Sehr geehrte Hexen und Zauberer, liebe Muggel.
Bevor ich zu dem komme, worüber ich Ihnen heute berichten will, möchte ich mich zunächst einmal vorstellen. Mein Name ist Rolf Scamander und wie dieser schon vermuten lässt, bin ich mit dem berühmten Newt Scamander verwandt, der ihnen allen aus „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ – DEM Standardwerk zur Pflege magischer Geschöpfe – bekannt ist. Genauer gesagt war Newt Scamander mein Großvater. Und da ich als sein Enkel nicht nur beruflich in seine Fußstapfen trat, sondern auch Kisten über Kisten voller Aufzeichnungen aus seinen Forschungsreisen, unveröffentlichten Beobachtungsprotokollen und dergleichen mehr erbte, bat mich der Obscurus Verlag vor einiger Zeit mich einiger Leserbriefe anzunehmen, die sich seit der Neuauflage des Lebenswerkes meines Großvaters im Verlagsgebäude ansammelten. All diese Leserbriefe – stammten sie von Muggeln oder Zauberern und Hexen – hatten eines gemeinsam. Sie enthielten die Bitte um die Aufklärung einer kleinen Ungereimtheit, die ihren Schreibern bei der aufmerksamen Lektüre des Lexikons aufgefallen ist. Eine kleine Ungereimtheit, die wohl nur jemand aufklären konnte, der Newt Scamander und seine Forschungen gut kannte: die Frage, warum der Augurey eigentlich den Beinamen „Irischer Phönix“ trägt, wo doch das geierartige Federvieh scheinbar nichts mit dem prächtigen Feuervogel gemein hätte.
Nun, dies ist wahrlich eine interessante Frage. Und ihre Beantwortung dürfte wohl noch um einiges interessanter sein. Zum Glück bin ich in der günstigen Lage, dass mein Großvater mir tatsächlich einige Aufzeichnungen hinterließ, die dieses Rätsel klären können. Warum damit nicht selbst an die Öffentlichkeit trat, ist leicht zu beantworten: Newt Scamander war ein sehr gewissenhafter Naturforscher. Er liebte die Fakten und mied die Legenden. Ganz anders als meine Frau Gemahlin, welche die Legenden für Fakten hält und die Fakten für Märchen. Nun liegt der Ursprung des Zweitnamens des Augureys aber in einer alten Legende, wie ich aus den Unterlagen erfuhr und darum wohl verschwieg mein Großvater ihn den Lesern seiner berühmten Buchreihe. Er konnte vermutlich den Gedanken nicht ertragen, wohlmöglich Fehlinformationen in seinem Buch zu verbreiten.
Ich als sein Enkel bin nicht ganz so kritisch im Umgang mit der Wahrheit, was vor allem meiner geliebten Frau Luna zu verdanken ist, die mich in vielen Ehejahren lehrte, dass sich hinter dem, was uns fremdartig, unwirklich und allenfalls als die Erfindung eines fantasievollen Kindes erscheint, oftmals verborgene Wahrheiten verstecken. Darum möchte heute nachholen, was mein Großvater versäumte und die Legende des Augureys erzählen. Meine eigene Gewissenhaftigkeit zwingt mich jedoch dazu, Sie vorzuwarnen, dass alles, was ich erzähle, auf Mythen und Sagen beruht und es keinen einzigen Beweis für all das gibt. Selbst in unserer Welt nicht, in der vieles, was die Muggle durch die Verbreitung falscher Informationen, für eine Legende halten, als gesicherte Tatsache bekannt ist. Ob die Legende des „Irischen Phönix“ nur ein Märchen ist oder sie doch einen Funken Wahrheit birgt, müssen Sie also selbst entscheiden.
Alles begann im tiefsten Mittelalter, in etwa zu jener Zeit, als eine gewisse Rowena Ravenclaw, eine gewisse Helga Hufflepuff, ein gewisser Godric Gryffindor und ein gewisser Salazar Slytherin beschlossen, in Schottland eine Schule für junge Hexen und Zauberer zu errichten, die noch Jahrhunderte später jedem magischen Kind ein Begriff sein soll. Doch spielt die Legende des Augurey nicht in Schottland, sondern auf der grünen Insel, Irland. Genauer gesagt in einem kleinen Dorf, dessen Name heute niemand mehr kennt, in dem vornehmlich Zauberer und Hexen wohnten. Es lag abgeschieden von der Welt eingebettet in saftig grüne Wiesen und einer Vielzahl von wildem Dornengestrüpp. In jenem Dornengestrüpp hausten zahllose Augurey, die bei schweren Regen die ganze Gegend mit ihrem wummernden Geschrei erfüllten. Doch schlossen die Dörfler ihre Fenster, Türen und Läden, sodass kein Laut in ihre Hütte drang. Denn zu jener Zeit war der Glaube noch weit verbreitet, dass der Schrei des Augurey den Tod verkünde. Und so fürchteten und scheuten die Menschen die geierartigen Vögel wie der Teufel das Weihwasser.
Nun trug es sich aber zu, dass zu jener Zeit ein armer Muggel-Maurergeselle aus dem fernen Frankreich sich auf die Wanderschaft begab, um Arbeit zu suchen und so nach vielen Wegen auch seinen Fuß auf das Gras der grünen Insel setzte. Der Maurergeselle wusste nichts von den Geiervögeln und der Legende um sie. Denn im sonnigen Frankreich waren die Augurey freilich nicht heimisch. So schritt der Maurergeselle nichts ahnend seiner Wege durch das grüne Land und folgte seinem Pfad bis zum Rande jenes Dorfes. Es war ein trister, grauer, nasser Tag, als er das Dornengestrüpp erreichte. Noch trister und grauer als die Regentage in der Gegend üblicherweise waren. Ja, fast schien es so, als wolle die Sonne am Himmel verlöschen und während dicht die Tropfen auf die Erde prasselten, so ward es plötzlich dunkel und dämmrig um den Wanderer, wie zur Abendstunde erst, doch bald wie zur Nacht. Dem armen Maurergesellen wurde reichlich bang ums Herz. Er war freilich ein mutiger Mann, doch wenn die Sonne sich verfinsterte, mochte auch den Tapfersten den Mut verlassen. Und welch ein Schauer ergriff ihn erst, als er durch den schweren Regen das grauenvolle Geschrei der Augurey vernahm. Sein letztes Stündlein hätte geschlagen, dachte der Wanderer, dunkle Mächte wollten die Sonne verfinstern. Und so suchte er wie getrieben, im Angstschweiß stehen und mit Gänsehaut auf dem Rücken den einzigen Unterschlupf, den er finden konnte, um sich vor dieser Höllenmacht zu retten: das dornige Gestrüpp. Doch wie er sich umwandte, um sich zu verstecken, da sah er es. Die Erscheinung, die ihn sein Lebtag nicht mehr loslassen sollte.
Aus der Dornenhecke, in der gerade Schutz suchen wollte, stieß ein grünlich-schwarzer, schmächtiger Geier hervor und flatterte mit einem Angst einflößenden Schrei empor zum geschwärzten Himmel. Im Zwielicht und Regenschleier konnte der Wanderer, der gute Augen besaß, gerade noch erkennen, dass es sich um ein sehr altes Tier handeln musste. Sein Federkleid war stumpf und zerzaust, der Schnabel gräulich blass, sein Flügelschlag träge und beschwerlich. Eigentlich, so dachte der Wanderer, müsste das Tier geradewegs vom Himmel fallen, weil ihm vor Altersschwäche das Herz versage. Doch das war nicht das, was der Augurey tat.
Nein, er zersprang!
Direkt vor den Augen des Maurergesellen, gerade als die Finsternis am tiefsten war, zersprang der Vogel in tausend klare Perlen, schimmernd wie Wassertropfen. Dem Unwetter gleich regneten sie zur Erde, sammelten sich zu einer Lache. Und aus der Lache wieder stieg ein grünlich-schwarzes Vogelei empor. Bald war die Schale des Eis durchstoßen und ein dunkles, schmächtiges Geierküken tapste jung und quicklebendig zum Dornengestrüpp, in dem es verschwand.
Der Wanderer traute seinen Augen nicht, glaubte an ein Blendwerk der unheimlichen Mächte, die an diesem Ort wirkten. Bald kehrte die Sonne an den Himmel zurück, siegte das Licht über die Finsternis, erstarb die Nachtdunkelheit und ward wieder Tag. Doch der Maurergeselle stand noch immer im Banne seiner Beobachtung, die ihm eisige Schauer den Rücken hinabtrieben. Und so beschloss er, die nächste Taverne aufzusuchen und seine Sinne mit einem guten Schluck Wein oder was immer man in diesem Lande auch an Alkohol trinken mochte, zu beruhigen. Schon saß er in der Dorfschenke und spürte den Whiskey in seinem Halse brennen und trocknete seine Kleider am Kaminfeuer. Die Dörfler schienen ihm gastfreundliche, herzliche Menschen zu sein und so dauerte es nicht lange, bis der Alkohol die Zunge des Maurergesellen löste und er sich den Schrecken von der Seele sprach. Oh wie verwandelt war die Gesellschaft da von einer Sekunde auf die andere. Wie hingen sie ihm an den Lippen, wie schauten sie ihn mit großen Augen an. Der Wanderer, von seiner Beobachtung noch immer durcheinander, blickte verwirrt in die Runde und fragte, was vor sich ging. Da erfuhr er nun, was man sich über den Augureyschrei erzählte und Dutzende Dörfler sprachen ihm aus, welch großes Glück er gehabt habe, diese Begegnung zu überleben. Doch noch erstaunter waren sie über seine Erzählung, von der er schwor, dass sie der Wahrheit entspräche. Denn nie hatte ein Mensch je etwas Derartiges beobachtet.
Ein ungläubiges Tuscheln und Murmeln ging durch den Schankraum bis in die hintersten Ecken, als sich von einem einsamen Tisch endlich ein alter Mann erhob. Er war ein Weiser, ein Gelehrter und sein Wort galt daher bei den Dörflern viel.
„Nun“, sprach er ruhig, „Wie mir scheint, dürfen wir den Augurey nach den Erzählungen unseres Gastes wohl als den Zwilling eines anderen Vogels annehmen, der uns weit weniger Schrecken einjagt als er selbst“
Die Dörfler blickten ihn verwundert an.
„Wovon sprecht Ihr, Senecus?“, sagte einer der Zauberer am Tisch, denn Senecus war der Name des Alten, „Ich kann euch nicht folgen.“
„Erinnert euch die Erzählung nicht an einen bestimmten Vogel, Lowhorn?“, antwortete Senecus ruhig.
„Nein, nicht im Geringsten“
„Nun, dann will ich es auch sagen. Ich spreche vom Phönix“
Alle Augen im Schankraum waren auf einmal auf den Alten gerichtet.
„Aber“, hauchte ein junges Mädchen, „Der Phönix ist doch ein gutes Tier, ein Tier des Lichts“
„Gewiss, Mariella. Und darum ist es nicht verwunderlich, dass er einen dunklen Zwilling hat.“
Noch immer herrschte gebannte Stille um Senecus und darum fuhr er fort zu erklären:
„Nichts in der lebendigen Welt ist nur gut und nichts ist nur böse. Wo uns ein Wesen wie das reinste Licht erscheint, so muss es einen Zwilling geben, der der Dunkelheit gleicht. Licht kann nicht sein ohne das Dunkel. Und Dunkel nicht ohne das Licht. Der Gesang des Phönix, so sagt man, stärkt die Herzen der Lauteren und seine Tränen vermögen Leben zu retten. Der Schrei des Augurey versetzt uns in Angst und Schrecken und verkündet den Tod, so heißt es. Wie wir heute erfuhren, so scheinen beide unsterblich, auf die gleiche Weise und doch jeder auf seiner Art. Die Federn des Phönix – rot, gelb und golden – sie gleichen dem Feuer und es ist das Feuer, das sein Leben erneuert. Die Federn des Augurey – grünlich und schwarz – sie gleichen dem Wasser und Wasser ist es, was ihn wiedergebiert. Wie könnte das Feuer sein, wenn es das Wasser nicht gäbe? Wie könnte das Wasser sein ohne das Feuer? Stärkung und Schwächung, Licht und Finsternis, Heilung und Tod, Feuer und Wasser - sie liegen nahe beieinander. Gegensätze und Geschwister zugleich, zwei die sich fremd sind und gleichen, die einander abstoßen und brauchen. Und wer weiß, nicht immer verbirgt sich das gute Schicksal im Licht und das böse in der Dunkelheit. Ich denke, es ist dem Augurey nur würdig, wenn wir ihn ab heute den Zwilling des Phönix nennen“.
Die Dörfler lauschten den weisen Worten des Gelehrten andächtig und auch der Maurergeselle ward ganz still. Nachdem er, nach einer Mütze voll Schlaf in einem Gastzimmer der Schenke, erfrischt seine Wanderschaft fortgesetzt hatte, erzählte er in jeder Taverne und in jeder Schenke, in die er einkehrte, was sich in jenem Dorf hat zugetragen. Er erzählte von der sonderbaren Erscheinung und den Worten des alten Mannes. Die Muggle freilich hielten seine Erzählungen oftmals für wilde Fantasien eines Schluckspechts, der zu viel über den Durst getrunken. Doch die Hexen und Zauberer lauschten mit gespitzten Ohren und bald galt der Augurey von Irland bis Frankreich gemäß den Worten Senecus als „irischer Phönix“ bis zu jenem Tage, an dem die Zauberer beschlossen in den Untergrund zu gehen und die Legende mit dem Beschluss unterging.
Doch meinem Großvater, der einst in der Nähe des alten Dorfes gastierte, war es gelungen, noch die eine oder andere alte Hexe oder den einen oder anderen Zauberer aufzutreiben, der von der Sage noch wusste. Was von ihr zu halten ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Heute halten sich viele Zauberer und Hexen Augurey als Wetterboten. Doch von keinem habe ich je gehört, dass eines ihrer altersschwachen Tiere zu Wassertropfen zerfallen und aus dem Nass neu auferstanden wäre. Doch ersteht der Augurey ja auch erst dann auf, wenn das Tagesblau vom Himmel weicht, wenn die Welt sich verfinstert, wenn der Mond sich vor die Sonne schiebt und die Erde in eine unnatürliche Nacht stürzt. Vielleicht zeigt der „dunkle Zwilling des Phönix“ erst dann, was ihm steckt, wenn das Licht seines Bruders erlischt. So wie der Augurey auch erst dann sein gut verborgenes Tränennest verlässt und zum Flug aufbricht, wenn der Himmel sich mit dunklen Wolken zuzieht und schwerer Regen die Welt untergehen lässt. Und wer weiß, ob in einer solchen Nacht nicht gerade der Schrei des angeblichen Todesboten schon so manchen Wanderer davor bewahrte, in ein Unwetter zu laufen, das ihm das Leben gekostet hätte?
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute und achten Sie auf den Schrei des Augurey,
Ihr Rolf Scamander
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