Er wusste nicht, wann er begonnen hatte sie wahrzunehmen. Er begriff erst, dass er sie überhaupt wahrgenommen hatte, als sie nicht mehr da war.
Es war einer der wärmeren Sommertage im Kou Reich.
Nachmittags hatte er immer Trainingsstunden, auch wenn er bereits Teil der Armee war. Wobei dies noch nicht einmal eine Rechtfertigung war. Insbesondere da er ein Teil der Armee war, musste er jeden Tag trainieren, um in Form zu bleiben und ein gutes Vorbild für seine Mitstreiter zu sein. Während seiner Zeit in der Armee war er schon das ein oder andere mal auf dem Schlachtfeld gestanden und hatte sich dort auch bewährt, doch diese Kämpfe reichten bei weitem nicht aus, um ihn fit zu halten und auf kommende Schlachten vorzubereiten. Des Weiteren konnte er auf diese Art und Weise auch neue Techniken lernen und alte verfeinern. Zusätzliche Trainingsstunden waren unverzichtbar und dienten nur seinem und dem Landeswohl. Es störte ihn eigentlich auch nicht wirklich. Er mochte seine privaten Übungseinheiten. Seinen Lehrer kannte ihn und seine Schwächen und wusste genau, wie er seinen Schüler am besten fördern konnte. Ihre Beziehung zu einander war schon lange von einem einfach Lehrer-Schüler- beziehungsweise Diener-Prinz-Verhältnis zu einem freundschaftlichen geworden. Ihm war das sehr wichtig, denn als Prinz war man nun mal auch des Öfteren alleine, obwohl man zumeist von vielen Menschen umgeben war.
Natürlich waren ihm die zusätzlichen Trainingsstunden an manchen Tagen lästig, doch so ging es sicherlich jedem Menschen einmal. Beschweren konnte er sich auch schlecht, denn man würde ihn sofort daran erinnern, dass er der Prinz und wie wichtig das Training doch war. Half ihm nur nicht viel, wenn er bis zum Hals in Arbeit steckte und eigentlich jede Sekunde des Tages brauchte, um sie zu erledigen - ordentlich zu erledigen.
Auf seinem Weg zum Trainingsbereich - eine große sandige Fläche, die wiederherum von abgetrennten kleineren Bereichen, welche das selbe Habitat vorwiesen, umgeben war - musste er an einen der zahlreichen kleinen Gärten vorbei. Der Palast erinnerte einen eher an ein kleines Dorf. Die Wege um von einem Gebäudeteil zum nächsten zu gelangen, waren zwar überdacht, hatten aber keine Wände. Durch diese offene Bauweise war es in den Gängen im Winter unfassbar kalt. Seiner Meinung nach war es aber auch für Angreifer einfach Leute zu erspähen, sie zu verfolgen beziehungsweise leichter von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen, da sie nicht den Gang komplett entlang laufen mussten, um in den nächsten einzubiegen, sondern konnten durch einen der Gärten laufen. Auf der anderen Seite, bedeutete dies aber auch, dass jemand der vor einem Angreifer floh, dasselbe tun konnte. Wie so vieles hatte auch diese Bauweise ihre Vor- und Nachteile. Im Moment konzentrierte er sich lieber auf die Vorteile und eben einer von diesen war die Sicht auf die kleinen Gärten.
An einen dieser kleinen Gärten kam er, auf den Weg zum Trainingsplatz, vorbei. Jener war voll mit farbenprächtigen Blumen und in seiner Mitte befand sich ein kleiner Teich, welcher aber wirklich so klein war, dass man ihn leicht übersehen konnte. Für was er eigentlich da war, wusste der Prinz nicht genau, wahrscheinlich hatte man sich nicht einmal etwas dabei gedacht, als man ihn angelegt hatte.
Normalerweise kümmerte sich nachmittags ein junges Mädchen um die Pflanzen – von ihrem Erscheinungsbild her, hätte er sie nicht als Dienerin eingeschätzt, auf der anderen Seite gab es kaum Adelige, die sich um sowas wie Gartenarbeit kümmerten, denn dafür waren sich die meisten zu fein –, doch an diesem Nachmittag war sie nicht da.
Als er einen seiner Diener nach dem Mädchen fragte, erfuhr er, dass das Mädchen die jüngste Tochter eines Generals war und dass sie von ihren Eltern zu ihren Großeltern geschickt worden war. Der Grund hierfür war aber unbekannt. Dafür gab es aber Gerüchte und wenn er den Worten eines älteren Dieners Glauben schenken mochte, dann war in jedem Gerücht doch ein Fünkchen Wahrheit verborgen – auch wenn es nur ein ganz, ganz kleines Fünkchen war.
Das Mädchen hieß Gyokuen und war nach Ansicht ihres Vaters eine Schande für die Familie – warum erfuhr er nicht, er wollte aber auch nicht weiter nachfragen, immerhin ging ihn das auch nicht wirklich etwas an.
Gyokuen. Ein schöner Name. Er mochte ihn.
Während seines Trainings dachte er an Gyokuen. Die Frage, warum man sie weggeschickt hatte, trieb ihn um. Wenn er ehrlich war, so mochte er es gar nicht, wenn sie Dinge änderten. Gyokuens Anwesenheit im Garten gehörte da ebenso dazu. Und auch wenn er sie nur vom Sehen her kannte, so erschien sie ihm als eine sehr freundliche und sanfte Person. Wie konnte so jemand eine Schande für die Familie sein? Wie konnte man so jemanden wegschicken?
Und warum kümmerte ihn das eigentlich so sehr? Klar, er mochte keine Änderungen, aber mit diesen hatte er gelernt zu leben, was nicht bedeutete, dass er sie akzeptierte oder gut fand. Er tolerierte sie und wusste, dass es ohne nun mal nicht ging. Außerdem war es an und für sich nichts Ungewöhnliches, das die Bewohner des Palasts sich änderten. Manche verließen den Hof und andere kamen neu hinzu. So war es doch überall im Leben. Die Welt stand nicht still. Und es gab so viele Gründe, warum jemand der an einem Tag noch da war, es am nächsten Tag nicht mehr war.
Es war auch nicht ungewöhnlich, dass Kinder aus der oberen Schicht das Land verließen, um in einem anderen Land zu lernen oder in ein anderes Land – eine andere Adelsfamilie – eingeheiratet wurden. Es gab genug Gründe, warum sich etwas änderte.
Und ihn hatte es nie gekümmert, warum sich die Dinge geändert hatten – warum ein Adeliger das Land verließ. Bis jetzt hatte es ihn auch nie betroffen, wobei es ihn jetzt eigentlich auch nicht betraf – außer dass er nun auf den Anblick von Gyokuen, die sich um die Blumen kümmerte, verzichten musste.
Störte es ihn jetzt vielleicht so sehr, weil er sie kannte?
Nein, er kannte sie ja nicht einmal wirklich. Er wusste, wie sie aussah, aber bis vor kurzem hatte er nicht einmal ihren Namen oder ihre Herkunft gekannt.
Störte er sich an dem Gedanken, dass der kleine Garten womöglich zugrunde gehen würde ohne sie?
Nein, das war es sicherlich auch nicht. Im Palast gab es genug Angestellte, die sich um den Garten kümmern konnten.
Vielleicht lag es daran, dass es durchaus ungewöhnlich war, eine Tochter wegzuschicken, nur damit diese Bildung erhielt – das war ein Gerücht, dass sich von allen noch am nachvollziehbarsten anhörte. Für einen Jungen war es nicht ungewöhnlich, aber Mädchen wurden in diesem Reich meistens nur in Dingen wie Hand- und Hausarbeit gebildet. Sie sollten ja wissen, was sie als gute Ehefrauen und Mütter können sollten, alles andere war unwichtig.
Ja, vielleicht war es deswegen. Außerdem wurde es durchaus als Schande angesehen, wenn ein Mädchen eben jede Dinge nicht konnte oder nicht willig war diese zu erlernen.
Aber da er nicht einmal den Grund wusste, weshalb man sie fortgeschickt hatte, konnte er kein richtiges Urteil bilden. Vermutungen waren alles was er hatte und wer wusste schon, ob das Mädchen nicht doch schon in wenigen Tagen wieder da sein würde. Vielleicht war sie einfach krank und konnte sich bei ihren Großeltern besser erholen. Hatte es alles schon gegeben.
Und so zogen die Tage ins Land, aber Gyokuen tauchte nicht wieder auf. Sie war wirklich fort. Während dieser Zeit versuchte er sich daran zu erinnern, wann sie das erste Mal in dem kleinen Garten aufgetaucht war. Wann hatte er sich dort zum ersten Mal gesehen? Sie war damals sehr jung gewesen, dass wusste er noch. Er hatte sie gerade so zwischen alle den Blumen ausfindig machen können. Damals war sie nur ein kleines Kind für ihn gewesen. Nichts was seiner Aufmerksamkeit wirklich wert gewesen wäre. Jetzt war sie zwar noch immer ein Kind, zumindest wenn man rein nach dem Alter ging, aber ihr Erscheinungsbild gab dies nicht wieder. Sie sah schon reichlich erwachsen aus, wobei „erwachsen“ vielleicht doch ein wenig übertrieben war. Er konnte es nicht wirklich in Worte fassen, doch für ihn war sie einfach kein Kind mehr. Jung ja, aber kein Kind mehr.
Ein Monat war vergangen, als er sich schlussendlich dazu entschloss, ihren Vater zur Rede zu stellen.
Er wusste, dass es ihn eigentlich nichts anging. Selbst hätte es ihn immerhin auch nicht gepasst, wenn ein Fremder beziehungsweise ein Außenstehender sich ungefragt in familiäre Angelegenheiten einmischen würde.
Das Gespräch war dementsprechend unangenehm. Natürlich wollte der General wissen, weshalb er nach seiner Tochter fragte und die restlichen Anwesenden, die von dem Gespräch etwas mitbekamen, tuschelten. Gerüchte ließen folglich auch nicht lange auf sich warten.
Gerüchte laut denen er und das Mädchen eine heimliche Beziehung hätten und vergleichbares.
Er ignorierte es. Es wäre im Endeffekt sowieso egal, ob er schwieg oder sich äußerte. Würde er anfangen die Gerüchte zu verneinen, würden nur neue, wildere Gerüchte entstehen oder die Leute würden sich womöglich auch noch in ihren Vermutungen bestätigt fühlen. Wenn er schwieg wurde dasselbe passieren.
Was er aber nicht ignorieren konnte und auch gar nicht wollte, war die Tatsache, dass wenige Tage nach seiner Unterhaltung mit Gyokuens Vater, jene vor ihm stand. Sie sah ein wenig anderes aus. Irgendjemand oder irgendetwas hatte ihr ihren Glanz genommen. Vielleicht bildete er sich dies aber auch nur ein.
Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet, als würde sie sich für irgendetwas schämen.
Er verstand nicht wieso und wenn er ehrlich war, so interessierte es ihn im ersten Moment auch gar nicht.
Sie war zurück, das war alles, was zählte.
Sobald sie sich hier wieder eingelebt hatte, würde sie sicherlich wieder so strahlen, wie vor ihrer Abreise – zumindest bildete er sich das so ein.
Jeden Nachmittag, wenn er auf den Weg zu seinen privaten Trainingsstunden war, kam er an einem kleinen Garten vorbei. Ein Mädchen namens Gyokuen kümmerte sich um die farbenfrohen Pflanzen und den kleinen Teich in der Mitte des Gartens.
Wenn er sein Training beendet hatte, würde sie am Rande des Übungsplatzes stehen und ihm ein Handtuch reichen und dann würden sie gemeinsam zu seinem Zimmer gehen und über ihren Tag sprechen – die Gerüchte um sie beide würden sie einfach ignorieren. Aber zuerst musste er erst sein Training erfolgreich beenden.
Er wusste nicht, wann er sich dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten. Er bemerkte, dass er sich entschlossen hatte, sie zu heiraten, erst, als sie bereits seine Frau war.
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