Schloss fiel: Links ‚Brauen Ohne Blutvergießen‘, Lilys letztes Geschenk und rechts das ersehnte Fundstück bei Borgin & Burke’s, ‚Unverzeihlich Leicht‘.
Irgendwann würde er ihn töten, schwor sich Severus, Irgendwann ...vielleicht.
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