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Kindheitserinnerungen

466
24.11.20 18:44
6 Ab 6 Jahren
In Arbeit

7 Charaktere

Elrond Peredhel

Auch wenn Elronds leibliche Eltern niemand geringeres als Earendil und Elwing sind, wuchs Elrond zusammen mit seinem Zwillingsbruder Elros im Ersten Zeitalter bei Maglor in Ossiriand auf. Nach dem Untergang Beleriands schloss er sich Gil-galad an und wurde dessen Herold. Seit Imaldris im Zweiten Zeitalter gegründet wurde, ist er der Herr von Bruchtal.

Elros Tar-Minyatur

Elros Tar-Minyatur ist der Zwillingsbruder Elronds und der Sohn Earendils und Elwings. Die Brüder wuchsen jedoch in der Obhut ihres Adoptivvaters Maglor in Ossiriand auf. Elros entschied sich für ein Leben als Mensch und gründete das Königreich von Númenor. Sein Krönungsname bedeutet Erstherrscher.

Maglor Makalaure

Der zweite von sieben Söhnen Feanors ist Maglor. Er ist unter anderem als einer der mächtigsten Sänger Mittelerdes und als Verfasser der Noldolante bekannt. Zusammen mit seinem älteren Bruder Maedhros überlebte er als letzter der Feanorer auch den dritten Sippenmord von Arvernien, wo er Elrond und Elros adoptierte. Nachdem er seinen silmaril ins Meer warf, ist sein Schicksal unbekannt.

Maedhros Maitimo

Auch Russandol genannt. Er ist der älteste Sohn Feanors und nach dem Tod ihres Vaters der Anführer der Feanorer Er gerät in Morgoths Gefangenschaft, wird jedoch von Fingon befreit und verliert dabei seine rechte Hand. Hernach brennt sein Hass auf den Schwarzen Feind heißer denn je. Er findet am Ende des Ersten Zeitalters den Tod durch einen Sprung in eine Feuerspalte.

Ceomon

Er ist ein alter Noldo, welcher noch das Licht der zwei Bäume erblickt hatte (und dessen Name zugegebener maßen absolut unelbisch, da nicht einmal Noldosindarin ist). Er diente seit jeher treu den Feanorern, insbesondere Maglor, wofür er nach der Rebellion seines Herrn und dessen Familie von seiner eigenen Verwandschaft verstoßen wurde. Nachdem auch Maglor verloren ging, gab er seine Dienste an Elrond weiter, welchen er seit dessen Kindheit kannte.

Rethtulu

Er ist ein alter Noldo, welcher noch das Licht der zwei Bäume erblickt hatte (und dessen Name zugegebener maßen absolut unelbisch, da nicht einmal Noldosindarin ist). Er diente seit jeher treu den Feanorern, insbesondere Maedhros. Nachdem auch Maedhros den Tod fand, gab er seine Dienste an Elrond weiter, welchen er seit dessen Kindheit kannte. Er trägt seit seinem gewissen Vorfall in einer Schlacht ununterbrochen seine Rüstung, ist aber dennoch erstaunlich geschickt darin, nicht gesehen zu werden.

Lindwain

Lindwain ist ein Sindarin-Elb aus Ossiriand, der dem Hausvolk Orophers angehört. Er bliebt dessen Familie stets treu und dient mittlerweile als Schatzmeister Thranduils. In jungen Jahren hatte er jedoch in Maedhros' Haus in Ossiriand gedient, wo er Freund Elronds und Elros' wurde. Seine Aufgabe war es, die Krankheiten der Peredhel zu kurieren; die Geschichten, die er ihnen erzählte, wenn sie krank waren, sind legendär.
Letzte Hoffnungen, vom Winde verweht

Earendil war ein großer Seefahrer und Held der Altvorderenzeit, Sohn des Tuor, Sohn des Huor, und der Idril Celebrindal, Tochter des Turgon, und Erbe des Verborgenen Königs von Gondolin. In Gondolin aufgewachsen, hatte er den Fall dieser einzigartigen Stadt miterlebt, dem Heldenmut seines Vaters hatten er und viele andere Flüchtlinge ihr Leben zu verdanken. Sie flohen weit fort und kamen schließlich nach Arvernien, wo sie Freundschaft schlossen mit den Elben von Balar, Círdans Volk, und sich zusammentaten mit den Flüchtigen aus dem gefallenen Königreich Doriath, nur kurz vor ihnen eingetroffen.

Unter diesen befand sich Elwing, Schwester der verschollenen Zwillinge Eluréd und Elurín, Tochter von Nimloth und Dior Eluchíl, Thingols Erbe, Sohn von Lúthien Tinúviel und Beren Erchamion. Sie war in einer sternenklaren Nacht geboren, als das Licht der Gestirne in den fallenden Wassern von Lanthir Lamath schimmerte, und in ihrem Gesicht spiegelte sich jenes Licht wieder, mehr noch, denn sie trug den Silmaril, den Beren einst mit eigenen Händen aus Morgoths schwerer Eisenkrone brach.

An den weißen Gestaden von Arvernien trafen sie sich, und groß war ihre Liebe und alsbald vermählten sie sich, die Schrecken von Gondolin und Doriath für einige Zeit vergessend. Ihrer beider Völker verschmolzen zu einem und Earendil war ihr Fürst. Sie hielten enge Freundschaft zu Círdan dem Schiffbauer und oft kamen die Elben von Balar zu ihnen nach Arvernien.

Im Jahre 532 des Ersten Zeitalters wurden Earendils und Elwings Zwillingssöhne geboren, und eine Zeit lang war alles gut.

Doch sollte dieser Friede nur wenige Jahre später verwehen wie herbstliches Laub im Wind, als Feanors letzten Söhnen, den Zwillingen Amrod und Amras sowie Maedhros und Maglor, bekannt wurde, dass sich der Silmaril von Doriath in Elwings Besitz befand. Und ihr Eid band sie noch immer …

 

Man nannte Earendil nicht umsonst den Seefahrer, denn sein Herz schlug für die Schifffahrt. Einst hatte Ulmo Tuor, Earendils Vater, zu seinem Werkzeug erkoren, um den Fall von Gondolin zu verhindern, doch stand dem schlussendlich Turgons Stolz im Weg, der Stolz seines Volkes, von dem auch er am Ende nicht frei war. Die Liebe zum Meer war Tuor dennoch ins Herz gelegt, und ebenso war es bei seinem Sohn.

So geschah es, dass Tuor und Idril im Jahre 525 mit ihrem Schiff Earráme übers Meer fuhren und aus den Geschichten verschwanden. Doch heißt es, dass sie das Segensreich erreicht hatten und Tuor allein unter den Edain zu den Erstgeborenen gezählt wurde, so sehr wurden seine Taten geschätzt und geehrt. Doch Earendils Denken war mehr und mehr auf den Westen gerichtet, den er nicht erreichen konnte. Seine Seefahrten wurden häufiger und länger, stets angetrieben von seinem Verlangen nach dem unerreichbaren Land und seiner furchtlosen Suche danach.

Elwing aber hasste den Anblick des am Horizont verschwindenden Segels, hieß dies doch, dass ihr Gemahl erneut für lange Zeit fort sein würde. Dies war so ein Tag.

Die Herrin von Arvernien stand an einem Fenster in Earendils Haus, das für sich und erhöht auf einem Hügel stand, sodass sie von dort die Stadt den Hafen und das Meer überblicken konnte. Es war ein schönes, großes Haus mit einem gepflegten Garten und lichtdurchfluteten Räumen. Doch heute schien Elwing das Haus zu groß, zu leer. Earendil fehlte. Lange sah sie dem kleiner und kleiner werdenden Schiff nach; wie immer an solchen Tagen schwiegen die Glocken in der Stadt und das geschäftige Treiben ihrer Bewohner hielt inne. Die Möwen kreisten über dem Hafen und schrien klagend, als würden auch sie Earendils Abfahrt bedauern.

Ihre Söhne waren wie immer bei ihr und hielten ihre Hände. Auch sie sahen dem Schiff nach, doch ihre Traurigkeit schien viel mehr daher zu rühren, dass sie spürten, wie es ihrer Mutter mit Earendils neuerlichem Abschied erging. Es verband sie nicht viel mit ihrem eigenen Vater, zu oft war Earendil dieser Tage auf See. Oft schon hatten Earendil und Elwing sich spät abends gestritten, weil sie sich wünschte, er würde mehr Zeit mit seinen Söhnen verbringen. Und dann war Earendil doch stets wieder zur See gefahren.

»Emilinya, sei nicht traurig«, bat Elrond sie. »Er kommt bestimmt wieder!«

Manchmal erschreckte es sie, wie erwachsen die Zwillinge mitunter bereits wirkten. Sie waren gerade einmal sechs Jahre alt! Im selben Alter wie ihre Brüder, als sie sie das letzte Mal sah. Ein Stich fuhr durch ihr Herz. Elrond drückte tröstend ihre Hand, doch das verstärkte ihren Kummer nur. Er war ihr Sohn, und ein Sohn sollte nicht seiner eigenen Mutter Trost spenden müssen.

Also zwang sie sich zu einem Lächeln. »Wollt ihr mit dem Licht spielen?«

Das Licht des Silmaril schien ihre Stimmung stets aufzuhellen und sie auf andere Gedanken zu bringen. Elwing ließ sie oft mit dem Stein spielen, wenn ihre Gedanken im Westen weilten. Bei Earendil, ihrem Ehemann, der immer seltener zu ihr zurückkehrte.

Die Kinder waren begeistert davon, also nahm Elwing das Nauglamír ab und reichte es ihnen. Es war teuer mit Blut erkauft worden und sie hoffte, dass es diesen Schatten niemals auf ihre Söhne werfen würde, sondern stets hell für sie schien.

Während Elrond und Elros fasziniert die tausenden schillernden Facetten des Silmaril betrachteten, klopfte es an der Tür, und auf Elwings Ruf hin trat ein Elb ein.

»Herrin, der Hohe König Gil-galad ist hier«, sagte er.

Sie sah ihn erstaunt an; was mochte Gil-galad hier nur suchen? Als sie zum Fenster trat, sah sie, wie Vingilot von ihrem Kurs abfuhr und auf ein großes Schiff Círdans, von Balar kommend, zuhielt, um es in Empfang zu nehmen. Über Círdans Schiff wehte die Flagge des Hohen Königs. Alsbald schwenkte es ab und hielt auf den Hafen zu, während Vingilot weiter hinaus auf das Meer fuhr.

»Ich werde ihn hier in Empfang nehmen«, sagte Elwing. »Hab Dank.«

Der Elb verbeugte sich und ging aus dem Raum, um den Hohen König zu seiner Gastgeberin zu geleiten.

Indes richtete Elwing sich rasch her für den überraschenden Besuch Gil-galads und legte das Nauglamír wieder an. Ihre Söhne freuten sich, als sie hörten, dass der Hohe König zu Besuch kam; er hatte es ihnen angetan, weil er stets Süßigkeiten für sie mitbrachte. Gemeinsam warteten sie im Atrium des Hauses, wo Elwing Gil-galad empfangen würde. Ob es ein offizieller Besuch war oder ein rein freundschaftlicher?

Einige Zeit später wurde ihr die Ankunft des Hohen Königs angekündigt. Sie winkte ihn herein und Gil-galad trat vor sie. Er war von edlem noldorischen Blut, hochgewachsen und schön. Bei sich trug er seinen Speer Aeglos und die Rüstung, die ihm seinen Namen verliehen hatte: Sternenschein. Aus seinen Augen schien eine Weisheit, die bei einem so jungen Noldo, kaum selbst dem Kindesalter entwachsen, verblüffte.

»Elwing!«, rief er freudig aus und kam lächelnd auf sie zu. »Es ist doch immer wieder eine Freude, deinen Anblick genießen zu dürfen. Du wirst von Tag zu Tag schöner, doch was erwartet man auch Anderes von der Enkelin Lúthiens?« Er beugte sich zu einem Handkuss herab.

»Du schmeichelst mir«, sagte Elwing und vollführte einen anmutigen Knicks. »Doch sei mir willkommen in meinem bescheidenen Heim. Was darf ich dir anbieten? Wasser, Wein, etwas Gebäck?«

Elrond und Elros warteten artig, bis man sie direkt ansprach, wie es ihre Mutter ihnen gelehrt hatte. Sie war stolz auf sie, dass sie so artig warteten und sich ihre Ungeduld nicht allzu sehr anmerken ließ.

Gil-galad ließ sie nicht lange zappeln und hatte schon zwei Pfannkuchen hervorgezaubert, für jeden von ihnen einen. Mit leuchtenden Augen nahmen sie das Süßgebäck entgegen und stürzten sich sogleich darauf.

»Ich weiß zwar immer noch nicht wer von euch wer ist, aber zumindest das weiß ich über euch«, sagte Gil-galad schmunzelnd. Sie liebten seine Pfannkuchen über alles.

»Danke«, nuschelte Elros mit vollem Mund. Sein Bruder war zu sehr damit beschäftigt, sich die Marmelade von den Fingern zu lecken.

Elwing führte den König indes zu einem Tisch, von wo aus sie das Meer erblicken konnten. Gil-galad nahm zunächst einen kräftigen Schluck Wein und nahm sich dann einige Weintrauben. Elwing begnügte sich mit dem Wasser. Der König ließ den Blick über das Land schweifen.

»Es grünt und ist fruchtbar«, sagte er an Elwing gewandt. »Das Volk ist gut genährt, ihm fehlt es an nichts.«

»Nur an der Wurzel«, sagte Elwing.

»Ja …« Gil-galad schwieg für einen Augenblick, doch dann schlich sich der Schalk in seine Augen. »Deine Söhne scheinen mir bestechlich. Sie würden alles für meine Pfannkuchen machen.«

»Jeder würde alles für deine Pfannkuchen machen!« Elwing lachte. »Ein bisschen neidisch bin ich ja schon, dass du mir keinen mitgebracht hast.«

»Wer hat das behauptet?« Und als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet, schob er auch ihr einen zu. Während sie ihren Pfannkuchen genüsslich verspeiste beobachtete er ihre Söhne.

»Schon faszinierend, wie sie sich bis aufs Haar gleichen«, sinnierte er. »Wie kannst du sie auseinander halten?«

Elwing schmunzelte und winkte ihre Söhne zu sich. Zeit, deren Lieblingsspiel zu spielen. »Rate«, forderte sie Gil-galad auf.

»Hmm«, machte er und sah zwischen den Jungen hin und her. Dann deutete er auf einen von ihnen.

»Elrond?«, riet er.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Elros also!«

Wieder schüttelte er den Kopf, grinsend dieses Mal.

»Das ist gemein!«, beschwerte sich Gil-galad gespielt empört.

Die Jungen kicherten. Sie liebten es, andere aufs Glatteis zu führen. Elwing war vielleicht die einzige Person, bei der es ihnen nicht gelang.

Ernst legte sich wieder auf das Gesicht des Königs. »Hast du indes etwas von Eluréd und Elurín gehört?«, wollte er wissen.

Elwings Miene erstarrte. »Nein. Meine Brüder sind und bleiben verschollen. Und um ehrlich zu sein … ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass sie gefunden werden. Sie waren damals ja noch Kinder, als wir geflohen sind.«

Gil-galad lehnte sich vor und legte ihr kraftgebend eine Hand auf die Schulter. »Es gibt immer Hoffnung«, sagte er.

Elwing fasste den König fest in den Blick. »Warum bist du gekommen? Doch nicht nur, um mit mir einen Plausch zu führen.«

»Wegen des Feindes«, sagte er schlicht. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück. »Sämtliche Reiche der Eldar sind gefallen, zuletzt sogar das Verborgene Königreich von Gondolin. Ich lebe im Exil, wir alle leben im Exil, nur noch diese letzte Bastion steht noch. Doch kann sie standhalten?«

»Wir sind tapfer und werden bis zum Letzten kämpfen«, sagte Elwing. »Wir sind entwurzelt doch nicht ohne jegliche Hoffnung.«

»Diese liegt im Westen«, gab Gil-galad zu bedenken. »Die Noldor sind verbannt und können nicht nach Aman. Niemand kann dies.«

»Es heißt, Tuor und Idril haben es erreicht«, erwiderte Elwing. »Und Earendil ist ihr Sohn. Unermüdlich sucht er nach einem Weg, auch wenn er schmerzlich oft und lange von mir getrennt ist. Wenn er den Weg und die Gnade der Valar nicht findet, dann niemand.«

»Ihr werdet stehen und kämpfen, doch werdet ihr auch standhalten, wenn Morgoth zuschlägt?«, sagte Gil-galad. »Ihr seid nur wenige … Doch noch immer gibt es die Feanorer. Zwar haben auch sie ihre Reiche verloren – und teils ihr Leben – und streunen nun durch die Wildnis, doch sind sie noch immer stark. Werden sie uns beistehen? Ich denke, Maedhros mindestens würde meinem Ruf folgen. Er war ein guter Freund meines Vaters, bis dieser den Tod fand, und auch jetzt noch, denke ich, wird Maedhros an dieser Freundschaft festhalten. Und seine Brüder stehen hinter ihm.«

»Sie!« Erbost sprang Elwing auf. Ihre Söhne erschraken und wichen zurück. Erschrocken über ihre eigene Heftigkeit beruhigte sie sie. Dann wandte sie sich mit blitzenden Augen an Gil-galad. »Bist du nur gekommen, um mir das zu unterbreiten? Sie sind Mörder und Verräter an ihrem eigenen Volk! Sie töteten meinen Vater und überließen meine Brüder dem Tod in der Wildnis! Ich werde mit ihnen nicht zusammenarbeiten!«

»Elwing, du musst!«, sagte Gil-galad mit Nachdruck. »Du wirst müssen, wenn der Feind zum letzten vernichtenden Schlag ausholt, ob du nun willst oder nicht. Ja, ich weiß, was du fühlst, auch ich verlor Vater und Heimat in der Nirnaeth Arnoediad, und doch müssen wir all unsere Kräfte zusammen ziehen.«

»Sie sind meine Feinde und ich bin ihr Feind, denn ich besitze den Silmaril, den sie begehren. Sie werden nicht mit mir zusammenarbeiten.«

»Auch sie wissen, dass sie es tun müssen, wenn unser Ende bevor steht.«

»Earendil wird die Hilfe der Valar erbeten …« Doch selbst Elwing hörte, wie schwach diese Worte klangen.

»Ihr Eid wird sie treiben«, sagte Gil-galad.

»Doch wohin?«, fragte Elwing.

In dem Moment betrat ein Elb den Raum und meldete sich zurückhaltend zu Wort: »Meine Herrin?«

»Welche Neuigkeiten bringst du?«, forderte sie ihn auf zu sprechen.

»Prinz Maedhros lässt Euch eine Botschaft ausrichten«, sagte er mit einer Verbeugung und reichte ihr einen versiegelten Brief.

Gil-galad warf ihr einen langen Blick zu.

Elwing brach das Siegel und las den Brief. Sie seufzte schwer und reichte Gil-galad mit finsterer Miene den Brief. Besorgt las er ihn. Er sah auf.

»Ich werde sofort aufbrechen und mit Verstärkung wiederkehren«, versprach er. Denn er kannte Maedhros gut …

emilinya - meine Mutter; Quenya (Anrede eines Kindes an seine Mutter)
Der Irrsinn dieser Zeit
CN Gewalt gegen Menschen (Elben), Krieg, Tod, Verlust von Angehörigen

Ein Heer lagerte in den Wäldern Arverniens, verborgen vor den wachsamen Augen der Stadt. Die Soldaten waren Elben. Ihre vier Heerführer saßen auf großen, stolzen Pferden und blickten zu der Stadt hin. Drei von ihnen besaßen kupferrotes Haar, der vierte war rabenschwarz.

»Müssen wir das wirklich tun?«, fragte Amras.

Sein ältester Bruder wandte sich ihm zu. Seine einzige linke Hand lag auf den Griff seines großen Schwertes. Maedhros’ Augen blitzen auf. »Ja, müssen wir«, entgegnete er hart. »Elwing wird unsere Forderung ablehnen, denn sie hasst uns.« Und das mit Recht, fügte er in Gedanken verbittert an. »Unser Eid gilt aber noch immer, und wie anders als mit unseren Waffen könnten wir ihn erfüllen? Elwing hat ebenso wie jeder anderer kein Recht auf unsere silmarilli, und wir müssen sie uns zurückholen.« Leiser fügte er an: »Für unseren Vater und unsere Brüder.«

Maglor richtete sich im Sattel auf. »Seht, unser Bote kehrt wieder«, sagte er und deutete voraus. »Und hoffentlich mit Nachricht von Elwing.«

»Wünschen wir ihr, dass sie richtig entschied«, warf Amrod ein.

Sie verfielen in Schweigen und warteten auf die Ankunft des Boten. Rasch war er näher geritten. »Sie sagte nein«, rief er ihnen zu, als er nahe des Waldes war.

»Dann werden wir angreifen«, beschloss Maedhros mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die seine Brüder schaudern ließ.

»Bist du wirklich sicher?«, gab Amras noch einmal zu bedenken.

Maedhros fasste ihn fest in den Blick. »Earendil ist vor einiger Zeit aus dem Hafen gesegelt und wird so schnell nicht wiederkehren. Seine Abfahrt wird einige der besten Soldaten gebunden haben«, erklärte er. Dann wandte er sich an den Boten. »Was ist mit Gil-galad?«

»Er ist ebenfalls vor kurzer Zeit abgereist«, sagte dieser.

»Warum bloß?«, fragte sich der älteste der Feanorer. Doch tief in sich drinnen war er darüber unendlich erleichtert. Fingon war sein bester Freund gewesen, und sich gegen dessen Sohn zu stellen, hätte er niemals ertragen können.

»Er wird wissen, was wir vorhaben, und ist nach Balar zurückgekehrt, um Verstärkung zu holen«, vermutete Maglor.

»Dann werden wir im Schutz der Nacht angreifen«, fällte Maedhros seinen Entschluss. »Schlagt unser Lager im Wald auf!«

Amrod wandte als Letzter sein Pferd um. Mit einem letzten Blick auf die Stadt murmelte er: »Mir ist und bleibt nicht wohl bei der Sache.«

Maedhros ließ es sich in keinster Weise anmerken, doch auch er dachte so.

Das Heer lagerte tiefer im Wald, jeder der vier Heerführer begab sich zu seinen Männern. Um die Bedrückung zu vertuschen, scherzten Amrod und Amras lauthals mit ihren Leuten, so mancher Weinkrug wurde herumgereicht und hob die Stimmung. Maglor hatte zu seiner Harfe gegriffen und spielte eine melancholische Weise, zu der er mit seiner reinen Stimme sang. Nur Maedhros saß still und für sich an einem Feuer und starrte in die Flammen. Tief in Erinnerungen versunken, ließ er seine Gedanken schweifen. All die Taten, die sie begangen hatten, all das Leid, dass sie verursacht hatten, es machte ihm zu schaffen, und er reute schon lange, den Eid geschworen zu haben, der ihn doch aber so unerbittlich antrieb. Seine Hand und drei seiner Brüder zu verlieren war wohl nur eine geringe Strafe. Wäre der Tod angemessen?

Was ihn zu der Frage führte: Suchte er den Tod?

Ja, er war verbittert und verhärmt. Er war ganz und gar nicht glücklich mit dem, was er in seinem Leben erreicht hatte. Doch würde er, um allem ein Ende zu bereiten, so weit gehen? Er wusste es nicht …

»Prinz Maitimo?«, hörte er einen seiner Männer sagen. Es war Rethtulu, sein treuester Gefolgsmann. Er schreckte auf. »Mein Herr«, wiederholte Rethtulu, »macht Euch keine Sorgen, Ihr tut das richtige. Die dort«, – er deutete in Richtung der Stadt –, »enthalten Euch und Euren Brüdern Euer Eigentum vor. Sie sind ebenso Diebe wie Morgoth Bauglir.«

Maedhros lächelte schwach. »Ja, das sind sie wohl«, sagte er leise. Doch so recht daran glauben tat er nicht. War es wirklich das Richtige?

Vielleicht gab es nur einen Weg, dies herauszufinden: allein den voran. Es gab für ihn doch stets allein ein Voran, nie ein Zurück. Nie hatte er Halt machen können vor den Dingen, die er mit seiner Familie vor langer Zeit ins Rollen gebracht hatte. Nun trieben sie ihn auch jetzt voran, mit der Waffe in der Hand seinen Feinden entgegen. Und doch sträubte er sich tatsächlich, das Elbenvolk von Arvernien als seinen Feind anzusehen, obgleich es das doch faktisch war.

Er seufzte und richtete sich langsam auf. Ja, es gab keinen anderen Weg, den hatte es nie gegeben. »Lasst uns zu den Waffen greifen«, sagte er leise zu Rethtulu, und doch hatten ihn alle verstanden. »Die Nacht ist hereingebrochen, der Mond ist verhüllt. Unter dem Mantel der Dunkelheit werden wir geschützt sein, bis es für sie zu spät ist.«

Seine Brüder waren zu ihm getreten. »Der dritte …«, sagte Maglor nur.

Maedhros sah ihn nicht an, aus Angst vor dem, was er in Maglors Augen lesen würde. Schuldzuweisungen, Vorwürfe … Wie könnte es anders sein?! Doch er täuschte sich. Einer inneren Eingebung folgend trat Maglor auf seinen Bruder zu und schloss ihn in die Arme, auch wenn er ein gutes Stück kleiner war.

»Ich werde bei dir sein bis zum Ende«, sagte er mit fester Stimme.

Maedhros erstarrte. Doch dann stahl sich ein ehrliches Lächeln auf seine Lippen. »Ich danke dir, ich danke euch allen, meine Brüder«, sagte er.

»Für ein Lächeln von dir würden wir alles tun«, sagte Amrod leichtfertig.

Ernster fügte Amras an: »Du tust es viel zu selten …«

Maedhros senkte den Blick. »Ich weiß«, sagte er leise. Doch dann holte er tief Luft. »So lasst uns nun also tun, wozu wir verpflichtet sind.«

Schwer nickten seine Brüder und bereiteten den Aufbruch vor. Maedhros indes war aufgesessen und wartete, bis alles bereit war, während er die Stadt im Auge behielt. Alles war friedlich, wahrscheinlich ahnten sie jedoch etwas, erwarteten aber hoffentlich nicht sofort den Angriff, der nun erfolgen würde. Vier Heere, vereint zu einem großen, gegen jene nahezu wehrlosen Elben … Es hieß, Elwing sei Mutter von Zwillingen, so wie ihre Brüder Zwillinge gewesen waren, die Maedhros nicht hatte retten können. So wie seine eigenen Brüder Zwillinge waren, die er vor sich selbst retten musste …

Maedhros schüttelte den Kopf, um diese wirren Gedanken zu verscheuchen. Er musste sich jetzt auf Wesentlicheres konzentrieren und durfte nicht zulassen, dass seine wehleidigen Gedanken ihn ablenkten. Elwing war die Feindin der Feanorer, denn sie besaß ihren Silmaril, und nur das zählte im Augenblick. Sie würde zahlen für ihren Diebstahl, und wenn sie nicht freiwillig wieder hergab, was rechtens nicht ihres war, dann würde sie eben fühlen!

Das Heer war nun aufbruchsbereit und die Feanorer waren an die Seite ihres ältesten Bruders geritten. Er ließ die Hörner nicht blasen, doch gab er auch keine Anweisung, besonders leise zu sein. Dennoch schwiegen die Soldaten; offenbar bedrückte auch sie das Bevorstehende. Und doch folgten sie Maedhros weiterhin bedingungslos. Er war stolz auf sie.

Maedhros trieb sein Pferd an, die Zügel locker über den Sattelknauf gelegt. Nach seiner quälenden Gefangenschaft auf dem Thangorodrim hatte er gelernt, völlig freihändig zu reiten, um in der Schlacht sein Schwert führen zu können, so wie er Vieles hatte neu lernen müssen. Nun führte er das Schwert mit der Linken noch tödlicher als mit der Rechten. Weitere Elben sollten dies nun am eigenen Leib spüren.

Noch ein letztes Mal hoffte Maedhros für Gil-galad, dass er fern blieb und zu spät käme; Maedhros könnte es nie vor Fingon verantworten, wenn er sich gezwungen sah, dessen Sohn auch nur ein Haar zu krümmen. Wahrscheinlich stand Gil-galad so oder so völlig anders zum Oberhaupt der Feanorer, wahrscheinlich verachtete er ihn dafür, gegen das Volk seines besten Freundes in die Schlacht zu ziehen. Wahrscheinlich hatte er Recht.

Vielleicht war es ja ganz gut, dass Fingon tot war und den Irrsinn dieser Zeit nicht mehr miterleben musste.

Als sie nun schon nahe bei der Stadt waren, ließ Maedhros dann doch die Hörner erklingen. Seine Feinde sollten nicht völlig unvorbereitet getroffen werden, so hatten sie wenigstens ein wenig Zeit, sich vorzubereiten. Maedhros ließ sein Heer Aufstellung nehmen. Dann bliesen die Hörner Angriff. Keine heroischen Reden, keine Mut machenden Worte. Dies war nicht Maedhros’ Art. Allein sein Wille trieb sie alle an.

Sie griffen an.

Hinterher wusste Maedhros nicht mehr viel von der Schlacht. Ein Abglanz dessen, was einst seinen Vater beflügelt hatte, flammte nun auch in seinen Augen auf, und er stürzte sich mit Leib und Seele in den Kampf. Alles schlechte Gewissen, jedes Reuegefühl war zumindest für den Moment wie weggefegt. Es gab nur noch ihn, sein Schwert, seine Feinde. Nichts war mehr wichtig auf dieser Welt als diese drei Dinge. Mit Ausnahme diesen einen Dinges.

»Findet Elwing!«, rief er über das Schlachtfeld, in das sich die Stadt im Nu verwandelt hatte. »Findet sie lebend oder tot! Entreißt ihr den Silmaril!«

Er trieb sein großes Schlachtross voran und seine Soldaten folgten ihm. Maedhros achtete nicht darauf, wen er da alles niederritt, es war ihm einerlei. Vor ihm waren nun alle Feinde gleich. Sein Instinkt trieb ihn und schon bald ritt er im Sturmgalopp zu Earendils Haus. Wo sonst sollten Elwing und ihr Diebesgut sein? Er würde das Haus, wenn es denn sein musste, niederreißen und bis auf die Grundmauern abbrennen, um zu bekommen, wonach er verlangte. Elwing würde büßen!

Fern auf dem weiten Ozean wendete ein prächtiges Schiff, um wieder Kurs auf Beleriands Osten zu nehmen. Verzweifelt gab es alles, was seine Planken und Segel hergaben. Es stampfte und pflügte durch die See. Doch die Valar hatten andere Pläne als Arverniens Rettung vor dem Zorn der Feanorer. Ein Sturm kam auf, kein irdisch Wetter, und mit Urgewalten trieb es das Schiff, schon als es in Sichtweite zur Küste und der brennenden Stadt war, wieder hinauf auf das Meer und in den Westen.

Ein einzelner Schiffer schrie verzweifelt auf und rief nach Frau und Söhnen, doch niemand antwortete.

Ungeachtet dessen tobte die Schlacht in der Stadt weiter. Es wurde getötet und getötet und niemand achtete darauf, wer ihm da vor die Klinge geriet. Ein drittes Mal standen Elben gegen Elben. Würde es denn nie aufhören? Die Grausamkeit war nicht zu beschreiben, denn es war stets dieselbe. Leichen von Freund und Feind gleichermaßen pflasterten die Straßen, Blut rann herab und färbte das Meer rot. Brände wüteten in der Stadt, ob nun absichtlich gelegt oder nicht. Und mitten in dieser Apokalypse war Maedhros, wie er durch den Rauch ritt und schließlich durch die Schwaden brach, als er eine Hügelkuppe erreichte.

Vor ihm stand Earendils Haus, daran bestand kein Zweifel.

»Ergreift sie!«, befahl er seinen Männern, die mit ihm hatten mithalten können, und reckte das Schwert in die Höhe. Sein Schlachtross bäumte sich mit wirbelnden Hufen auf.

Die Soldaten stürmten laut rufend das Haus. Indes patrouillierte Maedhros um das Haus herum, dass ihm auch ja niemand entkam. Ihm würde niemand entwischen! Leider war dies jedoch schon geschehen.

»Mein Herr, seht dort!«, rief einer der Soldaten und deutete die Küste entlang.

Maedhros wandte sich um und sah jemanden fliehen. Eine einzelne Person war es, eine Frau. Und aus ihren Armen schien das Licht des Silmarils, Maedhros würde es unter Tausenden wiedererkennen. Frustriert schrie er auf.

»Nehmt alle in diesem Haus gefangen!«, befahl er. »Dann brennt es nieder!« Er wartete nicht ab, bis seine Befehle befolgt wurden, sondern sprengte gleich voran. Sein Ross wieherte, seine Augen glühten förmlich. Die Hufe donnerten über den Boden und sprühten Funken. Maedhros hielt seine Feindin fest im Blick und holte rasch auf. Doch auch sie wusste sehr wohl darum, dass der Feanorer ihr auf den Fersen war. Sie schrie verzweifelt auf und rannte mit wehendem Haar so schnell sie konnte. Es sollte nicht reichen.

Als sie erkannte, dass sie allein Maedhros in diesem Gelände niemals abhängen konnte, blieb sie stehen und sah Maedhros trotzig an. Ein boshaftes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Gleich würde er sie gefangen haben, dann würde er sie eigenhändig an den Haaren zurück schleifen. Und dann …!

Elwing sprang.

Vor Schreck zügelte Maedhros sein Pferd hart und starrte die Klippe hinab. Elwing war tatsächlich hinab gesprungen! Mitsamt dem Silmaril! Zutiefst erstaunt und geschockt, konnte Maedhros für einen Augenblick nichts weiter tun als fassungslos zu starren. Dann entlud sich all seine Wut in einem weit gellenden Schrei.

»Verdammtes Weib!«, rief er. »Verflucht sollst du sein!« Nun hatten die Fluten des Meeres sie verschluckt mitsamt dem Silmaril. Seinem Silmaril! Wie konnte sie sich erdreisten!

Dann schlug Verzweiflung über ihn zusammen. Wie sollten seine Brüder und er jetzt nun noch ihren Eid erfüllen? Das Ewige Dunkel würde sie erwarten, nie konnten sie mehr all ihren Besitz beisammen haben. Und er, Maedhros, ältester der sieben Söhne Feanors und Oberhaupt dieses Hauses, hatte versagt. Er hatte seine Brüder nicht vor ihrem Schicksal retten können. Er hatte sie nicht vor sich selbst retten können …

Plötzlich hielt er inne. Seine Brüder! Seit die Schlacht voll entbrannt war, hatte er sie nicht mehr gesehen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Ihnen war doch nichts zugestoßen, oder? Wenn er schon hier versagt hatte, wenn er sie schon zur Verdammnis getrieben hatte, dann wollte er sie wenigstens aus der Schlacht retten. Er riss sein Pferd herum und jagte zurück zur Stadt.

In der Ferne schoss ein weißer Vogel gen Himmel, den Silmaril an der Brust.

Indes war das Wetter auch an der Küste umgeschlagen. Dunkle, sturmschwere Wolken waren vom Meer aufgezogen und verhangen den Himmel. Regen setzte ein und verwandelte die Feuerwände in graue Rauchschwaden, die das Atmen schwer machten. Wer in der Stadt noch lebte, war entweder einer der Soldaten der Feanorer und gehörte zu der deutlichen Überzahl oder war Kriegsgefangener in der eigenen, gefallenen Stadt. Zahllose Verletze lagen stöhnend und sterbend in den Straßen, kaum jemand kümmerte sich um sie. Viele von ihnen waren Bürger, nicht wenige Soldaten der gefallenen Stadt oder der Feanorer. Einigen der feanorischen Soldaten steckten die Klingen ihrer Kameraden noch im Leib, denn gegen diese hatten sie sich in ihrer Verwirrung, andere Elben zu töten, gewandt, als sie erkannt hatten, was sie da taten. Irgendwo in der Stadt schrie ein einzelnes Kind weinend nach seiner Mutter.

Das Feuer in Maedhros’ Augen war erloschen. Fassungslos besaß er sich das Bild, das sich ihm bot. Und er war schuld. Er war schuld! ER! Tränen stiegen in seinen grauen Augen auf, und er biss sich auf die Unterlippe. Sehnlichst wünschte er sich, all das rückgängig machen zu können. Was hatte er da bloß angerichtet? Wie hatte es dazu kommen können?

»Bruder!«

Maglors Ruf schreckte Maedhros aus seinen bitteren Reuegedanken auf. Er blickte auf und sah seinen Bruder auf sich zu eilen. Maglor sah sehr in Eile aus. Als sei irgendetwas Schlimmes geschehen … Doch was konnte noch schlimmer sein als diese Katastrophe, die er heraufbeschworen hatte? Maedhros sprang von seinem Pferd und trat auf seinen Bruder zu.

»Die Zwillinge!«, rief Maglor. »Schnell!«

»Was ist mit ihnen geschehen?«, fragte Maedhros alarmiert.

»Komm!«, drängte Maglor.

Sie hetzten los.

»Der Silmaril …«, begann Maedhros auf dem Weg.

»Du tatest, was du tun konntest«, beschwichtigte Maglor ihn, der dachte, sein Bruder spiele auf den Angriff an.

»Elwing ist gesprungen«, beichtete Maedhros. »Sie ist mitsamt unserem Silmaril in die Fluten des Meeres gesprungen. Entweder ist sie ertrunken oder gleich an den Felsen zerschellt, niemals wird sie lebend entkommen sein.«

Maglor sah ihn entsetzt an, jedoch ohne im Laufen inne zu halten. Dann aber sagte er: »Nein, ich glaube, sie ist entkommen und ist nun auf dem Weg zu Earendil. Erst vor wenigen Minuten sah ich einen großen weißen Vogel zum Himmel aufsteigen. Sein Gefieder strahlte hell und weit. Es muss der Silmaril gewesen sein und der Vogel war Elwing.«

Maedhros schwieg. »Wir stehen auf der falschen Seite«, sagte er. »Die Valar sind gegen uns, dies war ein deutliches Zeichen.«

Indes sah nun auch Maedhros, was seinen Bruder so in Eile versetzt hatte. Amrod und Amras lagen schwer verwundet am Boden. Maedhros stöhnte auf und kniete sich auf die nassen Pflastersteine neben die Tragen seiner Brüder. »Meine Brüder …« Seine Stimme brach.

»Tut … tut uns leid«, röchelte Amrod. Amras hustete und spuckte Blut; er konnte nicht einmal mehr die Augen öffnen, jeden Augenblick würde er seinen letzten Atemzug machen. Maglor hatte sich neben Maedhros gekniet und weinte mit gesenktem Kopf, denn für die Zwillinge gab es keine Rettung mehr.

»Nein, dir muss nichts leidtun«, sagte Maedhros und beeilte sich, Amrods Hand zu ergreifen. »Es ist alles meine Schuld. Ihr wolltet mich davon abhalten, und ich hörte nicht auf euch. Ihr folgtet mir, doch ich hätte es nicht zulassen dürfen.«

»Nein, Maitimo, du bist unschuldig, ebenso wie wir alle unschuldig sind und auch wieder nicht«, hielt Amrod dagegen. Auch ihm bereitete das Sprechen nun immer größere Mühen. Er hustete. »Vater … Vater wäre …«

»Sei ruhig, Ambarto, sei ruhig …«, sagte Maglor sanft. »Streng dich nicht an.«

Amras stöhnte auf und wand sich. Blut tränkte seine Kleidung und floss ungehindert auf das Pflaster. Ein letzter Hauch entfloh sich seinen Lippen, dann schwieg er für immer.

Ein unterdrücktes Wimmern entfloh sich Maedhros. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Gab es denn nichts, was er tun konnte? Konnte er in keinster Weise verhindernd, dass seine Welt aufhörte, weiterhin zu bröckeln? Mit jedem Atemzug, den Amrod tat, bröckelte sie ein wenig mehr, bald würde sie gänzlich zerfallen.

»Ich muss …« Rasselnd holte der Sterbende Luft. »… muss folgen …«

»Bitte nicht …« Maedhros' Stimme brach, denn er wusste nur zu gut, dass er nichts tun konnte. Tränen rannen ihm über die Wangen und benässten Amrods Gesicht, über das er sich gebeugt hatte.

Amrod fand die Kraft für einen letzten Atemzug. »Vermiss mich nicht zu sehr«, sagte er leise. Dann lag er still.

Mit einem Schrei warf Maedhros sich über seine jüngsten Brüder. Warum nur war die Welt so grausam zu ihm? Warum?! Er verstand es nicht. Warum musste alles falsch laufen? Alles verkehrt sein?

Maglor blieb stumm. Er hatte das Gesicht gen Himmel gewandt und weinte stumme Tränen. Sie vermischten sich mit dem Regen auf seinem Gesicht. »Lass uns die Zwillinge suchen«, sagte er.

Maedhros erstarrte. Langsam richtete er sich auf und sah seinen einzigen noch lebenden Bruder an, als sei er nicht mehr ganz bei Trost. »Sie sind tot!«, sagte er heftiger als beabsichtigt. »Da, sieh hin, dort liegen sie leblos. Wegen mir!«

»Ach hör doch auf!«, widersprach Maglor, der wusste, dass er oftmals nur so gegen die Bitternis, die Maedhros zerfraß, ankommen konnte. Sanfter fuhr er fort: »Ich rede nicht von unseren geliebten Brüdern, deren Verlust so unendlich schmerzt, dass es nicht zu ertragen ist. Ich rede von Earendils Söhnen.«

Nun sah Maedhros Maglor an, als habe er wirklich den Verstand verloren. »Sie sind vermutlich schon längst tot«, warf er ein.

Stumm schüttelte Maglor den Kopf und deutete auf zwei Soldaten, die eine Elbin aus Arvernien gepackt hielten und bisher stumm abgewartet hatten. Die Soldaten traten vor. »Sie ist die Amme der Kinder«, sagte Maglor. »Man fand sie, als sie im nahen Wald umher streifte. Sie muss Earendils Söhne dort irgendwo versteckt haben.«

Maedhros sah die Frau an, die den Blick ängstlich erwiderte. Was er dachte, war in diesem Augenblick nicht zu ergründen. Er trat auf die Frau zu, die Stirn gekräuselt, die Augen leicht zusammengekniffen. »Führe uns zu ihnen«, befahl er.

Die Frau erbleichte. »Niemals …«, sagte sie schwach.

»Tu, was dir befohlen.« Maedhros sprach ruhig und keineswegs laut. Und gerade darin lag die Gefährlichkeit.

Die Frau wurde noch blasser und beeilte sich zu nicken, als der große Noldo von oben auf sie herab starrte. Dann beeilte sie sich, dem Befehl nachzukommen.

Maglor ordnete alles Nötige für die Bestattung von Amrod und Amras an. Sie sollten ein Feuerbegräbnis erhalten, ganz so wie ihr Vater verbrannt war. Es sollte stattfinden, wenn die beiden letzten Feanorer wiederkehrten, denn die Frau versicherte, dass sie nicht lang weg sein würden. Doch Maglor drängte zur Eile, denn er befürchtete, dass das Wetter den Kindern schaden könnte. Es hieß, sie seien Halbelben, und er wusste nicht, wie sie aufgrund ihres Menschenblutes von Tuor und Beren Wetterunbilden verkraften konnten.

Sie machten sich auf den Weg. Eilig ging die Frau voran, denn sie hatte dieselben Befürchtungen wie Maglor. Der Weg führte sie tief in den Wald hinein an einen gut verborgenen kleinen See mit einem Wasserfall hinab in den See. Indes war das Wetter wieder aufgeklärt, es regnete nicht mehr. Es war wahrlich kein irdisch Wetter gewesen. Maedhros fragte sich, was die Valar damit bezweckt hatten, denn es hatte sie in keinster Weise behindert.

Als sie sich dem See näherten, zögerte die Frau immer wieder und sah sich um. Sie fühlte sich sichtlich unwohl. Und nachtragen konnte es ihr keiner. Soeben hatten ebenjene Feanorer hinter ihr ihr Heim zerstört und nun musste sie die Kinder, die zu schützen ihr befohlen ward, an die Feanorer ausliefern. Schließlich hielt sie inne.

»Hier …«, sagte sie leise.

Maglor trat vor und sah sich um. Maedhros folgte ihm, die Hand am noch immer blutigen Schwert. Plötzlich sah Maglor eine Bewegung im Wasser. Es war ein Kind, das da im Wasser um den Wasserfall herum watete, ein kleiner Junge, die Haare ganz nass vom Wasser. Als er sie sah, wollte er in Richtung des Wasserfalls davon rennen.

»Ergreift ihn!«, befahl Maedhros den beiden Soldaten,die mit ihnen gekommen waren.

Sie waren schneller als der Junge und hatten ihn rasch gefangen. Er wehrte sich heftig, doch gegen zwei starke Noldor-Krieger kam er nicht an. Mühelos hoben sie ihn an den Schultern hoch und trugen ihn zu Maedhros.

»Wo ist dein Bruder?«, verlangte Maedhros zu wissen.

Beharrlich schwieg der Junge und sah ihn trotzig an. Maedhros kam nicht umhin seinen Mut zu bewundern, so nutzlos er auch sein mochte. Nur wenige vermochten es, ihm die Stirn zu bieten, und keiner von ihnen war ein Kind.

»So, du willst also nicht sprechen«, fuhr er fort, als das Schweigen anhielt. Unvermittelt zog er sein Schwert und hielt es dem Kind an die Kehle. »Wenn du mir nicht verrätst, wo dein Bruder ist, töte ich dich«, drohte er laut und vernehmlich.

Ein leiser Schrei war zu hören. Dann platschte es und der andere Zwilling sprang durch den Wasserfall in den See. Anscheinend hatte er sich bis jetzt dahinter verborgen.

»Nein!«, schrie er entsetzt auf. »Nicht Elros!«

Maedhros lächelte grimmig und bedeutete seinen Soldaten, auch den zweiten Jungen festzuhalten. Dieser musste also Elrond sein. Sie hingen wie Fliegen im Netz der Spinne im Griff der Soldaten und sahen ängstlich zu den Feanorern auf.

Mit einem Mal sah er wieder Doriath vor sich, die brennenden Wälder, das Blut in Menegroth. Er selbst, wie er verzweifelt in den Wäldern nach Eluréd und Elurín gesucht hatte. Kleine Kinder, so alt, wie ihre Neffen jetzt sein mussten. Er riss seinen Blick von den kleinen Halbelben vor sich los und wandte sich an seinen Bruder.

»Töte sie.«

Die Zwillinge schrien panisch auf und versuchten, sich aus dem Griff der Soldaten zu winden. Ihre Amme schlug die Hände vor den Mund zusammen.

Maglor sah seinen Bruder entsetzt an. »Aber, Bruder!«, rief er aus. »Wie könnte ich?«

»Töte sie, du hast mich schon richtig verstanden!«, knurrte Maedhros.

Da sah Maglor die Tränen in den Augen seines Bruders. »Maitimo …«

»Ich ertrage es nicht mehr!«, rief Maedhros verzweifelt aus und wandte sich ab. »Ich ertrage es nicht mehr … Erst habe ich Eluréd und Elurín nicht retten können, dann ebenso wenig unsere Zwillinge. Und jetzt die da! Ich kann nicht mehr. Bitte, töte sie …«

Maglor trat zu seinem Bruder, der sich mit dem Rücken an einen Baum zu Boden hatte sinken lassen. »Bruder, es sind nur Kinder«, sagte er sanft. »Wie viele unschuldige Kinder haben wir heute getötet? Zu viele. Lass es uns mit jenen beiden wieder irgendwie wieder gutmachen. Sie sind vollkommen unbeschriebene Blätter, wir können vergessen lassen, dass sie Earendils Söhne sind. Wenn er jemals wiederkehrt, dann wird er denken, sie seinen gestorben und wird nicht nach ihnen suchen. Und ganz ehrlich: Wäre Earendil überhaupt jemals ein guter Vater für sie gewesen? Nach allem, was man so hört, er war nie für sie da gewesen … Habe Mitleid mit ihnen, so wie ich welches für sie habe. Lass mich ihnen ein Vater sein.«

Maedhros sah seinen Bruder lange an, dann ließ er den Blick zu den beiden kleinen Kindern schweifen. Er schwieg und überlegte, rang innerlich mit sich. Schließlich wandte er sich an die Frau. »Verschwinde«, sagte er schlicht. »Und es sei dir geraten, dich nie wieder blicken zu lassen.«

Die Frau starrte ihn groß an. Ihr Blick huschte zu den Zwillingen, welchen diese verzweifelt erwiderten. Die Elbin war wahrscheinlich ihr letzter Anker zu ihrer nun zerstörten Heimat, das, was einer Familie am nächsten kam. Maedhros traute ihr keinen Finger breit. Sicher würde sie ihnen bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit in den Rücken fallen.

Als sie sich immer noch nicht regte, blaffte er sie erneut an. Erst dann besann sie sich, raffte die Röcke und eilte davon, um tatsächlich nie wieder gesehen zu werden.

Dann wandte Maedhros sich wieder Maglor zu. »Meinethalben. Das sind jetzt deine Bälger.«

Maglor lächelte, doch Elrond und Elros sahen nur ängstlich zu ihnen auf.

Geraubt
CN Krieg, Verlust von Angehörigen

Der Regen hatte nicht alle Feuer in Arvernien löschen können und die Feanorer kümmerten sich nicht darum, ob sie nun weiterbrannten oder nicht. Während sie die Zwillinge gesucht hatten, hatten ihre Soldaten die Verwundeten geborgen, um sie notdürftig zu versorgen. Weder Maedhros noch Maglor wollten länger hier verweilen als unbedingt nötig, und so schnell wie möglich aufbrechen. Sie hatten die Stadt verwundet wie ein Tier und ließen sie nun zum Sterben zurück. Einige ihrer Soldaten hatten anscheinend Mitleid mit den Bewohnern der Stadt, die nun hinter ihren eigenen Mauern gefangen waren, und wollten ihnen helfen. Doch mussten sie feststellen, dass die Überlebenden sich nicht helfen lassen wollten. Maedhros verhinderte es nicht, als sie flohen, und ließ auch die Elben, die sie gefangen genommen hatten, wieder frei. Es wirkte auf Maglor, als wolle sein Bruder damit wieder gut machen, was er angerichtet hatte, während er sich gleichzeitig fragte, ob es nicht gnädiger gewesen wäre, ihren Gefangenen ein schnelles Ende zu bereiten. Vielleicht wollte Maedhros auch einfach nur nicht mehr daran erinnert werden, was sie hier getan hatten. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Umso mehr verwunderte es Maglor, dass sein Bruder die Zwillinge hatte leben lassen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für Maedhros.

Ebenjene Zwillinge liefen ängstlich vor ihm her, als er sie zurück zum Lager führte. Sie klammerten sich eng aneinander und sagten kein Wort, während ihre Blicke umher huschten. So jung und doch hatten sie schon so viel Grausames durchleben müssen! Maglor brach es das Herz. Dabei erschien es ihm wie ein Wunder, dass sie überlebt hatten. Earendils Haus war das Hauptziel von Maedhros‘ Angriff gewesen. Alle, die sich darin befunden hatten, waren entweder tot oder gefangen worden. Wie hatte die Amme mit dem Kindern entkommen können?

Mit finsterer Miene eilte Maedhros voraus. Maglor wollte nicht wissen, was er soeben von seinem Bruder verlangte, jenem, der noch vor wenigen Augenblicken die Zwillinge hatte tot sehen wollen. Erst vor wenigen Stunden hatten sie ihre eigenen Zwillingsbrüder verloren, und nun wollte Maglor die Zwillingssöhne ihres Feindes bei sich aufnehmen. Und doch hatte es Maglor einfach nicht über sich bringen können, diese unschuldigen zarten Kinder in der Wildnis einsam dem Tod zu überlassen, nicht mal um seines Bruders willen.

Er hatte den Zwillingen alles genommen, Heimat, Freunde und Familie. Vielleicht war es grausam, dass ausgerechnet er sich nun ihrer annahm. Aber er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, sie wie Eluréd und Elurín ihrem Schicksal zu überlassen. Schon dass Maedhros diese nicht hatte retten können, hatte ihn getroffen. Jetzt hatte er die Möglichkeit, alles besser zu machen.

Kurz vor dem Heereslager hielt Maedhros an. »Warte hier«, wies er seinen Bruder an.

Dieser hob fragend eine Augenbraue. »Wieso das?«, wollte er wissen.

Maedhros seufzte und deutete wenig freundlich auf die Kinder. »Wegen denen da«, sagte er kühl. »Unsere Leute haben soeben einen weiteren Sippenmord erleben müssen. Sie mussten mit ansehen, wie ihre Kameraden sie töten wollten, so groß war unser aller Verwirrung. So viele grausame Dinge waren heute geschehen, unzählige Elben fanden auf unseren Schwertern den Tod. Und da trittst du auf einmal mitten unter sie mit den Söhnen Earendils, ihres Feindes, und willst verkünden, du würdest sie behalten. Denkst du da nicht, sie werden ungehalten sein?«

Maedhros hatte Recht, das hatte Maglor nicht bedacht. »Ceomon und Rethtulu werden es verstehen, denke ich, sie kennen uns von allen am besten«, sagte er.

»Doch sie sind zwei von Hunderten«, erwiderte Maedhros. »Ich werde sie jetzt holen gehen, sie werden sicher gebraucht. Bleib solange hier.« Er ging davon.

Die Zwillinge rückten noch enger zusammen und zogen die Köpfe ein. Vielleicht ging ihnen ja erst jetzt auf, wo die Feanorer sie wirklich hin brachten: Mitten unter jene Soldaten, die ihre Heimat niedergebrannt hatten.

Mit einem Male war Maglor unsicher. Er hatte bis jetzt nicht weiter gedacht, als dass er die Zwillinge beschützen wollte, doch Maedhros hatte Recht. Sie waren die Söhne seines erklärten Feindes, und jene, die jetzt noch zu den Feanorern standen, dachten mit Sicherheit ebenso. Wie konnte er ihnen begreiflich machen, dass von diesen Kindern keine Gefahr ausging? Dass sie nicht für das gestraft werden durften, was ihre Eltern getan hatten?

Er wollte ihnen beruhigend seine Hände auf die Schultern legen, doch sie zuckten vor seiner Berührung weg. Ein Stich fuhr ihm durch das Herz, doch dann ermahnte er sich zur Geduld. Würde es ihm anders ergehen, wäre er an ihrer Stelle? Wohl kaum.

»Ich passe auf euch auf, versprochen«, wisperte er ihnen stattdessen zu.

Verwirrung lag in ihren Augen, als sie zu ihm aufblickten.

Wenig später kam Maedhros wieder, im Gefolge ihrer beiden Diener. Beide trugen sie noch ihre verbeulte, dreckige Rüstung, selbst Ceomon hatte noch nicht die schwere Stahlplattenpanzerung gegen eine leichte eingetauscht, die er sonst im Alltag trug.

Ceomon eilte sofort auf Maglor zu. »Mein Herr!«, rief er aus. »Ich muss es auf Eurem Mund erfahren, ich muss es mit eigenen Augen sehen!«

Vor seinem Herrn hielt er inne. Zunächst mit Skepsis besah er sich die Zwillinge, doch dann wurde seine Miene weicher. Maglor lächelte leicht; er hatte Ceomon richtig eingeschätzt, er würde es verstehen, sie kannten sich ja schon so lange.

Ceomon beugte sich zu den Kindern herab und versuchte sich an dem, was er wohl für ein kinderfreundliches Lächeln hielt. Mit dem Blut, das jedoch noch immer an seiner Rüstung haftete, hatte es nicht wirklich die gewünschte Wirkung. Ängstlich wichen die Zwillinge vor ihm zurück, stolperten dabei jedoch gegen Maglor. Sie wirkten wie verängstigte kleine Hasen, die in die Ecke gedrängt worden waren.

Maglor hoffte, dass sie irgendwann diese schlimmen Stunden vergessen konnten und alles wieder gut wurde.

Rethtulu, Maedhros‘ Gefolgsmann, zeigte wie immer keine Regung und blieb reserviert wie eh und je. Aber Maglor war sich sicher, wäre er nicht einverstanden mit dem, was er tat, sähe seine Haltung sicherlich anders.

»Es ist gut, was Ihr tut«, sagte Ceomon, als er sich wieder aufrichtete. »Sie sind so unschuldige zarte Wesen, sie können nicht für die Taten ihres Vaters zur Verantwortung gezogen werden. Wie heißen sie?«

»Ich habe gehört, dass Elwings amilessi apacenyë Elrond und Elros lauten«, sagte Maglor. Ausgesprochen passende Namen, wie er befand, wenn er bedachte, wo er sie gefunden hatte. Was hatte Elwing gewusst?

»Dann werden wir wohl lernen müssen, wer von euch wer ist, nicht wahr?«, wandte sich Ceomon an die Zwillinge.

Maglor bemerkt, wie sein Bruder, der ein wenig abseits stand, schon wieder mit der Fassung rang. Es war einfach zu viel für einen einzigen Tag geschehen, alles war noch so verwirrend.

»Lasst uns gehen«, sagte er daher.

Ceomon und Rethtulu flankierten ihn und hatten die Hände in einer unmissverständlichen Geste an den Schwertern. Maedhros ging wieder voraus. So betraten sie das Lager. Maglor war es zugegebener Maßen mulmig zumute, vielleicht zu Recht. Die meisten, denen er begegnete, sahen nicht gerade wohlwollend aus, nicht wenige ließen laute Wiederworte vernehmen. Einmal trat ihm sogar ein Elb in den Weg und hielt heftige Widerrede:

»Das ist Verrat!«, rief er aus. »Sie sind die Söhne Eures Feindes, eines Diebs und Verräters. Erst vor wenigen Stunden habt Ihr sie bekämpft und nun wollt Ihr Euch mit ihnen verbrüdern? Überlasst sie in der Wildnis ihrem gerechten Schicksal!«

Maglor sagte nichts, doch als Antwort drückte er die Zwillinge schützend an sich. Dieses Mal ließen sie es zu. Ceomon packte den Elb beim Kragen und zerrte ihn zur Seite.

»Wage es nicht noch einmal!«, knurrte er. »Prinz Maglor ist dein Herr, du bist ihm zu Treue und Gefolgschaft verpflichtet. Du folgtest ihm sogar bis hierher, da wirst du wohl akzeptieren können, dass der Herr sich zweier unschuldiger Kinder erbarmt!«

Maglor konnte gar nicht beschreiben, wie froh er war, dass er Ceomon an seiner Seite hatte.

Von da an kamen sie unbehelligter voran. Dennoch war Maglor froh, als sie sein Zelt erreichten und er darin verschwinden konnte. Ihm mochten die Blicke all derer, an denen sie vorbei gekommen waren, nicht behagen. Die ganze Zeit über hatte Maedhros keine sonderliche Anteilnahme an dem Geschehen gezeigt, und das wollte Maglor am allerwenigsten gefallen. Zunächst folgte er sogar nicht seinem Bruder in dessen Zelt, trat dann aber doch ein.

»Erscheine alsbald zur Bestattung unserer Brüder«, sagte er, und es war jener Ton in seiner Stimme, mit dem er seine Befehle erteilte.

Maglor war verwundert. Maedhros redete sonst nie so mit ihm.

»Bruder, du bist verärgert«, stellte er fest. »Es ist doch nicht etwa wegen der Kinder?«

Maedhros jedoch verschränkte nur die Arme und sagte nichts. Mit noch finsterer Miene als ohnehin schon wandte er sich um und verließ schon beinahe fluchtartig das Zelt. Rethtulu folgte ihm.

Maglor seufzte und wusste nicht, was er tun sollte. Er befand sich in einem Gewissenskonflikt, der ihm nicht gefallen wollte. Sein Bruder konnte die Kinder anscheinend auf Gedeih und Verderb nicht einmal tolerieren, obgleich er Maglor erlaubt hatte, sie zu behalten. Maglor selbst konnte es jedoch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, die Kinder sich selbst und damit dem Tod überlassen. Und es war wohl schon jetzt nicht mehr nur Mitleid, das er ihnen entgegen brachte, eine Neigung für sie erwuchs allmählich in ihm.

Elrond und Elros hatten sich in eine Ecke des Zelts gekauert, noch immer so eng aneinander geklammert, dass man meine konnte, sie seinen ein und dieselbe Person. Maglor schob seine unmittelbaren Sorgen zur Seite und lächelte sie sanft an. Dann legte er sein Schwert ab, bevor er eine Decke nahm und sie den Kindern um die Schultern legte. Er kniete sich vor sie hin.

»Lasst euch ansehen«, bat er.

Der Schrecken, der in ihren Augen lag, schmerzte ihn, wusste er doch, dass er ihn verursacht hatte. Und doch lag da auch etwas in ihnen, dass ihn seltsam an sich selbst erinnerte. Ein Licht, das nur einen Ursprung haben konnte: der Silmaril.

»Seid ihr verletzt?«, fragte er sanft. »Braucht ihr etwas anderes? Essen oder zu trinken?«

»Hunger«, nuschelte Elrond.

Maglor nickte und schickte Ceomon los, um ihnen etwas zu essen aufzutreiben.

Elros reckte herausfordernd das Kinn. Maglor war schon aufgefallen, dass dieser der Forschere der beiden zu sein schien.

»Wo ist unsere Mutter?«, verlangte der Junge zu wissen.

Maglor setzte sich auf den Boden, um ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

»Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Aber ich glaube, dass sie jetzt bei eurem Vater auf seinem Schiff ist und mit ihm in den Westen fährt.« Er zögerte, das Folgende auszusprechen, doch er wusste, dass es wichtig war. Also fuhr er fort: »Sie hat etwas bei sich, das uns gehört. Sie weigerte sich, es uns zu geben. Also mussten wir sie zwingen. Versteht ihr das?«

Die Kinder schüttelten die Köpfe.

»Mutter hat gesagt, dass euch das Licht gehört hat. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist es ihres«, widersprach Elrond.

»Die silmarilli gehörten unserem Vater«, erklärte Maglor. »Doch Morgoth Bauglir raubte sie uns. Alles, was wir seitdem taten, zielte darauf ab, sie uns zurückzuholen, denn niemand außer meinen Brüdern und mir hat ein Anrecht auf sie. Ihr seid alt genug, um zu verstehen, dass man nichts nimmt, das einem nicht gehört, nicht wahr? Dass das Diebstahl ist.«

Die Zwillinge sahen ihn verwirrt an. Offensichtlich hatten sie die Sache noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet, Elwing sei dank.

»Hast du uns deswegen gestohlen?«, wollte Elrond wissen. »Weil du das Licht wiederhaben willst?«

Maglor stutzte. Nun, im Prinzip hatte der Junge Recht. Sie waren das, was man wohl Kriegsgefangene nennen würde, ein Unterpfand, um das einzufordern, was er verlangte. Doch irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen, sie als solche anzusehen.

»Nein«, sagte er sanft. »Nicht deswegen. Ich will euch beschützen. Die Welt ist ein gefährlicher Ort, und allein würdet ihr in ihr nicht überleben.«

»Und wenn wir nach Hause wollen?«, verlangte Elros zu wissen. »Wenn wir zu unserer Mutter wollen?«

Maglor schluckte schwer. »Ihr könnt nicht zurück. Eure Heimat gibt es nicht mehr und eurer Mutter kann jetzt niemand mehr folgen; dieser Weg ist für uns alle versperrt. Ihr könnt nirgendwo anders mehr hin.«

Schweigen senkte sich über sie. Die Augen der Kinder füllten sich mit Tränen, als die Erkenntnis in ihnen reifte, dass ihnen wirklich und wahrhaftig alles genommen worden war.

»Bitte vergebt mir«, bat Maglor leise.

In dem Moment kehrte Ceomon wieder, in der Hand etwas Brot und Käse. Maglor erhob sich und trat zu ihm. Er seufzte.

»Es wird soweit sein, ich muss gehen«, sagte er bitter. Leiser fügte er an: »Gib auf sie acht, dass sie nicht davon laufen.«

Ceomon nickte. In seinen Augen lag tiefes Bedauern und Anteilnahme. Auch er hatte die toten Zwillingsbrüder seines Herrn sehr gemocht.

Schweren Herzens wandte sich Maglor zum Gehen. Das Begräbnis seiner Brüder wartete auf ihn. Wie sehr er doch wünschte, dem wäre nicht so!

Die nächste Stunde verbrachte er wie im Traum, es schien ihm alles so unwirklich. Wie konnten seine Brüder tot sein, jetzt, da er Earendils kleine Söhne bei sich hatte? Wie konnte ihr Tod das nur überschatten? Seit er Elrond und Elros gefunden hatte, hatte er den Gedanken an seine eigenen Brüder verdrängt, doch nun kam er mit aller Macht zurück.

Ein Scheiterhaufen war für die Zwillinge errichtet worden, ganz so wie ihr Vater würden ihre Seelen brennend nach Mandos einkehren. Wenn ihnen nicht doch das Ewige Dunkel beschieden war, wie sie es alle vor so langer Zeit auf sich herabgerufen hatten, als sie bei Ilúvatar und Manwe und Varda zu Zeugen anrufend ihren schrecklichen Eid geschworen hatten.

Dunkle Wolken zogen erneut am Horizont auf und ließen die beginnende Dämmerung wie die schwärzeste Nacht wirken. Noch dunkler aber schien es Maglor in seinem Herzen. Alles war dahin, alles schien verloren. Seine gesamte Familie war tot, ihm blieb nur noch Maedhros.

Bereits hatten sich viele Elben versammelt, um von Amrod und Amras Abschied zu nehmen. Schweigend trat Maglor neben seinen Bruder, und auch Maedhros sagte nichts. Welche Worte hätten schon ihren Verlust ausdrücken können, welche Lieder und Melodien? Die Noldolante sang zwar von all dem Leid, dass dieser Tage über die Noldor gekommen war, doch obgleich Maglor sie geschrieben hatte, befand er, dass sie doch niemals das würde ausdrücken können, was er tatsächlich empfand.

Doch was fühlte er eigentlich? Er wusste es nicht, alles war so verworren und durcheinander. Er hatte mit seinen Brüdern Leid und Tod über die Elben von Arvernien gebracht, schlussendlich hatte er den Hohen König Gil-galad selbst damit verraten. Er hatte Morgoth freie Hand zu ihrer aller Vernichtung gegeben … Und doch hatte er ausgerechnet Earendils Söhne soeben bei sich aufgenommen, ein klein wenig Freude inmitten seines Leids und Schmerzes über den Verlust seiner geliebten Brüder.

Oder hatte er es vielleicht nur getan, weil auch die Kinder Zwillinge waren?

Hell und heiß loderten die Flammen auf. Maglor gab sich nicht einmal die Mühe, seine Tränen zu verbergen, ganz wie sein Bruder. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. Maedhros erwiderte die Geste.

»Namárië“«, wisperte er in den Wind als Abschied für die Zwillinge. Mehr nicht. Sie hätten es nicht gewollt, wenn ihre Brüder lange pathetische Reden zu ihrem Abschied gehalten hätten.

So gingen sie dahin, die Zwillinge Amrod und Amras, die jüngsten der sieben Söhne Feanors, verschlungen von den Flammen, verbrannt im Wahn ihres Eides.

Die beiden letzten Brüder standen noch lange vor der erkalteten Asche des Scheiterhaufens, als die meisten anderen schon gegangen waren. Sie verweilten in Schweigen. Erst als es zu regnen begann, kehrten sie zu ihren Zelten zurück. Maglor bemerkte jedoch, dass Maedhros ihm zu seinem folgte.

Als sie eintraten, schwiegen sie noch immer. Maglor stellte fest, dass die Kinder in der Zwischenzeit gegessen hatten und nun wohl eingeschlafen waren. Ceomon hatte sie auf Maglors Feldbett gelegt und sie zugedeckt. Dieser Anblick wirkte sonderbar tröstend auf Maglor.

Ceomon respektierte das Schweigen der beiden letzten Feanorer. Denn was gab es denn auch zu besprechen? Maedhros setzte sich auf einen Stuhl, Maglor ließ sich kurzerhand vor seinem Bett auf den Boden nieder.

Erst nach einiger Zeit brach Maedhros das Schweigen. »Warum die Kinder?«, fragte er unvermittelt. Er sprach erstaunlich rücksichtsvoll mit gesenkter Stimme, um ebenjene nicht zu wecken.

Maglor sah verwundert auf. »Warum?«, wiederholte er ebenso leise. »Wegen all dem, was vorgefallen ist. Sie sind Kinder, nichts weiter, unschuldig und rein. Es wäre barbarisch gewesen, sie im Wald zu lassen, und schließlich sind wir keine Orks. Frag dich, warum du Eluréd und Elurín gesucht hattest.« Er hielt inne.

»Ihre Unschuld, ihre Reinheit, sie … sie heilt meine Narben«, fuhr er schließlich stockend fort als suche er nach den passenden Worten. »Ich kann nicht ungeschehen machen, was wir taten, aber vielleicht kann ich jene dunklen Tage ja vergessen machen, indem ich mich ihrer erbarme, vielleicht kann ich damit in den Herzen aller auch einige wenige gute Erinnerungen an uns überdauern lassen.

Ich habe das Gefühl, als befreiten sie meine Seele …

So kann es nicht weitergehen, du weißt es ebenso gut wie ich. Wir sind am Ende. Sämtliche Elbenreiche sind vergangen, unsere Streitkräfte aufgerieben. Morgoth wird leichtes Spiel mit uns haben. Und Schuld sind wir, es lässt sich nun einmal nicht leugnen. Findest du es da nicht gerecht zu versuchen, wenigstens zwei kleinen Kindern das Leben retten zu wollen, zu versuchen, sie vor der Sklaverei und dem Tod retten zu wollen, wie es uns bevorsteht? Ihnen ein Leben fernab vom Krieg und Leid in Frieden ermöglichen zu wollen?«

»Doch wie, frage ich, wie?«, erwiderte Maedhros. »Willst du sie großziehen, nur um sie dann erneut in der Wildnis auszusetzen? Denn so deute ich deine Worte.«

»Wenn es das ist, was ich tun muss, um sie zu schützen, ja«, antwortete Maglor mit erstaunlicher Klarheit. »Doch wenn sie erst einmal älter sind und ich ihnen gab, was ich konnte, werden sie gewiss eher überleben als zu diesem Zeitpunkt. Bruder, ich ertrage den Gedanken nicht, dass ihnen Leid zugefügt werden könnte. Ich verspüre das Verlangen, sie vor allem Übel dieser Welt schützen zu wollen.«

Doch noch zeigte Maedhros wenig Mitgefühl. »Ausgerechnet diese Kinder, die für all das stehen, was wir erlitten und verloren haben!«, knurrte er. »Nichts wird jemals vergessen sein, für immer wird man sich unserer als Mörder und Verräter erinnern. Du wirst es ebenso wenig vor dir leugnen können wie ich vor mir. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken.«

»Wohl genau deswegen sollten wir die Kinder vielleicht behalten«, sagte Maglor ruhig. »Um zu zeigen, dass wir auch anders sind, nicht allein herzlose Mörder.

So zart, unberührt, rein. Warum nur ist nicht alle Welt bestrebt, Wesen wie sie schützen zu wollen? Sie haben eine bessere Welt als diese verdient.

Ja, was getan ist, ist getan, und wir sind, was wir sind: allein Söhne unseres Vaters, verflucht und verzweifelt, enteignet und entehrt. Es ist wie Gift, dieser verfluchte Eid, ein Gift, das langsam in meine Venen kriecht und mir die letzte Würde nimmt, die mir geblieben ist.

Ich wünschte, wir könnten ein weiteres Leben wählen, nur ein einziges, in dem wir alles anders und besser machen könnten. Vielleicht sind aber diese zwei Kinder mein zweites Leben, das Leben, in dem ich versuche besser zu sein als jetzt? Eine letzte Möglichkeit, das zu retten, das von einer sterbenden Welt übrig blieb?

Nacht kam über uns, schon vor vielen Jahren. Strebten wir nicht alle danach, diese Nacht mit Farben zu erhellen? Strebten wir nicht alle nach dem Morgen, der unseren Alptraum beendet? Dann sind diese zwei Kinder mein Morgen, der mir Seelenfrieden gibt, der meine Last lindert.

Und jetzt, Maitimo, Bruder, frage ich dich, warum du es zuließt, dass ich die Kinder in meine Obhut nahm, denn ich sehe noch immer deine Abneigung. Du scheinst nicht überzeugt zu sein.«

Maedhros seufzte und ließ den Kopf hängen. »Weil Liebe und Treue unser aller großer Fehler ist und doch unser größtes Gut«, sagte er schließlich. »Aus Liebe zu unserem Vater folgten wir ihm und sind heute hier angekommen: im dritten Sippenmord, in Schimpf und Schande. Ich liebe dich, Bruder, du bist mir das einzige, was von unserer Familie blieb, und mir das teuerste auf Erden. Mein einziges Ziel ist es, dich wieder glücklich zu sehen. Doch bitte gibt mir Zeit, dass ich mich an die Kinder gewöhne. Noch kann ich sie nur hassen, noch verbinde ich mit ihnen all das, was mich schmerzt und verbittert.«

Maglor konnte nicht beschreiben, wie unendlich dankbar er seinem Bruder war! Maedhros war bereit, seinen Hass zu überwinden, sie irgendwann einmal akzeptieren zu können.

»Danke«, brachte er heraus, mehr nicht.

Maedhros lächelte kurz und lediglich angedeutet. »Aber versprich mir eines«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Sei ihnen ein guter Vater.«

Nun war es an Maglor zu lächeln. »Nichts anderes hatte ich vor«, versprach er.

amilessë apacenyë – Muttername der Einsicht (pl. amilessi), Qu.
namárië - Lebwohl, Qu.
In diesem Kapitel habe ich eine alte Songfic verarbeitet, die durch die Neubearbeitung des Texts endlich hier hinein passt. Chasing the Dragon habe ich noch so stehen lassen, wie ich es damals schrieb.
Entwurzelt

Während Maedhros ihren Aufbruch organisierte, ging Maglor noch ein letztes Mal durch die Stadt. Ihre Soldaten hatten mitgenommen, was sie an Vorräten benötigten, doch darüber hinaus hatten die Brüder keine Plünderungen erlaubt. Maglors Ziel war Earendils Heim. Auch wenn Maedhros es dem Feuer übergeben hatte, so hoffte er dennoch, noch ein paar letzte Informationen daraus bergen zu können, vielleicht auch einfach nur ein oder zwei kleine Dinge, die Elrond und Elros gehörten und die er für sie mitnehmen konnte.

Der Regen hatte verhindert, dass das Haus völlig niederbrannte. Viele Bereiche waren unbewohnbar geworden, doch er konnte noch immer größtenteils ungehindert das Haus erkunden. Schnell hatte er den Raum gefunden, in dem die Zwillinge gewohnt hatten. Eine geschlossene Tür hatte verhindert, dass die Flammen auf ihn übergriffen. Für einen Moment zögerte Maglor, dann trat er dennoch ein. Es fühlte sich unangenehm persönlich an, als würde er im Leben einer anderen Person herumwühlen, das ihn nichts anging. Nun, eigentlich tat er hier auch nichts anderes.

Das Zimmer war westwärts gewandt mit einem Fenster zum Meer hinaus. Eine frische Brise wehte herein, konnte den Rauchgeruch jedoch nicht vertreiben. Maglor machte sich daran, das Zimmer nach nützlichen Dingen zu durchsuchen. In einem Schrank fand er Kinderkleidung, von der er einige Sachen auswählte, die nicht allzu stark nach Rauch rochen. Sobald sie wieder in Ossiriand waren, würde er neue anfertigen lassen müssen, doch für‘s erste würde es genügen.

Ein paar Holzspielsachen lagen am Boden verstreut, anscheinend in der Eile zurückgelassen. Maglor hob ein kleines Schiff auf, das offensichtlich Vingilot nachempfunden war, und packte ebenso ein paar kleine Figuren ein. Das würde genügen müssen.

Er wollte sich schon zum Gehen wenden, als ein kleines Büchlein auf einem der beiden Nachttische seine Aufmerksamkeit erregte. Neugierig geworden hob er es auf und besah es sich. Als er durch die Seiten blätterte, stellte er fest, dass es wohl Elronds Tagebuch war. Schnell schlug er es wieder zu. Was darin stand, ging ihn wirklich nichts an. Er packte das Büchlein jedoch ebenso ein und hoffte, dem Jungen damit eine Freude machen zu können. Sicher hatte er geglaubt, es sei für immer verloren.

In der Ferne ließ Maedhros die Hörner erklingen. Zeit zu gehen.

Er kam gerade rechtzeitig zurück, als Maedhros soeben den Marschbefehl gegeben hatte. Er hatte auf seinem Pferd sitzend auf seinen Bruder gewartet. Maglors eigenes Pferd wurde von Ceomon bereitgehalten, die Zwillinge saßen bereits im Sattel. Tränen standen in ihren Augen, als sie ein letztes Mal auf das blickten, was einst ihre Heimat gewesen war.

»Wo warst du gewesen?«, wollte Maedhros wissen, während sich hinter ihm bereits die Soldaten in Bewegung setzten.

Als Antwort trat Maglor zu seinem Pferd und reichte Elros das Schiffchen und Elrond dessen Tagebuch. Erstaunt sahen die Kinder ihn an und drückten ihre Sachen eilig an sich.

»Ich glaube, die gehören euch«, sagte er. Als er Elronds besorgten Blick sah, fügte er schmunzelnd an: »Ich habe nicht hineingelesen.«

Schweigend verfolgten sie, wie er hinter ihnen auf das Pferd stieg. Er legte die Arme um sie, griff nach den Zügeln und ritt dann zu Maedhros, der bereits voraus geritten war. Siegreich und doch geschlagen ließen die Feanorer Arvernien hinter sich und blickten nicht mehr zurück.

»Danke«, murmelte Elrond irgendwann doch, während er sein Tagebuch an sich drückte, als wäre es sein wertvollster Besitz. Wahrscheinlich war es das nun auch.

Schweigend ritten die Feanorer ihrem Heer voran, stolz erhobenen Hauptes und doch gebrochen. Die verblieben Männer Amrods und Amras‘ hatten sich ihnen angeschlossen, dennoch war das, was von ihrer Streitmacht übrig geblieben war, nur ein schwacher Schatten der Kräfte, die sie einst befehligt hatten, als sie an der Seite ihres Vaters Beleriand erobert hatten.

Maglor mochte die bedrückende Stille nicht, die sie auf ihrem Weg begleitete, dennoch erschien es ihm unpassend, ein Lied anzustimmen, wie er es sonst getan hätte. Was könnte er auch anderes singen als die Noldolante? Doch die würde kaum ihre Stimmung heben.

Die Zwillinge blieben weiterhin schweigsam und verschlossen und wichen keine Hand breit von der Seite des jeweils anderen. Maglor fragte sich, wie viel Zeit sie wohl benötigen würden, um das, was geschehen war, hinter sich lassen zu können. Würden sie es jemals können? Er hoffte es für sie.

Die wenigen Worte, die er unmittelbar nach ihrer Gefangennahme in seinem Zelt mit ihnen hatte wechseln können, hatten ihn erstaunt. Sie waren gerade einmal sechs Jahre alt, doch wirkten sie für ihr Alter weitaus reifer. Fast wie Menschenkinder. Er wusste nicht viel über Halbelben, doch wie es aussah, ähnelten sie in dieser Sache viel eher den Edain. Ob sie ebenso sterblich waren? Der Gedanke behagte ihm nicht wirklich.

Wenn Maedhros einen Halt befahl, blieben die Zwillinge stets für sich. Manchmal steckten sie tuschelnd die Köpfe zusammen, doch die meiste Zeit beobachteten sie nur misstrauisch, was um sie herum geschah. Die meisten Elben schenkten ihnen keine Aufmerksamkeit; offenbar wusste niemand so wirklich etwas mit den Kindern anzufangen. Maedhros hingegen mied sie ganz offensichtlich, und wenn er doch einmal in ihre Richtung sah, waren seine Blicke stets missbilligend und offen ablehnend. Er erhob zwar nicht das Wort gegen sie, freundlich war sein Umgang mit ihnen jedoch auch nicht.

Maglor hingegen bemühte sich, sanft mit ihnen umzugehen. Er erinnerte sich, wie es gewesen war, als seine eigenen Brüder noch Kinder gewesen waren und er auf sie hatte aufpassen müssen. Zumindest war er so nicht völlig ahnungslos, was den Umgang mit Kindern anging. Ceomon hingegen, der sich bisher als einziger für die Zwillinge hatte erwärmen können, stellte sich mitunter etwas unbeholfen an. Von ihm kam allerdings der Vorschlag, Maglor könne ihnen etwas vorsingen. Auch wenn ihm ganz und gar nicht danach war, beschloss Maglor, dass es auf einen Versuch ankäme.

Also griff er eines abends doch wieder zu seiner Harfe und setzte sich wortlos neben die Zwillinge. Sie rückten näher zusammen und von ihm weg und beobachteten misstrauisch, was er da tat. Er versuchte, nicht darauf zu achten, stimmte die Harfe und begann dann leise eine beschwingte Melodie zu spielen. Es war eines seiner frühesten Stücke, kaum mehr als Nonsens, das er noch in Aman aus einer Laune heraus aus dem Ärmel geschüttelt hatte, als er Amrod und Amras beim Spielen beobachtet hatte.

Verstohlen beobachtete er die Zwillinge aus dem Augenwinkel, wie sie darauf reagierten. Sie schienen sich ein klein wenig entspannt zu haben und beobachteten aufmerksam, was er tat. Unwillkürlich musste er schmunzelnd, während seine Musik lustige Sprünge vollführte, nachahmend, wie seine jüngsten Brüder einst durch die Wälder getollt waren.

Schließlich ließ er die Saiten verstummen und wandte sich den Kindern zu. »Ich kann es euch beibringen, wenn ihr wollt«, bot er an.

Elrond zögerte einen Moment, dann nickte er leicht. Elros hingegen stieß ihm einen Ellbogen in die Seite und schüttelte den Kopf.

»Bruder, nicht!«, flüsterte er.

Elrond sah erst ihn an und dann wieder zu Maglor. Seine Miene war wieder verschlossen wie eh und je.

Und doch schien Maglors Musik die Tür ein winziges Stück weit geöffnet zu haben.

Über die Tage und Wochen ihrer Heimreise hinweg hatte Maglor genügend Zeit, die Zwillinge aufmerksam zu beobachten. Dank seiner eigenen Brüder war er geübt darin, die winzigen Unterschiede zwischen den Zwillingen zu bemerken. Gerade in der ersten Zeit verwechselte er sie dennoch ständig, gelobte jedoch Besserung. Maedhros schien sich diese Mühe nicht zu machen. Wenn er von ihnen sprach, dann nur als Maglors Bälgern. Die meiste Zeit mied er sie ohnehin, außer wenn es unumgänglich war.

Es war ein sonderbares Gefühl, als sie zum Amon Ereb zurückkehrten. Einstmals so voller Leben war das Herrenhaus nun leer und still. Nur wenige ihres Hausvolks waren noch geblieben, viele waren gegangen und lebten nun verstreut in den Wäldern und Auen. Viel mehr war nicht geblieben von den einst mächtigen Reichen der Feanorer. Die Mauern fühlten sich kalt an, das Leben in ihnen fehlte.

»Das ist jetzt eure Heimat«, sagte Maglor zu den Kindern. »Kommt, lasst uns sehen, wo ihr schlafen könnt.«

Maedhros hatte bereitwillig die Organisation ihrer Rückkehr auf sich genommen, offenbar froh darum, dass Maglor sich der Kinder annahm und somit mehr Arbeit für ihn übrig blieb. Mehr Arbeit hieß mehr Ablenkung. Das war nicht gut, Maglor würde ein Auge auf ihn behalten müssen.

Er führte die Kinder in das Haus. Ängstlich sahen sie sich um, jetzt war es unumstößlich. Es war nicht bloß ein böser Traum gewesen, sie würden nicht aufwachen können und sehen, dass wieder alles gut war.

So etwas wie Kinderzimmer gab es nicht in dem Haus, da nie eine Notwendigkeit dafür bestanden hatte. Aus der Not heraus entschied sich Maglor für eines der Gästezimmer, die sich nahe seiner eigenen Gemächer befanden. Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

»Schaut euch um«, forderte er die Kinder auf. »Gefällt euch das Zimmer?«

Elros starrte mit finsterer Mine vor sich hin. Elrond zuckte nur mit den Schultern. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

Wieder einmal ermahnte sich Maglor dazu, ihnen mehr Zeit zu geben.

»Nun denn. Wir werden schon ein schönes Zimmer für euch daraus machen.«

Er machte sich daran, ihre wenigen Sachen in einen Kleiderschrank zu räumen. Elrond indes hatte sich auf das für die Kinder viel zu große Bett gesetzt, während sein Bruder noch immer mitten im Raum stand, etwas verloren wirkte und sein Holzschiff an sich drückte.

»Hast du das wirklich so gemeint?«, fragte Elrond unvermittelt. »Dass du jetzt unser atto bist?«

Verwundert wandte sich Maglor zu dem Jungen um. »Das hast du gehört? Ich dachte, ihr hattet geschlafen.«

Elrond nickte nur.

»Nun …« Maglor wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte. »Euer Vater ist und bleibt Earendil. Aber ich werde auf euch aufpassen, wie er es getan hat.«

»Das heißt also, du bist nie da?«

Das warf Maglor endgültig aus der Bahn. »Warum sollte ich nie da sein?«, fragte er verwundert.

»Weil atto nie da war. Und jetzt sind er und amya weggegangen und holen uns nicht.«

Maglor hätte weinen mögen. Earendils häufige Seefahrten hatten ihn anscheinend weit mehr als nur räumlich von seinen Söhnen getrennt. Und schlussendlich hatte auch Elwing sie in Stich gelassen und würde nicht mehr zurückkehren. Das musste diese zarten Kinderseelen förmlich entzwei gerissen haben.

Er kniete sich neben das Bett und sah erst zu Elrond und dann Elros.

»Ich werde euch nicht verlassen, versprochen«, versicherte er ihnen. »Niemals.«

Maglor spüre ihre Unsicherheit und die Verwirrung, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Niemand hatte sie auf so etwas vorbereitet, niemand hätte es auch gekonnt. Sicher hatte Elwing sie in dem Wissen erzogen, dass die Feanorer böse waren, ihre Feinde, die nur allzu bereit waren, anderen Elben wehzutun. Wie passte es da in das Bild, dass Maglor sie sogar vor seinem eigenen Bruder beschützt hatte und gewillt war, ihnen ein neues Heim zu geben?

»Nach der langen Reise habt ihr bestimmt Hunger«, sagte er schließlich. »Soll Ceomon euch in die Küche bringen, damit ihr etwas essen könnt?«

Dieses Mal war es Elros, der zaghaft nickte.

Maglor lächelte. »Gut.«

Er gab sie in Ceomons Obhut, dann ging er selbst zu seinem Bruder. Er fand Maedhros in dessen Arbeitszimmer, wo er bereits wieder über seinen Unterlagen brütete. Etwas schien ihn sehr zu beschäftigen. Maglor trat ein und schloss die Tür hinter sich. Noch immer sah Maedhros nicht zu ihm auf.

»Was gibt es, Bruder?«, fragte Maglor daher.

Maedhros seufzte schwer und deutete auf einen der Stühle im Raum. »Setz dich.«

Maglor griff ihn sich, stellte ihn vor den Schreibtisch und setzte sich seinem Bruder gegenüber. »Den Ton kenne ich und ich mag ihn nicht. Was ist passiert?«

Als Antwort schob ihm Maedhros nur ein Schreiben zu. Es trug das Siegel des Hohen Königs und war mit Gil-galads Sternenbanner verziert. Mit pochendem Herzen las Maglor es. Doch nach und nach schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.

»Wenn es weiter nichts ist«, kommentierte er nur.

Maedhros sah ihn kritisch an. »Erst ruiniert er unsere Wirtschaft, indem er uns zu horrenden Reparationszahlungen verpflichtet. Dann entwaffnet er uns und erlaubt uns nur noch so viele Soldaten, wie wir benötigen, um das Haus und die umliegenden Ländereien zu schützen. Das sind, wenn es hoch kommt, vielleicht fünfzig Mann. Von den Tausend, die wir noch haben. Und selbst diese Tausend wären zu wenig, um einem ernsten Angriff Morgoths stand zu halten! Diese lächerliche Forderung nach einer öffentlichen Entschuldigung einmal dahingestellt, gibt er uns damit dem Untergang preis.«

»Du musst schon richtig zwischen den Zeilen lesen«, entgegnete Maglor. »Er betont mehrfach, dass er sein Volk vor dem Schwarzen Feind beschützt. Nicht vor uns, vor Morgoth. Er bietet uns Hilfe an, sollten wir ihrer benötigen. Und außerdem schickt er das.«

Er wedelte mit der letzten Seite des Schreibens. Es war ein Rezept für Pfannkuchen.

»Sie mögen das«, hatte Gil-galad am Rand notiert.

»Das ist Fingolfins Pfannkuchenrezept«, bemerkte Maedhros. »Fingon hatte immer davon geschwärmt. Aber ich verstehe nicht …«

»Weißt du, was Gil-galad jetzt machen müsste? Uns aus seinem Volk ausstoßen, verbannen und an den Feind ausliefern. Stattdessen hält er lediglich unsere Wirtschaft klein, nimmt uns unsere Waffen und sagt im gleichen Atemzug, dass wir, wenn Morgoth uns angreifen sollte, bei ihm Schutz finden, weil wir immer noch Noldor sind. Und es sieht so aus, als ob ich Pfannkuchen backen soll für die Kinder. Dieses Schreiben ist nur Schein, leere Worte, nichts weiter. Würde er uns wirklich bestrafen wollen, sähe das anders aus. Das hier ist nur für die, die sonst behaupten würden, er hätte sich sehenden Auges blind gestellt.«

Maedhros ließ den Kopf hängen. »Wenn Fingon nur wüsste! Ich bin unserer Freundschaft nicht würdig. Sein Sohn zählt noch nicht einmal ein yén und schafft es doch schon, mich mit seiner Gnade so zu erniedrigen.«

»Lass uns das beste daraus machen«, sagte Maglor nur.

Doch Maedhros wirkte offensichtlich nicht überzeugt.

 

atto – Vater, Papa, Qu.
amya – meine Mutter, Mama, Qu.
yén – elbisches Langjahr, 144 Sonnenjahre, Qu.
Ein neues Heim

Kritisch besah sich Maglor sein Werk. Dann sah er auf das Rezept und wieder zurück auf die Pfannkuchen vor ihm. Irgendetwas war schief gelaufen und er wusste einfach nicht, wo sein Fehler lag.

»Ihr habt den Teig nicht genug gehen lassen, Herr«, warf eine der Köchinnen von der Seite ein.

»Aber ich habe keine Zeit mehr, gleich ist Frühstückszeit, da sollen sie fertig sein«, gab er zu bedenken.

»Dann hättet Ihr früher beginnen sollen«, sagte die Elbin trocken. »Der Teig braucht seine Zeit. Überlasst das am besten einfach in Zukunft uns. Dafür bezahlt Ihr uns.«

Seine Anwesenheit in der Küche hatte für einiges Chaos gesorgt und zu allem Ungunsten war das Ergebnis seiner Bemühungen noch nicht einmal gelungen. Vielleicht würde es ja trotzdem reichen. Nicht wirklich überzeugt von diesem Gedanken nahm er den Teller mit den Pfannkuchen und ging nach oben. Wie immer frühstückte er zusammen mit seinem Bruder, und seit die Kinder seit nunmehr einer Woche im Haus wohnten, bestand er darauf, dass auch sie mit ihnen aßen, statt dass Ceomon sie in die Küche nahm, damit sie dort etwas bekamen.

Niemand war wirklich glücklich mit der Situation.

Gleich am Tag nach ihrer Rückkehr hatte Maglor einen Schneider beauftragt, ihnen neue Kleidung anzufertigen. Der Rauchgeruch war einfach nicht aus ihren alten herauszubekommen. Dann hatte er ihren Schreinermeistern den Auftrag erteilt, das Zimmer kindgerecht einzurichten. Er hatte versucht, Elrond und Elros darin einzubinden, und sie gefragt, was sie sich wünschten, aber sie blieben einsilbig und gleichgültig gegenüber seinen Vorschlägen. Die Trauer hing über ihnen wie ein schweres Tuch, das die kleinen zarten Kinderschultern zu Boden drückte. Maglor versuchte, Optimismus auszustrahlen, aber sein Herz weinte.

Maedhros saß wie immer schon am Tisch. Als Maglor hinzukam, begleitete Ceomon soeben die Zwillinge zu ihren Plätzen und half ihnen, sich auf die hohen Stühle zu setzen. Ihm gegenüber schienen sie etwas wärmer zu sein, doch gegenüber Maglor und besonders seinem Bruder blieben sie nach wie vor verschlossen. Sie saßen hier an diesem Tisch, weil Maglor es so wünschte, und nicht etwa, weil es ihr Wille war. Dennoch bestand er auch seinem Bruder gegenüber darauf, hoffend, dass er eine Brücke zwischen den Zwillingen und Maedhros bilden konnte. Weder die Kinder noch Maedhros wirkten sonderlich glücklich.

»Guten Morgen!«, wünschte er allen fröhlicher, als er sich fühlte. Er stellte den Teller mit den verunglückten Pfannkuchen vor den Kindern ab. »Ich habe euch etwas mitgebracht. Hörte, ihr mögt das.«

Kritisch besahen sich die Kinder die Pfannkuchen, dann blickten sie zu ihm auf.

Maglor sah Ceomon nur allzu deutlich an, wie dieser ein Lachen zurückhalten musste. Maedhros enthielt sich eines Kommentars, dennoch warf er seinem Bruder einen spöttischen Blick zu. Maglor seufzte stumm. Auf einen Versuch war es immerhin angekommen.

Während Maedhros als Oberhaupt des Hauses am Stirnende des Tisches saß, setzte sich Maglor zu seiner Rechten, den Kindern gegenüber. Diese starrten auf ihre Teller und wagten es nicht, auch nur einen Mucks zu machen. Sie spürten die kalte Ablehnung, die ihnen von Maedhros entgegen schlug, der nur allzu offensichtlich versuchte, sie wie Luft zu behandeln. Maglor musste dringend unter vier Augen mit seinem Bruder über sein Verhalten reden, aber bisher war er ihm immer ausgewichen.

Ohne ein weiteres Wort griff Maedhros zu seinem Essen. Noch immer regten sich die Kinder nicht, auch nicht, als Maglor mit seinem Frühstück begann.

»Esst!«, forderte er sie auf und zwang sich zu einem Lächeln. Die Kälte im Raum ließ ihn beinahe frösteln.

Erst als Elros dem zögernd nachkam, streckte auch Elrond eine Hand nach einem der Pfannkuchen aus. Langsam kaute er darauf herum und konnte doch nicht verhindern, dass Maglor sein Missfallen bemerkte. Elros ließ sich gar nicht erst dazu herab, einen der Pfannkuchen zu probieren.

Dieses Experiment konnte Maglor dann wohl als gescheitert abtun. Er ließ sich davon aber nicht entmutigen. Irgendwie würde es ihm schon gelingen, zu den Kleinen durchzudringen. Er war ein Sohn Feanors und besaß noch immer dessen Verbissenheit!

Zumindest war es das, was er sich sagte. Dann musste er nicht daran denken, welch wunderbare Ablenkung dieses selbst gewählte Ziel ihm von der Trauer um seine eigenen Brüder bot.

»Weißt du schon, wie wir die Reparationszahlungen erfüllen können?«, wandte er sich an seinen Bruder.

»Ich werde unsere Waffen als Teil der Zahlungen anbieten«, eröffnete Maedhros. »Wenn Gil-galad das nicht akzeptiert, wird es schwierig. In diesem Fall könnten wir versuchen, sie an die Zwerge von Belegost zu verkaufen, um an das nötige Geld zu kommen.«

Keine guten Aussichten. »Und wenn sie uns nichts abkaufen wollen?«, gab Maglor zu bedenken. »Es sind Zwerge, zwischen unseren Völkern hat nie große Freundschaft geherrscht …«

»Dann werden wir den Gürtel enger schnallen müssen. Es gibt ja sonst niemanden mehr, mit dem wir handeln könnten. Die Laiquendi von Ossiriand werden uns wohl kaum den Gefallen tun.«

Die Zahlungen, die Gil-galad von ihnen forderte, waren enorm. Ihre Wirtschaft war ohnehin geschwächt und reichte gerade so, dass sie über die Runden kamen. Mit dieser zusätzlichen Last auf den Schultern standen ihnen schwere Zeiten bevor. Das und der Umstand, dass sie keine Armee mehr kommandierten durften, bereitete Maglor Kopfschmerzen. Entgegen dem, was er am Tag ihrer Ankunft seinem Bruder gesagt hatte, fürchtete er, was passieren würde, wenn Morgoth der Sinn danach stand, gegen sie vorzugehen. Er würde sie von der Landkarte fegen, keine Frage, da konnte Gil-galad durch die Blume noch so viel Hilfe anbieten.

Die Zwillinge tauschten Blicke aus. Maglor hatte das schon öfters bei ihnen beobachten können, diese ganz bestimmte Art von Blick, die er nicht zu deuten wusste. Als würden sie sich auf einer tieferen Ebene wortlos verstehen können.

Maglor sah zu seinem Bruder und wusste, dass er in diesem Moment dasselbe dachte wie er: dass er sich wünschte, ihr Vater wäre noch am Leben. Dieser Tage war es schwer geworden, einen starken Willen zu behalten und darauf zu vertrauen, dass schon alles irgendwie gut werden würde. Ein dumpfes Gefühl sagte Maglor, dass sie seit langem nur immer abwärts geschlittert waren und den Punkt zum Halten verpasst hatten.

»Meinst du wirklich, Gil-galad wird akzeptieren, wenn wir die Waffen, die er uns abnehmen will, nutzen, um einen Teil der Zahlungen zu begleichen?« Maglor war nicht gern derjenige, der unbequeme Wahrheiten aussprach.

»Auf einen Versuch kommt es an.« Maedhros klang optimistischer, als er war. »Uns bleibt ohnehin kaum eine andere Wahl. Die Alternative, die Zahlungen aus dem zu schöpfen, was wir selbst leisten können, wäre zwar nicht unser Untergang, aber doch nicht viel besser. Und da sagst du, wenn es weiter nichts sei!« Das letzte war mit einem abfälligen Ton gesagt worden.

»Es hätte schlimmer kommen können«, erinnerte Maglor ihn.

»Aber nicht viel!«

Maglor bemerkte die Unsicherheit der Kinder und, ja, auch ihre Angst. Maedhros konnte, wenn er es nur wollte, selbst auf den gestandensten Elben sehr einschüchternd wirken.

»Kein Grund, laut zu werden, Bruder«, versuchte er Maedhros zu beschwichtigen.

Dieser warf einen finsteren Blick in Richtung der Kinder. Sofort zogen sie die Köpfe ein.

»Die machen nur Probleme«, knurrte er. Mit diesen Worten reichte er Maglor ein Schreiben. »Das hatte mich gestern Abend noch erreicht. Aber eigentlich ist es dein Problem, das sind immerhin deine Bälger.«

»Hör auf, so über sie zu reden!«, schalt Maglor ihn, nun wirklich erbost.

Maedhros sagte nichts dazu und starrte ihn nur an. Also griff Maglor nach dem Schreiben und besah sich das Siegel, ein gekrönter Hirsch auf grünem Grund. Wenn er sich recht entsann, war dies eines der Wappen Doriaths. Zu welchem der Prinzen hatte es noch einmal gehört?

Als er das Schreiben las, wusste er es wieder: Oropher.

Das Schreiben bestand aus nichts weiter einer erbosten Tirade über das, was in Arvernien geschehen war. In einem fort beschimpfte der Sindar-Fürst sie als Sippenmörder und Kindsräuber und forderte, dass sie ihm die Söhne seiner Herrin Elwing aushändigten. Maglor seufzte. Es erstaunte ihn, dass die Bewohner Ossiriand eine ganze Woche gebraucht hatten, um diese Sache an ihn heranzutragen.

»Dein Problem«, sagte Maedhros nur.

Dieses Mal würde Maglor wohl nicht auf die einschüchternde Gegenwart seines Bruders zählen können. Schade, das hätte es einfacher gemacht, sich Oropher vom Hals zu halten.

Oropher hatte in seinem Schreiben angekündigt, noch an diesem Tag eine Antwort zu erwarten und würde dafür eigens zum Amon Ereb kommen. Auch wenn Ossiriand das Land der Laiquendi war, gehörte die Region um den Amon Ereb den Feanorern und bisher war man still darin übereingekommen, das Land des jeweils anderen nicht zu betreten. Oropher war anscheinend aufgebracht genug, um das nun zu ignorieren.

Maglor lag ein Fluch auf den Lippen, er hielt ihn jedoch zurück. Er blickte zu den Zwillingen, die schweigend und mit wenig Appetit ihr Frühstück gegessen hatten. Sie aßen wenig, das bereitete ihm Sorgen. Er machte sich lieber darüber Gedanken, als über launische Sindar.

Ihnen war anzusehen, dass sie sich fragten, was in dem Schreiben stand, und sie bereits vermuteten, dass es um sie ging. Er hatte definitiv nicht vor, sie ausgerechnet Oropher auszuhändigen und auch nicht irgendwem sonst.

»Wir bekommen heute Besuch von einigen Sindar aus der Sippe eurer Mutter, und ich möchte, dass ihr mitkommt, damit wir sie begrüßen können«, sagte er zu den Kleinen.

Bei der Erwähnung ihrer Mutter horchten sie auf. »Kommt Mutter und holt uns ab?«, fragte Elros.

Die Hoffnung in seiner Stimme zerriss Maglor wieder einmal mitten entzwei. »Nein …«, sagte er zögerlich. »Sie kommen, weil sie sehen wollen, ob es euch gut geht.«

»Oh …« Geknickt senkte Elros den Blick und eine Welle von Traurigkeit schwappte von ihm auf Maglor über.

Seit sie auf dem Amon Ereb angekommen waren, hatte Maglor sie nicht mehr weinen sehen. Aber er fühlte die Trauer in ihnen, endlos und tief wie der Ozean.

Maedhros schien diese Angelegenheit gleichgültig zu sein, so lange sich nur Maglor ihrer annahm. Damit war für ihn das Thema beendet und sie verbrachten den Rest des Frühstücks in Stille gehüllt.

Später am Tag begab sich Maglor mit Elrond und Elros auf einen Ausflug den Amon Ereb hinab. Er nahm sonst niemanden mit, nicht einmal Ceomon, obwohl Oropher angedroht hatte, einige seiner Krieger mit sich zu bringen; er wollte die Spannungen zwischen ihnen nicht noch mehr erhöhen. Und außerdem: Würde es Oropher wirklich wagen, die Feanorer auf ihrem eigenen Grund und Boden anzugreifen?

Der Gipfel des Amon Ereb war kahl, kein Baum wuchs dort. Doch weiter die Hänge hinab begann ein Wald zu wachsen, der sich licht bis weit in das Umland erstreckte. Maglor führte sie einen Serpentinenweg hinab zwischen die Bäume bis zu dem Punkt, an den Oropher ihn zu treffen verlangt hatte.

Maglor bemerkte, dass in der Ferne dunkle Wolken aufzogen. Er hoffte, dass sich das Wetter halten würde, bis er das hier hinter sich gebracht hatte.

Sindar waren vertraut mit der wilden Natur Beleriands und besonders die Nandor, die Oropher folgten, verstanden es wie niemand sonst, sich ungesehen zwischen den Bäumen ihrer Heimat zu bewegen. Es verwunderte Maglor daher nicht, dass er sie erst spät bemerkte und wahrscheinlich auch nur, weil sie es so wollten. Es waren insgesamt zwanzig Elben, Krieger, bewaffnet mit kurzen Bögen und gekleidet in grünes und braunes Leder. Grüngraue Umhänge hingen ihnen von den Schultern.

Zwei hochgewachsene Elben stachen unter ihnen mit ihren hellblonden Haaren hervor: Oropher und, wenn Maglor sich richtig erinnerte, dessen junger Sohn Thranduil. Sie alle rochen nach Angst. Gut.

Unsicher sahen Elrond und Elros zu den Waldelben. Sie mussten in Arvernien Sindar gekannt haben, doch Orophers Leute waren selbst für die Verhältnisse der Sindar eigen und fremdartig. Die Zwillinge blieben nahe beieinander und hielten sich bei Maglor. Er war erstaunt; es war das erste Mal, dass sie seine Nähe suchten.

Oropher trat vor. Er sah erst zu den Zwillingen, dann zu Maglor. Er hielt seinen Bogen fest in der Hand, hatte jedoch keinen Pfeil an die Sehne gelegt. Seine Furcht vor Maglor mischte sich mit Zorn. Sein Sohn stand schräg hinter ihm und wirkte deutlich unsicherer.

Maglor rechnete es ihnen an, dass sie sich hierher gewagt hatten nach dem, was er ihnen in Doriath angetan hatte. Sie hatten sicher genauso wenig wie er das Blutbad vergessen. Gut möglich, dass Maglor selbst es gewesen war, der Orophers Frau erschlagen hatte.

»Ich verlange, dass Ihr mir die Söhne der Herrin Elwing gebt!«, eröffnete Oropher.

Maglor gab sich gelassen. »So viel konnte ich bereits Eurem Schreiben entnehmen. Darf ich fragen, wie Ihr zu diesem Gedanken kamt?«

»Das fragt Ihr auch noch!«, blaffte Oropher. »Ihr seid ein Sippenmörder mit dem Blut meiner Leute an Euren dreckigen Händen. Und da wagt Ihr es, ebenjene Hände an die Söhne Elwings zu legen! Sie gehören zu ihresgleichen.«

»Euch scheint sehr viel an Elwing zu liegen«, sinnierte Maglor. »Sonderbar, dass ich Euch nicht in Arvernien gesehen habe.«

Orophers Hand am Bogen zitterte kaum merklich. Erst schien er etwas dazu sagen zu wollen, ließ es dann jedoch. »Gebt sie mir!«, sagte er stattdessen nur.

Maglor verschränkte nur die Arme vor der Brust und sah von oben auf ihn herab. Oropher war groß, doch Maglor, geboren in Aman im Licht der Zwei Bäume, war größer.

Oropher gab ein Zeichen an seine Leute, welche daraufhin Pfeile an die Sehnen ihrer Bögen legten, diese jedoch nicht spannten. Es war Drohung genug, doch auch gleichzeitig Orophers Fehler. Elrond und Elros mochten noch immer Furcht vor den Feanorern empfinden, doch noch mehr fürchteten sie sich vor bewaffneten Elben, die sie bedrohten. Sie duckten sich hinter Maglor. Er stellte sich schützend vor sie. Er fürchtete die Bögen der Waldelben nicht und gab sich selbstsicher.

»Ihr befindet Euch noch immer auf unserem Grund und Boden«, erinnerte er den Sinda. »Nur ein Zeichen von mir und meine Ritter mähen Euch schneller nieder, als Ihr rennen könnt.«

»Zumindest hätte ich die Gelegenheit, Euch mit mir zu nehmen«, knurrte Oropher.

»Vater, hört auf!«, ergriff nun das erste Mal Thranduil das Wort.

Das schien Oropher wieder zur Vernunft zu bringen.

»Ihr fordert von mir, dabei solltet ihr die Kinder fragen, was sie wollen«, sagte Maglor. »Ich nahm sie mit mir, weil sie sonst nirgendwo anders hin können. Aber wenn sie es wünschen, sind sie frei zu gehen. Und da Ihr Euch so freiwillig anbietet …«

»Maglor mit der goldenen Harfe war schon immer dafür bekannt, gewandt mit den Worten zu sein!«, spottete Oropher. »Jeder weiß, dass sie Eure Gefangenen sind.«

»Nein, sind sie nicht«, war alles, was Maglor dazu zu sagen hatte. Ohne weiter auf Oropher zu achten, wandte er sich den Kindern zu und kniete sich vor sie. »Ihr habt gehört, dass Fürst Oropher euch anbietet, mit ihm zu gehen, statt bei mir zu bleiben. Wollt ihr das?«

Er stählte sein Herz vor ihrer Antwort.

Doch wurde er überrascht, als sie die Köpfe schüttelten.

»Welche giftigen Lügen habt Ihr ihnen ins Ohr geträufelt?«, fuhr Oropher ihn an. »Ihr seid eine Schande für alle Eldar, Sippenmörder!«

»Wie gut, dass Ihr keiner der Eldar seid, Úmanya!« Maglor konnte nicht verhindern, dass diese Worte seine Lippen verließen. Oropher sorgte noch für sein eigenes Ende, wenn er ihn weiter reizte! Er atmete einmal tief durch, erlangte seine Fassung zurück und fügte dann in betont kühlem Ton an: »Ihr habt Eure Antwort. Geht jetzt, und ich bitte Euch, in Zukunft unsere Grenzen zu beachten. Ansonsten kann es sein, dass wir Euch das nächste Mal mit unseren Waffen begrüßen.«

Ohne ein weiteres Wort rauschte Oropher davon und verschwand zwischen den Bäumen. Seine Leute folgten ihm und waren schon rasch nicht mehr zu sehen.

Maglor atmete auf.

»Kommt, Kinder«, sagte er und hoffte, dass er nicht allzu unfreundlich klang. Die Begegnung mit Oropher hatte ihn mehr aufgewühlt, als es ihm lieb war. Das war nur ein lausiger Waldelb, kaum einen zweiten Gedanken wert!

Schweigend traten sie den Rückweg an. Maglor grübelte verstimmt vor sich hin. Als sie schon fast wieder das Herrenhaus erreicht hatten, bemerkte er, wie einer der Jungen an seinem Ärmel zupfte. Es war Elrond.

»Tut uns leid, dass wir dir solchen Ärger machen«, sagte er leise und senkte den Blick.

Maglor hielt so abrupt inne, dass Elros in ihn hinein stolperte. Verwirrt sah er zu den Kindern hinab.

»Nein. Nein! Euch muss nichts leid tun«, beeilte er sich zu sagen. »Ich bin es, dem es leidtun muss, denn wegen mir seid ihr überhaupt in dieser Situation. Wenn, dann bin ich an allem schuld.«

Elrond schien für einen Moment zu überlegen. Dann sagte er: »Amya hat uns gesagt, dass wir uns benehmen und keinen Ärger machen sollen. Aber wir machen dir Ärger.«

Erstaunlicherweise stimmte Elros ihm zu und wirkte ebenso geknickt wie sein Bruder. »Wir wollen nicht, dass amya von uns enttäuscht ist.«

»Ihr macht mir keinen Ärger«, betonte Maglor. »Es sind Elben wie Oropher, die nicht akzeptieren können, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Bitte nehmt es euch nicht allzu sehr zu Herzen.«

»Aber du hast auch Ärger mit deinem Bruder wegen uns. Ich würde nicht wollen, dass ich Ärger mit Elros habe, das wäre nicht schön.«

Maglor sah ihn verblüfft ob dieses Gedankengangs an. Er hätte nicht damit gerechnet, dass Elrond sich ihm gegenüber so empathisch zeigen würde, und Elros machte dieses Mal auch nicht den Eindruck, als würde er ihn zurückrufen wollen.

Dann wurde sein Blick weich, Trauer schlich sich hinein. »Wir hatten einst Brüder, Zwillinge wie ihr. Aber wir verloren sie in Arvernien. Mein Bruder ist schlecht im Umgang mit seinen Gefühlen und hat viel vom Zorn unseres Vaters geerbt. Wenn er euch sieht, dann wird er stets an sie erinnert, und das schmerzt ihn. Und … hat euch Elwing jemals von ihren Brüdern erzählt?«

Die Kinder nickten.

»Ihr müsst mir glauben, dass wir niemals wollten, was ihnen zugestoßen ist. Maedhros hatte sie gesucht, tagelang, aber er konnte keine Spur von ihnen finden. Er wollte sie retten, so wie ich euch gerettet habe. Aber es gelang ihm nicht, und das setzt ihm bis heute zu.«

Die Kinder sahen schweigend zu ihm auf. Dann tauschten sie wieder diesen Blick, bei dem sie sich schweigend so viel zu sagen schienen.

»Ich will euch nicht um Nachsicht mit meinem Bruder bitten«, fuhr Maglor fort. »Wie er euch behandelt, ist inakzeptabel, und er muss es eigentlich besser wissen als der älteste von uns. Nur … dass ihr es wisst, warum er so ist.«

In dem Moment spürte Maglor, wie die ersten Tropfen fielen.

»Husch, hinein, damit wir nicht nass werden!«, trieb er die Kinder an.

Sie eilten zurück zum Haus und stolperten gerade rechtzeitig zur Tür hinein, bevor es wirklich kräftig zu regnen begann. Maglor dachte an Oropher und fühlte ein wenig Schadenfreude bei dem Gedanken, dass dieser jetzt wahrscheinlich wortwörtlich im Regen saß.

Für den Rest des Tages ließ er den Kindern Zeit für sich. Auch wenn er ihnen gern noch deutlicher gemacht hätte, dass er nun eine Bezugsperson für sie sein wollte, so sah er doch auch, dass es anstrengend für sie war, wenn er allzu lange bei ihnen war. Stattdessen sah er nach seinem Bruder, ob er ihm bei irgendetwas helfen konnte, doch Maedhros ließ sich wie immer nicht helfen. Er fragte lediglich, wie es mit Oropher gelaufen war, ließ sich aber wieder nicht in ein Gespräch über seinen Umgang mit den Kindern verwickeln.

»Halt sie doch einfach von mir fern«, war alles, was er dazu zu sagen hatte.

»Und wie hast du dir das vorgestellt?«, gab Maglor zu bedenken. »Sie leben jetzt genauso hier wie ich oder Ceomon oder Rethtulu.«

»Und sobald sie alt genug sind, um auf eigenen Beine zu stehen, sind sie auf und davon. Glücklicherweise sind sie Halbelben, das wird nicht lang dauern.«

»Hör wenigstens auf, in ihrem Beisein so abfällig über sie zu reden!«

»Bruder, ich will keinen Streit mit dir. Nicht wegen denen«, sagte Maedhros ruhig, und es war dieses gefährliche Ruhe, die Maglor veranlasste, das Thema für den Moment sein zu lassen.

Der Regen wuchs in der Nacht zu einem regelrechten Sturm an. Maglor schloss die Fensterläden fest, ließ jedoch noch sein Licht brennen. Bei dem heulenden Wind würde er sowieso noch lange nicht schlafen können. Stattdessen setzte er sich noch an seinen Schreibtisch und ging die neuesten Lieder durch, die er geschrieben hatte. Mit einem Schmunzeln stellte er fest, dass einige Kinderlieder darunter waren.

Elrond hatte heute so empathisch reagiert und Elros hatte ihn nicht zurückgehalten. Das einzige, was er und sein Bruder bisher Maglor entgegen gebracht hatten, war Trauer und Angst gewesen. Und trotzdem hatten sie nicht mit Oropher mitgehen wollen und sich sogar entschuldigt, weil sie ihm solche Probleme bereiteten. Sicher hätten sie das nicht getan, wenn sie ihn immer noch nur fürchten konnten.

Dann rief er sich zur Vernunft. Las er vielleicht Dinge hinein, die gar nicht da waren, nur weil er es sich so wünschte?

Plötzlich klopfte jemand heftig an seine Tür und wartete nicht einmal, dass er hineingerufen wurde. Es war Ceomon, der in das Gemach seines Herrn stürmte. Er wirkte aufgebracht. Sofort war Maglor alarmiert. Wie jeden Abend hatte er Ceomon geschickt, um ein letztes Mal nach den Kleinen zu sehen, ob sie auch wirklich schliefen, wie sie sollten. War etwas geschehen?

»Die Kinder sind weg!«, rief Ceomon sogleich.

Maglor sprang auf. »Wie konnte das passieren?«, verlangte er zu wissen.

»Der Sturm muss ihr Fenster aufgerissen haben. Jedenfalls steht es offen und sie sind weg.«

Ohne ein weiteres Wort stürmte Maglor an ihm vorbei und in das Zimmer der Kinder. Mit schreckgeweiteten Augen fand er es leer vor. Furcht griff nach seinem Herz.

»Ceomon, stell eine Suchmannschaft zusammen!«, befahl er. »Lass den ganzen Berg absuchen, jeder noch so entlegene Winkel und jede noch so kleine Spalte!«

Sie waren kleine, wendige Kinder. Wer wusste schon, wo sie alles hingelangten, wo man sie nicht vermuten würde.

Draußen tobte noch immer der Sturm. Der Himmel war pechschwarz und wurde immer wieder von Blitzen aufgerissen. Der Wind peitschte den Regen fast senkrecht über das Land. Irgendwo mitten in diesem Unwetter irrten zwei kleine, ängstliche Kinder umher und wussten nicht, wohin sie gehen sollten.

Rasch hatte Ceomon den Großteil des Hausvolks aus den Betten gerissen, damit sie gemeinsam nach den Kindern suchten. Maglor trug eine der Lampen seines Vaters, um die Dunkelheit zu erhellen, und lief ungeachtet des Regens, der ihn durchnässte, laut nach Elrond und Elros rufend die Hänge des Amon Ereb auf und ab. Er stolperte oft, achtete jedoch nicht darauf.

Schon lange hatte er keine solche Angst mehr empfunden als in diesen Augenblicken, in denen keine Spur von den Kindern zu finden war und er nicht wusste, ob ihnen etwas zugestoßen sein könnte.

»Sie sind hier nicht, Herr«, berichtete Ceomon, nachdem sie schon mindestens eine Stunde gesucht hatten.

»Dann lass weiter unten am Berg suchen!«, fuhr Maglor ihn heftiger an, als gewollt. Doch seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, in diesem Moment kümmerte es ihn nicht. Ceomon eilte sogleich davon, um seinen Befehl weiterzugeben.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis sie endlich fündig wurden. In der Zwischenzeit hatte sich der Sturm zu einem steten Landregen abgeschwächt, was die Suche um einiges erleichterte.

»Mein Herr, hier drüben!«, rief auf einmal jemand.

Maglor rannte sogleich in die angegebene Richtung. Und da waren sie, zusammengekauert in einem Gebüsch unter einem Baum und eng aneinander geklammert. Sie zitterten am ganzen Leib, ihre Augen waren weit vor Angst. Ungeachtet des Schlamms, der seine Kleider besudelte, ließ Maglor sich auf die Knie fallen und zog sie in seine Arme. Dieses Mal ließen sie es zu, klammerten sich gar an ihn. Sie weinten und schluchzten herzzerreißend. Maglor war es, als würde ihm ein ganzes Gebirge vom Herzen fallen, als er sie lediglich mit ein paar Schrammen vorfand.

»Warum seid ihr hier?«, rief er aus. »Euch hätte sonst etwas passieren können!«

Schniefend drückten sie ihre Gesichter in seine Kleidung.

»Ich will zu amya! Wo ist amya?«, schluchzte Elros.

»Sch, sch«, machte er und strich ihnen beruhigend über die Rücken. »Ich bin da. Jetzt wird alles gut.«

Er hob sie hoch, auf jeden Arm einen Jungen, und trug sie zurück zum Haus. Noch immer zitternd schlangen sie ihm die Arme um den Hals und brauchten lange, bis sie nicht mehr weinten. Die ganze Zeit summte Maglor ihnen eine sanfte Melodie vor, ohne wirklich darüber nachzudenken. Es schien Wirkung zu sein. Die Kinder wurden ruhiger.

Als sie beim Haus angekommen waren, erwartete sie bereits Maedhros, der mit verschränkten Armen in der Tür stand. Als er seinen Bruder kommen sah, schüttelte er nur den Kopf.

»Nur Ärger«, knurrte er.

Maglor warf ihm einen bösen Blick zu und ging wortlos an ihm vorbei.

Er brachte die Kinder zurück in ihr Zimmer und half ihnen, sich trockene Kleidung anzuziehen. Dann wickelte er sie in eine Decke und schickte Ceomon los, um ihnen warme Milch zu bringen. Die Kinder hatten sich allmählich wieder beruhigt, doch Maglor spürte, dass noch immer Angst in ihnen tobte, auch wenn sie keine kopflose Panik mehr war.

Ceomon kam bald schon mit der Milch wieder. Er gab jedem der Jungen einen Becher. Ihre kalten Hände zitterten, als sie danach griffen.

Erst als sie ausgetrunken hatten und langsam wieder warm wurden, stellte Maglor die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: »Warum seid ihr weggelaufen?«

Elrond sah betreten zu Boden und schwieg.

»Wir hatten einen bösen Traum«, sagte Elros leise und wich Maglors Blick aus. »Und dann war da der Donner und das Blitzen und alles war wie, als … als … als amya uns …« Ihm kamen erneut die Tränen.

»Sch, du brauchst nicht weiter zu reden«, sagte Maglor sanft.

Es waren die Erinnerungen an Arvernien, die sie quälten, ging ihm auf. Was hatten sie nur mit ansehen müssen? Hatten sie gar ihn töten sehen?

»Amya …«, schluchzte Elrond, zog die Beine an und machte sich so klein, wie nur irgend möglich, während er gleichzeitig die Augen zusammen kniff.

Maglor streckte die Hand nach ihm aus, ließ sie dann jedoch wieder sinken. Wie konnte er ihnen nur Trost spenden, wenn er überhaupt erst für ihren Kummer verantwortlich war?

»Habt ihr schon einmal einen Alptraum gehabt?«, fragte er stattdessen.

»Jede Nacht, seit du uns mitgenommen hast.« Elros‘ Stimme zitterte, doch er hielt die Tränen zurück, die in seinen Augen standen.

Maglor lief es eiskalt den Rücken hinab. Er hätte besser auf sie achten müssen, ihm hätte das auffallen müssen!

»Kannst … kannst du machen, dass sie aufhören?«, fragte Elros unsicher.

»Ich kann es versuchen«, sagte er sanft. »Jetzt legt euch wieder hin und versucht zu schlafen. Morgen sieht die Welt schon anders aus.«

Erschöpft kuschelten sie sich in ihre Kissen und er zog die Decke über ihre Schultern.

»Singst du uns etwas?«, bat Elrond leise. »Amya hat uns immer ein Schlaflied gesungen.«

»Natürlich«, versicherte Maglor ihnen.

Er blieb noch lange, nachdem sie eingeschlafen waren, an ihrem Bett sitzen, um sicher zu gehen, dass sie nun endlich ruhig schlafen konnten.

Ich bin die kommende Woche nicht da, also wird das nächste Kapitel etwas auf sich warten lassen. Ich kann schon so viel verraten: Elrond und Elros fangen sich einen bösen Schnupfen ein und Maglor weiß nicht, was er tun soll, weil Elben sowas nicht haben. Wahrscheinlich POV Elrond.
Winterland

Elrond fing sich eine böse Erkältung ein, und so dauerte es auch nicht lang, bis Elros ebenfalls schniefte und hustete und zitterte wie Espenlaub. Wie ein Häufchen Elend saßen die Zwillinge eng zusammengekauert und in eine dicke Decke gewickelt auf ihrem Bett. Sie froren trotzdem noch immer, obwohl sie das Gefühl hatten, dass ihre Köpfe förmlich glühten.

Etwas ratlos kniete Maglor vor ihnen. Kleinlaut senkte Elrond den Blick und vermied es zu dem Elben vor ihm zu sehen. Er hatte Angst Ärger zu bekommen, weil sie ihm schon wieder Umstände bereiteten. Mutter hätte das nicht gewollt, da war er sich sicher.

Schlimmer wurde es, als Maglors Bruder hinzukam. Der rothaarige Riese blieb in der Tür stehen und sah sie missbilligend an. Elrond zuckte zusammen und drückte sich an Elros, während er gleichzeitig wenig erfolgreich ein Husten zu unterdrücken versuchte.

»Was ist bei denen jetzt schon wieder kaputt?«, knurrte Maedhros.

»Ich weiß es nicht. Irgendeine Krankheit, vermute ich.« Maglor erhob sich und trat zu seinem Bruder. »Vielleicht etwas, das Menschen haben. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so empfindlich für so etwas sind.«

»Das sind Halbelben.«

Die abfällige Art, wie Maedhros das sagte, schmerzte Elrond. Mutter hatte es immer klingen lassen, als seien sein Bruder und er etwas ganz besonderes.

Maedhros seufzte. »Ich hole den Heiler.« Dann ging er.

Maglor kam wieder zu ihnen. »Kann ich euch derweil etwas Gutes tun?«

Er gab sich Mühe, seine Sorgen aus seiner Stimme herauszuhalten, aber Elrond bemerkte es dennoch. Er wollte nicht, dass Maglor sich um sie sorgte. Aber gleichzeitig wollte er auch nicht, dass er ihm gleichgültig war. Es war verwirrend.

Elros sah zu ihm. Wir müssen brav sein, bedeutete er Elrond. Mutter hätte es so gewollt. Sie wird sonst böse, wenn sie uns holen kommt.

»Alles gut«, krächzte Elrond daher, während er gleichzeitig schniefte.

Maglor sah ihn mitfühlend an. »Nein, ist es nicht. Ich will euch helfen, versteht ihr? Ich verstehe nur nicht so viel von den Krankheiten der Sterblichen. Hattet ihr das schon einmal? Und was hat eure Mutter euch dann gegeben?«

Die Erwähnung ihrer Mutter versetzte Elrond einen Stich. Er kämpfte die Tränen zurück.

»Heiße Milch mit Honig«, nuschelte Elros.

Maglor nickte. »Dann sollt ihr das bekommen.«

Kurz darauf kam Maedhros mit einem fremden Elben wieder. Dieser schien sogar in einem noch düstereren Licht als Maedhros. Auch Elros, der bisher auch Maedhros gegenüber seine trotzige Seite gezeigt hatte, zog den Kopf ein.

»Das ist Morroth«, stellte Maglor ihn vor. »Er ist ein Heiler und kennt sich ein wenig mit den Krankheiten der Menschen aus. Erlaubt ihm bitte, nach euch zu sehen.«

Auch wenn Maglor sie immer so lieb fragte, hatte Elrond nicht das Gefühl, dass sie wirklich eine Wahl hatten. Sie waren gegen ihren Willen hier, und Mutter kam einfach nicht, um sie zu holen. Dabei war das einzige, was Elrond wirklich wollte, wieder nach Hause zu Mutter zu gehen. Maglor hatte gesagt, dass er nicht zurückgehen konnte, aber das konnte er einfach nicht glauben. Seine Heimat konnte doch nicht einfach so aufhören zu existieren!

Der Heiler musterte sie streng und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Stirn. »Fieber«, stellte er fest. »Tut euch der Hals weh?«

Die Kinder nickten.

»Zudem auch Husten und Schnupfen«, sagte er kalt und sah sie von oben herab an. »Edain …«

»Werden sie wieder gesund?«, fragte Maglor und gab sich dieses mal nicht mehr die Mühe, seine Sorgen zu verbergen.

»Menschen haben das ständig, so schwach wie sie sind«, sagte Morroth. »Ein Tee aus Weidenrinde und Lindenblüten hilft.«

»Amya hat uns heiße Milch mit Honig gegeben, wenn wir krank waren!«, protestierte Elros.

»Kindlicher Unsinn!«, fuhr Morroth ihn an. »Wollt ihr naschen oder wieder gesund werden?«

»Aber schaden kann es nicht«, warf Maglor ein. »Wenn sie es wünschen, sollen sie auch das bekommen.«

Elrond spürte, dass Morroth dem nicht zustimmte. Noch nie war ihm jemand begegnet, der ihm so unsympathisch wie dieser Elb erschien, selbst Maedhros lehnte sie nicht mit solch einer Heftigkeit ab.

Morroth seufzte. »Wie Ihr befiehlt, Herr.«

Er ging, um ihnen ihren Tee zu bringen. Indes schickte Maglor Ceomon los, um ihnen auch etwas Milch zu bringen. Elrond konnte sich nicht des sonderbaren Gefühls erwehren, froh zu sein, dass Maglor hier war, wenn er schon nicht zu seiner Mutter konnte.

Er ist schuld, dass wir nicht zu Mutter können, wisperte Elros in seinen Gedanken.

Aber er ist gut zu uns!, protestierte Elrond.

Ich will nach Hause …

Ich auch.

Sie schnieften und lehnten sich aneinander. Wenigstens hatten sie noch einander und waren nicht völlig allein in dieser furchtbaren Welt.

Maglor setzte sich neben sie und begann ein leises Lied zu singen. Elrond hatte noch nie jemanden so schön singen oder die Harfe so klar spielen hören. Er erinnerte sich, dass Mutter manchmal Maglor zusammen mit Daeron erwähnt hatte als einer der größten Barden Beleriands. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass jemand, der so schlimme Dinge getan hatte, zu solch wunderbarer Musik fähig war.

Maglors Lied zeigte Wirkung. Die sorgenvollen Gedanken des Jungen wurden ruhiger und ihm fielen die Augen zu. Er hatte gar nicht bemerkt, wie müde und erschöpft er wirklich war. Er döste weg.

Und wurde unsanft wieder in die wache Welt gerissen, als Morroth wiederkehrte. Der Elb trug ein Tablett mit zwei dampfenden Bechern herein, stellte es auf dem Tisch ab und reichte die Becher den Kindern. Elrond und Elros schnupperten daran und verzogen das Gesicht. Ein unangenehm bitterer Geruch schlug ihnen entgegen.

»Trinkt das«, befahl Morroth.

Alles in Elrond sträubte sich dagegen, dieses Gebräu zu trinken, aber er scheute sich davor, Morroth Widerworte zu geben. Zumal schien es auch so, dass auch Maglor von ihnen wollte, dass sie den Tee tranken.

Elros nippte als erster daran. »Pfui!« Er verzog das Gesicht.

Auch Elrond kostete und wusste sofort, wie es seinem Bruder ergangen war. Der Tee schmeckte ebenso bitter wie er roch. Er wollte keinen Tropfen mehr davon trinken. Sehnsüchtig schielte er auf die Becher mit Milch, die Ceomon gebracht haben musste, als er gedöst hatte.

Maglor beugte sich zur Seite und roch ebenfalls an dem Tee. Mit einem finsteren Blick wandte er sich an Morroth. »Hast du keinen Honig hinzugegeben?«, verlangte er zu wissen.

»Warum sollte ich? Er hat keine Wirkung«, erklärte Morroth.

»Weidenrinde ist bitter, und sie sind noch Kinder. Ich will, dass du ihnen in Zukunft Honig mit in den Tee gibst.«

Elrond war froh, dass Maglor nie mit ihnen in diesem Ton gesprochen hatte. Es machte ihm ein wenig Angst, wie streng und herrisch er sein konnte. Er hatte sich immer gewundert, wie Maglor und Maedhros Brüder sein konnten, wenn sie doch so unterschiedlich waren. Jetzt sah er, dass das nicht wirklich stimmte und sie sich ähnlicher waren, als er bisher gedacht hatte.

»Wie Ihr wünscht, Herr«, sagte Morroth widerstrebend.

Maglor wandte sich wieder an die Kinder. »Trinkt rasch aus, dann bekommt ihr eure Milch. Und dann wird geschlafen.« Er lächelte.

Elrond stellte sich vor, es wäre seine Mutter, die neben ihnen saß und ihnen die dampfenden Becher mit der heißen Milch gab und sie, als sie ausgetrunken hatten, in ihre Decken wickelte. Das machte die Wirklichkeit erträglicher, dass sie weit weg von ihrer Heimat mitten unter fremden Elben waren.

»Sie sollten den Tee mehrmals am Tag trinken und viel Ruhe bekommen«, fügte Morroth an. »Dann sollte die Erkältung in einer Woche überstanden sein.«

Elrond spürte, wie Maglor erleichtert war. Er war zusammen mit Ceomon der einzige hier, der ernstlich um sie besorgt schien. Ein wenig tröstete dies Elrond. Auch wenn sein Bruder Recht hatte: Ohne Maglor wären sie gar nicht erst hier … Er wusste nicht, wie er beides miteinander vereinen sollte. Vielleicht war es besser, sich vorerst an Elros zu halten.

Auch wenn er schon sehr gern gelernt hätte, die Harfe so zu spielen wie Maglor.

»Gut. Geh jetzt«, sagte Maglor.

Mit einer Verbeugung ging Morroth. Elrond und Elros atmeten auf.

Sie würgten den bitteren Tee so schnell hinter, wie es ihnen möglich war, ohne sich die Lippen zu verbrennen. Dann gab Maglor ihnen die Milch und von da an wurde alles etwas erträglicher. Elrond genoss die wohlige Wärme, die seinen Bauch füllte. Draußen rauschte der Wind in dem Busch, der unter ihrem Fenster wuchs, und beinahe konnte er sich vorstellen, es wäre das ferne Rauschen des Meeres, das er hörte.

Er vermisste das Meer, vermisste es, mit seinem Bruder in den Wellen zu spielen und durch den feuchten Sand zu rennen. Mutter hatte mit ihnen Muscheln gesammelt und manchmal war sogar Vater mit dabei gewesen. Das waren die Momente, in denen er sich am glücklichsten gefühlt hatte.

Maglor begann erneut leise ein Lied zu singen. Elrond fielen die Augen zu. Er war müde und erschöpft und fühlte sich elend. Aber Maglors Musik schaffte es irgendwie, dass er all seine Ängste vergessen konnte. Er spürte gerade noch, wie Maglor ihm vorsichtig den halb leeren Becher aus der Hand nahm, seinen Bruder und ihn auf das Bett legte und ihnen die Decke bis zu den Schultern hochzog.

»Schlaft gut, meine Kleinen«, wisperte Maglor und strich ihnen über das Haar, bevor er ging.

Dann war Elrond eingeschlafen.

 

Ein ungutes Gefühl riss Elrond aus dem Schlaf. Etwas sagte ihm, dass er besser ruhig liegen blieb und sich nicht anmerken ließ, dass er munter war. Dann spürte er Maedhros‘ Anwesenheit im Zimmer. Es war mitten in der Nacht, warum war er hier? Das hatte er doch sonst noch nie getan.

Der Junge spürte den Sturm an Gefühlen, der in Maedhros tobte. Schmerz und Trauer mischten sich mit Wut und Verzweiflung. Elrond erinnerte sich klar an jenen Tag, als Maedhros sie gefangen hatte und sie hatte töten wollen. Aber er erinnerte sich auch, gespürt zu haben, dass Maedhros dies selbst nicht gewollt hatte, dass es eine Tat war, die aus seiner Verzweiflung und seinem eigenen Schmerz heraus geboren worden war.

Maedhros war zerrissen zwischen dem, was seine Taten hervorgebracht hatten, und der Pflicht seiner Familie gegenüber. Er hatte niemanden mehr außer Maglor, mehr war nicht geblieben vom einst mächtigen Haus Feanors. Auch wenn es Maedhros gewesen war, der Elrond seine Heimat und seine Familie genommen hatte, konnte er in diesem Moment doch nichts als Mitleid für ihn empfinden. Es musste schrecklich sein zu sehen, wie alles, was man anfasste, zu Asche zerfiel.

»Ich hasse euch«, flüsterte Maedhros.

Aber da war kein Hass in Maedhros. Nicht mehr.

In dem Moment wurde leise und vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer geöffnet und Maglor trat ein. Elrond spürte seine Überraschung, als Maglor seinen Bruder hier fand.

»Was machst du hier, Bruder?«, fragte Maglor leise.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte Maedhros.

»Im Gegensatz zu mir hast du dich aber noch nie um die Kinder geschert«, erinnerte Maglor und trat zu dem Bett und neben Maedhros. Als er sah, dass Elrond und Elros noch immer schliefen, schien er sich wieder zu entspannen.

Elrond lag so ruhig da, wie er nur konnte, und lauschte auf das, was die Brüder besprachen. Er hatte längst mitbekommen, dass sie nie offen sprachen, wenn Elros und er anwesend waren. Maglor versuchte stets Optimismus auszustrahlen, auch wenn die Trauer an ihm nagte, und Maedhros versteckte sich hinter einer rauen Schale, als wolle er damit verhindern, dass irgendwer zu ihm durchdrang.

»Sie sind unsere Gefangenen, vergiss das nicht«, erinnerte Maedhros seinen Bruder. »Du hast schon zu viel Zuneigung zu ihnen gefasst.«

»Macht das etwas aus?«, wollte Maglor wissen. »Sie sind Kinder, wo sollen sie schon hin? Und Verwandte haben sie hier auch keine mehr.«

»Das weißt du nicht«, zischte Maedhros erbost. »Das weiß niemand. Vielleicht leben ja Eluréd und Elurín noch, und ich war nur zu unfähig sie zu finden!« Unwirsch stand er auf und wandte sich ab.

Elros, der tatsächlich noch schlief, wand sich in seinem Schlaf. Elrond kuschelte sich unwillkürlich näher an ihn, um Halt zu suchen. Mutter würde kommen!

Würde sie das wirklich?

Weit über ein Monat war bereits vergangen, seit sie nun hier auf dem Amon Ereb lebten. Anfangs hatten sie noch darüber nachgedacht, ob sie davonlaufen sollten. Seit sie in dem Sturm verloren gegangen waren und sich danach die Erkältung eingefangen hatten, hatten sie nicht mehr darüber gesprochen. Auch Elros hatte sich in ihr Schicksal gefügt, dass sie nun hier waren und nicht mehr zu Hause, auch wenn er immer noch betonte, dass ihre Mutter kommen und sie holen würde. Elrond war sich da mittlerweile nicht mehr so sicher.

Maglor beugte sich über sie und summte eine beruhigende Melodie. Elros schlief wieder ruhiger.

»Lass uns das Gespräch vor der Tür fortsetzen, sonst wecken wir sie noch«, sagte Maglor.

Maedhros atmete tief durch. »Ja …«

Die Brüder verließen das Zimmer. Elrond wusste, dass es unhöflich war, andere Leute zu belauschen. Dennoch schlüpfte er aus dem Bett und schlich Maedhros und Maglor nach. Zu dieser Stunde rührte sich nichts mehr in den ohnehin leeren Herrenhaus. Es machte den Eindruck, als hätten hier früher viel mehr Elben gelebt und das Haus mit Musik und Lachen gefüllt. Nun war alles tot und kalt, zahlreiche Räume standen leer und verstaubten allmählich. Auch wenn Elrond und Elros nun schon so lange hier lebten, hatten sie sich nicht getraut, das Haus zu erkunden und hatten viele der verwaisten Zimmer gemieden.

Die Brüder traten vor das Haus und in den Innenhof. Über ihnen schienen die Sterne in all ihrer Pracht. Isil war noch nicht erschienen, um sie mit seinem Glanz zu überstrahlen. Elrond versteckte sich hinter einer Säule und spähte zu den Feanorern.

»Was geschieht dort im Westen?«, fragte sich Maglor. »Earendil ist noch immer nicht zurückgekehrt, obwohl mittlerweile ganz Beleriand wissen muss, dass wir seine Söhne haben. Und Elwing, sie sprang mit unserem Silmaril. Warum? War er ihr wichtiger als ihre Söhne? Ich verstehe es nicht.«

»Ich hatte gehofft, die Kinder gegen den Silmaril einzutauschen«, sagte Maedhros. Dann seufzte er und ließ die Schultern hängen. »Mir fehlt die Kraft, noch weiterhin unseren Eid einzufordern. Jetzt mehr denn je. Es ist so schwer geworden, für andere stark zu sein. Ich bin der Älteste unseres Hauses, doch alles, was ich tat, hat zu unserem Untergang geführt. Jetzt habe ich nur doch dich, kleiner Singvogel.«

Maglor trat an seine Seite und legte ihm erst eine Hand auf die Schulter, ehe er ihm doch die Arme um den breiten Brustkorb schlang. Maedhros zögerte einen Moment, doch dann erwiderte er die Umarmung.

»Es ist kalt in dir geworden, Bruder«, sagte Maglor. »Ein eisiges Winterland, das deine Seele umfangen hält und dem Sommer nicht gestattet, Einzug zu halten.«

Maedhros seufzte. »Der Sommer ist für mich gestorben und wird nie wieder Einzug halten.«

Maglors Umarmung wurde fester. »Das stimmt nicht!«, begehrte er auf. »Du fliehst dich in etwas, das einfach nicht stimmt. Du kannst ja nicht einmal ein Kindsmörder sein! Weder hast du Eluréd und Elurín dem Tod überlassen wollen, noch hast du wirklich gewollt, dass ich Elrond und Elros töte. Lass die Zeit deine Wunden heilen und du wirst sehen, dass Sommer wieder Einzug halten kann.«

Maedhros schwieg und ließ nur seine Arme hängen.

Maglor warf einen strengen Blick zu ihm hinauf und bohrte ihm den Finger in die Brust. »Ich lasse nicht zu, dass du ein verbitterter alter Elb wirst! Ich befehle dir, dass du versuchen wirst, die Kinder nicht mehr zu hassen!«

Mit Verwunderung sah Elrond, dass Maedhros doch tatsächlich lächeln musste. Das hatte er bei ihm noch nie gesehen.

»Du willst mir befehlen?«, wunderte sich Maedhros und setzte ebenfalls eine gespielt ernste Miene auf. »Ich glaube, ich muss dich daran erinnern, wer der Ältere von uns beiden und damit das Oberhaupt unseres Hauses ist, kleiner Bruder!«

Maglor setzte ein schiefes Lächeln auf. »Geht doch, siehst du«, kommentierte er. »Aber du versuchst es, ja?« Ein wenig zögernd und mit leiser Stimme fügte er an: »Versprichst du es mir?«

Maedhros versteifte sich. »Dann muss es dir wirklich ernst mit den Kindern sein …«

»Sie sind nur Kinder, Maitimo«, betonte Maglor. »Nur Kinder, mehr nicht. Sie können ja nichts für ihre missratenen, dummen Eltern.«

»Nur Kinder …« Für einen Moment schwieg Maedhros. »Ja, ich versuche es. Versprochen.«

Maglor lächelte. »Ich danke dir.«

Elrond spürte so viel Gutes in Maglor. Mutter hatte immer über ihn gesprochen, als sei er ein Monster, an dem kaum mehr etwas Elbisches war. In Wirklichkeit war er solch eine sanfte Seele, dass Elrond es kaum glauben konnte, dass er so schlimme Dinge getan haben sollte.

»Elwing wird nicht zurückkehren«, fuhr Maglor fort. »Die Kinder glauben es immer noch, aber ich bringe es einfach nicht über‘s Herz, ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich sah sie als Vogel in den Westen zu Vingilot fliegen und seitdem hat niemand mehr etwas von ihr oder Earendil gehört. Vielleicht finden sie dieses Mal ja wirklich Valinor.«

»Das heißt, dass der Silmaril für uns verloren ist. Ich hatte versucht, dem Eid abzuschwören, aber er bindet uns noch immer, quält uns. Müssen wir wirklich versuchen, ihn zu erfüllen, bis er auch uns in den Ruin getrieben hat? Earendil stahl uns den Silmaril und der Schwarze Feind hält noch immer die anderen beiden. Wir aber stehen allein gegen die Welt.«

»Soll der Eid mich quälen, ich jedoch werde nicht zulassen, dass den Kindern etwas geschieht! Wir sind noch immer Feanarioni, und als Sohn unseres Vaters sage ich dir: Ich gestatte es nicht, dass Elrond und Elros ein Leid geschieht, weder durch unseren Eid, noch durch irgendwen sonst.«

Daraufhin schwieg Maedhros lange. »Und niemand sollte uns unterschätzen«, sagte er schließlich. »Nun denn, dann bleiben die Kinder wohl nun wirklich dauerhaft bei dir. Du solltest dir über ihre Ausbildung Gedanken machen. Ich habe das Gefühl, dass sie noch eine große Rolle in dieser Welt spielen werden. Sie entstammen immerhin den Häusern der Edain und vereinen in sich die großen Stammlinien der Eldar.«

»Und mir wiederum bereitet dies Sorgen. Etwas sagt mir, dass für sie noch viel Leid daraus erwachsen wird. Aber das liegt noch in der Zukunft. Jetzt sind sie hier und ich beschütze sie mit allem, was ich habe. Ich werde sie nicht allein lassen.«

Elrond konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater das jemals zu ihnen gesagt hatte. Stets hatten sie geweint, wenn er auf sein Schiff ging und davonsegelte. Irgendwann hatten sie keine Tränen mehr, welche nun einer dumpfen Leere gewichen waren. Vater hatte gesagt, dass er das für sie tat, für sie und ganz Mittelerde. Aber Elrond war das egal gewesen, er hatte seinen Vater haben wollen! Ihm waren all diese Elben und Menschen und Zwerge egal, die er nicht einmal kannte und die auch sein Vater nicht kannte und die ihm anscheinend doch wichtiger waren als seine eigenen Söhne, die er weinend am Kai zurückgelassen hatte.

Maglor hingegen … Elrond fragte sich, ob es sich so anfühlte, einen Vater zu haben.

Die Feanorer wandten sich zum Gehen, und Elrond huschte schnell wieder in das Haus und in das Zimmer, das er sich mit Elros teilte. Niemand hatte bemerkt, dass er sich davongeschlichen hatte, nur Elros, der in der Zwischenzeit aufgewacht war und ihn erwartungsvoll ansah, als er in das Zimmer schlüpfte.

»Wo warst du gewesen?«, wollte er wissen.

Elrond kletterte zu seinem Bruder in das Bett. »Meinst du, atto hat uns lieb?«

Elros war empört. »Natürlich! Jeder Vater hat seine Kinder lieb, nicht wahr?«

»Aber dann passt er doch auf sie auf und ist für sie da?«

»Das hat atto doch gemacht.«

»Aber er war trotzdem nie da. Und dann hat er doch nicht auf uns aufgepasst, und jetzt sind wir hier.«

»Dann wird er kommen. Und wenn nicht er, dann amme. Amme kommt bestimmt!«

Elrond schüttelte den Kopf. »Elros …« Doch er konnte einfach nicht mehr weiter sprechen.

Elros blickte ihn an und sah, dass er das Gespräch zwischen Maedhros und Maglor belauscht hatte. »Die haben gelogen!«, behauptete er mit Nachdruck.

»Haben sie nicht! Du weißt, dass ich sehen kann, wenn jemand lügt.«

Ihre Mutter hatte sie verlassen und würde nicht kommen, um sie zu holen, obwohl sie es versprochen hatte. Sie hatte ihre Söhne verlassen und sich für den Silmaril entschieden. Mit einem Mal spürte Elrond eine ungeahnte Wut in sich aufsteigen. Ihre Mutter hatte sie verlassen!

Elros sah ihn unsicher an. »Aber wenn sie nicht gelogen haben …« Er ließ den Rest ungesagt. Es bedurfte auch keiner weiteren Worte.

Schweigend zog Elrond seinen Bruder in seine Arme.

Morroth – Dunkle Höhle, S.
Feanarioni – Söhne Feanors, Qu.
atto – Vater, Papa, Qu.
amme – Mutter, Mama, Qu.
Weidenrinde ist seit der Steinzeit als schmerzlinderndes Mittel bekannt, Lindenblüten werden seit dem Mittelalter verwendet. Schon in der Antike wusste man um die heilende Wirkung von Honig, aber wir reden hier immer noch von Elben, für die das alles eigentlich nicht wirklich relevant ist. Daher streitet das Morroth hier noch ab. In meinem Headcanon findet Elrond erst etwa fünfhundert Jahre später heraus, dass da wirklich was dran ist.
Auch hier habe ich wieder eine alte Songfic zu Winter Land von Sirenia eingearbeitet, die jetzt endlich in den Gesamtext hinein passt.
Lachen

Der Sommer verging und der Herbst kam. Doch dieses Jahr kleidete er sich nicht in sein farbenprächtiges Kleid, sondern zeigte sich in grauen, trüben Gewändern. Es war ein verregneter Herbst, der in einen ebenso verregneten und stürmischen Winter überging. Die Stimmung auf dem Amon Ereb wurde immer bedrückter. Gil-galad hatte abgelehnt, die Waffen der Feanorer als Teil der Reparationszahlungen zu akzeptieren, und nun versuchte Maedhros Kontakt zu den Zwergen von Belegost und Nogrod aufzunehmen, was sich als langwierig und nervenaufreibend erwies. Seine Launen wurden schlimmer. Gleichzeitig wollte er Gil-galad nicht ignorieren, wie er es früher vielleicht getan hätte, und somit weitere Konflikte vermeiden.

Zusätzliche Sorgen bereitete Maglor der Gemütszustand der Zwillinge. Sie hatten schon immer, seit sie bei ihm waren, nur wenig gesprochen, doch nun wurden sie noch stiller. Die Wochen und Monate vergingen und es erreichte sie keine Nachricht von Elwing. Es war, als habe sie ihre Söhne vollkommen vergessen. Vielleicht war sie schlicht nicht in der Lage zurückzukehren, sagte er sich. Wer wusste schon, was auf der See alles passiert war. Zumindest redete er sich das ein. Er wollte einfach nicht begreifen, was für eine Art von Mutter ihre Kinder einfach so aussetzte und zuließ, dass sie ihrem Feind in die Hände fielen, nur um einen Schatz zu retten.

Eine leise Stimme in ihm wisperte jedoch, dass er ganz froh darum war, dass die Kinder jetzt bei ihm waren. Er drängte sie zurück und kämpfte gegen das schlechte Gewissen an. Oropher hatte ihn einen Kindsräuber geschimpft, und war er nicht genau das? Aber was hätte er auch tun sollen? Sie in der Wildnis dem sicheren Tod überlassen, wie es Celegorms Leute mit Eluréd und Elurín hatten tun wollen? Nein, auf keinen Fall!

Er wollte, dass die Kinder zurück zu ihrer Mutter konnten, und gleichzeitig wollte er sie nicht hergeben und schalt sich für seine selbstsüchtigen Gedanken. Waren Kinder nicht immer besser bei ihrer Mutter aufgehoben? Selbst wenn diese Mutter Elwing war, die in ihrer Narretei, ihnen den Silmaril vorzuenthalten, den Eid heraufbeschworen hatte?

Vorerst konnte er ohnehin nichts an der Situation ändern, sagte er sich, also musste er das Beste daraus machen. Und das hieß, dass vorerst er für die Kinder verantwortlich war. Noch immer gaben sie sich distanziert und verschlossen und ließen ihn kaum an sich heran. Das machte es für ihn schwierig, zu ihnen durchzudringen. Ihm blutete das Herz, wenn er auch nur daran dachte, wie sie sich fühlen mussten, so ganz allein und verlassen von ihrer Mutter unter fremden Elben. Sie waren so jung! Konnten sie überhaupt verstehen, was um sie herum geschah?

Das verregnete Winterwetter schlug ihnen allen auf die Gemüter. Es wurde selten kalt genug, dass die Pfützen überfroren und wenn, dann bekamen sie oft nur über die Nacht hinweg Frost. Hin und wieder wurden sie auch von Eisregen geplagt. Nachdem die Kinder nach der Sache mit dem Sturm krank geworden waren, achtete Maglor darauf, sie aus allem schlechten Wetter heraus zu halten. Als sie jedoch über Tage hinweg im Haus bleiben mussten, wurden sie missmutig und niedergeschlagen. Er war unsicher, wie er einen Mittelweg finden konnte, selbst nachdem Morroth ihm versichert hatte, dass es den Kindern nicht viel ausmachen würde, wenn sie sich hin und wieder erkälteten. So wirklich sicher war sich Maglor jedoch nicht. Sie wirkten so zerbrechlich!

Maglor hoffte auf Schnee und dessen ganz eigenen Zauber. Im Schnee zu spielen, würde den Kindern vielleicht Freude bereiten. Bisher jedoch war ihm das Wetter nicht gewogen. Dennoch suchte er seine Werkstatt auf; sie waren Feanorer natürlich besaßen sie eigene Werkstätten. Maglor hatte anders als sein Vater und die meisten seiner Brüder dem Schmieden nie viel abgewinnen können. Dafür hatte er schon früh damit begonnen, seine eigenen Harfen zu bauen. Er beschloss, dass es nun Zeit war, sich im Schlittenbau zu versuchen, ein wenig Ahnung von der Holzbearbeitung hatte er immerhin.

Also begann er Pläne zu erstellen und Materialien zusammenzusuchen. Da der Winter ohnehin auf sich warten ließ, ließ er sich Zeit und durchdachte sein neuestes Projekt gründlich. Es war ein wenig ungewohnt, nicht an seiner Musik oder einem neuen Instrument zu arbeiten, und so dauerte es einige Wochen, bis er sich darin eingefunden hatte.

Noch immer wurden die Zwillinge von Alpträumen geplagt. Sie sprachen nicht über das, was sie in ihren Träumen sahen, jedenfalls nicht gegenüber Maglor. Jeden Abend saß er an ihrem Bett und sang ihnen Schlaflieder, und das schien das einzige zu sein, was sie zu beruhigen schien. Noch immer wusste er nicht, wie viel sie wirklich vom Fall ihrer Heimat gesehen hatten, und eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen. Wie viele Mütter hatte er zu Witwen gemacht, wie viele Kinder zu Waisen, wie vielen Brüdern, Vätern und Geliebten das Leben genommen?

Wie hatte er nur zu diesem Elben werden können? Einem Elben, der bedenkenlos die Leben anderer nahm, um seinen eigenen, närrischen Eid zu erfüllen. Das einst stolze und mächtige Haus Feanors war nur noch ein Schatten seiner selbst, in den Ruin getrieben durch ihrer eigenen Hände Werk. Glaubte er da wirklich, er könnte irgendetwas wieder gut machen, indem er sich Elronds und Elros‘ annahm? War er nicht vielmehr grausam zu ihnen, indem er sie bei sich behielt, eine konstante Erinnerung daran, dass er ihnen alles genommen hatte?

Er redete sich ein, dass sich vorerst ohnehin nichts an der Situation ändern ließ. Gil-galad verlangte nicht, dass er die Kinder zu ihm schickte, und zu Oropher wollte er sie erst recht nicht geben, zumal die Kinder zumindest letzteres ebenfalls nicht zu wollen schienen. Also oblag es erst einmal ihm, sich um die Kinder zu sorgen, und das hieß zum einen, ihnen zu helfen, ihren Kummer zu überwinden, aber anderseits auch, sich um ihre Ausbildung zu bemühen. Sein Bruder hatte Recht, diese Kinder waren etwas Besonderes. Auch wenn vom Reichtum der Feanorer nicht mehr viel geblieben war, besaßen sie noch immer etliche Ressourcen, die er ihnen angedeihen lassen konnte, um ihnen die bestmögliche Bildung zu geben, die er ihnen bieten konnte.

Als er schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, war ihm der Winter doch gewogen. Eines Morgens erwachte er, sah aus dem Fenster und fand das Land wie verwandelt vor. Schlussendlich hatte sich der Winter doch in sein weißes Gewand gekleidet. Als er an diesem Morgen die Kinder zum Frühstück rufen wollte, fand er sie voller Staunen am Fenster vor. Sie drückten sich die Nasen am Glas platt und staunten über das Bild, das sich ihnen bot.

»Was ist das da draußen?«, fragte Elros aufgeregt.

»Habt ihr noch nie Schnee gesehen?«, fragte er verwundert. Die Winter in den letzten Jahren waren stets eher mild gewesen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es an der Küste nicht geschneit hatte.

Die Zwillinge schüttelten die Köpfe.

»Nein. Amya hat uns nur davon erzählt, dass manchmal im Winter weiße Flocken vom Himmel fallen«, sagte Elrond. »Sie hat gesagt, dass das da, wo sie gelebt hat, als sie klein war, jeden Winter passiert ist und man so toll im Schnee spielen kann. Aber bei uns zu Hause ist das nur ganz selten passiert.«

Maglor schmunzelte. »Nun, dann habe ich vielleicht eine Überraschung für euch.«

Die Zwillinge sahen ihn mit großen Augen an. Der Schnee musste sie wirklich fasziniert haben, denn er sah kaum noch etwas von ihrer Traurigkeit in ihnen.

»Was haltet ihr davon, wenn wir rasch frühstücken, und dann zeige ich euch, wie schön man im Schnee spielen kann?«, schlug Maglor vor.

Selbst Elros nickte eifrig. Begeisterung schien aus den Augen der Kinder.

An diesem Morgen fühlte es sich das erste Mal so an, als würden sie nicht unter Zwang gemeinsam am Frühstückstisch sitzen. Elrond und Elros schaufelten sich ihr Essen hastig hinein, und Maglor musste sie ermahnen, langsam zu essen und nicht zu schlingen. Sie waren widerwillig, aßen aber dennoch bedachter. Er spürte ihre Ungeduld und Neugierde. Wie es wohl für ihn gewesen war, als er das erste Mal Schnee erlebt hatte? Es war zu lang her, als dass er sich daran erinnern konnte, und zuletzt hatte er mit Schnee vor allem lange kalte Winternächte auf dem Himring verbunden. Nächte, in denen er gemeinsam mit seinen Brüdern in der großen Kaminhalle am Feuer gesessen und in dicke fellbesetzte Umhänge gehüllt Lieder über die Größe und den Glanz der Reiche der Noldor gesungen hatte.

Als sie aufgegessen hatten, half Maglor den Kindern, ihre dicke Winterkleidung anzuziehen, die er für sie aus Wolle und warmen Fellen hatte anfertigen lassen. Elrond und Elros waren nicht allzu glücklich darüber und schienen insbesondere den Wollmützen und Schals nicht viel abgewinnen zu können, aber sie fügten sich und gaben keine Widerworte. Auch wenn es für ihn manchmal recht bequem war, wunderte er sich doch über ihre Fügsamkeit. Er erinnerte sich gut seiner jüngeren Brüder, als diese noch Kinder gewesen waren. Curufin und Celegorm hatten oft zusammen Caranthir getriezt und Amrod und Amras hatten eigentlich immer etwas ausgeheckt. Es war selten, dass irgendeiner von ihnen aufs Wort gehört hatte. Auch wenn Elros der trotzigere der Zwillinge war, zeigte er nie Ungehorsam und fügte sich in alles, was Maglor von ihnen wollte.

Schließlich waren die Kinder warm eingepackt und durften endlich raus. Noch immer schneite es dicke, weiße Flocken, die sanft vom Himmel fielen. Eine friedliche Stille lag über allem, wie sie nur der Schnee zaubern konnte. Mit großen Augen besahen sich Elrond und Elros das Bild, das sich ihnen bot. Sie schienen noch nicht so wirklich zu wissen, was sie mit all dem anfangen sollten.

Vorsichtig tippte Elrond mit einem Fuß auf die Schneedecke, dann trat er sacht auf. Maglor bemerkte, dass der Junge in den Schnee einsank und nicht wie andere Elben darauf lief. Elrond machte große Augen, als er den Schnee unter seinem Schuh knirschen hörte. Fasziniert betrachtete er die Spur, die er hinterlassen hatte.

»Das ist wie Sand, nur … weicher«, stellte er fest.

»Ich denke, es ist Zeit für eure Überraschung«, sagte Maglor. »Wartet hier, dann hole ich sie euch.«

Die Kinder sahen mit großen, erwartungsvollen Augen zu ihm auf. Er ging zu seiner Werkstatt, um den Schlitten zu holen. Er war gespannt, wie die Kinder darauf reagieren würden. Der Schnee schien ihnen einige Freude zu bereiten, was wiederum ihn freute. Ihre Trauer hatte ihn mehr belastet, als ihm selbst bewusst gewesen war.

Als er mit dem Schlitten zurückkehrte, sah er, dass Elrond und Elros mittlerweile einige Freude daran hatten, Spuren im Schnee zu hinterlassen und in Schneewehen zu springen, die sich entlang der Hausmauern gebildet hatten. Sie waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie ihn zunächst nicht bemerkten, doch als sie es taten, waren sie umso erstaunter über das, was er mit sich brachte. Zögernd näherten sie sich.

»Was ist das?«, fragte Elros zurückhaltend.

»Ein Schlitten«, erklärte Maglor. »Kennt ihr das?«

Sie überlegten einen Moment. »Amya hat das manchmal erwähnt und gesagt, dass man damit rodeln gehen kann«, sagte Elrond, schien sich aber unter dem Begriff nicht allzu viel vorstellen zu können.

Maglor war gewillt, es ihnen zu zeigen. »Ihr werdet sehen, dass das viel Spaß macht«, versprach er. »Kommt, setzt euch darauf und ich zeige euch, was ich meine.«

Die Zwillinge waren zunächst etwas zögerlich und skeptisch, aber dann kamen sie dem doch nach. Maglor hatte in den letzten Wochen die Hänge des Amon Ereb nach einer geeigneten Rodelbahn für die Kinder abgesucht und war nicht weit vom Haus entfernt fündig geworden. Während er den Schlitten dorthin zog, begriffen die Kinder allmählich das Konzept eines Schlittens und schienen davon recht angetan zu sein.

Schließlich bemerkte Elrond noch etwas anderes. »Warum kannst du auf dem Schnee laufen und machst keine Spuren wie wir?«, wollte er von Maglor wissen.

»Alle Elben können das«, erklärte er. »So wie ein Vogel fliegen oder ein Fisch schwimmen kann, laufen wir über den Schnee.«

»Und warum können wir das nicht?«, fragte Elros weiter. »Ist es, weil wir nur Menschen sind?«

Nur? Maglor stutzte ob dieser Wortwahl. »Ihr seid nicht ›nur‹ Menschen, sondern Peredhil«, betonte er. »Das macht euch zu etwas Besonderem. Ich muss gestehen, dass ich nicht viel über euresgleichen weiß. Aber nur weil ihr Menschen unter euren Vorfahren habt, muss das doch nichts schlechtes sein. Seht, ich kann nicht so einfach in den Schnee springen wie ihr.«

Die Kinder verfielen in Schweigen und schienen über seine Worte nachzudenken.

Indes hatte er die Rodelbahn erreicht, die er auserkoren hatte.

»Hier könnt ihr rodeln«, sagte er. »Habt keine Angst, wenn es ein wenig schneller wird. So könnt ihr den Schlitten mit den Füßen abbremsen, seht ihr?« Er zeigte es ihnen.

Die Kinder nickten und sahen den Hang hinab, zu dem er sie geführt hatte. Sie waren definitiv neugierig auf das, was sie erwartete.

»Haltet euch gut fest«, sagte er. Dann schob er den Schlitten vorsichtig an, bis er an Schwung gewann und von selbst den Hang hinabfuhr. Es war keine sonderlich lange oder steile Abfahrt, aber für zwei kleine Kinder, die noch nie rodeln waren, absolut ausreichend. Der Lohn für seine wochenlange Arbeit war ein begeistertes Juchzen, als die Zwillinge sofort Gefallen am Roden fanden.

Ihre Abfahrt wurde durch eine unerwartete Schneewehe abgebremst. Der Schlitten fuhr hinein und Schnee stiebte nach allen Seiten davon. Erschrocken rannte Maglor hinterher, doch dann atmete er erleichtert auf, als er sah, dass den Kindern nichts passiert war. Zu seinem allergrößten Erstaunen hörte er sie sogar lachen. Er hätte vor Freude weinen können. Sie lachten! Das erste Mal, seit er sie mit sich genommen hatte, hörte er sie lachen.

»Das war lustig!«, rief Elros aus, über und über mit Schnee bestäubt. Er sprang vom Schlitten. »Los, Elrond, lass uns das noch mal machen!«

Mit Tränen in den Augen ließ sich Maglor neben sie in den Schnee sinken und konnte gar nicht ausdrücken, wie glücklich er in diesem Moment war. Besorgt sah Elrond zu ihm und trat vor ihn.

»Warum bist du traurig?«, fragte der Junge. »Haben wir was falsch gemacht?«

»Nein! Nein überhaupt nicht!«, beteuerte Maglor rasch. »Ich bin nur sehr glücklich, dass ihr euch freut. Das ist alles.«

»Und warum weinst du dann?« Elrond wirkte verwirrt.

»Manchmal weint man eben auch, wenn man glücklich ist«, erklärte Maglor. »Und ich freue mich nun einmal sehr, dass euch die Schlittenfahrt gefällt.«

Elrond überlegte für einen Moment. »Also sind es gute Tränen«, stellte er fest. Als Maglor nickte, lächelte er. Dann schlang er Maglor die Arme um den Hals. »Danke! Das hat wirklich viel Spaß gemacht.«

Im ersten Moment war Maglor zu überrascht, um darauf zu reagieren. Doch als auch Elros ihn umarmte, erwiderte er die Geste. Mit einem Male wurde es ihm so unendlich viel leichter ums Herz.

»Wolltet ihr nicht weiter rodeln?«, erinnerte er sie.

Elrond und Elros nickten eifrig. Sie schnappten sich den Schlitten und rannten den Hügel wieder hinauf, um sogleich wieder lachend hinabzusausen. So ging das einige Male, und Maglor war verblüfft über all die Energie, die in den kleinen Kinderkörpern steckte. Das erste Mal seit langem konnten sie sich wieder richtig austoben. Es bereitete ihm große Freude, sie beim Spielen zu beobachten.

»Kinder, wollt ihr wissen, was man mit Schnee noch alles anstellen kann?«, schlug er vor, als sie gerade ein weiteres Mal den Hang hinabgefahren waren. Ihre kleinen Gesichter waren gerötet von der Kälte, doch eine große Freude schien aus ihren Augen, wie er sie noch nie dort gesehen hatte.

Elrond und Elros sahen erwartungsvoll zu ihm.

»Wisst ihr, was eine Schneeballschlacht ist?«, fragte er. »Man kann Schnee so zu einem Ball formen, seht ihr. Und dann …«

Da landete auch schon die erste Ladung Schnee auf ihm. Gespielt empört sah er zu den Kindern. Kichernd zeigten sie auf den jeweils anderen.

»Er war‘s!«, riefen sie im Chor aus.

Auch Maglor musste lachen.

Eine wilde Schneeballschlacht entbrannte, an deren Ende es Maglor zuließ, dass die Kinder ihn lachend in den Schnee warfen und ordentlich einseiften. Eine so große Freude, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte, durchflutete ihn. Er hatte nicht gedacht, dass er überhaupt noch zu solchen Freuden fähig war, doch diese Kinder machten es möglich.

Als sie ihn schließlich glorreich besiegt hatten, belohnte er sie damit, dass er ihnen zeigte, wie man einen Schneemann baute. Sie beschlossen, ihn im Innenhof des Hauses zu errichten, wo sie ihn vom Fenster aus sehen konnten, und gingen daher zurück. Ceomon erwartete sie bereits mit drei Tassen heißen Tees. Sie wärmten sich daran auf und machten sich dann daran, ihren Schneemann zu bauen. Sie gaben ihm mit kleinen Steinen ein Gesicht und mit zwei trockenen Ästen Arme.

Mit strahlenden Augen besahen sich Elrond und Elros ihr Werk. Maglor bemerkte jedoch auch, dass sie mittlerweile merklich zitterten.

»Es wird Zeit, dass ihr wieder ins Warme kommt«, sagte er daher. Ihm selbst machte die Kälte nicht allzu viel aus, doch die Halbelben waren anfälliger dafür.

Sie zogen eine Schnute. »Na gut«, sagte Elros dennoch, wenn auch mit Widerwillen.

»Das wird nicht euer letzter Schnee sein, versprochen«, versicherte Maglor.

Er führte sie wieder hinein und in ihr Zimmer, wo er ihnen half, die dicken Winterkleider abzulegen. Der geschmolzene Schnee hatte sie an einigen Stellen feucht werden lassen. Maglor nahm sich vor, in Zukunft besser auf so etwas zu achten, sich daran erinnernd, was das letzte Mal geschehen war, als die Kinder nass geworden waren. Indes kam Ceomon, um ihn zu informieren, dass er das Feuer im Kaminzimmer entfacht und ihnen noch mehr Tee bereitgestellt hatte. Maglor dankte ihm und ging dann mit den Kindern in das Zimmer, um sich am Feuer zu wärmen.

»Also, Kinder, wie hat euch der Schnee gefallen?«, fragte er.

Er hatte die Beiden in eine dicke Decke gewickelt und auf ein weiches Fell vor den Kamin gesetzt. Er selbst hatte sich einen der Sessel erwählt, die davor standen. Sie hatten alle die Hände um die Teetassen gelegt, um sich daran zu wärmen.

»Amya hat immer gesagt, dass es ganz viel Spaß macht«, sagte Elros. »Aber selbst im Schnee spielen, ist viel toller!«

»Dürfen wir noch einmal mit dem Schlitten fahren?«, fragte Elrond.

»Natürlich. Ich habe ihn immerhin für euch gemacht!«

Die Kinder sahen ihn groß an. »Wirklich? Einfach so?«, wunderte sich Elros. »Aber wir haben doch noch gar nicht Geburtstag.«

Maglor sah sie fragend an. »Ihr feiert euren Geburtstag und nicht euren Zeugungstag?«, wunderte er sich. »Machen das nicht die Menschen so?«

Sie waren irritiert. »Amya hat es immer Geburtstag genannt«, sagte Elrond.

Maglor wurde wieder einmal bewusst, wie sehr sich die kleinen Halbelben von seinesgleichen unterschieden. Dann fragte er sich mit Schrecken, wie lang ihre Lebensspanne wohl währen würde. Wie alt mochte Elwing gewesen sein, als sie Mutter geworden war? Es konnten keine dreißig Jahre gewesen sein, ging ihm auf. Elben hatten in diesem Alter noch nicht einmal ihre körperliche Reife erreicht. Halbelben erschienen ihm mit einem Male so menschlich, dass er sich mit Schrecken fragte, ob sie nicht vielleicht sogar sterblich waren wie die Edain.

Lernte er sie zu lieben, nur um sie an das Schicksal der Zweitgeborenen zu verlieren?

»Wann habt ihr denn Geburtstag?«, fragte er und bemühte sich, den aufkommenden Kummer aus seiner Stimme zu halten.

Elrond musterte ihn mit einem beunruhigend wissenden Blick.

»Am sechsundzwanzigsten Tag im coirë«, sagte der Junge. In gut einem Monat also.

»Dann muss ich mir ja noch ein Geschenk für euch überlegen.« Maglor lächelte sie an. »Einen Schlitten habt ihr nun ja. Wünscht ihr euch vielleicht etwas?«

Die Kinder überlegten. Elronds Blick fiel auf die Harfe, die bei dem Kamin stand. Es war nicht Maglors liebstes und kostbarstes Instrument, das er stets nur in seinen Gemächern aufbewahrte, aber dennoch eine seiner Harfen, die er gebaut hatte.

»Ich möchte gern lernen, auch so schöne Musik zu machen wie du«, bat er leise.

Elros sah erst zu der Harfe, dann zu Maglor. Und dieses Mal nickte auch er.

Maglor konnte nicht bestreiten, dass ihn das sehr stolz machte.

Knapp sieben Wochen, um den Kindern kleine Harfen zu bauen, war wenig Zeit, aber er hatte dieser Tage ohnehin kaum etwas anderes zu tun, da Maedhros die ganzen administrativen Aufgaben für sich vereinnahmt hatte. Er freute sich, dass sie bereit waren seine Kunst zu erlernen, und dass er ihnen etwas geben konnte, das ihm selbst so viel bedeutete. Ceomon hatte Recht behalten, als er damals vorgeschlagen hatte, den Kindern etwas vorzusingen, um sie Maglor gegenüber zu erwärmen.

Er erhob sich und trug die Harfe zu seinem Sitz. »Kommt zu mir und passt auf«, sagte er zu den Kindern, als er sich wieder gesetzt hatte und das Instrument an seine Schulter bettete.

Bedächtig legte er die Hände an die Saiten und begann sie sanft zu zupfen. Die Kinder verfolgten aufmerksam jede seiner Bewegungen. Er spielte eine langsame, verträumte Melodie an. Hatte Maedhros nicht gemeint, dass er sich auch um die Ausbildung der Kinder kümmern musste? Dann tat er es besser auf seine Weise. Er begann sanft zu singen.

 

Eins lebte ein König in alten Tagen:

Bevor Menschen auf Erden wandelten,

Erstreckte sich seine Macht im Schatten der Höhlen,

Lag seine Hand über Tal und Lichtung.

Seine Schilde strahlten wie der Mond,

Seine Lanzen kühn aus Stahl waren geschlagen,

Seine Krone gewoben aus silbernem Grau,

Seine Banner fingen das Sternenlicht;

Und silbern erschollen seine Trompeten lang

Unter den Sternen, sie herausfordernd;

Magie hielt sein Reich umfangen,

Wo Macht und Glanz, Reichtum unermesslich

Er von seinem elfenbeinernen Thron regierte

In steinernen Hallen voller Säulen.

Darin Beryll, Perle und fahler Opal

Und Metall gewoben wie ein Fischkleid,

Schild und Brünne, Axt und Schwert,

Und strahlend Speer lagen in seinem Hort –

All dies war sein und liebte er geringer

Als eine Maid in Elbenheim;

Denn schöner als den Menschen geboren

Hatte er eine Tochter, Lúthien.

 

Mit einigen letzten Noten ließ er die Melodie ausklingen. Mit großen Augen sahen die Kinder zu ihm.

»Elu Thingol ist euer Urahn, und Melian die Maia war seine Gemahlin«, sagte Maglor. »Ihr entstammt nicht nur den Eldar und den Edain, sondern tragt in euch auch das Blut der Ainur.«

Er fragte sich, was das wohl für die Kinder bedeuten mochte. Wie viel von Lúthien war noch in ihnen?

»Amya hat uns davon erzählt, aber sie hat es nie gesungen«, sagte Elrond. »Ich mag es, wenn du deine Geschichten singst.«

»Kennst du Dírhaval?«, wollte Elros wissen. »Er hat bei uns gelebt und über Túrin Turambar geschrieben. Ich mag den Teil, wo er gegen Glaurung kämpft!«

Freilich kannte er Dírhaval. Er war es, der ihn getötet und der Welt einen talentierten Barden geraubt hatte.

Mit einem Mal trugen ihn seine Gedanken zurück zu den Häfen des Sirion. Er hatte wieder den Geruch von Blut in der Nase und der Rauch zahlreicher Feuer brannte ihm in den Augen. Wut trieb ihn voran, Wut darüber, dass all diese Narren es wagten, sich ihm entgegenzustellen und ihm sein Eigentum vorzuenthalten.

Mochte er auch Feind oder Freund sein, finster oder rein, Morgoths Brut oder scheinender Vala, Elda oder Maia oder Nachzügler, Mensch noch nicht in Mittelerde geboren, weder Gesetz, noch Liebe oder Bündnis von Schwertern, Furcht oder Gefahr, nicht Schicksal selbst, sollte ihn vor Feanor und seinen Söhnen schützen.

So hatten er und seine Brüder an der Seite ihres Vaters geschworen, und jeder wusste dies. Wie konnten es da diese Narren wagen, sie herauszufordern!

Wo war Elwing? Oh, wie er sie büßen lassen würde!

Mit dem nackten Schwert in der Hand, von dem das Blut tropfte, durchsuchte er das Haus. Hier hatte sie gelebt, er sah es. Sein Bruder hielt draußen die Stellung, sodass sie sicher sein konnten, dass niemand ihnen entkam. Elben und Menschen flohen vor ihm und seinem Zorn, manche versuchten, ihn mit Waffengewalt aufzuhalten. Er tötete sie alle.

Ein einzelner Mann trat ihm in den Weg. Er trug keine Waffen bei sich, lediglich eine Laute. Zitternd fiel er vor Maglor auf die Knie.

»Herr, bittet haltet ein!«, flehte er. »Ihr seid Maglor, ich weiß es. Ich weiß, was ihr sucht.«

Maglor holte mit dem Schwert aus. Der Mann hielt schützend seine Laute vor sich. Splitternd und mit einem jämmerlichen Laut zerbrach sie.

»Was weiß schon ein Mensch von solchen Dingen?«, zischte Maglor verächtlich. »Verrate mir, wo Elwing ist!«

»Ihr sucht ihren Schatz, ich weiß es«, stammelte der Mann. »Aber ich weiß auch, was man über Euch und Eure Musik sagt. Man nennt mich Dírhaval, und ich verstehe etwas von der Musik.«

»Mich interessiert dein lächerliches Lautengeklimper nicht«, knurrte Maglor. »Ich töte dich auf der Stelle, wenn du mir nicht sofort sagst, was ich wissen will!«

»Herr, ich schrieb die Narn i Chîn Húrin«, bettelte Dírhaval. »Sicher habt Ihr davon bereits gehört. Ich überlasse sie Euch, aber bitte lasst von Eurer Rache ab.« Er hielt ihm ein Bündel Papiere entgegen.

»Oder ich nehme sie einfach deinem toten Körper ab.« Mit diesen Worten trieb Maglor dem Menschen sein Schwert durch das Herz. Dírhaval keuchte und spukte Blut. Sein Blick brach. Maglor entriss ihm die Seiten und stieß die Leiche achtlos zur Seite. Das Manuskript war wertvoll, doch nicht so wertvoll wie der Schatz, weswegen er gekommen war.

»Herr, Elwing konnte fliehen!«, hörte er mit einem Mal Ceomon rufen.

Erst da sah Maglor, dass er genarrt worden war. Dírhaval hatte auf Zeit gespielt. Er hatte gewusst, dass er Maglor nichts entgegenzusetzen hatte, und dennoch hatte sich der Barde ihm gestellt, um Elwings Flucht zu decken.Wütend schrie Maglor auf.

Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als er spürte, wie Elros ihm seine kleine Hand auf das Knie legte.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er zögerlich und sah betrübt zu ihm auf.

Maglor zwang sich zu einem Lächeln. »Alles gut. Soll ich dir den Teil der Narn vorsingen?«

Hätte er nicht gezögert, hätte er Dírhaval nicht zugehört, sondern ihn gleich erschlagen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Wer weiß, was dann wäre. Schlussendlich waren all diese Elben und Menschen doch für nichts und wieder nichts gestorben.

Elros nickte.

Die nächsten Stunden brachte er damit zu, den Kindern durch seine Musik mehr über die Welt zu erzählen, in der sie lebten. Gleichzeitig zeigte er ihnen, wie er seine Musik spielte. Seine Harfe war zu groß, als das die Kinder sie allein halten konnten. Aber er legte ihnen ihre Hände an die Saiten und ließ sie fühlen, wie es war, wenn unter den Fingerspitzen zarte Musik erklang.

Durch ihr Abenteuer im Schnee wurden die Zwillinge an diesem Tag früh müde und Maglor schickte sie zeitig ins Bett. Es war die erste Nacht, in der sie ohne Alpträume schlafen konnten. Von nun an wurde vieles besser.

Hier zahlt es sich aus, dass ich die Texte auf ao3 und Fanfiction.net mittlerweile übersetze. Die Lays of Beleriand wurden meines Wissens nach nie ins Deutsche übertragen, und was Versmaß und all das angeht, bin ich echt eine Niete. Deswegen habe ich das erste Canto des Lay of Leithian einfach wörtlich übersetzt. Das Original liest sich folgendermaßen:

A king there was in days of old:

ere Men yet walked upon the mould

his power was reared in cavern‘s shade,

his hand was over glen and glade.

His schields were shining as the moon,

his lances keen of steel were hewn,

of silver grey his crown was wrought,

the starlight in his banners caught;

and silver thrilled his trumpets long

beneath the stars in challenge strong;

entchantment did his realm enfold,

where might and glory, wealth untold,

he wielded from his ivory throne

in many-pillard halls of stone.

There beryl, pearl and opal pale,

and metal wrought like fishes‘ mail,

buckler and corslet, axe and sword,

and gleaming spears were laid in hoard–

all these he had and loved them less

than a maiden once in Elfinesse;

for fairer than are born to Men

a daughter he had, Lúthien.

 

Der Eid im Wortlaut lautet folgendermaßen:

Be he foe or friend, be he foul or clean,

brood of Morgoth or bright Vala,

Elda or Maia or Aftercomer,

Man yet unborn upon Middle-earth,

neither law, nor love, nor league of swords,

dread nor danger, not Doom itself,

shall defend him from Fëanor, and Fëanor's kin,

whoso hideth or hoardeth, or in hand taketh,

finding keepeth or afar casteth

a Silmaril. This swear we all:

death we will deal him ere Day's ending,

woe unto world's end! Our word hear thou,

Eru Allfather! To the everlasting

Darkness doom us if our deed faileth.

On the holy mountain hear in witness

and our vow remember, Manwë and Varda!

Naugrim (Teil 1)

Maglor schenkte den Kindern zu ihrem Geburtstag kleine Harfen, wie er es ihnen versprochen hatte, und gab ihnen dann Harfenunterricht. Die Kinder waren interessiert, aber hatten noch kein wirkliches Gefühl für die Musik. Das führte dazu, dass sie nicht in dem Tempo lernten, wie sie es wohl gern hätten, und sie wurden frustriert. Maglor musste sie ausbremsen und immer wieder daran erinnern, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen war.

»Aber bei dir sieht das so leicht aus!«, maulte Elros.

»Ich habe ja auch ein paar Jahre länger Übung als ihr«, sagte Maglor ruhig. »Ihr lernt seit gerade einmal zwei Wochen. Ich war kaum älter als ihr, als ich mit der Harfe begann, und kann auch heute noch immer neue Dinge lernen. Es bedarf viel Übung und Geduld, um ein Instrument zu meistern.«

Die Kinder wirkten nicht glücklich darüber, aber sie fügten sich und gaben nicht auf. Sie machten dennoch bemerkenswert rasch Fortschritte. Maglor war stolz auf sie.

Sein Bruder hingegen wurde stiller und stiller. Maedhros zog sich immer mehr zurück, baute Mauern um sich und ließ nicht einmal mehr Maglor an sich heran. Die Freude des jüngeren der Brüder über den Lernfortschritt der Kinder wurde von seiner Sorge um Maedhros überschattet.

Maedhros hatte es auf sich genommen, die Geschäfte des Amon Ereb nahezu allein zu regeln. Das ließ Maglor zwar enorm viel Zeit für die Zwillinge, überhäufte Maedhros jedoch mit Arbeit. Er ließ es jedoch auch nicht zu, dass jemand ihm half, und so blieb Maglor nichts anderes übrig, als tatenlos daneben zu stehen und mit Sorge zu beobachten, wie die Mauern um Maedhros von Tag zu Tag und mit jedem Dokument, dem er sich widmete, höher wurden.

»Warum lässt du dir nicht helfen?«, fragte er nicht zum ersten Mal.

Wahrscheinlich einmal zu oft.

Maedhros schmetterte das Schreiben, das er soeben noch in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und schlug mit der Faust auf das Holz. Jeder andere wäre vor seinem Zorn zurück gezuckt, doch nicht Maglor. Er kannte seinen Bruder.

»Genug!«, donnerte Maedhros. »Einer muss ja alles am Laufen halten, und offensichtlich bist das nicht du!«

Maglor hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. »Oft genug habe ich dir meine Hilfe angeboten«, knurrte er. »Was soll ich sonst noch machen? Dich auf Knien anflehen?«

»Es ernst mit deinen Angeboten meinen, hätte schon gereicht«, fuhr Maedhros ihn an. »Aber ich sehe doch, wie du einen Narren an den Bälgern gefressen hast. Sie sind unsere Gefangenen, nicht mehr und nicht weniger, vergiss das nicht. Noch immer besteht die Möglichkeit, dass ihre Eltern zurückkehren, und dann sind sie nichts weiter als unter Druckmittel, um unser Eigentum zurückzuerlangen.«

»Vor einigen Wochen klang das aber noch ganz anders aus deinem Mund«, erinnerte Maglor ihn.

»Kannst du sicher sein, dass sie wirklich nicht zurückkehren? Sind sie tot? Halten die Valar sie in Aman fest? Wenn wir das nicht wissen, dann besteht immer die Möglichkeit, dass sie mit unserem Eigentum zurückkehren. Aber das scheinst du über deiner Vernarrtheit ja völlig vergessen zu haben.«

»Vernarrtheit? Bruder, hör dich doch nur einmal an!«

»Lenk‘ nicht vom Thema ab! Hast du unsere eigenen Brüder vergessen? Hast du vergessen, für was sie gestorben sind? Du kannst sie nicht einfach so durch ein anderes Zwillingspaar ersetzen. Sie sind nicht Ambarussar.«

Das schmerze Maglor weitaus mehr, als ihm lieb war. Er hatte, seit sie wieder zum Amon Ereb zurückgekehrt waren, kaum noch an seine jüngsten Brüder gedacht und stattdessen all seine Energie für die beiden Halbelben aufgewandt. Teils auch, um dem Schmerz zu entgehen, den der Verlust mit sich brachte. Er hatte sich sehenden Auges blind gestellt, weil er einfach nicht in der Lage gewesen war, die Flut an Gefühlen zu bändigen, die in ihm tobte. Um von ihr nicht davon gespült zu werden, hatte er sie ignoriert.

Er hätte wissen müssen, dass das nicht gut gehen konnte.

Der Damm brach.

Zitternd holte er Luft, während er gleichzeitig irgendwie versuchte, die Flut aufzuhalten. Aber es war, als würde er mit bloßen Händen gegen den Ozean ankämpfen. Tränen traten ihm in die Augen, und er ballte die Hände zu Fäusten, um ihr Zittern unter Kontrolle zu bekommen.

»Auch ich trauere um unsere Brüder«, krächzte er. »Jeder von uns auf seine Weise. Wie kannst du nur so von mir denken?«

Maedhros starrte ihn wortlos an. Doch mit einem Mal wurde sein Blick weicher. Seine Schultern sackten herab und er ließ sich mit einem schweren Seufzen in seinen Stuhl sinken.

»Vergib mir bitte«, sagte er leise. »Ich … ich weiß einfach nicht, was da über mich kam.«

Maglor wollte ihn anschreien, aber gleichzeitig wusste er auch, dass es nicht gerecht gegenüber Maedhros wäre, seinen eigenen Frust an ihm auszulassen. Sie beide standen unter großem Stress nach allem, was vorgefallen war. Wie konnte er es ihm da verübeln, wenn er sich einmal im Ton vergriff? Maglor verlangte so viel von ihm, indem er die Kinder aufgenommen hatte. Wie konnte es da Maglor sich selbst verübeln, wenn er selbst irgendwie versuche, seine überwältigenden Gefühle zu meistern, und dabei strauchelte?

Maedhros fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er wirkte müde. Wie lange hatte er schon nicht genügend geschlafen?

»Die Zwerge von Belegost haben geantwortet«, wechselte er das Thema.

Maglor wollte keinen Konflikt mit seinem Bruder, nicht jetzt und hier, und so nahm er es dankend an. »Was schreiben sie?«

»Dass sie mein Angebot überdenken und sich die Ware ansehen wollen«, gab Maedhros wieder. »Sie laden uns ein und sprechen von einer Möglichkeit zur Verhandlung, wenn ihnen gefällt, was wir ihnen bieten.«

Maglor seufzte erleichtert. Zumindest eine Sorge weniger. »Das ist gut.«

»Noch gibt es keinen Grund zur Freude«, dämpfte Maedhros seinen Enthusiasmus. »Ihr Ton ist sehr zurückhaltend und sie machen deutlich, dass noch nichts entschieden ist. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nach Belegost zu gehen und mit ihnen zu verhandeln. Vielleicht erinnern sie sich des Bündnisses, das ich einst mit ihnen geschlossen hatte.«

»Und Nogrod?«

»Bisher keine Antwort.« Maedhros lachte bitter auf. »Vielleicht nehmen sie es uns ja übel, dass wir beendeten, was sie begonnen haben.«

Maglor verzog das Gesicht. »Darüber möchte ich keine Witze machen.«

Maedhros senkte den Blick. »Du hast Recht. Ich sollte es besser wissen. Wie dem auch sei. Ich werde meine Abreise in den nächsten Tagen vorbereiten.«

»Deine Abreise?«, wiederholte Maglor. »Nicht unsere?«

»Es ist nicht nötig, dass wir beide gehen, und die Straßen sind dieser Tage gefährlich geworden. Wir besitzen kein Heer mehr, das uns begleiten könnte, nur einige wenige Soldaten«, erinnerte Maedhros ihn.

Maglor überlegte für einen Moment. Dann bemühte er sich um einen möglichst versöhnlichen Ton. »Ich möchte dennoch mitkommen. Das ist eine gute Gelegenheit für die Kinder, etwas mehr von der Welt zu sehen und Zwerge kennenzulernen.«

Maedhros sah ihn skeptisch an.

»Nur Kinder, du erinnerst dich?«, sagte Maglor daher rasch. »Du hattest selbst gesagt, dass ich mich um ihre Ausbildung kümmern soll.«

»Das ist es nicht, nur …« Maedhros suchte nach Worten. »Die Straßen sind gefährlich genug für unsereins. Da braucht es nicht auch noch zweier kleiner Kinder.«

Maglor versuchte sich an einem selbstsicheren Lächeln, fürchtete aber, dass es ihm misslang. »Ich kann auf sie aufpassen.«

Maedhros sah ihn schweigend an. »Wenn du nicht davon abzubringen bist, dann sollen sie eben mitkommen. Vielleicht lassen die Zwerge uns sogar nach Belegost hinein.«

Damit war es beschlossene Sache. Die Zwillinge zeigten zurückhaltende Neugierde, als Maglor ihnen sagte, dass sie bald in den Osten gehen würden, um Zwerge zu sehen. Noch schien es Maglor, als würden sie sich nicht so recht trauen, Freude zu zeigen. Vieles war zwischen ihnen mittlerweile entspannter seit jenem verschneiten Tag, aber Maglor spürte, dass noch lange nicht alle Klüfte zwischen ihnen überwunden worden waren. Zumindest war es ein Fortschritt, dass sie sich nicht mehr vollkommen zurückzogen. Und zumindest für das Harfenspiel konnten sie sich auf jeden Fall begeistern. Maglor konnte nicht bestreiten, dass es ihn ausgesprochen stolz machte, dass ausgerechnet seine Musik der erste Berührungspunkt zwischen ihnen war.

»Aber waren es nicht Zwerge gewesen, die Thingol getötet haben?«, wollte Elros wissen.

»Ja, aber streng genommen war es das Volk von Nogrod. Zu ihnen gehen wir nicht.« Das hoffte er zumindest, fügte Maglor für sich in Gedanken an. Sie hatten eine bessere Beziehung zu den Zwergen von Belegost, seit Maedhros einst ihren Herrn Azaghâl gerettet und Caranthir diese Beziehung später aufrechterhalten hatte, was ihm zu erheblichem Reichtum verholfen hatte.

Maglor erinnerte sich eines weiteren Details. Elros schien sehr angetan von der Geschichte Túrins gewesen zu sein. Vielleicht gefiel ihm, zu erfahren, wo die Ursprünge des Drachenhelms lagen.

»Wollt ihr eine kleine Geschichte hören?«, fragte er. »Dieses Mal allerdings nicht in gebundener Sprache.«

Etwas zögerlich nickten die Kinder.

»Einst lebte bei den Zwergen von Nogrod ein Schmied namens Telchar«, begann Maglor. »Er war einer der größten Schmiede dieses Landes und unter seinen Arbeiten sind namhafte Schwerter wie Narsil, aber auch Angrist, das Messer, das Beren benutzte, um den Silmaril aus Morgoths Krone zu brechen. Auch der Drachenhelm von Dor-lómin wurde von Telchar geschmiedet.«

Elros‘ Augen wurden groß. »Ohh!«

»Telchar schmiedete den Helm einst für seinen Herrn Azaghâl«, fuhr Maglor fort. »Als er auf der Zwergenstraße reiste, wurde er von Orks angegriffen, die ihm aufgelauert hatten. Zufällig war jedoch Maedhros gerade in der Nähe und rettete ihn. Als Dank gab er ihm den Helm, Maedhros gab ihn jedoch später an Fingon weiter; die beiden waren sehr gute Freunde, müsst ihr wissen. Nichts hatte sie trennen können.«

»Waren? Was ist passiert?«, wollte Elrond wissen.

Maglor senkte traurig den Blick. »Fingon fiel in der Nirnaeth Arnoediad. Ich bitte euch, erwähnt ihn nicht in der Gegenwart meines Bruders; die Erinnerung an ihn weckt zu viele schmerzhafte Erinnerungen in ihm.«

»Oh. Das … tut mir leid«, sagte Elrond etwas hilflos. Anscheinend wusste er nicht, was er sonst sagen sollte.

Maglor blickte auf. »Aber das ist eine andere Geschichte. Vor etwas über einhundert Jahren gründete Fingolfin das Lehen von Dor-lómin und ernannte Hador zum ersten Fürsten. Um dies zu feiern, übergab Fingon, sein Sohn, Hador den Helm, welcher ihn später an seinen Sohn Galdor weiter gab. Über ihn kam er in den Besitz von Húrin und schließlich Túrin.«

»Uff. So viele Namen«, stöhnte Elros. »Wie kannst du dir das alles merken?«

Maglor musste schmunzeln. »Fingolfin ist mein Onkel. Es wäre etwas seltsam, wenn ich nicht wüsste, mit dem ich verwand bin. Für unsereins ist es außerdem wichtig zu wissen, wer mit wem verbündet ist, und dank Fingon waren Maedhros und so auch ich immer recht gut darüber informiert, wer das Sagen in Dor-lómin hatte.« Auch wenn es manchmal etwas schwierig war, immer auf dem neuesten Stand zu sein. Menschen waren so furchtbar kurzlebig! Maglor hatte nie ganz verstanden, warum Finrod solch einen Narren an ihnen gefressen hatte.

Elrond und Elros schienen das einen Moment lang verarbeiten zu müssen. Sie wussten, dass sie in direkter Linie von Fingolfin abstammten; Earendil hatte dafür Sorge getragen. Aber anscheinend hatte er unterschlagen, dass Fingolfins älterer Bruder Feanor gewesen war.

»Also sind wir auch mit dir verwand.« Elros klang verwirrt.

»Alle großen Häuser der Eldar sind miteinander verwandt, wenn auch teils nur entfernt«, sagte Maglor. Er merkte jedoch, dass dieses Gespräch in eine Richtung ging, die ihm nicht allzu sehr behagte. Es gab Dinge, über die er nur noch ungern sprach. Tote Freunde und Verwandte gehörten dazu. Also wechselte er rasch das Thema: »So, jetzt wisst ihr, welche Ursprünge der Drachenhelm hat. Bald schon werdet ihr Zwerge kennen lernen dürfen. Telchar lebt nicht mehr, aber ich bin sicher, dass ihr unsere Reise dennoch interessant finden werdet.«

Die Zwillinge schienen noch eine ganze Menge Fragen mehr zu haben, doch sie schwiegen. Vielleicht spürten sie ja, dass Maglor nicht darüber sprechen wollte.

In der nächsten Zeit kam wieder etwas Leben in das Haus, als Maedhros ihren Aufbruch organisierte. Etliche Elben gingen ein und aus, um den Warentransport vorzubereiten. Beide Prinzen würden gehen, das hieß also, dass jemand zurückbleiben musste, um in ihrer Abwesenheit die Führung zu übernehmen. Die Zwillinge schienen in guter Stimmung zu sein, denn sie sprachen kaum noch von etwas anderem. Sie kannten Zwerge nur aus Geschichten und waren gespannt darauf, Vertreter dieses Volks mit eigenen Augen zu sehen. Maglor musste sein gesamtes Repertoire an Liedern über Zwerge zusammensammeln und ihnen vortragen, und dennoch konnten sie es nicht abwarten.

Der Tag ihrer Abreise war gekommen. Die Kinder schienen ihre Begeisterung noch immer nicht gern zu zeigen, aber nun war ihre Freude so groß, dass sie es kaum verbergen konnten. Maglor hoffte, dass ihre Erwartungen nicht enttäuscht werden würden. Dann besah er sich ihre Eskorte und machte sich eher über ihre Sicherheit Sorgen. Vielleicht hatte sein Bruder doch Recht gehabt und er wäre besser mit ihnen daheim geblieben …

Doch jetzt war es beschlossene Sache und sie brachen auf.

Der beginnende Frühling war kaum weniger unangenehm als seine vorhergehenden Jahreszeiten. Die ersten Tage ihrer Reise gestalteten sich als wenig angenehm, als sie tagelang von einem unangenehmen Sprühregen durchnässt wurden. Maglor gab sein Bestes, die Zwillinge trocken zu halten, doch es gelang ihm nicht wirklich. Er hoffte, dass sie sich nicht schon wieder erkälten würden. Zumindest hatte er sich den Luxus eines Zeltes gegönnt, sodass sie zumindest abends im Trockenen schlafen konnten, während er ihre Kleider am Feuer trocknete.

Ihr Weg führte sie schließlich durch ein kleines Wäldchen nahe Sarn Athrad. Hier wollten sie den Fluss Gelion überqueren, um ihren Weg über die alte Zwergenstraße nach Osten fortzusetzen. Hier war es auch gewesen, wo Beren einst die Streitkräfte der Zwerge von Nogrod besiegte, nachdem sie von der Plünderung Doriaths heimkehrten, und den Silmaril eroberte – ebenjener Silmaril, der erst zur Zerstörung Doriaths und dann der Häfen am Sirion durch die Hand der Feanorer führte.

Während er das glitzernde Band des Flusses in der Ferne betrachtete, fragte sich Maglor, was wohl geschehen wäre, wäre Beren besiegt worden. Hätte Maedhros stattdessen einen Angriff auf Nogrod geplant oder die ganze Sache fallen gelassen? Und hätte er die Zwerge angegriffen, hätten sie Nogrod ebenso den Flammen übergeben wie Doriath und Sirion oder wären sie an den Äxten des kleinen Volkes gescheitert?

Wäre ihr Scheitern vielleicht sogar das Beste für alle gewesen?

Elros riss ihn aus seinen Gedanken, als er mit einem Male nervös an Maglors Ärmel zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Ich habe Angst«, wisperte der Junge mit dünner Stimme.

Maglor legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter; inzwischen ließen die Zwillinge es zu, dass er ihnen auf diese Weise nahe war, und wichen nicht mehr vor ihm zurück.

»Vor was fürchtest du dich denn?«, fragte er nach. »Das ist nur ein kleines Wäldchen dort vorn und weit und breit sind keine Feinde zu sehen.«

»Da ist etwas Böses dort vorn«, flüsterte Elros und machte sich ganz klein. »Schlimme Dinge werden passieren.«

Maglor runzelte die Stirn und richtete den Blick auf den Wald vor ihnen. Auch Maedhros hatte sein Pferd angehalten, als er hörte, was Elros sagte.

»Etwas wird passieren?«, wiederholte Maedhros. »Woher willst du das wissen, Kind?« Er hatte einen ernsten Ton angeschlagen, doch seine Stimme hatte nichts von der Schärfe, die sonst in ihr lag, wenn er sich an die Zwillinge wandte. Er schien ernst zu nehmen, was Elros zu sagen hatte.

Elros sah mit großen Augen zu ihm und schien nicht so recht zu wissen, was er darauf sagen sollte. »Ich … weiß es eben«, sagte er kleinlaut.

Naugrim (Teil 2)
CN Kampf, Tod, Verletzung, Anzeichen von Trauma und beginnender Borderline Erkrankung

Maedhros war zu sehr General, um solch eine Warnung nicht ernst zu nehmen; zu viele verlorene Schlachten hatten ihn vorsichtig werden lassen, sodass er kein Risiko mehr einging. Ohne viel Federlesens befahl er Rethtulu, Späher zu entsenden, die den Weg vor ihnen auskundschaften sollen, während Maglor noch versuchte, das soeben Gehörte zu verorten.

Nun, die Kinder hatten eine Maia unter ihren Vorfahren. War er wirklich davon ausgegangen, dass sich nichts davon in ihnen niederschlug? Elros schien eine Ahnung von dem zu haben, was vor ihnen lag, und Maedhros tat vielleicht ganz gut damit, darauf zu hören. Aber wie weit erstreckte sich diese Fähigkeit? Besaß Elros gar die Gabe der Voraussicht? Maglor hatte davon gehört, dass manche Eldar dazu fähig waren, aber sich nie eingehender damit befasst. Melian zählte zu ihren Vorfahren und auch Lúthien war zu mächtigen Zaubergesängen fähig gewesen, die sie zweifelsohne von ihrer Mutter gelehrt bekommen hatte. Inwiefern würde sich das auf die Zwillinge auswirken?

»Wir warten hier«, befahl Maedhros, während sich die Handvoll Späher entfernte. Bald schon waren sie im hohen Gras verschwunden und selbst für scharfe Elbenaugen kaum noch auszumachen.

»Hier sind wir ungeschützt in offener Landschaft«, gab Maglor zu bedenken.

»Wenn uns irgendwer dort vorn auflauert, dann weiß er längst, dass wir hier sind, und will uns in eine Falle locken«, sagte Maedhros. »Wenn es zu einem Kampf kommen sollte, dann besser hier, wo wir alles überblicken können, als zwischen den Bäumen. Dort dürften noch genügend modernde Zwergenknochen liegen, um zu zeigen, dass dieser Wald ein guter Ort für einen Hinterhalt ist.«

Elrond und Elros saßen recht verloren vor Maglor auf dem Pferd und schienen nicht so recht zu wissen, was sie mit der Situation anfangen sollten. Maglor sah ihnen deutlich an, dass ihnen die Aussicht auf einen Kampf Angst machte. Auch ihm bereitete es Sorgen, dass er sie vielleicht einer solch großen Gefahr aussetzte. Er hätte wirklich besser auf seinen Bruder gehört.

Er legte seine Arme um die Kinder. »Ich passe auf euch auf«, versprach er. Nun ließ es sich eh nicht mehr ändern, dass sie hier waren.

Maedhros befahl den Wachen, sich auf einen möglichen Angriff vorzubereiten und ihre Umgebung im Auge zu behalten. Orks konnten, wenn sie wollten, erstaunlich verstohlen sein, doch das hohe Grass würde es auch Menschen leichter machen, sich vor ihnen zu verbergen.

Dann warteten sie.

Eine leichte Brise strich durch das Gras und ließ es sanft wogen wie die Wellen des Meeres. In der Ferne schrie ein Bussard auf Beutefang, doch darüber hinaus war nichts zu hören. Das Land lag leer und still da. Nichts wies darauf hin, dass ihnen hier vielleicht Gefahr drohen könnte.

»Elros, ist dir das schon öfters passiert?«, wollte Maglor wissen. Wenn er schon nichts weiter tun konnte als zu warten, dann konnte er die Zeit auch damit verbringen, sich Klarheit zu verschaffen. »Ist es schon einmal vorgekommen, dass du von Dingen wusstest, bevor sie passiert sind?«

Elros schien verlegen zu sein, wie als würde er nicht gern darüber reden. »Nun ja«, druckste er herum. »Manchmal wussten wir, dass atto nach Hause kommt und ein Geschenk für uns hat, bevor amya es uns gesagt hatte. Ich glaube, sie waren traurig, weil das die Überraschung kaputt gemacht hat.«

Maglor hob skeptisch eine Augenbraue und fragte sich, was Elros zu dieser Annahme verleitet haben mochte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Earendil und Elwing wirklich traurig darüber gewesen wären, wenn ihre Kinder Anzeichen für eine solch besondere Gabe gezeigt hatten. Sicher hatte der Junge da etwas missinterpretiert.

»Du sprichst von ›wir‹«, setzte Maglor fort. »Dein Bruder auch?«

Die Zwillinge warfen ihm einen fragenden, fast schon empörten Blick zu, wie als würden sie damit sagen wollen, wie er es nur anzweifeln konnte, dass sie sich auch in dieser Hinsicht ähnelten. Irgendwie schafften sie es damit, dass Maglor sich beinahe schon schuldig fühlte, auch nur einen winzigen Moment lang daran gezweifelt zu haben. Natürlich auch Elrond.

Maglor erinnerte sich all der wissenden Blicke, die die Zwillinge so oft miteinander tauschten und die so viel zu sagen schienen. Er hatte sich immer gefragt, ob mehr dahinter steckte. Nach dieser Eröffnung ging er stark davon aus und nahm sich vor, bei ihrer Rückkehr die Bibliothek nach Hinweisen auf besondere Gaben zu durchforsten. Er musste sich eingestehen, dass er sich etwas überfragt fühlte. Ganz gleich, was alle Welt von seiner Familie sagte, so hatte er es nie als allzu herausfordernd empfunden, an der Erziehung seiner jüngeren Brüder beteiligt gewesen zu sein. Sie alle waren auf ihre eigene Weise charakterstark gewesen, aber schlussendlich doch nur Eldar. Nun jedoch hatte er Kinder in seine Obhut genommen, die ihre Abstammung zu den Ainur zurückführen konnten. Er hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass dies keine Besonderheiten mit sich brachte.

Er fragte sich, welche Überraschungen sie noch für ihn parat hatten.

Maedhros hatte sich nicht weiter um ihr Gespräch gesorgt und starr den Wald im Blick behalten. Die Wachen hatten um die Wagen herum Aufstellung genommen und die Hände an den Waffen. Maglor hielt sich mit den Kindern hinter den Reihen der Soldaten, wo sie in Sicherheit waren. Er spürte die Unruhe der Zwillinge. Bewaffnete Elben lösten in ihnen noch immer Angst aus, selbst wenn diese Elben sie beschützten. Maglor hoffte, dass es gar nicht erst zu einem Kampf kam.

Seine Hoffnungen wurden durch einen Schrei aus dem nahen Wald jäh zerrissen, gefolgt von eindeutig orkischen Gejohle. Die Späher waren aufgeflogen und hatten die Feinde, die dort gelauert hatten, aufgescheucht. Elros hatte tatsächlich Recht behalten mit seiner Vorahnung.

Einer der Elben rannte aus dem Wald, gefolgt von einer Horde Orks. Pfeile flogen ihm hinterher, doch er schlug Haken wie ein Hase, um ihnen auszuweichen.

»Schützen!«, befahl Maedhros sogleich, um dem Fliehenden Deckung zu geben. Die Soldaten reagierten augenblicklich und legten auf die Orks an. Doch sie waren nicht schnell genug. Der Fliehende wurde von einem Orkpfeil getroffen und stürzte zu Boden; Maglor konnte nicht erkennen, ob er überlebt hatte.

Maglor zog sein eigenes Schwert und legte den freien Arm schützend um die Kinder. Er spürte, wie sie in Schock erstarrt waren, hörte ihren hektischen Atem und nahm ihren rasenden Herzschlag war.

»Was auch immer geschieht, bleibt bei mir. Dann seid ihr in Sicherheit«, sagte er eindringlich und hoffte, dass sie ihn durch ihre Panik wahrnehmen konnten. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, welche Schrecken der Angriff der Orks gepaart mit dem Anblick bewaffneter und zum Kampf bereiter Soldaten in ihnen auslösen musste.

»Seht nicht hin«, setzte er daher hinzu.

Erstarrt wie zwei junge Rehkitze saßen die Kinder vor ihm auf dem Pferd und konnten keinen Finger rühren.

Maglor schätzte die Zahl der angreifenden Orks auf etwas unter einem halben hosta. Eine große Zahl für eine Gruppe durch die Lande ziehender und marodierender Orks. Doch Beleriand lag offen und schutzlos da und der Feind hatte kaum noch etwas zu fürchten. Warum dann also noch auf Verborgenheit durch eine kleine Zahl setzen? Sie übertrafen damit Maedhros‘ und Maglors Soldaten um mehr als das Doppelte. Nun waren sie immer noch Feanorer und das dort nur mickrige Orks, doch hatte Maedhros schon vor langer Zeit gelernt, seinen Feind niemals zu unterschätzen. Er hatte diesen Fehler einmal begangen und es hatte ihm lange Jahre der Folter eingebracht und ihn seine rechte Hand gekostet.

Der Anblick der Orks weckte in Maedhros seine alte Wut. Herausfordernd brüllte er ihnen seinen ganzen Zorn entgegen, und allein sein zum Kampf bereiter Anblick reichte, etliche der Orks zögern zu lassen. Lang genug, als dass die Schützen auf sie schießen konnten. Mindestens ein Dutzend Orks ging zu Boden, als nahezu jeder Pfeil sein Ziel fand. Der Rest der Kreaturen ließ sich davon jedoch nicht aufhalten. Johlend rannten sie auf die Stellung der Elben zu.

Maglor juckte es in den Fingern, sich mitten in den Kampf zu stürzen. Doch dann besann er sich der beiden Kinder, für die er die Verantwortung trug, und er konnte sich zurückhalten. Maedhros schien seine Kampfeswut weniger gut zurückhalten zu können, denn mit blitzendem Schwert trieb er sein Pferd an und hielt mitten auf die angreifenden Orks zu.

Maglor glaubte, sein Herz bliebe stehen. Bilder flammten vor seinem Auge auf. Maedhros darnieder gestreckt in seinem eigenen Blut, die Augen blickleer und tot. Maglor allein in einer Welt, die er selbst dem Untergang preisgegeben hatte, gehasst von allen und ohne Liebe. Nein, nein nein! Nein!

»Háno, áva care!«, schrie er Maedhros hinterher. Doch dieser hörte ihn nicht.

In dem Moment geschah etwas ganz und gar Unvorhergesehenes.

»Baruk Khazâd! Khazâd ai-mênu!«

Kleine, gedrungene Gestalten in schimmernden Panzern brachen aus dem Unterholz des Waldes hervor und setzten den angreifenden Orks mit verblüffender Geschwindigkeit nach. Es dauerte nur Augenblicke, bis sie die überraschten Orks eingeholt hatten und mit weiten Axtschwüngen durch ihre Reihen fegten.

»Khazâd! Khazâd!«, riefen die Zwerge immer wieder, während sie die Orks niedermähten.

»Zum Angriff!«, befahl Maglor seinen Wachen. Noch immer schlug ihm das Herz bis zum Hals, doch die Ankunft der Zwerge hatte seine Gedanken wieder geklärt.

All das hatte nur wenige Augenblicke gedauert. Maedhros erreichte nur wenige Momente nach den Zwergen die Orks, und wenn die Zwerge der Amboss waren, so war er der Hammer, der seine Feinde zerschmetterte. Wenn Maedhros seinen Feind vor Augen hatte, dann war es, als würde er Urgewalten entfesseln, denen kaum jemand etwas entgegen zu setzen hatte. Dann kann er nichts anderes mehr als den Kampf und sein ganzes Sinnen war darauf ausgerichtet, seine Feinde zu vernichten. Das Feuer ihres Vaters brannte heiß in ihm, heiß genug, dass er Gefahr lief, sich daran zu verbrennen.

Die Wachen folgten ihm auf den Fuß und machten endgültig kurzen Prozess mit den Orks. Aufgerieben zwischen Elben und Zwergen wendete sich das Blatt rasch gegen sie und sie wurden vernichtend zerschlagen. Niemand entkam.

So schnell der Spuk begonnen hatte, so war er auch wieder vorbei.

Maglor trieb sein Pferd an und eilte seinem Bruder nach. Sein Atem ging hektisch. Mit grimmiger Miene saß Maedhros inmitten der erschlagenen Feinde auf seinem Pferd, das blutige Schwert noch immer in der Hand. Ihm schien nichts geschehen zu sein. Maglor atmete auf.

»Das war leichtsinnig von dir, einfach so vorauszustürmen!«, schalt er seinen Bruder.

»Mag sein«, sagte Maedhros lediglich kühl. »Aber ich wusste, dass die naugrim da sind.«

Hätte sich Maglor weniger Sorgen um die Kinder gemacht, hätte er die Zwerge vielleicht ebenfalls früher bemerkt. »Dir hätte trotzdem etwas geschehen können, Bruder.«

Der Blick, mit dem Maedhros ihn daraufhin bedachte, ließ Maglor erschaudern. Etwas lag da in diesem Blick, das ihm ganz und gar nicht behagen wollte.

Die Leichen der Orks schienen Elrond und Elros zu verstören. Noch immer zitterten sie und starrten auf die toten Körper. Maglor ging auf, dass es nicht gut von ihm gewesen war, sie so nahe heranzubringen, aber die Sorge um seinen Bruder hatte ihn getrieben. Er führte das Pferd etwas vom Ort des Geschehens fort.

Indes begannen bereits einige der Soldaten, die Leichen der Orks zusammenzutragen und auf einen Haufen zu werfen, damit sie verbrannt werden konnten. Andere brachten die Wagen mit den Waffen herbei, die gehandelt werden sollten. Es waren ebenjene Zwerge, mit denen sie sich hatten treffen wollen, die den Orks in den Rücken gefallen waren.

»Das hast du gut gemacht, Elros, als du uns gewarnt hast«, lobte Maglor.

Die Kinder sahen mit großen Augen zu ihm auf, aus denen die Angst schien. Maglor zog die Zwillinge tröstend in seine Arme.

»Ihr müsst euch jetzt nicht mehr fürchten«, beruhigte er sie. »Sie sind alle tot und können euch nichts mehr tun.«

Dankbar für den Schutz, den seine Umarmung ihnen bat, schmiegten sie sich an ihn.

»Waren das Orks?«, wollte Elrond schniefend wissen. »Sie sind noch viel furchtbarer, als amya uns erzählt hat!«

»So lange ich bei euch bin, werden sie euch nie etwas tun können«, versprach Maglor.

So jung und schon mussten sie erleben, welche Schrecken der Feind brachte! Und gleichzeitig verwunderte es ihn, dass sie noch nie zuvor Orks gesehen hatten. Zumindest darin hatten Elwing und Earendil gute Arbeit geleistet und den Feind von ihren Kindern fern gehalten.

Einen Feind zumindest, dachte Maglor grimmig bei sich.

Er sah, wie sein Bruder zusammen mit einigen der Zwerge zu ihm kam. Er stieg vom Pferd, half den Kindern herab und kam ihnen dann entgegen.

Einer der Zwerge in besonders ansehnlicher Rüstung und bewaffnet mit einer beeindruckend großen Axt trat vor, offenbar der Anführer der kleinen Gruppe. Er deutete auf Elrond und Elros.

»Eure?«, wollte er wissen.

»Nein, aber ich bin dennoch für sie verantwortlich«, erwiderte Maglor.

Die Angst vor den Orks war noch lange nicht vergessen. Die Kinder klammerten sich an Maglors Beine und spähten vorsichtig an ihm vorbei. Dennoch schienen die Zwerge ihre Neugierde wieder hervorzulocken. Sie waren kaum größer als die Zwillinge, was sicher ein ungewohnter Anblick war, nachdem sie so lange Zeit unter hochgewachsenen Noldor verbracht hatten.

Der Zwerg brummte und stellte die Axt vor sich ab, um sich auf das Heft der Waffe zu stützen. Maglor war erstaunt, dass dieses kleine Wesen eine so mächtige Waffe überhaupt heben konnte. Andererseits: Es war ein Zwerg …

»Dann haben sie gleich eine Lektion für’s Leben gelernt«, kommentierte der Zwerg trocken, ohne dies weiter auszuführen. »Ich bin Baldur, der Truppführer. Und Ihr seid das Bürschchen, das uns ein paar hübsche Schwerter zeigen will?«

Bürschchen? Maglor hätte beinahe gelacht. Wie alt mochte dieser Zwerg sein? Hundert? Zweihundert? Schwer zu sagen bei diesen Bartträgern. Doch allemal war er weitaus älter als dieser Baldur.

Maedhros trat an die Seite seines Bruders. »Ich bin Maedhros Nelyafinwe. Ihr kennt meinen Namen sicher.«

Baldur musterte ihn. »In der Tat. Man hört dieser Tage dies und das über Euch und Euresgleichen – nicht immer nur Gutes. Aber Azaghâl hat immer wohlwollend von Euch gesprochen und an Euren Bruder erinnern wir uns auch noch. Nur deswegen sind wir hier. Also zeigt her.«

Maedhros stellte sich dieser Tage nur noch selten mit seinem Vaternamen vor. Wahrscheinlich hatte er damit daran erinnern wollen, wer er war. Die Feanorer waren schon immer für ihre Schmiedekünste bekannt gewesen.

Während Maedhros mit den Zwergen zu den Waffen ging, um sie zu begutachten, spürte Maglor, wie einer der Zwillinge zaghaft an seinem Ärmel zupfte. Es war Elros, der ihm verlegen bedeutete, sich zu ihm hinunterzubeugen. Maglor kam dem nach.

»Darf ich dich was fragen?«, wollte Elros flüsternd wissen, als habe er Angst, man könne ihn hören.

»Immer doch«, versicherte Maglor ihm.

»Auch wenn … nun ja, die Frage doof ist?«

»Es gibt keine doofen Fragen. Fragt so viel ihr nur wollt.«

»Wirklich?« Elros wirkte nicht überzeugt. »Also … Ich wollte wissen, warum die so viele Haare im Gesicht haben.«

»Manche Männer zu Hausen haben auch Bärte«, fügte Elrond toternst an.

»Aber diese Zwerge haben Haare überall

Maglor hatte ernsthafte Probleme, nicht laut loszulachen.

»Zwerge haben auch Bärte, nur eben etwas üppiger«, kicherte er.

»Du hast gesagt, es gibt keine doofen Fragen«, beschwerte sich Elros. »Warum lachst du dann?«

Maglor zerwuschelte ihm die Haare. »Das war auch keine doofe Frage, sondern eine sehr schlaue. Ich hatte einfach nur nicht erwartet, dass euch das so sehr beschäftigen würde. Wisst ihr, ich habe gehört, dass Zwergenfrauen auch Bärte haben sollen.«

»Wirklich?«, staunten die Zwillinge im Chor und sahen ihn groß an.

»Die naugrim passen sehr gut auf ihre Frauen auf, darum habe ich noch nie eine Zwergin gesehen«, gestand Maglor. »Oder ich habe schon eine gesehen und es nur nicht bemerkt. Es geht das Gerücht um, dass es gar keine Zwergenfrauen gibt und die Zwerge einfach so aus Erdlöchern kommen.«

Oh, er sollte den Kindern wirklich nicht solche Flöhe ins Ohr setzen, aber gerade hatte er zu viel Freude daran! Niemand nannte ihn Bürschchen, ohne ungescholten davon zu kommen.

Er erhob sich wieder. »Kommt. Gehen wir zu meinem Bruder und schauen nach, dass er keinen Unfug macht.« Jeden der Zwillinge an die Hand nehmend, begab er sich zu Maedhros.

Ebenjener war bereits mitten in den Geschäftsgesprächen mit Baldur. Der Zwerg ließ sich einige Waffen exemplarisch zeigen. Mit fachkundigem Auge besah er sich den Stahl und seine Verarbeitung. Probeweise schwang er ein Kurzschwert.

»Nun ja«, kommentierte Baldur mit grimmiger Miene – soweit das Maglor unter all den ganzen Barthaaren ausmachen konnte. »Ich habe schon schlechteren Stahl gesehen.«

»Ihr werdet kaum besseren Stahl finden«, betonte Maedhros, um dem Aber, das in Baldurs Worten mitschwang, zu begegnen. Er zog sein eigenes Schwert. »Seht her, Meister Zwerg. Geschmiedet in Valinor von meinem eigenen Vater. Und nun vergleicht mein Schwert mit der Waffe in Euren Händen. Ihr werdet kaum einen Unterschied feststellen.«

»Jaja, Feanor dies, Feanor das. Was zählt, ist allein die Qualität dieses Stahls, und die muss erst noch getestet werden.« Baldur zeigte sich wenig beeindruckt. »Das sieht danach aus, als ob das hier eine längere Sache wird. Ich habe keine Lust, das abzuwickeln, während da hinten ein paar Orks vor sich hin rotten. Und den Wald da mag ich auch nicht. Folgt mir.«

Also packten sie ihre Sachen und brachen zusammen mit den Zwergen auf. Bald schon kamen sie auf die Zwergenstraße, die entlang des Flusses Ascar schnurgerade in Richtung Belegost und Nogrod führte. Sie war eben gepflastert und noch dieser Tage gut gepflegt, obwohl sie kaum noch genutzt wurde. Wenn Zwerge etwas bauten, dann für die Ewigkeit.

Baldur führte sie zu einem der befestigten Wegposten entlang der Straße. Die Zwerge hatten in vergangenen Tagen in regelmäßigen Abständen solche Posten errichtet, um dort Proviant zu lagern, aber auch um Übernachtungsmöglichkeiten zu haben, bevor sie den Schutz ihrer Berge völlig verließen und die wilde Weite Beleriands vor ihnen lag. Er hatte also nicht vor, sie in Belegost einzulassen. Maglor hatte nichts anderes erwartet, hätte aber dennoch gern den Kindern eine Zwergenstadt von innen gezeigt.

Dieses Mal war es Elrond, der verstohlen an seinem Ärmel zupfte und seine Aufmerksamkeit erbat. »Warum hat der Zwerg gelogen?«, fragte er leise, als Maglor sich zu ihm herabbeugte.

Maglor sah ihn verwirrt an. »Bei was soll Baldur gelogen haben?«, wunderte er sich.

»Er hat so getan, als ob er die Schwerter nicht mag, aber das stimmt nicht«, erklärte Elrond, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

»Oh, hat er das? Nun, er wird versuchen, den Preis niedrig zu halten, indem er nicht zugibt, dass unsere Waffen von guter Qualität sind. Denn dann müsste er auch entsprechend mehr dafür zahlen. Wenn er so tut, als würde er sie wegen der zu niedrigen Qualität nicht kaufen, kann er erwirken, dass wir im Preis runtergehen, damit wir ihn als Käufer behalten.«

Er sah Elrond an, dass dieser das noch nicht wirklich verstanden hatte. »Aber eigentlich ist er doch total begeistert gewesen. Ich versteh‘ das nicht.«

Also Begeisterung sah anders aus … »Woran machst du fest, dass er so begeistert ist?«, wollte Maglor wissen.

»Na, ich hab‘s gesehen. Ich …« Elrond unterbrach sich plötzlich und sah zu seinem Bruder. Beinahe war es Maglor, als liefe hier eine stumme Unterhaltung zwischen den Zwillingen ab. Nach der Erkenntnis, dass Elros anscheinend zukünftige Ereignisse erahnen konnte, würde ihn das jedoch auch nicht mehr wundern.

Elrond holte tief Luft und sagte dann: »Ich weiß halt, wenn Leute lügen. Wenn dein Bruder sagt, dass er uns hasst, dann weiß ich, dass das nicht stimmt. Ich weiß, dass er uns niemals hatte wehtun wollen. Oder dass du selbst nicht glaubst, dass amya uns holen kommst, obwohl du immer das Gegenteil behauptest.«

Das traf Maglor wie einen Hammerschlag. Siedend heiß ging ihm auf, dass er diese Kinder völlig falsch eingeschätzt hatte. Er hätte niemals das Erbe Melians unterschätzen sollen. Elrond und Elros waren mit weitaus mehr Gaben gesegnet, als er erwartet hatte.

»Bruder, hast du einen Geist gesehen?«, rief Maedhros ihm zu und riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Ist bei dir alles gut?«

»Ja, alles bestens«, beeilte sich Maglor zu sagen. Er musste erst seine eigenen Gedanken dazu sortieren, bevor er darüber reden konnte.

»Das war auch eine Lüge«, flüsterte Elrond ihm zu.

Maglor versuchte sich zu sammeln. »Besitzt du diese Fähigkeit auch, Elros?«

Dieser zuckte mit den Schultern. »Elrond ist viel besser als ich.« Er verzog das Gesicht, offenbar nicht glücklich darüber, dass es doch tatsächlich eine Sache gab, bei der sie sich nicht bis aufs Haar glichen.

Elrond sah sorgenvoll zu ihm auf. »Habe ich was falsch gemacht? Amya hat immer gesagt, man soll andere Leute nicht belauschen, weil das unhöflich ist.«

»Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, kleiner Elrond«, betonte Maglor. »Anscheinend besitzt ihr beide ganz besondere Gaben, und das ist etwas, vorauf ihr sehr stolz sein könnt.«

»Aber wir machen dir trotzdem Schwierigkeiten«, schloss Elrond.

»Und das wollen wir nicht«, fügte Elros an.

Maglor sah, dass er in Zukunft offener mit ihnen umgehen sollte. Er konnte augenscheinlich nicht viel vor ihnen verbergen.

»Nun, es ist so.« Er holte tief Luft und überlegte sich seinen folgenden Worte genau. »Ja, ich habe Zweifel daran, dass eure Mutter wieder zurück kommt. Aber ich sehe auch, wie sehr ihr darauf hofft, dass sie es dennoch tut. Da ich weiß, wie sehr ihr an ihr hängt, habe ich euch in dem Glauben lassen wollen, um euch nicht zu verletzen.«

Daraufhin verfielen sie in Schweigen. Maglor spürte die Trauer in den Kindern, wie sie erneut in ihnen hoch kam.

»Ich würde ja verstehen, wenn ihr mich für das hasst, was ich getan habe«, flüsterte er und wünschte, er könnte alles ungeschehen machen.

Elrond sah zu ihm auf, und in seinen Augen schien eine Weisheit, die weit jenseits seiner Jahre lag. Wortlos ergriff er Maglors Hand. Maglor war davon so verblüfft, dass er nichts darauf erwiderte. Elrond schien auch keine Worte zu erwarten.

So erreichten sie schließlich die Zwischenstation, die Baldur erwähnt hatte. Es handelte sich dabei um ein befestigtes Gehöft, dessen Zentrum ein großes steinernes Gebäude bildete, das Schlafraum für gut fünfzig Zwerge bot. Da weder Maglor noch Maedhros groß Lust darauf hatten, mit so vielen Zwergen auf engem Raum zu nächtigen, setzten sie durch, dass nur ein Teil der sie begleitenden Soldaten hier ebenfalls nächtigte. Die übrigen Elben und Zwerge suchten sich in der Scheune, im Lager oder einfach unter freiem Himmel einen Schlafplatz.

»Sind sich die noblen Prinzen zu fein für ein paar Zwerge, was?«, schnaubte Baldur, ließ sich aber darauf ein.

Maglor fragte sich, inwiefern Elrond Recht behalten hatte, als er meinte, dass Baldur weitaus größeres Interesse an den Waffen der Feanorer hatte, als er zugeben wollte. Natürlich hatte Maedhros übertrieben, als er sein eigenes Schwert mit der Waffe eines ordinären Fußsoldaten verglichen hatte. Dennoch waren ihre Waffen nicht ganz ohne Qualität. Dieses Wissen konnte ihnen in den kommenden Verhandlungen noch von Nutzen sein, und zumindest im Moment dachte Maglor lieber darüber nach, als sich mit den Gaben der Zwillinge auseinander zu setzen.

Jede der beiden Seiten blieb für sich, und nicht alle verstohlenen Blicke, die zur jeweils anderen Gruppe geworfen wurden, waren freundlich. Nur weil Maedhros und Caranthir den Zwergen nicht in den allerschlechtesten Erinnerungen geblieben waren, hieß dies noch lange nicht, dass Freundschaft zwischen ihnen herrschte. Die Spannung war beinahe greifbar.

Die Zwillinge hielten sich nahe bei Maglor, schielten aber schüchtern zu den Zwergen. Maglor sah ihnen an, wie sie förmlich vor Neugierde brannten. Sie kannten Elben und Menschen, aber Zwerge waren etwas völlig anderes.

Er schmunzelte. Dann beugte er sich zu ihnen herab und sagte: »Ihr dürft ruhig zu ihnen gehen. Aber seid lieb und höflich, ja?«

Die Kinder sahen mit großen Augen zu ihm auf. Dann grinsen sie sich gegenseitig an und wuselten davon. Baldur beobachtete ihr Kommen skeptisch und warf dann einen kritischen Blick zu Maglor, ohne dabei im Schleifen seiner Axt innezuhalten.

Elrond stellte sich vor den Zwerg und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Hallo, Herr Zwerg. Ich bin Elrond und das ist mein Bruder Elros«, stellte er sich vor.

»Aha«, machte Baldur. »In fünf Minuten habe ich ohnehin wieder vergessen, wer von euch wer ist.«

»Das ist wirklich nicht schwer«, versicherte Elros ihm. »Mein Bruder ist der Angsthase.«

Elrond stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Gar nicht wahr!« Dann wandte er sich wieder an Baldur: »Herr Zwerg, wir wollten fragen, ob wir deinen Bart anfassen dürfen. Er sieht so weich aus.«

Maglor bemerkte, wie Maedhros das Geschehen amüsiert beobachtet hatte und nun in sich hinein grinste.

»Die Bärte der kleinen Männchen scheinen es ihnen angetan zu haben«, wisperte er Maedhros zu und musste selbst an sich halten, um nicht allzu auffällig zu grinsen.

Baldur brummte missmutig. »Wenn‘s denn sein muss. Aber nicht dran ziehen! Sonst gibt‘s was auf die Finger.«

Wenn er gehofft hatte, danach in Frieden gelassen zu werden, so hatte er sich gehörig getäuscht. Die Zwillinge waren hellauf begeistert von den Bärten der Zwerge und den kunstvollen Zöpfen, die sie hinein flochten. Alsbald schon redeten sie auf Baldur ein, dass er ihre eigenen Haare in ebensolcher Manier flechten sollte. Damit waren sie also nun erst einmal eine Weile beschäftigt.

Maglor beobachtete sie eine Weile schmunzelnd. Doch dann kamen die Erinnerungen an die Ereignisse des Tages zurück. Es wurde Zeit, dass er mit seinem Bruder darüber sprach.

»Nelyo, hast du ein Ohr für mich?«, wandte er sich mit gesenkter Stimme an Maedhros.

Maedhros hatte bis jetzt schweigend an seinem Platz gesessen und sein karges Abendmahl gegessen. Er sah zu Maglor auf. »Was gibt es?«

»Ich möchte mit dir über Elrond und Elros reden.«

Für einen winzigen Moment huschte ein abweisender Ausdruck über Maedhros‘ Gesicht. Er verbarg ihn rasch unter einer neutralen Miene, als wolle er sich nichts anmerken lassen. Maglor rechnete es ihm an, dass er sich auf dieses Gespräch einließ.

»Elros scheint ein gewisses Talent zu haben«, bemerkte Maedhros.

»Mehr als nur das«, sagte Maglor. »Es scheint, dass sie beide zu einem gewissen Grad die Gabe der Voraussicht besitzen. Zudem scheinen sie in die Herzen anderer blicken zu können, Elrond mehr noch als Elros. Und da sind auch diese Blicke, die sie immer miteinander tauschen. Als würden sie ohne Worte miteinander kommunizieren können.«

»Du klingst besorgt«, stellte Maedhros fest.

»Viel mehr wohl einfach etwas überfragt.« Maglor versuchte es mit einem gekünstelt lockeren Ton zu kaschieren.

»Melian ist ihre Ahnherrin. Du hast doch nicht ernsthaft gedacht, dass sich das in keinster Weise auswirken würde.«

»Ich habe zumindest nicht früher darüber nachgedacht. Das war wohl etwas naiv von mir. Weißt du, ob wir irgendetwas dazu in unserer Bibliothek haben?«

»Nein, und ich wüsste auch nicht, wen du dazu befragen könntest. Wir haben alle, die dir Antworten geben könnten, entweder getötet oder aus Mittelerde vertrieben.«

Maglor schwieg und presste die Lippen aufeinander. Früher oder später musste jedes ihrer Gespräche ja darauf kommen.

»Vielleicht findest du in irgendeinem angestaubten und vergessenen Folianten ja etwas dazu«, versuchte Maedhros die Stimmung zu retten.

»Zumindest können sich die Gaben der Kinder als nützlich erweisen. Elrond weiß, wenn jemand lügt, und er hat sehr schnell erkannt, dass Baldur großes Interesse an unseren Waffen hat. Erinnere dich daran, wenn du morgen die Verhandlungen fortsetzt.«

Maedhros warf einen Blick zu Baldur, welcher noch immer von den Kindern belagert wurde und Zöpfe in ihre Haare flocht.

»Zwerge sind Krämer durch und durch. Ein bisschen was habe ich von Carnistir gelernt im Umgang mit ihnen. Baldur wird mich nicht so leicht über den Tisch ziehen können.«

Eine Weile beobachteten die Brüder schweigend die kleinen Halbelben, wie sie noch immer ganz begeistert über die Zöpfe waren, die Baldur ihnen geflochten hatte. Mittlerweile waren einige der anderen Zwerge hinzugekommen und machten derbe Sprüche über Baldur, welcher unfreiwillig zum Kindermädchen verkommen war. Dieser schien offensichtlich nicht allzu begeistert und grummelte missmutig vor sich hin.

»Ich weiß nicht, was ich von dieser ganzen Sache halten soll, Kano«, sagte Maedhros irgendwann leise. »Als wir sie fanden, nahm ich dir das Versprechen ab, ihnen ein guter Vater zu sein. Aber zu dieser Zeit war alles so wirr und durcheinander. Ich wollte einfach nur, dass wenigstens du etwas Gutes erfährst, und das schien das erstbeste, was sich dafür anbot. Und ich sehe doch, wie sehr du an ihnen hängst und dich um sie sorgst. Aber mich will der Gedanke einfach nicht loslassen, dass eines Tages Earendil doch wieder könnte und sie einfordert. Ja, vielleicht sogar im Tausch gegen unseren Silmaril. Was das mit dir machen würde … Es würde dich brechen, Kano, und davor habe ich Angst. Sie zu lieben, birgt Gefahren, doch ohne diese Liebe versinkst du vielleicht im selben Abgrund wie ich. Ai, zwei Seelen wohnen in meiner Brust und ich bin zerrissen zwischen ihnen.«

Maglor sah besorgt zu seinem Bruder. Einst war Maedhros ein stolzer Heerführer gewesen, welcher selbstsicher die Noldor in die Schlacht führte. Niemals hätte er es erlaubt, dass solche Zweifel ihn zerfressen. Doch das Blut an seinen Händen hatte ihn gebrochen.

»Alles wird gut. Irgendwie wird alles wieder gut«, sagte Maglor und hoffte, dass er selbst irgendwann daran glauben konnte. »Immer eines nach dem anderen. Sieh, der Junge, Gil-galad, hat uns nur eine milde Strafe auferlegt, und du bist bereits dabei, eine Lösung dafür zu finden. Du wirst mit Baldur einen zufriedenstellenden Handel erzielen, da bin ich sicher. Denk daran: Er ist begieriger auf die Waffen, als er uns wissen lassen will.«

Maedhros ballte die Hand zur Faust. »Könnte ich nur noch zu solchen Optimismus fähig sein …«

Seine Stimmungsschwankungen wurden in letzter Zeit schlimmer, ging es Maglor auf. Das war kein gutes Zeichen.

»Gib auf dich acht, kleiner Bruder. Denn ich weiß nicht, ob ich dich noch länger vor mir selbst beschützen kann.« Mit diesen Worten erhob sich Maedhros und ging davon.

Maglor sah ihm schweigend nach. Furcht hielt sein Herz umfangen. Wie tief waren sie nur gesunken? Waren sie bereits am Boden angelangt oder ging es noch weiter hinab in den Abgrund?

Als Elrond und Elros zu ihm kamen, zwang er sich zu seinem Lächeln.

»Sieh einmal, unsere tollen Zöpfe!«, sagte Elros begeistert und präsentierte sie ihm stolz.

»Sehr schön«, kommentierte Maglor.

Elrond entging nicht, dass etwas Maglor große Sorgen bereitete, und er musterte ihn aufmerksam. »Ist alles gut?«

Maglor wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Noch vor einem Tag hätte er sie mit einer kleinen Notlüge abgespeist und gehofft, dass sie ihn nicht durchschauten. Aber jetzt wusste er es besser.

»Die Dinge sind nicht so einfach, wie ich es gern hätte. Das bereitet meinem Bruder und mir Sorgen, das ist alles«, sagte er daher. Es war zumindest ein Teil der Wahrheit.

»Sind wir Schuld?«, fragte Elrond besorgt.

»Nein, auf keinen Fall!« Zumindest diese eine Sache wusste Maglor mit Bestimmtheit. Die Welt mochte feindselig und gefährlich sein. Aber nie und nimmer würde er es bereuen, die beiden Kinder aufgenommen zu haben, egal in welche Schwierigkeiten ihn das brachte.

Elrond jedoch schien nicht überzeugt zu sein.

»Was bedrückt dich?«, wollte Maglor wissen. »Freust du dich denn nicht auch über deine hübsche neue Frisur?«

»Doch!«, beteuerte der Junge. »Nur … du siehst so traurig aus. Ich möchte nicht, dass du traurig bist. Kann ich dir helfen?«

»Du hilfst mir bereits mehr, als du ahnst«, murmelte Maglor. Dann raffte er sich zusammen. Er sollte diese Kinder nicht mit seinen Sorgen belasten. »Feierabend, ihr beiden. Es ist spät, und ihr müsst schlafen.«

Sie verzogen die Gesichter, verzichteten jedoch darauf, ihrem Unmut Luft zu machen. Noch etwas, das Maglor Bedenken bereitete. Sie waren stets so bemüht darum, sich möglichst angepasst zu verhalten und ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten. Aber sie waren Kinder, sie sollten spielen, toben und Blödsinn machen dürfen. Aber wie nur konnte er ihnen vermitteln, dass sie das durften? Dass es nicht ihre Aufgabe war, ihm zu gefallen, sondern dass sie Kind sein durften?

Sie schliefen rasch ein, doch Maglor fand lange keinen Schlaf. Zu viele Sorgen raubten ihm die Ruhe, sein Kopf war voll davon. Entsprechend gerädert fühlte er sich am nächsten Morgen. Maedhros hatte sich bereits wieder mit Baldur zusammengesetzt und setzte die Verhandlungen des Vortages fort. Maglor erlaubte es den Kindern, sich zu den Zwergen in Baldurs Gefolge zu begeben, und war froh darum, dass sie sich so sehr für das kleine Volk begeistern konnten. Er selbst nutzte die Zeit, um sich zu Maedhros zu gesellen und seinen Bruder bei den Verhandlungen zu unterstützen.

Es waren zähe Verhandlungen, die sich lang hinzogen. Doch Maedhros konnte schließlich seinen Trumpf ausspielen, den er von Elrond erhalten hatte, und Baldur gab sich geschlagen. Maedhros bot ihm sogar an, etwas über das Gemmenschleifen zu lehren, einen kleinen Happen dessen, was einst Feanor seine Söhne gelehrt hatte. Dieser Leckerbissen verleitete Baldur dazu, sogar einen kleinen Bonus auf den Preis dazuzulegen.

Schließlich fanden sie eine Übereinkunft und damit war zumindest diese Sache aus der Welt. Die Zwerge nahmen die Waffen entgegen und zahlten den Feanorern dafür ein ganz passables Sümmchen. In den kommenden Wochen würde Baldur einige der Schmiede von Belegost zum Amon Ereb schicken, damit Maedhros sie unterweisen konnte. Dann trennten sich ihre Wege.

Maedhros betrachtete die Truhe mit dem Gold und ließ seine Finger durch die Münzen gleiten. »Ich weiß wirklich nicht, wie Carnistir es mit diesen Sturköpfen ausgehalten hat«, seufzte er. Dann klappte er den Deckel zu und machte sich auf den Rückweg.

Die Summe deckte bei weitem nicht, was Gil-galad von ihnen forderte. Aber es war ein Beginn. Zumindest diese Sorge war nun also aus der Welt. Maglor atmete auf.

hosta – Menge, große Zahl; Qu. (Numeral für die Zahl 144, vergleichbar zu unserem Dutzend)
Háno, áva care! - Bruder, tu es nicht!; Qu.
Baruk Khazâd! Khazâd ai-mênu! - Äxte der Zwerge! Die Zwerge sind über Euch!; Khuzdul
Reitstunden
CN Unfall, Trauma, emotionaler Missbrauch

Maglor fuhr nachdenklich mit den Fingern über die Buchrücken. Plündergut aus Doriath. Er sollte sich nicht so schuldig dafür fühlen, sagte er sich. Besser so, als wenn sie die Bücher hätten verrotten lassen. Dann gab er sich einen Ruck und griff wahllos nach einem der Folianten. Grübeln brachte ihn nicht weiter. Er hatte zwei Kinder mit besonderen Gaben, um die er sich kümmern musste. Vielleicht fand er in einem dieser Bücher eine Antwort.

In den nächsten Wochen verbrachte er jeden Augenblick, den er entbehren konnte, in der Bibliothek. Die Bücher stapelten sich um ihn herum, als er eines nach dem anderen durchforstete. Zu seiner größten Frustration musste er jedoch feststellen, dass die Doriathrim kaum etwas Hilfreiches dazu festgehalten hatten. Die Chronik des untergegangenen Reiches hielt lediglich einige Daten fest, wann Díor nach Doriath gekommen war und wann seine Söhne geboren worden waren. Aber das half Maglor nicht weiter. Er stieß zwar auf einen recht beachtlichen Fundus an Stücken aus der Feder Daerons, die nahezu alle von seiner hoffnungslosen Liebe zu Lúthien sangen, aber auch darin fand Maglor keine Antworten. Er legte sie rasch wieder zur Seite. Mit diesem Wichtigtuer wollte er nichts zu schaffen haben. Daeron von Doriath, der behauptete, besser zu sein als Maglor Feanarion. Pah!

Oftmals saß Maglor noch bis weit in die Nacht über die Bücher gebeugt da und las beim Schein einer Kerze. Ihm brannten die Augen. Die nächtlichen Stunden waren jedoch die Zeit, in denen er die meiste Ruhe zum Studieren hatte. Tagsüber lehrte er den beiden Kindern das Lesen, Schreiben, Rechnen und natürlich auch Musizieren. Sie besaßen eine rasche Auffassungsgabe und hatten von ihren Eltern bereits eine gewisse Grundausbildung erfahren. Dennoch gab es noch so viel, das sie lernen mussten. Geschichte, Politik, Wirtschaft und schlussendlich auch, wie sie ein Reich regierten. Etwas sagte Maglor, dass diese Kinder zu Großem bestimmt waren.

Vielleicht war es ja närrisch von Maglor zu hoffen, dass sie eines Tages an dem Punkt stehen würden, wo sie dieses Wissen auch tatsächlich anwenden würden. Aber besser die Hoffnung eines Narren, als völlig ohne Hoffnung durch die Dunkelheit zu irren. Er wünschte sich, dass er ihnen eine Welt vererben konnte, in der sie ihr Potenzial auch würden erreichen können. Dann wanderten seine Gedanken in den Norden und seine Hoffnung schwand.

Er konzentrierte sich wieder auf seine Studien.

»Bruder.«

Maglor schreckte auf. Er musste über dem Text eingeschlafen sein, denn die Kerze auf seinem Tisch war beinahe heruntergebrannt. Er rieb sich die schmerzenden Augen.

»Bruder, warum bist du hier?«, wollte er schläfrig wissen.

Maedhros trat an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Weil ich mich um meinen kleinen Bruder sorge, darum. Du solltest jetzt schlafen.«

Maglor wollte schon widersprechen. Doch dann seufzte er. »Du hast wohl recht.« Heute würde er wohl nicht mehr die Konzentration aufbringen können, um seine Studien fortzusetzen.

Maedhros zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. »Ich mache mir Sorgen um dich, kleiner Singvogel. Du bist erschöpft und gönnst dir keine Ruhe.«

Maglor sah ihn scharf an. »Und das aus deinem Mund.«

Maedhros legte eine Unschuldsmiene auf. »Wir sollten uns wohl einfach öfters an unseren eigenen Rat halten, was? Dennoch: Du solltest dich nach einem Hauslehrer für die Kinder umsehen, das würde dich entlasten. Außerdem habe ich veranlasst, dass Ponys für sie bereitgestellt werden, damit sie reiten lernen.«

»Du hast was

»Deine Musik kannst wohl immer noch du ihnen am besten lehren. Aber für alles andere sollten sie Lehrer haben«, sagte Maedhros ruhig. »Du solltest jetzt wirklich schlafen gehen.«

Maglor sah seinen Bruder erstaunt an. Dann lächelte er. Vielleicht konnte sich Maedhros am Ende ja doch für die Kinder erwärmen.

Am nächsten Tag fanden sich alle vier bei den Stallungen ein, die zu dem Herrenhaus gehörten. Dass auch Maedhros gekommen war, erstaunte und erfreute Maglor zu gleichen Teilen. Es war eine Entwicklung zum Guten hin.

Misstrauisch beäugte Elros die großen Pferde, während Elrond seine Neugierde kaum zügeln konnte. Bisher hatte Maglor ihnen nur erlaubt, sich den Tieren in seinem Beisein zu nähern. Elros hatte sich nie wohl in den Ställen gefühlt. Vielleicht würde ein Pony ja seine Meinung ändern.

Einer der Stallburschen führte zwei sandfarbene Ponys herbei, die bereits gesattelt waren. Fragend sahen Elrond und Elros zu Maglor auf. Dieser schmunzelte. Dann deutete er auf einen nahestenden Elben und winkte ihn herbei.

»Das ist Rochir, unser Stallmeister. Er wird euch das Reiten beibringen«, erklärte er.

Die Reaktionen der Kinder hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Elros machte ein langes Gesicht, während Elrond seiner Begeisterung laut Ausdruck verlieh.

»Ich erwarte, dass ihr seinen Anweisungen genau Folge leistet«, fügte Maedhros an. »Pferde sind kein Spielzeug, sondern fühlende, denkende Lebewesen.«

Er wartete, bis die Kinder dies mit einem Nicken bestätigten, dann ging er. Für einen kurzen Moment hatten die Zwillinge unsicher, fast verängstigt gewirkt. Maedhros hatte sich in der Vergangenheit nur selten an sie gewandt, und wenn, dann waren seine Worte harsch und unfreundlich gewesen. Sie hatten sich nie in seiner Gegenwart wohl gefühlt.

»Die Ponys sind ein Geschenk meines Bruders an euch«, sagte Maglor daher. »Bedankt ihr euch nachher bei ihm?«

Elrond und Elros schienen das einen Moment sacken lassen zu müssen. Dann nickten sie. »Ja, natürlich«, sagte Elrond schließlich.

Rochir kam nun zu ihnen und ging vor den Kindern in die Hocke. Er war ein dunkelhaariger, kräftig gebauter Elb, der selbst dann noch nach Pferd roch, wenn er ausgiebig gebadet hatte. Ein einzelner Strohhalm steckte in seinen zu einem einfachen Zopf zurückgebundenen Haaren.

»Ihr wollt also reiten lernen, Kinder?«, begrüßte er sie.

Elros warf einen raschen Blick zu Maglor. Dann sagte er: »War nicht unsere Idee.«

Maglor musste unwillkürlich grinsen. Dann wurde ihm warm ums Herz. Es war so wohltuend zu sehen, wie die Kinder mehr und mehr zu ihrem wahren Charakter zurückzufinden schienen.

Rochir lachte leise. »Na dann kommt einmal mit.« Er erhob sich und nahm die Zügel der Ponys an sich. Dann führte er sie zum Reitplatz. Maglor folgte. Die ersten Reitstunden der Zwillinge wollte er nicht verpassen.

»Das sind Elanor und Mallos«, stellte Rochir die beiden Stuten vor. Eine der beiden, Elanor, reckte daraufhin den Kopf und knabberte an seiner Hand. Rochir strich ihr über die Blässe. »Das Mädchen ist gierig. Wenn ihr wollte, dass sie euch mag, müsst ihr ihr nur ein paar Mal Möhren mitbringen.«

Elrond lauschte eifrig und eilte neben Rochir her. Sein Bruder hielt sich im Hintergrund und wirkte nicht allzu glücklich mit der Situation. Dass es doch tatsächlich etwas gab, in dem sie sich so sehr unterschieden!

Rochir führte sie zu einem der Reitplätze, an dem die Pferde an der Lounge geführt wurden. Die beiden Ponys wussten bereits, was von ihnen erwartet wurde, und stellten sich brav hin in Erwartung ihrer Reiter. Rochir erklärte den Kindern, wie sie korrekt aufsaßen und half ihnen dann in den Sattel. Maglor beobachtete das Geschehen an einen Zaun gelehnt. Elros sah zu ihm, als wolle er, dass Maglor ihn schnellstmöglich dort hinaus holte. Maglor bedeutete ihm, dass er das großartig machte, und lächelte aufmunternd.

Während Rochir den Kindern noch erklärte, wie sie korrekt im Sattel saßen, befestigte er die beiden Longen am Geschirr der Pferde. »Ich werde Elanor und Mallos jetzt langsam loslaufen lassen; diese Gangart nennt sich Schritt. Erschreckt nicht. Und … los.«

Elros erschrak dennoch sichtlich und klammerte sich an die Zügel. Mallos, sein Ponny, war jedoch geduldig genug, um sich davon nicht abbringen zu lassen. Auf ihr hatten schon etliche Kinder das Reiten gelernt.

Elrond hatte mehr Freude am Reiten. Eifrig versuchte er alles umzusetzen, was Rochir ihm erklärt hatte, auch wenn er in der Eile einige Dinge durcheinander warf. Geduldig korrigierte Rochir ihn, während er gleichzeitig sanft Elros seine Furcht nahm. Die Ponys gingen ruhig und geführt vom Stallmeister im Kreis.

So ritten sie einige Runden, bis die beiden Kinder etwas sicherer im Sattel wurden. Elronds Eifer schien schließlich auch Elros anzuspornen und er saß nicht mehr ganz so verkrampft im Sattel.

»Wie fühlt ihr euch?«, erkundigte sich Rochir.

»Das macht Spaß!«, rief Elrond sogleich aus.

»Ja!«, schob Elros sogleich nach, aber Maglor brauchte keine besondere Gabe wie Elrond, um zu sehen, dass das nicht wirklich stimmte.

Warum mochte Elros Pferde nicht? War irgendetwas vorgefallen? Oder waren sie ihm einfach nicht geheuer? Hoffentlich konnte Rochir ihm die Angst vor Pferden nehmen; reiten war eine notwendige Fähigkeit dieser Tage.

Rochir lächelte. »Noch ein paar Runden. Wollen wir es dann etwas schneller angehen lassen im Trab?«

Elrond nickte, Maglor behielt jedoch Elros im Blick. Anscheinend war er bestrebt, nicht hinter seinem Bruder zurückzufallen. Maglor wollte nicht, dass er Dinge tat, die ihm zu großes Unbehagen bereiteten.

Rochir schien dieselben Gedanken zu hegen, denn er ließ die beiden Ponys noch eine ganze Weile im Schritt gehen, bis die Anspannung sichtlich von Elros abgefallen war. Erst dann hieß er Elanor und Mallos, im Trab zu laufen.

Obgleich er auch dieses Mal alles ankündigte, was er tat, fuhr Elros so heftig vor der plötzlichen neuen Bewegung Mallos‘ zurück, dass er ruckartig an den Zügeln zog. Mallos schnaubte und warf den Kopf zurück. Dieses Mal reagierte sie nicht mehr so gutmütig und bockte. Bevor irgendwer reagieren konnte, verlor Elros den Halt und stürzte aus dem Sattel. Sein Fuß verfing sich im Steigbügel. Er schrie auf.

»Elros!«, schrie Maglor auf. Innerhalb nur eines Augenblicks war er über den Zaun gesprungen und zu dem am Boden liegenden und weinenden Jungen gerannt. Rochir war sofort bei ihm, beruhigte die Ponys und half gleichzeitig Elrond aus dem Sattel, welcher sogleich zu seinem Bruder stürzte. Maglor zog vorsichtig Elros‘ Fuß aus dem Steigbügel, woraufhin der Junge nur noch lauter aufschrie.

»Sch, sch, alles wird gut«, sagte Maglor sanft, während er Elros die Tränen aus dem Gesicht wischte. »Du scheinst dir den Fuß verletzt zu haben.«

Elrond weinte ebenfalls, als er die Hand seines Bruders hielt. »Oh nein! Oh nein! Oh nein!«, stammelte er immer und immer wieder.

Maglor strich auch ihm beruhigend über das Haar. »Alles wird gut. Das ist nichts schlimmes, jeder verletzt sich einmal«, sagte er, dann wandte er sich an Rochir. »Hol Morroth, schnell.«

Rochir verbeugte sich knapp. »Natürlich.« Dann eilte er davon.

Maglor beruhigte weiterhin die beiden Kinder und untersuchte derweil Elros nach weiteren Verletzungen. Bis auf ein paar leichte Schürfwunden schien er sich jedoch nichts weiter getan zu haben. Es blieb bei dem verletzten Fuß.

Kurz darauf kam Rochir wieder, an seiner Seite Morroth und zu Maglors Erstaunen auch Maedhros. Er musste mitbekommen haben, was vorgefallen war. Maglor meinte, einen Hauch von Sorge in seinen Zügen zu sehen.

Morroth hingegen zeigte keine Spur von Mitgefühl. Als die Kinder ihn sahen, wurden sie sofort still. Elros versuchte, sein Schluchzen zu unterdrücken.

Zumindest war Morroth professionell genug, um sich sogleich an die Arbeit zu machen. Rochir musste ihm gesagt haben, was vorgefallen war, denn er stellte keine weiteren Fragen. Er untersuchte Elros‘ verletzten Fuß mit fachkundigem Blick, während Maglor den Jungen noch immer in seinen Armen hielt und ihm über die Wange strich.

»Du bist sehr tapfer«, versicherte Maglor Elros.

Morroth tastete den Knöchel ab. Elros wimmerte und zuckte zusammen. Die plötzliche Bewegung musste ihm jedoch weitere Schmerzen bereitet haben, denn mit einem kläglichen Laut vergrub er das Gesicht in Maglors Hemd.

»Wahrscheinlich nur verstaucht«, stelle Morroth schließlich seine Diagnose.

»Für einen verstauchten Knöchel scheint er jedoch sehr starke Schmerzen zu haben«, gab Maglor zu bedenken.

»Ich bin hier derjenige mit der heilkundigen Ausbildung.«

Maglors Augen verschossen silberne Blitze. Maedhros, der mit verschränkten Armen hinter Morroth aufragte, räusperte sich streng. Das war anscheinend genug, um den Heiler wieder zu Vernunft kommen zu lassen. Rochir hielt sich im Hintergrund, sein Blick huschte nervös umher, während er die Ponys fortführte.

»Dennoch: Menschen sind schwach und weitaus anfälliger für Schmerzen als Elben«, fuhr Morroth fort. »Da kann auch ein verstauchter Knöchel dramatischer wirken, als es eigentlich der Fall ist.«

Nur, dass die Kinder keine Menschen waren …

»Er hat dennoch Schmerzen«, betonte Maglor, während er gleichzeitig Elros schützend an sich drückte.

»Ich sage nur, dass Ihr Euch keine großen Sorgen machen müsst«, stelle Morroth klar. »Ich werde den Knöchel bandagieren und dem Jungen etwas Weidenrindentee geben. Mit Honig dieses Mal, wenn Ihr das wünscht, Herr. Morgen ist wieder alles in Ordnung.«

Morroth verband Elros‘ Knöchel fest mit einer Bandage. Dieses Mal hielt der Junge tapfer still, obwohl er dennoch wimmerte. Maglor war nicht davon überzeugt, dass dies wirklich nur ein verstauchter Knöchel sein sollte. Morroth hatte in der Tat einige Erfahrungen im Heilen von Verletzungen bei Menschen, dennoch waren Maglors Sorgen nicht beruhigt.

Als Morroth damit fertig war, ging er, um den Tee vorzubereiten sowie ein sauberes, feuchtes Tuch, mit dem er die Kratzer auswaschen konnte. Maedhros blieb und sah ihm finster nach. Als er sich jedoch wieder zu seinem Bruder umwandte, wurde seine Mine sanft – ungewöhnlich für ihn in der letzten Zeit.

Elrond schluckte. »Tut … tut uns leid, dass wir schon wieder Ärger machen«, stammelte er mit gesenktem Blick.

Maedhros erstaunte seinen Bruder, als er sich zu ihnen auf den Boden kniete und – lächelte! Die Kinder wussten anscheinend nicht so wirklich, was sie davon halten sollten. Sie waren still und beobachteten Maedhros aufmerksam.

»Lasst mich euch eine Geschichte erzählen«, begann Maedhros. »Es war einmal ein kleiner Elbenjunge, der jüngere von zwei Brüdern, der liebte es zu singen und über die Wiesen seiner Heimat zu tollen. Dort fand er Pferde und wurde ihr bester Freund. Aber er war noch klein, kaum größer als ihr jetzt, und die Pferde waren riesig. Sie rannten und er wollte mit ihnen rennen, aber weil sie so groß waren, konnte er nicht mit ihnen mithalten. Also bat er eines, ob er auf seinen Rücken steigen durfte. Er war jedoch so klein, dass er gleich wieder herabfiel.«

Elrond und Elros hatten ihm aufmerksam gelauscht. Die Aufregung ob des Sturzes schien vergessen. Maglor schmunzelte in sich hinein. Er wusste, wie die Geschichte ausging.

»Und?«, fragte Elros, als Maedhros nicht fortfuhr. »Wie ging es weiter?«

»Er stieß sich den Kopf, brach sich das Bein und setzte sich nie wieder auf Pferde, die zu groß für ihn waren«, beendete Maedhros trocken.

Die Zwillinge sahen ihn irritiert an. Dann sahen sie zu Maglor.

»Ich hatte mich wirklich sehr ungeschickt angestellt auf meinem ersten Ritt«, gab er zu.

»Du warst das Kind?«, fragte Elrond vorsichtig.

Maglor nickte lächelnd. »Ich hatte nicht auf meinen Vater gehört und wollte unbedingt auf den großen Pferden reiten.«

»Unfälle passieren«, setzte Maedhros hinzu, »egal ob ihr brav seid oder ungehorsam, wie mein kleiner Bruder damals. Daran ist nichts Schlimmes.«

Seine Worte erfüllten Maglor mit einer unendlichen Freude und Wärme umfing sein Herz. Maedhros schien sich endlich wieder der Zeit zu erinnern, als ihre eigenen Brüder noch Kinder waren.

In der Zwischenzeit war Morroth wiedergekehrt und brachte den Tee und das Tuch. Er machte sich daran, Elros‘ Schürfwunden zu reinigen, dann gab er ihm den Tee. Elros zögerte, offenbar erinnerte er sich noch gut des letzten Mal, als er dieses Gebräu hatte trinken müssen. Doch dann nahm er das süßliche Aroma des Honigs wahr und wagte doch einen zögerlichen Schluck.

»Morgen ist wieder alles gut«, sagte Morroth. »Ihr müsst dennoch vorsichtiger sein. Menschen sind so unfassbar schwach …«

»Hüte deine Zunge«, sagte Maglor scharf.

Morroth sagte nichts. Er sah ihn nur schweigend an, dann verbeugte er sich und ging.

Maglor seufzte. Er konnte nicht länger dulden, wie Morroth mit den Zwillingen sprach. Aber er war der einzige hier, der etwas von den Krankheiten der Sterblichen verstand. Leider war er auch von der Überlegenheit der Eldar überzeugt, und vermutlich spielte in seine Ablehnung auch mit hinein, dass Earendil der erklärte Feind der Feanorer war und viele derer, die auch jetzt noch treu zu ihnen standen, diese Ansicht verinnerlicht hatten. Maglor sollte sich schleunigst überlegen, was er unternehmen konnte.

Für‘s erste sollte er sich jedoch um die Zwillinge kümmern. Er hob Elros vorsichtig hoch und trug ihn nach drinnen, damit er seinen verletzten Fuß nicht belasten musste. Elrond folgte ihm und blieb nahe bei ihm, um seinen Bruder ja nicht aus den Augen zu verlieren. Es war rührend zu sehen, wie die beiden nie von der Seite des anderen wichen. Sie hatten ja sonst niemanden mehr …

Maglor scheuchte die Gedanken fort.

Die Reitstunden waren zunächst ausgesetzt, und vermutlich würde es schwer werden, Elros nach diesem Unfall dazu zu bewegen, sich wieder in den Sattel zu setzen. Doch das war eine Sorge für einen anderen Tag. Für heute wollte er die beiden Jungen mit ein paar Nettigkeiten verwöhnen. Sie hatten es sich verdient. Und morgen würde die Welt schon wieder anders aussehen.

Diese Annahme sollte sich als Trugschluss herausstellen. Entgegen Morroths Diagnose waren Elros‘ Schmerzen am nächsten Tag nicht besser, sondern sogar noch schlimmer geworden. Sein Knöchel war rot geschwollen und fühlte sich warm an. Elros zuckte bei jeder noch so kleinen Berührung zusammen.

Maglor fiel es schwer, seinen Ärger zurückzuhalten, als er das sah, obwohl er fürchtete, dass die Kinder dies wieder persönlich nehmen würden. Auch Maedhros zeigte ein gewisses Maß an Missfallen, als sie beide neben den Kindern standen und zusahen, wie Morroth sich erneut die Verletzung ansah. Elrond hielt die Hand seines Bruders und hatte sichtlich mit den Tränen zu kämpfen. Auch Elros weinte und hielt den Kopf gesenkt.

Was nur, was hatte diese zarten Seelen so sehr gebrochen?

»Nun … «, sagte Morroth schließlich zögernd. »Es … ist wohl doch ein Bruch.«

»Bitte, was?«, fuhr Maglor ihn an. »Wie konnte dir das gestern entgangen sein?«

»Herr, ich …«

»Keine weiteren Ausflüchte!«, unterbrach ihn Maglor zornig. Morroth hielt tatsächlich den Mund. »Du bist entlassen, denn offensichtlich bist du nicht mehr in der Lage, deiner Arbeit mit der nötigen Sorgfalt nachzugehen. Deine persönlichen Ansichten überschatten deine Fähigkeiten als Heiler. Geh mir aus den Augen, ich will dich hier nie wieder sehen.«

Morroth sah sprachlos und mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf. Maglor starrte ihn nieder.

»Bruder, halte inne. Aus dir spricht der Zorn«, warf Maedhros ruhiger ein. Dann wandte er sich an Morroth: »Dies war in der Tat ein inakzeptabler Fehler, zudem missfällt mir dein Verhalten. Du bist nicht entlassen, aber versetzt und wirst ab sofort die Soldaten an der Grenze versorgen. Versorge Elros‘ Verletzung – angemessen dieses Mal – und dann packe deine Sachen. Die Versetzung gilt bis auf weiteres.«

»Ich …« Doch dann senkte Morroth doch gehorsam den Kopf. »Wie Ihr befiehlt, Herr.«

Maglor ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, als Morroth seine Arbeit verrichtete, und alle waren froh, als er fertig war und endlich ging. Die Kinder weinten nicht mehr, waren jedoch in ihre Stille verfallen. Wie als würden sie versuchen, keinen Laut von sich zu geben, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen …

»Denkst du wirklich, dass das eine gute Idee war?«, fragte Maedhros schließlich, als Morroth gegangen war.

»Du hast mir im Grunde doch zugestimmt, als du ihn fortgeschickt hast«, hielt Maglor dagegen. Sein Zorn war noch lange nicht verraucht.

»Dennoch ist er der einzige hier, der etwas von den Krankheiten der Sterblichen versteht«, erinnerte Maedhros ihn. »Und die Zwillinge haben jetzt schon mehrmals bewiesen, dass sie so jemanden brauchen.«

»Tut uns leid«, wisperte Elros. »Wir bessern uns, versprochen. Wir machen keinen Ärger mehr.«

Das ließ Maglors Zorn mit einem Male vergehen. Sanft strich er Elros über das Haar. »Das ist nicht eure Schuld«, sagte er eindringlich. »Habe ich euch jemals für so etwas gescholten? Erinnert euch der Geschichte, die mein Bruder euch gestern erzählt hat. Unfälle passieren nun einmal, so ist das eben. Das ist nichts deretwegen ihr euch schämen müsst.«

Er sah jedem der Zwillinge tief in die Augen. Sie nickten zögerlich. Seine Worte erreichten ihre Gedanken, aber nicht ihre Herzen. Dann würde er sie eben so lang wiederholen, bis sie es taten.

Mit einem Seufzen richtete er sich wieder auf und wandte sich an Maedhros. »Du hast ja recht. Aber … Ach. Es wird sich schon eine Lösung finden, irgendwie.«

Die Lösung sollte sich alsbald auf eine denkbar ungewöhnliche Weise zeigen.

Vielen Dank an Eremon, die mir bei einigen Details zum Reiten geholfen hat :)

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Kapitel: 10
Sätze: 2.776
Wörter: 38.273
Zeichen: 222.823

Kurzbeschreibung

Manchmal spülen die Wogen des Krieges sonderbare Dinge an die Ufer. Vielleicht ahnt Maglor, was es für ihn bedeutet, als er Elwings Zwillingssöhne Elrond und Elros im Wald ausgesetzt findet. Er nimmt sie nicht als seine Kriegsgefangenen mit nach Ossiriand, sondern nimmt für sie vielmehr die Rolle eines Ziehvaters ein. Nach und nach lernen die kleinen Halbelben, dass er ihnen nichts Böses will, und ganz allmählich fangen sie an ihn an ihres Vaters statt zu lieben.

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