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Wie immer saß ihr die Zeit im Nacken. Sie hetzte die breite Treppe vor der Universität hinunter. Ihre braune Ledertasche war haltlos überladen und drohte ihr von der Schulter zu rutschen. Unter ihrem Arm klemmte ein Stapel Fachbücher und mit ungeduldigen, fast schon fahrigen Bewegungen, versuchte sie aus ihrer abgewetzten Tasche den Autoschlüssel zu fischen.
Wie an jedem Tag beglückwünschte sie sich zu dem Parkplatz direkt vor dem Eingangsportal der Universität. Sie genoss die Privilegien, die ihr als Professorin zukamen.
Sie schlängelte sich um einige auf der Treppe sitzende Studenten herum, lächelte ihnen zu und nickte grüßend in die Runde.
Sie war beliebt bei den Studenten. Ihre herzliche, fröhliche Art machte es ihr leicht die jungen Menschen für sich einzunehmen.
Ihre Jugend lag längst hinter ihr, die ersten grauen Strähnen zogen sich durch ihr kastanien-braunes Haar. Eingerahmt von einem filigranen Netz etlicher Lachfältchen schauten ihre sanften braunen Augen stolz auf ihre fleißig lernenden Studenten. Wenn sie während der einzelnen Vorlesungen an einem bestimmten Thema hängen blieben, sich in Debatten und Erläuterungen verloren, dann wusste sie genau, was vor vielen Jahren ihr Deutschlehrer ge-meint hatte, als er vom „Salz in der zu häufig tristen Schulsuppe“ sprach. Jahr um Jahr hatte sie immer wieder staunend die jungen Menschen begleitet. Sie unterstützt in ihren ersten zögerlichen Versuchen, das Erlernte anzuwenden. Zu beobachten wie ein Netz aus Wissen gesponnen wurde. Bis zu dem Tag, an dem sie bemerkte, dass es nicht mehr nur ein Weiter-geben von Wissen ihrerseits war, sondern, dass nun der Moment gekommen war, in dem ihre Schützlinge sie mitnahmen auf eine Reise, auf ganz neue Wege. Dann wusste sie, sie hatte wieder einmal Flügel gebastelt, für ihre Studenten, die sich jetzt auf leichten Schwingen in die Höhen und Tiefen des Lebens begeben könnten.
Der Wind wehte kräftig, auch wenn die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel schien. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem im Nacken verschlungenem Knoten gelöst.
Ihre Fingerspitzen hatten endlich die Autoschlüssel erreicht, die, wie sollte es auch anders sein, ganz unten in ihrer Tasche lagen. Ungeduldig schob sie ihre Hand tiefer in die Tasche, als sie im selben Moment heftig angerempelt wurde.
Leise fluchte er über die Parksituation in der Nähe des Hochschulcampus. Zwei Häuserblocks entfernt hatte er parken müssen. Diese Studenten hatten sämtliche Nischen rund um das Eingangsportal der Hochschule zugeparkt. Und da hieß es, dass Studenten überall mit dem Fahrrad hinfuhren. Er schnaubte missgelaunt, als er einer Gruppe junger Frauen ausweichen mußte, die laut schwatzend den ganzen Gehweg einnahmen.
Er konnte sich nicht erklären, warum er den Bitten des Fakultätsleiters nachgegeben hatte. Er konnte Studenten nicht ausstehen, er konnte die Hochschulpolitik nicht gutheißen und er war ein durch und durch praktisch veranlagter Mensch. Er hielt nichts davon irgendwelchen mittelmäßigen Gören reicher Eltern die Theorie der Verhörmethoden runterzuleiern. Entweder man war in der Lage einem hinterlistigen Meuchelmörder ein Geständnis aus der Nase zu ziehen oder eben nicht. Diese kleinen Wichtigtuer träumten alle davon einmal ein schnittiger Profiler zu werden, die meisten würden es nicht mal zum einfachen Streifenpolizisten bringen. Dessen war er sich sicher.
Er ging schnell, doch er war kein bisschen außeratem. Sein Körper war drahtig und gut trainiert. Er lief jeden morgen eine Stunde durch den großen Stadtpark. Sein dunkelbraunes fast schwarzes Haar war akkurat geschnitten, am Hinterkopf mit der Maschine kurzgehalten, am Oberkopf ein wenig länger. Sein Gesicht war sehr maskulin, seine blauen Augen wirkten hart und sein Blick kalt und unerbittlich. Tiefe Falten zwischen den Augen und um den Mund verliehen ihm ein leicht verbittertes Aussehen. Er war ein attraktiver Mann und seine verschlossene, geheimnisvolle Art wirkte auf Frauen jeder Altersstufe äußerst anziehend.
Böiger Wind schlug ihm entgegen, als er um die Ecke bog. Er hatte die breite Treppe erreicht, die zu den Gebäudekomplexen, in denen die Hörsäle untergebracht waren, führte.
Hinter ihm ertönte der lebenslustige Ruf eines jungen Mannes. Blitzschnell wandte er den Kopf in die Richtung aus der die Stimme des kam. Seine Augen verrieten für den Bruchteil einer Sekunde eine verzweifelte Sehnsucht. In seinem Kopf hallte eine schmerzlich vermisste Stimme wider. Seine Gesichtszüge verhärteten sich und es schien als quälte ihn dieser Ausdruck Guter Laune. Er bewegte den Kopf hin und her, wie um die folternden Erin-nerungen abzuschütteln. Erinnerungen an wunderschöne Zeiten, Zeiten in denen er lachend und vergnügt mit seinem Sohn hatte zusammen sein könnte. Zeiten, in denen er nicht Abend für Abend in ein leeres, stilles Haus gekommen war.
Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, als könnte er damit seine Gedanken weg-wischen. Der kurze Moment der Unachtsamkeit reichte aus und er stieß heftig mit einer an-deren Person zusammen.
Sie verlor das Gleichgewicht. Ihre Tasche rutschte von ihrer Schulter, der Verschluss sprang auf und Unmengen von Papieren wirbelten durch die Luft. Die schweren Bücher fielen mit dumpfen Geräuschen zu Boden.
Sie versuchte wieder Halt zu finden, doch im selben Moment schoss ein beißender Schmerz in ihr linkes Knie und ließ sie zu Boden gehen. Tränen schossen ihr in die fest zusammen gekniffenen Augen, sie japste nach Luft bevor sie sich zwang ruhig zu atmen. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen und den Kopf gesenkt. Mit beiden Händen umklammerte sie ihr schmerzendes Knie. Sie hörte Tumult um sich, aufgeregte Stimmen, die Ihren Namen riefen und wirres Gemurmel.
Die tiefe, raue Stimme ertönte dicht an ihrem Ohr: „Haben sie sich verletzt?“
Eine warme Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.
Sie schüttelte den Kopf und öffnete langsam die Augen. Der jähe Schmerz in ihrem Knie flaute langsam ab, ihr Puls schlug ein wenig ruhiger und ihre Atmung wurde wieder gleichmäßiger.
„Geben sie mir nur einen Moment, bitte.“ Ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern. Der Schreck saß tief und kleine schwarze Punkte ließen ihren Blick verschwimmen. Sie atmete noch einmal tief durch und wandte sich dann in die Richtung des Mannes. Sie be-trachtete sein Gesicht, das ihr viel näher war, als es der gute Ton vorgab.
„Ich war einen Moment abgelenkt und habe sie direkt umgerannt.“ Besorgt griff ihr Gegen-über nach ihrer Hand. „Es tut mir leid. Haben sie Schmerzen? Was ist mit ihrem Bein?“
Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen und schloss ihn dann wieder. Seine Augen, dachte sie und legte ihren Kopf ein wenig schief, so traurige Augen habe ich noch nie gesehen. Benommen senkte sie ihren Blick und betrachtete seine Hände, die sich schützend um ihre eigene gelegt hatten. Was für wunderschöne Hände. Sie sah ihm wieder in die Augen und lächelte. Zögernd verzog er seinen Mund ebenfalls zu einem Lächeln. Als dieses Lächeln seine Augen erreichte, wirkten seine Gesichtszüge weich und freundlich, beinahe sanft.
„Würden sie mir auf die Beine helfen?“, bat sie den unbekannten Mann, der sie mit seinem Blick fesselte. Er umfasste ihren Ellenbogen und stützte sie. Leicht schwankend ließ sie sich gegen ihn sinken. In ihrem Knie pochte es unangenehm. Eine ältere Verletzung die sie sich bei einem Tennisspiel zugezogen hatte und die ihr immer mal wieder Ärger machte.
Sie sah, dass eilfertig einige Studenten ihren Unterlagen nachgejagt waren und schon dabei waren, diese wieder in ihre Tasche zu legen.
„Was sagt ihr Knie? Können sie auftreten?“ Er hielt sie noch immer fest.
Sie lächelte ihn an und wunderte sich über die winzigen Schmetterlinge, die in ihrem Magen leicht zu flattern begannen. „Könnten sie mir bitte helfen zu meinem Wagen zu gelangen? Er steht gleich dort vorn.“ Sie nickte in die Richtung in der ihr Wagen stand.
„Meinen sie, dass sie fahren können?“ Er musterte sie mit strengem Blick.
„Automatik.“ Sie lachte leise. „Zum Fahren brauche ich nur mein rechtes Bein.“
Langsam humpelte sie, gestützt von dem ihr fremden und doch so beeindruckenden Mann, die Treppe hinunter, während einige der hilfsbereiten Studenten ihre Tasche unaufgefordert zum Auto trugen.
Bevor sie sich in ihrem Wagen setzen konnte hielt er sie mit festem Griff zurück. „Würden sie mit mir einen Kaffee trinken gehen?“ Er sah ihr eindringlich in die Augen. „Irgendwann?“
Sie runzelte die Stirn, es dauerte nur einen Wimpernschlag lang, doch er hatte die gut verborgene Trauer in ihren Augen erkannt.
„Irgendwann werden wir gemeinsam einen Kaffee trinken.“ Sie lächelte und er überlegte, ob er sich ihre Trauer nur eingebildet hatte.
„Irgendwann“, murmelte sie, während sie sich auf den Fahrersitz ihres Wagens setzte.
Sie öffnete die Haustür zu einer alten Stadtvilla. Leise klassische Musik durchflutete die hellen, großen Räume. Der schwere Geruch von Medikamenten, Krankheit und Desinfektionsmittel hüllte sie ein. Plötzlich brannten ihre Augen. Es schien als würde sie die Berührung des fremden Mannes auf ihrem Arm noch einmal spüren.
Energisch hob sie ihren Kopf, räusperte sich und schritt durch eine große zweiflügelige Tür in einen sonnendurchfluteten Raum. Ein Krankenbett stand unterhalb der großen Fenster. Das röchelnde Atmen des Mannes in diesem Bett erfüllte den Raum.
Sie erreichte den Mann, strich ihm sanft einige Strähnen dünner Haare aus der Stirn und küßte ihn sanft auf den Mund, ohne dass dieser Kuß erwidert wurde. „Hattest du einen schönen Tag, mein Liebling?“ Eine Antwort kam nicht von ihrem Mann, sondern von der Stimme einer Krankenschwester, die durch eine weitere Tür den Raum betreten hatte.
„Heute hatte er einen schlechten Tag.“ Die stämmige Frau zuckte mit den Achseln.
Die Professorin ergriff mit einem wissenden Nicken die Hand ihres Mannes und blickte gedankenversunken aus dem Fenster.
„Irgendwann!“, flüsterte sie sehnsüchtig.
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LenkaPenka87 • Am 19.08.2021 um 15:51 Uhr | |
Herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung in der Anthologie! | ||
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Mausi • Am 06.01.2019 um 13:22 Uhr | |||
ich finde deine Geschichte echt super. | ||||
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