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Die Spezialität des Hauses

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22.06.20 10:34
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Ärger lag in der Luft.

Ihre Narben juckten schmerzhaft wie bei einem Wetterumschwung. Missmutig massierte sie sich das brennende Handgelenk und starrte durch das runde Fenster nach außen. Prasselnder Regen, zu dieser späten Stunde durchsetzt von Eis. Bei den Göttern, sie hasste die Gegend in der dunklen Jahreshälfte. Dauerregen, Nachtfrost und Hagelschauer. Vor allem den Spätherbst verabscheute sie. Die Kaltfeuchtigkeit, die ihre Gelenke versteifte, ihre Narben in juckendes Feuer verwandelte und ihre Laune massakrierte. Sie verzog das Gesicht und trank einen Schluck Kaffee. Heiß, dickflüssig und bittersüß. Ein wenig Balsam für ihre Seele.

Aber, und das war das Problem, ihre Narben juckten nicht wegen des Mistwetters, denn das quälte Land und Leute bereits seit Wochen. Ihre Laune mochte mit jedem Regentag gesunken sein, ihr Körper indes hatte sich längst an die Kälte gewöhnt. Nein, es lag nicht am Wetter.

Ärger. So sicher wie Schnee im Winter.

Sie nahm einen weiteren Schluck, löste den Blick vom Fenster und richtete ihn auf die beiden Neuankömmlinge.

Die Frau trug ein Lederwams, das ihr bis zu den Knien reichte, und einen Mantel, in den sie sich zu verkriechen schien, obwohl sie am Feuer saß. Vor zwei Stunden war sie in die Stube geweht, hineingestoßen von einer Windböe. Eine nasse Kapuze über dem Kopf, war sie an den Tresen getreten, hatte einige Münzen darauf gelegt.

«Essen», hatte sie knapp gesagt.

«Was denn?»

«Was Ihr habt.»

Sie hatte die Fremde gemustert, aber nicht allzu viel gesehen. «Suppe. Mit Kohl und Brot. Einen Kaffee dazu?»

Verwirrung war in dem tuchverhangenen Gesicht aufgeflackert. «Kaffee?»

«Eine Spezialität des S.W.O.N

«S.W.O.N

«So heißt das Haus. Süd.West.Ost.Nord. Weil es mitten auf der Kreuzung steht. Zwei Straßen, die in alle vier Himmelsrichtungen führen.»

«Einfallsreich.»

«So hieß es schon, als ich herkam», hatte sie gereizt erklärt. «Was ist nun mit dem Kaffee? Er wärmt. Gibt neue Kraft. Beruhigt die Nerven.» Sie hatte auf die blubbernden Töpfe hinter sich gewiesen.

Die Fremde hatte sich die Kapuze aus der Stirn geschoben. Dunkle Augen und ein erschöpftes Gesicht waren zum Vorschein gekommen. Eine gerümpfte Nase. «Sieht aus wie Sumpfschlamm.»

«Schmeckt auch so!», hatte Barras gebrüllt und sich auf den Schenkel geklopft. «Rühr das Gebräu bloß nicht an, Kleine.»

Die beiden Frauen hatten sich einen Moment stumm gemustert, dann hatte die Fremde die Kapuze wieder tief in die Stirn geschoben. «Suppe. Und Bier.»

«Warm?»

«Heiß.»

«Beschwerliche Reise?»

Die Fremde hatte lediglich die Schultern gehoben.

Sie hatte genickt, während die Frau zu dem Tisch nahe des Feuers gegangen war, einen Umweg wählend, um den ausgestreckten Beinen Barras‘ zu entgehen. Minuten später hatte sie die Suppe verschlungen. Seither nippte sie an ihrem Bier und starrte blicklos in die Flammen, die behandschuhten Hände in ihre Manteltaschen gestopft, ab und an zusammenzuckend, wenn ein Kälteschauer sie durchfuhr.

Sie hätte ihren Arm darauf verwettet, dass Dolche in den Taschen steckten. Frauen, die allein unterwegs waren, trugen immer Stichwaffen bei sich.

Ärger, ja. Innerlich seufzte sie.

Der zweite Neuankömmling , ein schlanker, großgewachsener Mann, hatte die Taverne vor einer halben Stunde betreten und sich in eine Ecke nahe der Tür verdrückt. Sofort hatte ihr Skalp gekribbelt. Auch jetzt, da sie sich den Mann genauer betrachtete, prickelte es auf ihrer Kopfhaut und in ihrem Nacken. Niemand, der bei Verstand war, reiste im Spätherbst durch die bitterkalten Wälder des Grenzlandes, abgesehen von goldgierigen Händlern und gräflichen Patrouillen. Noch weniger setzte er sich durchgefrorenen und pudelnass neben den zugigen Eingang eines Wirtshauses. Es sei denn, er mied den Kontakt zu Mitmenschen um jeden Preis. Es sei denn, er hielt sich eine schnelle Fluchtmöglichkeit offen. Er sah nicht aus wie ein Händler und ganz sicher nicht wie ein Soldat. Er trug keine Uniform, keine Rüstung und keine Waffen - zumindest keine sichtbaren - sondern Lederkluft. Wie die Frau, nur weicher, geschmeidiger und vermutlich um einiges dünner. Und doch war sie es, die schlotterte, trotz des Feuers, trotz der dickeren Kleidung, trotz des heißen Biers und der Suppe.

Ein Kämpfer. Ein Ärgernis.

Dabei schien er kein Muskelprotz zu sein. Nicht wie Barras, der in Hemdsärmeln und Weste auf seinem Stuhl thronte, welcher knarrend protestierte, wann immer der Koloss sich regte. Trotzdem. Man sah es an seinen sparsamen Bewegungen. An dem ruhigen Verharren, der angespannten Lockerheit, den Blicken, die er durch die Gaststube sandte. Kundschafterblicke. Späheraugen. Er hatte mit Akzent gesprochen, erinnerte sie sich, einem Akzent, den sie nicht zuordnen konnte. Ein Fremder mit fremdartigem Aussehen. Auch sein Gesicht hatte unter einer Kapuze gesteckt, aber die hatte er zurückgestreift. Und so sah man bronzefarbene Haut und stechende, hellgrüne Augen. Ein bartloses, ebenmäßiges Gesicht mit kleinen Narben. Tiefschwarze Haare, wahrscheinlich im Nacken zusammengebunden.

Hübsches Kerlchen, hatte sie gedacht, und doch gespürt, dass ihr Magen übersäuerte wie nach zu vielen Bechern Kaffee. «Was darf es sein?», hatte sie sich nach einem stillen Aufstoßen erkundigt.

«Fleisch.»

«Sonst nichts?»

Er hatte den Kopf geschüttelt, sie freundlich, doch ohne Lächeln angesehen.

«Einen Kaffee dazu?»

Fragend hatten seine Augenbrauen sich gehoben. Sie hatte die Erklärung wiederholt, die sie der Frau gegeben hatte, hatte diesmal Keleb prusten gehört, als auch der Mann verneinte. Höflich, ohne dumme Sprüche.

Also hatte sie eine Platte mit Wildfleisch und einen Krug Wasser zu seinem Tisch getragen.

«Danke», hatte er gesagt und ihr Knie gemustert. Augenblicklich hatte sie gewusst, dass er ihr Hinken bemerkt hatte, auch wenn es so leicht war, dass es den anderen Gästen nicht auffiel.

«Gute Reise gehabt?», hatte sie gebrummt.

«Weshalb fragt Ihr?»

«Gab eine Menge Überfälle in letzter Zeit. Verstreut über den ganzen Süden.»

«Keine Zwischenfälle.» Damit hatte er sich über sein Essen gebeugt, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, ohne nachzuhaken.

Ärger. Abwesend rieb sie die vernarbte Haut an ihrem rechten Ellenbogen.

«Sena?»

Sie schreckte aus ihren Gedanken. Cemm und Tikat hielten fröhlich ihre Becher hoch. «Machst du uns noch einen? Schön stark. Wird wieder eine lausige Nacht.»

«Bringt die Becher her», forderte sie die Soldaten auf. «Wegen euch kriege ich noch Plattfüße.»

Mit einem Fingerspiel losten sie aus, wer den Weg zum Tresen auf sich nehmen musste. Es traf Cemm, den jüngeren der beiden Männer. Sena beobachtete, wie er sich um den lauten Händlertisch herum quetschte, anstatt den bequemeren Weg an den Tischen der Jäger und Waldarbeiter vorbei zu wählen.

Bei ihr angekommen, schmetterte er die Becher auf den Ausschank und grinste. «Ich geh mal pissen.»

«Interessant, Cemm», sah sie zu ihm auf. «Möchtest du uns noch mehr zu deinen körperlichen Befindlichkeiten mitteilen? In deiner Gossensprache?»

Er hatte den Anstand, rot zu werden. «Nein, jana

Barras, Keleb und Einauge, die das Gespräch belustigt mitverfolgt hatten, wieherten. Cemm warf ihnen einen Blick zu, der zwischen Empörung und Scham schwankte. Seine Hand wanderte an seinen Gürtel.

«Lass es stecken», zischte Sena. «Das ist es nicht wert.»

Cemms Adamsapfel rollte die Kehle hinauf und hinunter.

«Herrin», höhnte Barras, dieweil seine Zechkumpane vor sich hin glucksten. «Die göttliche Sena hier hat dich gut erzogen, Kleiner. Sag mir, wenn du sie anschaust, siehst du dann deine Mutter?»

«Halt deine große Klappe, Barras», fuhr Sena das Schweinsgesicht an, während Cemm Tikat anstarrte, der als Dienstältester sein Vorgesetzter war. Tikat winkte ihn müde zum Tisch zurück. Cemm gehorchte, nicht unglücklich über den stummen Befehl, wie es aussah.

Wieder wieherten die Kerle, die zu dritt um den größten Tisch der Taverne saßen, Bierkrüge und Branntweinbecher vor sich, ihre Schwerter an den Stühlen lehnend.

Indessen waren die Gespräche an den Tischen der Händler und der Waldarbeiter verstummt. Alle Augen wanderten zwischen Sena, Barras und den Soldaten hin und her.

«Geh pinkeln», sagte Tikat zu seinem Untergebenen, sobald dieser den Tisch erreicht hatte. Seine Stimme glich einem Seufzen.

«Ja, Kleiner, geh pinkeln», echote Einauge lispelnd. «Bevor deine Blawe von dem Kaffeegebräu plawt.»

«Mann!», fuhr Cemms Hand erneut an den Gürtel.

«Nicht hier drin!», rief Sena vom Tresen aus.

«Ich komm gern mit raus», erbot sich Barras und erhob sich wankend.

«Schieb deinen Hintern zurück auf den Stuhl!», befahl Sena in barschem Ton. «Und halte endlich dein Maul! Du belästigst meine Gäste.»

«Wir sind ebenfalls deine Gäste, meine Schöne.» Barras lachte immer noch, aber seine Augen hatten sich verengt.

«Nur, solange ich euch dulde. Und wen ich einmal rausschmeiße, der bleibt draußen. Ein Leben lang.» Sena starrte ihn an. Aus ihren Augen schossen Blitze.

«Ich glaube nicht, dass du dir das leisten kannst, Mädchen. Hast du dir deine Spelunke in letzter Zeit mal genauer angesehen? Das Dach leckt. Die Zimmer sind feucht, deine Matratzen klamm.»

Das entsprach der Wahrheit.

«Unser Gold sollte dir ein bisschen mehr Freundlichkeit wert sein.» Barras stand immer noch, massiv und viereckig wie ein Kleiderschrank.

«Wenn es dir nicht gefällt, hau doch ab», brummte sie trotzdem und begann, Cemms und Tikats Becher auszuwaschen, nachdem sie die Kaffeereste zurück in den rechten Topf gekippt hatte. «Such dir ein schöneres Wirtshaus. Einen netteren Wirt. Viel Glück auf deiner langen Reise.»

Quentin und Jonas, die beiden Waldarbeiter mit den schwieligen Händen, grinsten sich an, was Barras glücklicherweise nicht sah, da sie hinter ihm saßen.

«Du riskierst viel, Weib.» Schlagartig schien Barras nüchtern.

Sena schüttelte die Becher, bevor sie zu einem anderen Topf trat und mit einer Kelle darin herumrührte. «Drohst du mir, Barras?», fragte sie, ganz auf ihre Aufgabe konzentriert.

In der darauffolgenden Stille klang der Hagel wie ein brüllendes Ungeheuer.

«Was, wenn ja?»

«Dann verhafte ich Euch.» Tikats Stimme, leise, beinahe gelangweilt.

«Pff», spuckte Barras aus.

«Ihr wisst, dass ich dazu berechtigt bin. Dies Land gehört Graf Ladenais. Sena hier mag die Taverne betreiben, doch der Graf besitzt den Boden, auf dem sie steht. Ihr und Eure Freunde jagt in seinen Wäldern. Sein Wild.» Der Soldat sprach nicht zu den Männern, sondern gegen die Tischplatte, die Hände vor sich ausgebreitet.

Stiche zuckten durch Senas Schulter. Sie konzentrierte sich darauf, tief zu atmen.

«Das ist nicht verboten», konterte Keleb. «Man darf jagen für den Eigenbedarf.»

«Mhm», nickte Tikat zustimmend. Danach verstummte er, offenbar seine Gedanken sammelnd. «Seit einer Woche sehe ich Euch Abend für Abend hier sitzen», fuhr er dann fort. «Tagsüber verschwindet Ihr in den Wäldern. Ihr seid alle vier Straßen abgeritten, selbst die in Richtung der Grenze.»

«Ja, und?»

«Was gibt es im Nebelgebirge zu jagen? Ausgemergelte Wintervögel? Fledermäuse? Höhlenspinnen? Ich sehe kein Fleisch, nicht einmal Pelze. Entweder hat das Jagdglück Euch verlassen oder Ihr seid die unfähigsten Jäger, die ich kenne.»

«Habt Ihr uns beobachtet?», knurrte Barras. «Unsere Sachen durchwühlt?»

«Ihr seid Fremde, die sich zu lang hier aufhalten. Das weckt Misstrauen, vor allem bei den vielen Vorfällen im letzten Jahr. Erst dachten wir an Wilderei. Cemm durchsucht draußen noch einmal den Stall, aber ich denke, er wird nichts finden. Wie in den anderen Nächten. Ihr seid also weder Wilderer, noch Jäger oder Händler.»

Barras erwiderte nichts.

Tikat hob den Blick, sah Barras an. «Was seid Ihr demnach?»

«Das ist nicht Euer Bier.»

«Oh doch, das ist es. Ich dachte, das hätte ich klar gemacht.»

«Und was wollt Ihr tun? Euer Graf ist weit weg. Dieser Flecken Erde dürfte selbst ihm reichlich unbekannt sein.»

«Vielleicht, ja. Dennoch tut Ihr gut daran, bald von hier zu verschwinden.»

«Wollt Ihr uns dazu zwingen?» Barras lachte auf, breitete die fleischigen Arme aus, dass die Hemdsärmel knirschten.

«Oh, Ihr meint, weil Ihr zu dritt seid?» Wieder die gelangweilte Tonlage. «Schaut hinter Euch, Mann. Quentin und Jonas arbeiten in den Wäldern. Sie sind dem Grafen genauso ergeben wie Cemm und ich. Und glaubt mir: Sie wissen, wie man eine Axt schwingt. Haben ihr Lebtag nichts anderes getan.»

«Macht kein‘ Unterschied, ob man in ein‘ Stamm haut oder in ein‘ Mann», entblößte Quentin braune Zahnstummel.

«Pff», stieß Barras erneut aus.

«Setzt Euch einfach wieder», schlug Tikat im Plauderton vor. «Genießt Euren letzten Abend hier. Senas Bier ist fast so gut wie ihr Kaffee. Ihr solltet einen trinken. Er beruhigt Eure Nerven.»

«Sag ich doch», stimmte Sena zu und trug die dampfenden Becher an Tikats und Cemms Tisch, verfolgt von den Augen aller Anwesenden. Trotz ihrer knirschenden Fingergelenke schaffte sie es, keinen Tropfen zu verschütten.

«Hmm», schloss Tikat genießerisch die Augen, als er an dem Becher roch. «Ein himmlischer Duft. Danke, Sena.»

«Gern», erwiderte sie und sah sich in der Stube um. «Noch jemand?»

«Wir», winkten die Händler mit den Bechern. «Aber nur halbe. Wir sind müde.»

Den Göttern sei Dank.

«Kommt gleich.» Sie ging zu den vier Männern, die in steifen Jacken um ein rundes Tischlein hockten, so eng aneinandergedrängt, dass die Krempen ihrer flachen Hüte sich berührten.

Zurück hinter dem Tresen kippte sie die Kaffeereste in den Topf ganz rechts, wusch die Becher aus und befüllte sie anschließend mit rotbrauner Flüssigkeit aus einem anderen Topf.
Hinter sich hörte sie die Tür aufschlagen, als Cemm die Wirtsstube wieder betrat, begleitet von wütenden Windstößen und eisigen Regentropfen. Aus dem Augenwinkel sah sie die Frau am Feuer erschauern.

«Ihr solltet wirklich einen probieren», sagte Sena zu ihr, ohne den Kopf zu drehen. «Er wird Euch mehr wärmen als Euer schales Bier.»

«Hört auf Sena», empfahl Tikat. Die Händler nickten beifällig.

«Geht auf’s Haus», schlug Sena vor. «Weil es Euer erster ist.»

«Na schön», lenkte die Fremde ein.

«Dann nehmen wir auch einen, Jungs», verkündete Barras laut. «Als Zeichen unseres guten Willens.» Zur Bekräftigung hieb er auf den Tisch, dass die Trinkbecher tanzten.

«Quentin? Jonas?» Mit den vier Bechern der Händler in der Hand schaute Sena die beiden Waldarbeiter an.

«Schlückchen noch», entgegnete Jonas nach einem kurzen Blick auf seinen Freund.

«Schlückchen Kaffee oder Schlückchen Branntwein in den Kaffee?», vergewisserte sich Sena, was die Stimmung in der Stube deutlich hob, da die meisten Gäste in Lachen ausbrachen.

«Letzteres», antwortete Quentin.

«Sofort.»

Sena brachte die Getränke zu der Händlergruppe und kehrte danach zum Tresen zurück. Auf dem Weg sammelte sie die Becher der Waldarbeiter ein und den Bierhumpen der fremden Frau. Als sie am Kamin vorbei ging, schüttete sie die Kaffeereste hinein. Das Feuer loderte auf.

«Und unser Zeug nimmst du nicht mit? Willst uns wohl beleidigen, Weib?», polterte Barras.

«Für eure Gefäße brauche ich vier Arme», entgegnete Sena.

«Jetzt haben wir beschlossen, Euer Gesöff zu probieren, und Ihr lasst uns am längsten warten?», fiel Keleb in das Geschwätz seines Kumpans ein.

«Ihr seid eine verdammte Pest», murrte Sena, halb verärgert, halb erleichtert. Barras, Keleb und Einauge verhielten sich wie verzogene Gören, provozierend und auf das Recht des Stärkeren vertrauend, aber nun wieder ohne echte Bedrohlichkeit.

«Macht schon, jana.» Barras zog das Wort in die Länge, Cemm zublinzelnd.

«Verzeiht», wandte Sena sich an die anderen Gäste. «Die Kinder zuerst, damit sie Ruhe geben.»
Sie nestelte frische Becher aus dem Regal, drehte sich erneut zu ihren Töpfen um, rührte, schöpfte, füllte um. Das Klappern erfüllte den Gastraum, vermischte sich mit dem Trommeln des Regens.

Schließlich balancierte sie die dampfenden Kaffeebecher vor Barras und seine beiden Freunde. «Hier. Wohl bekomm’s.»

Barras nahm ihr den Becher mit einem Zungenschnalzen aus der Hand. Sein Finger streichelte über ihren Handrücken.

«Lass es», warnte sie mit deutlich dunklerer Stimme.

«Eine schöne Frau wie du ...», begann er, brach jedoch abrupt ab, als heißer Kaffee über seine Knöchel tröpfelte. Er hisste und riss die Hand zurück.

Sena betrachtete ihn mit einem giftigen Lächeln im Mundwinkel.

«Komplimente magst du wohl nicht», knurrte er, das Schimpfwort, das auf seinen Lippen gelegen hatte, nach der ersten Silbe hinunter schlucken.

«Nicht, wenn sie nicht ernst gemeint sind.»

«Ich meine alles ernst, was ich zu dir gesagt habe. Schön, schlagfertig, perfekte Rundungen, volle Ti...»

«Noch ein Wort und du verbrühst dir weit mehr als deine Pfoten», drohte sie mit einem Augenwink auf seinen Schritt.

«Das wagst du nicht.»

«Nein? Ich tue der Menschheit gern einen Gefallen.»

Grinsend stellte er den Becher ab, hob beide Arme, als würde er sich ergeben. «Botschaft verstanden. Du magst keine Männer.»

Sena verdrehte die Augen. «Bei Exemplaren wie dir kein Wunder.»

«Hatte ich recht?», riss er übertrieben erstaunt die Brauen hoch. «Machst du lieber der da schöne Augen?» Schwerfällig drehte er sich zu der fremden Frau um, die ihn stumm anstarrte. «Kann ich verstehen. Unter der Kapuze steckt ein Vollblutweib, jede Wette.»

«Du bist ein Arschloch, Barras.»

«Na gut. Wenn du sie nicht willst ...» Vielsagend wackelte er mit den Augenbrauen. Seine Gefährten grunzten amüsiert.

Sena knallte die restlichen Becher auf die Tischplatte. «Lass meine Gäste in Ruhe! Trink deinen Kaffee, geh schlafen und verpiss dich von hier.»

«So schmutzige Worte aus einem solch schönen Mund.» Barras‘ Grinsen verstärkte sich, als sie zum Tresen stapfte. Ihr Hinken war nun kaum mehr zu übersehen.

«Ich liebe wie», gestand Einauge und nahm vorsichtig einen Schluck von dem pechschwarzen Gebräu.

«Ich auch», stöhnte Keleb und griff sich ans Herz. «Alles an ihr. Diese Locken und dieser Hintern. Ein Teufelsweib.»

«Sie ist zu alt für dich», schnaufte Barras, lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Tisch. «Könnte deine Mutter sein.»

«Als hätte meine Mutter je so ausgesehen.» Keleb schlürfte am Becherrand. «Bitter. Doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Hat was.»

Sena blendete das Geplänkel aus. Sie war Ärgeres gewohnt. Die drei waren lästig, aber vergleichsweise harmlos. Am ersten Abend hatte Einauge versucht, ihre Brust zu berühren. Nachdrücklich hatte sie seine Hand genommen und die Finger nach hinten gebogen, bis er gequiekt hatte. Danach hatten sie sie in Ruhe gelassen, von zweifelhaften Komplimenten und anstößigen Vorschlägen abgesehen. Bis jetzt.

Irgendetwas braute sich zusammen. Sie fühlte es in ihren Knochen.

Während Barras überlaut in seinen Kaffee pustete, sie Bohnen mahlte und mit dem Pulver hantierte, wurden die Kaufleute immer leiser. Ihre Körper sanken gegeneinander. Cemm tippte einen der beiden älteren Händler an, deren Lider sekündlich schwerer wurden. «Zeit für’s Bett, Onkelchen.»

«Adel, Ustan, kommt!», rief ein jüngerer Kaufmann und streckte sich. «Ab in die Federn. Hilf mir, Tamer.» Sein Sitznachbar, dem Aussehen nach ein Verwandter, erhob sich seufzend. Adel und Ustan folgten mit schläfrigen Bewegungen.

«Kev begleicht unsere Rechnung morgen früh», versprach Tamer, als sie am Tresen vorbeigingen.

Sena nickte, wünschte ihnen eine gute Nacht und hielt ihnen die Tür zum oberen Stockwerk auf. «Zieht die Stiefel aus, wenn Ihr ins Bett steigt.»

Dann brachte sie der Frau am Feuer ihren Kaffee. Diese schlug zum ersten Mal an diesem Abend ihre Kapuze vollständig zurück, bevor sie den Becher in Empfang nahm.

«Ist Euch wärmer?», erkundigte sich Sena, erschreckt über das stoppelkurze dunkle Haar und die bleiche Gesichtsfarbe.

«Ja. Habt Dank.» Ihre Stimme klang tief für eine Frau.

«Ihr seid doch nicht krank?», wagte Sena einen weiteren Vorstoß. «Ihr seht ziemlich mitgenommen aus.»

«Es geht mir gut.»

«Appetit habt Ihr auch nicht viel, scheint es.» Sena hob den halb vollen Teller hoch. «Oder schmeckt es Euch nicht? Mein Essen ist schlicht, aber den meisten mundet es.»

«Es ist vorzüglich», versicherte die Fremde und probierte ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. «Ich war nur ... satt.»

«Nach einem Marsch durch dieses Wetter? Was wolltet Ihr eigentlich dort draußen?»

Das Gesicht der anderen Frau verschloss sich. Ihr Ausdruck wurde wachsam. «Das geht Euch kaum etwas an. Und ehe Ihr mir mit Eurem Grafen droht: Ich hatte Proviant bei mir. Alles, was ich aus den Wäldern nahm, waren ein paar Beeren und Zapfen.»

«Nichts für ungut. Werdet Ihr hier übernachten?»

«Wenn es Euch nichts ausmacht.»

«Keinesfalls. Zimmer sechs Dubes, Stube vier, Stall zwei. Ein halber Dube mehr, falls Ihr die Waschstube benutzen wollt.»

Die Frau maß die Anwesenden, bevor sie antwortete. «Stall.»

«Seid Ihr sicher? Es ist kalt darin, selbst im Stroh.»

«Es wird gehen. Ich werde Euren Kaffee trinken und mich dann zurückziehen.»

«Wie Ihr mögt.» Sie nickte Quentin und Jonas zu, die geduldig auf ihren Schemeln kauerten, die kräftigen Arme auf die Tischplatte gelegt.

Als sie hinter die Theke trat, verspürte sie einen Stich in ihrer rechten Hüfte und zuckte in dem Moment zusammen, in dem Barras ein lautes «Bäh», ausspuckte. Über die Schulter blickend, sah sie, wie er den Kaffeebecher mit angewiderter Miene von sich schob. Einauge und Keleb taten es ihm nach kurzem Zögern nach.

«Was hast du damit gemacht, Weib?», rief er ihr zu. «Schmeckt, als hättest du hinein gespuckt.»

«Erwischt», gab Sena mit einem boshaften Lächeln zurück. «Verdammt.»

Barras‘ Grinsen zog sein violettes Gesicht auseinander wie einen Brotteig. Vergnügt langte er in seine Hemdtasche und zog ein Tuch hervor, das er in den Kaffee tunkte. Anschließend packte er sein Breitschwert und zog es aus der Scheide, was alle Anwesenden aufmerken ließ. Langsam begann er, die Klinge zu polieren. «Wenn das Gesöff schon nicht zum Trinken taugt, dann vielleicht, um die Scheiße von meinem Schwert zu putzen.»

«Mir ist nicht ganz klar, warum du mit deinem Säbel da in Exkrementen herumstocherst, aber tu, was dir beliebt», gab Sena seufzend zurück. «Solange du Ruhe gibst.»

Sie befüllte Quentins und Jonas‘ Becher, gab einen Schuss Branntwein hinein und machte sich auf den Weg zu den Waldarbeitern. Diesmal ging sie dicht an Barras vorbei, die Beine mit ihrer Hüfte vom Tisch stoßend. Seine Stiefel knallten auf den Boden, das Schwert rutschte ihm aus der Hand.

«He», sprang er auf, schneller, als man seiner beleibten Figur zugetraut hätte.

«Verzeihung», hauchte Sena ihm zu, bevor sie die Becher auf dem Tisch der Arbeiter abstellte.

«Miststück», fauchte Barras.

Senas Knie verkrampfte.

Übertreib es nicht, Mädchen.

Sie zuckte zurück, als Barras‘ Finger sich nach ihrem Kragen ausstreckten.

«Vorsicht», brüllten mehrere Stimmen. Ein Warnruf und gleichzeitig eine Drohung. Tikat, Cemm und Jonas waren aufgesprungen, starrten den Grobian finster an. Die Frau am Feuer war auf ihrem Sitz zurückgewichen. Selbst der Fremde am Eingang regte sich leise.

«Warum setzen wir uns nicht alle wieder friedlich hin?», schlug Tikat nach einer atemlosen Pause vor. «Trinken in aller Ruhe unseren Kaffee und gehen danach schlafen?»

«Warum dreht Ihr nicht Eure Mitternachtsrunde?», ahmte Barras den Soldaten nach.

Tikat blieb ruhig. «Nicht, solange ich nicht alle selig schlafend in ihren Betten weiß.»

«Wie edel von Euch.» Barras deutete eine Verbeugung an und ließ sich auf den Stuhl fallen, dessen Knarzen an ein Aufstöhnen erinnerte. «Sena, Herzchen, bring uns noch ein Bier, ja?»

«Geh schlafen, Barras. Du hattest genug.»

«Wo ist denn da der Spaß?» Ein wölfischer Ausdruck erschien auf Barras' feistem Gesicht, als er sich mit übertriebener Vertrautheit zu der Fremden neigte. «He, Süße, was hältst du davon, wenn wir diesen widerlichen Kaffeegeschmack mit einem Bierchen hinunterspülen? Teilen wir uns eins? Und später ein Bett? Ist viel kuscheliger als in Senas stinkendem Stall. Ich bin schön warm und weich.» Anzüglich wackelte er mit den Augenbrauen. «Außer an bestimmten Stellen.»

Keleb und Einauge kicherten.

Die Fremde, die immer noch zu frieren schien, blickte von ihrem Becher hoch. Sena entdeckte Abscheu in ihren Zügen, aber auch ... Verärgerung.

Verdammt!

Gerade wollte sie einschreiten, als die Frau den Mund öffnete und leise, aber überdeutlich sagte: «Lieber stürze ich mich kopfüber in die tiefste Kloake. Legt Euch im Schweinekoben nieder, wenn Ihr Gesellschaft sucht. So seid Ihr unter Euresgleichen.»

Einen Augenblick lang verharrten alle in der Bewegung. Der Regen trommelte auf das Dach, die Kaffeetöpfe schäumten und im Kamin knackte das Holz.

Dann katapultierte sich Barras in die Höhe, baute sich vor der Frau auf und hob drohend einen Zeigefinger. «Du hast dir soeben einigen Ärger eingehandelt, Schätzchen.»

«Sie ist nicht dein Schätzchen», fauchte Sena. «Genauso wenig wie ich. Begreife endlich, dass keine Frau dieser Welt auf einen Idioten wie dich gewartet hat. Und jetzt scher dich zum Teufel! Raus! Na los! Packt eure Siebensachen und verschwindet!»

Bewegung kam in Barras‘ Gesicht, als verschiedene Emotionen wellenartig darüber liefen. Zorn färbte es purpurn, Wut ließ eine Ader auf der Stirn und eine weitere am Hals anschwellen. Er spuckte Schimpfwörter aus, eine Kanonade abscheulicher Kränkungen, rüttelte die Fäuste, stieß die Arme in die Luft, zeterte, brüllte. Die anderen standen um ihn, stumm und erstaunlich gelassen. Tikat und Cemm mit gefurchten Stirnen, Quentin und Jonas mit roten Ohren, Einauge und Keleb mit offenen Mündern. Doch niemand griff ein. Niemand griff an. Barras‘ Beleidigungen, widerwärtig und demütigend, zogen vorüber wie Rauch. Selbst die beiden Frauen, auf die die verbalen Schläge zielten, blickten unbewegt. Die Fremde hatte sich ebenfalls erhoben, verhielt sich jedoch still. Einzig ihre dunklen Augen folgten Barras‘ Bewegungen. Nur der Fremde am Eingang saß noch, wenngleich seine Finger unter den Tisch geglitten waren und Anspannung den Körper versteifte.

Schließlich machten Einauge und Keleb Anstalten, Barras‘ Arme zu ergreifen, aber Quentin hielt mit einem Mal eine Axt in der Hand, hieb Barras mit dem Stiel auf den Kopf. Ein Überraschungsangriff, schnell, lautlos und unblutig. Nach Luft schnappend wichen alle zurück. Barras sackte auf seinen Stuhl, der splitternd auseinander barst, und stürzte schwer auf den Boden.

Nach einigen Sekunden des erschreckten Starrens beugte sich Sena zu ihm hinunter. Eine Beule formte sich bereits auf dem fast haarlosen Hinterkopf.

«Ist er tot?», fragte Cemm.

«Ach», winkte Quentin ab. «Der hält was aus. Ihm wird der Schädel brummen, mehr nicht.»

«Du hättewt ihn umbringen können», sagte Einauge, den Waldarbeiter fassungslos anstierend.

«Dann hätte ich das andere Ende benutzt, Halbhirn.»

«Daw war verwuchter Mord.»

Quentin trat einen Schritt auf den schmächtigen Mann zu, Jonas gesellte sich stumm neben ihn. Einauge stolperte rückwärts, hektisch an der Augenbinde zupfend.

«Das reicht», fuhr Sena energisch dazwischen, sich über die strichdünne Narbe an ihrem Hals streichend. «Schafft euren Freund ins Bett. Schlaft euern Rausch aus. Die Vorstellung ist zu Ende. Morgen früh bezahlt ihr eure Rechnung und verschwindet.»

Über Kelebs hageres Gesicht strich ein Schatten. Sena legte den Kopf auf die Seite. «Versucht ja nicht, mich zu bescheißen. Tikat und Cemm kommen auf einen Morgenkaffee vorbei.»

«Brauchst du Unterstützung beim Münzenzählen?», höhnte Keleb, wich jedoch zurück, als Quentin sich ihm zuwandte. In seinen Triefaugen glomm Furcht auf.

Sena lächelte giftig. «Ins Bett. Jetzt.»

Keleb kaute an einer weiteren Entgegnung, schluckte sie aber herunter, nickte stattdessen Einauge zu. Gemeinsam bückten sie sich, ergriffen Barras‘ Arme, zerrten und zogen.

«Er ist so verdammt schwer», ächzte Keleb. Einauge schnaufte zustimmend.

Sena massierte sich ihre Stirn. Kopfschmerz kündigte sich an. «Schleift ihn einfach in eine Ecke. Ich hole ihm ein, zwei Decken. Und dann lasst uns alle zur Ruhe gehen. Ich bin müde.»

«Wir auch», gähnte Jonas herzhaft, mehrere Zahnlücken entblößend. «Los, Quen, lass uns verschwinden.» Mit einem Schluck kippte er den Kaffee hinunter. Quentin tat es ihm nach. Anschließend halfen sie, Barras an die Wand zu schieben, indem sie ihre Stiefelspitzen nicht eben zimperlich in sein Gesäß rammten.

«Wo werdet Ihr nächtigen?», sprach die fremde Frau die Holzfäller an.

Sie war tatsächlich ein Augenschmaus, stellte Sena fest. Trotz der kurzen Haare, durch die ihre Kopfhaut schimmerte, trotz der Leichenblässe und der violetten Augenringe. Und älter, als sie zuerst gedacht hatte. Ihr Körper mochte der einer Halbwüchsigen sein, aber ihr Antlitz kündete von einiger Lebenserfahrung. Wahrscheinlich war sie nur ein paar Jahre jünger als sie selbst. Und hatte ähnlich viel erlebt. Sena las es aus dem glanzlosen Schimmer in ihren Augen, dem vorgereckten Kinn, der Härte in ihren Zügen.

Ärger, sang das Wundmal unter ihrem rechten Knie.

«Quen und ich teilen uns ein Eckchen im Stall», entgegnete Jonas. «Ihr müsst Euch nicht sorgen. Die einzige Belästigung, die Ihr von uns zu befürchten habt, ist lautes Schnarchen.» Er lachte über den eigenen Witz.

Die Frau musterte Jonas und nickte dann.

«Ihr kriegt von mir noch einen Kaffee», sagte Sena zu ihr. «Bevor ich Euch hinaus in die Kälte schicke, wärmt Ihr Euch richtig auf.»

«Das ist nicht nötig.»

«Hat er Euch wohlgetan oder nicht?»

«Schon», gab die Fremde zu.

«Na, seht Ihr. Leistet mir noch ein bisschen Gesellschaft. Ich sehe so selten Frauen hier. In der Regel bin ich mit den Kerlen allein.»

Ein flüchtiges Lächeln streifte die Wangen der jüngeren Frau. «Also gut.»

Quentin und Jonas nickten Sena und den beiden Soldaten zu, bevor sie an dem fremden Mann vorbei durch die Eingangstür schlurften, ihre Äxte hinter sich her ziehend. Cemm und Tikat strichen ihre Uniformröcke glatt, warfen sich dunkelgrüne Umhänge über, winkten Sena und verschwanden durch dieselbe Tür, die im Wind wild hin und her schwang. Der Reisende saß weiterhin still in seiner Ecke, beobachtete die Gehenden, ohne den Kopf zu wenden.

Nachdem sie Barras an eine Wand geschleift und auf die Seite gewuchtet hatten, schlichen Keleb und Einauge mit trotzigen Mienen die Treppe neben dem Tresen empor, ohne sich zu verabschieden.

Plötzlich war Sena allein mit den beiden Unbekannten.

«Wo schlaft Ihr?», wandte sie sich an den Mann und begann, Becher und Teller von den Tischen zu räumen. Mittlerweile musste sie ein Gähnen unterdrücken. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an. Sie brauchte einen Kaffee, stark und kräftigend. «Soll ich Euch ein Zimmer einrichten?»

«Der Stall genügt», entgegnete er und stand auf, derweil sie zum wohl hundertsten Mal an den Ausschank zurückkehrte. «Macht Euch keine Mühe. Ich habe eine Decke.» Er klopfte auf das Bündel, das er bei sich führte.

«Kein Kaffee für Euch?» Ihren eigenen Becher tauchte sie einfach in den Topf, ohne sich um die Tropfen zu scheren, die auf der warmen Herdplatte verdampften.

«Welchen würdet Ihr mir anbieten? Den, der einschläfert, oder den, der wachhält?»

Senas Becher stoppte kurz vor ihren Lippen. «Ihr seid ein guter Beobachter.»

«So viele Töpfe für dasselbe Getränk», mischte die Frau sich mit rauchiger Stimme ein. «Welcher heilt? Ich konnte es nicht genau erkennen.»

«Nummer Vier.» Mit geschlossenen Augen nippte Sena an der heißen Flüssigkeit. «Nummer Eins hält wach», tippte sie an ihren Becher. «Zwei macht müde. Drei beruhigt nur. Vier heilt nicht, sondern steigert das Wohlbefinden. Manchmal allerdings erheblich.»

«Und Fünf?», fragte der Fremde. «Der, in den Ihr die Reste gießt?»

«Gutes Putzmittel. Barras lag gar nicht so falsch. Auch mit der Spucke nicht.» Bei diesen Worten musste sie grinsen. «Ich habe noch mehr Töpfe, aber die brauche ich im Winter nicht. Einen für die Pflanzen und Kräuter im Garten, einen gegen das Schwitzen, einen gegen Stechmücken. Ein wirklich vielseitiges Getränk. Ich erforsche es immer noch.»

«Ein Wunder, dass es nicht bekannter ist», schob sich der Mann hinter dem Tisch hervor.

«Fürwahr.»

«Woher kommt es?»

«Die Sträucher wachsen im Grenzgebirge. Hoch oben in der Nebelluft. Es ist aufwendig, ihn zu ernten. Die Bohnen muss man trocknen, rösten, mahlen.»

«Viel Arbeit für ein Getränk.»

«Bier herzustellen ist leichter», stimmte sie zu und setzte ihren Becher ab. «Also. Wer seid ihr? Warum seid ihr hier?»

«Ich bin nur ein Reisender», entgegnete der Mann nach kurzem Zögern.

«Wohin reist Ihr?»

«Mit Verlaub, Wirtin, das geht Euch nichts an.»

«Das sagen alle, die etwas zu verbergen haben.»

Zu diesen Worten schwieg er kurz. «Vielleicht», gab er dann zu. «Aber seid versichert, dass Euch von meiner Seite keine Gefahr droht.»

«Ich gebe nicht viel auf Versicherungen dieser Art.»

Die Fremde schnaubte zustimmend.

«Was gäbe es hier zu holen?», konterte er. «Die Handvoll Münzen in Eurem Goldbeutel? Die klapprigen Schindeln auf Eurem Dach? Euer Bier? Euren Kaffee? Ich möchte nur ein paar Stunden im Trockenen schlafen, wenn es genehm ist. Morgen ziehe ich weiter meiner Wege.»

«Einfach nur ein nächtlicher Gast inmitten der Spätherbststürme», fasste Sena ironisch zusammen und blickte die Frau an. «Ganz so wie Ihr.»

«Ich bin auf der Reise zu meiner Schwester», erklärte die Frau. «Wir erhielten Nachricht, sie stünde vor der Niederkunft. Ihr Mann bat um Hilfe.»

«Er schickte keine Kutsche? Nicht einmal einen Reiter?»

«Kutschen bleiben im Schlamm stecken, das wisst Ihr. Außerdem kosten sie Gold. Ich komme schon zurecht.»

«Ihr seid ziemlich erkältet, scheint mir. Wie lange habt Ihr noch vor Euch?»

«Kommt auf das Wetter an. Ein, zwei Tage. Borhus. Da lebt sie.»

«Mhm.» Sena schaute skeptisch. Ihr Kopfschmerz hatte sich verstärkt. Nachdenklich massierte sie die Narbe unter ihrem Haaransatz.

«Eine erholsame Nacht», verabschiedete sich der Fremde, Münzen auf den Tisch legend. «Ich werde zeitig aufbrechen. Euch alles Gute.»

«Gehabt Euch wohl.»

Nachdem der Mann wie ein Schatten durch die Tür geflossen war, klapperte Sena mit Kelle und Töpfen. «Ich mache Euch eine Mischung», sagte sie zu der Frau, die wieder auf ihren Stuhl gesunken war. «Stark und heiß. Heilend und schlaffördernd.»

«Heilend reicht», gab die Frau zurück, ihre Hand an den Bauch gepresst.

«Habt Ihr Angst vor dem Einschlafen?»

«Ich will nur nicht zu fest schlafen.»

«Wisst Ihr was?» Sena kam mit dem Kaffee hinter dem Tresen hervor und stellte ihn auf dem Tisch der Fremden ab. «Ich nehme Euch mit nach oben. Teilt das Bett mit mir.»

«Was?» Zum ersten Mal sah sie Unruhe im Antlitz der Frau aufflackern.

«Nur zum Schlafen», schob sie hinterher. «Ihr könnt Euch unbesorgt ausruhen. Ihr seht aus, als könntet Ihr ein bisschen ungestörten Schlaf gebrauchen. Was sagt Ihr?»

Die Frau sah sie lange schweigend an. Sena starrte zurück, bis der Blick der anderen weicher wurde und sie nickte.

«Gut», richtete Sena sich auf. «Trinkt. Ich hole Decken für das Arschgesicht.»

Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Mittlerweile lehnte die Frau mit dem Kopf an der Wand.

«Alles ruhig», berichtete Sena, Wolldecken über Barras breitend. «Die Händler schnarchen, Einauge und Keleb zanken noch leise, aber sie werden wohl keinen Ärger mehr machen. Kein Laut aus dem Stall.»

«Wo sind die Soldaten?»

Sena runzelte die Stirn. «Auf Patrouille. Warum fragt Ihr?»

«Nur so. Was habt Ihr in den Kaffee getan? Ich fühle mich ... müde.»

«Gar nichts. Weshalb seid Ihr so misstrauisch?»

«Zu viel Vertrauen bringt Verderben», murmelte die Frau und stemmte beide Arme auf den Tisch. Mühsam stand sie auf.

«Wie heißt Ihr eigentlich?», fragte Sena.

Die andere zögerte kurz. «Cai.»

«Seltsamer Name für eine Frau.»

«Ist eine Abkürzung.»

«Für was?»

«Jetzt seid Ihr misstrauisch. Aber das wart Ihr ja bereits die ganze Nacht. Ihr habt unentwegt beobachtet.»

«So wie Ihr.»

«In einer Höhle voller Wölfe ... Sicher.»

Sie verstummten, als sie nacheinander die knarzenden Stufen hochstiegen.

Oben stieß Sena die Tür mit dem Fuß auf und ließ Cai ins Innere einer niedrigen, spärlich möblierten Dachkammer.

«Eure Schenke wirft nicht viel ab», stellte Cai fest.

«Glaubt mir, ich habe schon schlimmer gehaust», knurrte Sena.

Die jüngere Frau sah sie prüfend an, sagte jedoch nichts.

«Legt Euch hin.»

«Kommt Ihr nicht ins Bett?» Argwohn umwölkte Cais Stirn.

«Vorher muss ich ... austreten. Kaffee plätschert geradewegs durch mich durch. Ihr könnt den Eimer unter dem Bett benutzen, falls Ihr müsst. Wartet nicht auf mich. Ich räume noch rasch die Küche auf.»

«Mhm.» Mit einem Seufzen sank Cai auf die Bettstatt und fuhr sich mit der Hand durch das stoppelkurze Haar. Sena sah sie kurz zusammenzucken.

«Schlaft gut. Ich werde leise sein.»

Beim Hinausgehen sah sie, wie Cai sich steif nach hinten fallen ließ. Wenn sie so einschlief, würde sie ihr nachher die schlammverkrusteten Stiefel von den Füßen zerren und sie ins Bett hieven müssen. Gut, dass ihre Energie mit den letzten Schlucken Kaffee zurückgekehrt war.

Sie ging tatsächlich hinaus in den Regen, humpelte zu den Bretterverschlägen an der Seite der Schenke. Während sie mit tropfenden Haaren und protestierenden Knien über der Grube hockte, dachte sie nach, auf das Prasseln der Regenkörner lauschend.

Als sie aufstand und sich ihr Beinkleid zuknöpfte, stand Entschlossenheit in ihrem Gesicht. In ihren Manteltaschen suchte sie nach etwas, schob schließlich die rotbraunen Locken zu einem Dutt zusammen und nestelte das Band darum. Dann holte sie tief Luft, verließ das Häuschen, eilte zur Schenke, trat ein und verschloss sorgfältig die Eingangstür.

Drinnen lauschte sie erneut. Barras regte sich, als er von der Bewusstlosigkeit in den Schlaf rutschte. Sie beobachtete den Deckenberg einige Sekunden lang, bevor sie mit einem Fingerschnipsen die Kerzen löschte. Lautlos glitt sie durch das Dunkel zum Ausschank. Auf dem Weg nach vorn pustete sie sacht auf das Feuer, das daraufhin zu einer daumenbreiten Schicht schimmernder Glut zusammenfiel. Das Feuer unter den Kaffeetöpfen fachte sie an, indem sie ihre linke Hand auf die Herdplatte legte. Anschließend tauchte sie die rauchende Hand in Nummer Vier und langte nach einem Lappen, den sie in Nummer Fünf schwenkte. Mit ihm wischte sie den Tresen sauber und schwang sich mit knirschenden Gelenken darauf. Sie beugte sich weit vor, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, den Kopf zwischen den Schultern pendelnd, wie ein müder Kutscher auf dem Bock.

Dann wartete sie.

Es dauerte nicht so lange, wie sie gedacht hatte. Offenbar verkürzte das Wetter die Geduld. Ein kaum hörbares Knacken an der Hintertür brachte sie dazu, sich wieder aufzurichten. Mit einem Augenaufschlag entzündete sie die Kerzen im Gastraum. Zeitgleich flackerte das Kaminfeuer auf.

«Tikat», begrüßte sie den Soldaten freundlich, der auf der Türschwelle festfror. «Kommt ruhig herein.»

Ein Windstoß blies den Mann in die Stube. Hinter ihm krachte die Tür ins Schloss. Unwillkürlich blickten beide zu Barras, doch der Grobian schlief weiter den Schlaf der Ungerechten.

«Ihr seid spät auf», sagte Tikat leise. Ein prüfender Blick glitt über sie, tanzte durch den Gastraum, irrlichterte über die Türen.

«Verschlossen», lächelte sie. «Eingang, Keller, Gästeräume. Natürlich halten sie Äxten nicht lange stand, vor allem die alten Schlösser nicht. Aber ein paar Minuten haben wir für uns.»

«Ihr habt die Hintertür nicht abgeschlossen. Sträflich nachlässig für eine Gegend wie diese. Hier treibt sich viel Pack herum.»

«Mhm», stimmte sie zu und sprang vom Tresen. «Cemm hat sie gut präpariert. Ich benutze sie kaum, hielt sie für versperrt, doch er hat die Verriegelung gelockert. Vorhin, als er draußen war? Oder schon vor einiger Zeit? Praktisch, wenn man hier ungesehen ein- und ausgehen kann. Reisende führen immer ein bisschen was bei sich, vor allem, wenn sie sich die Zimmer oben leisten können. Wo steckt Cemm? Durchwühlt er die Satteltaschen?»

Tikat grinste stumm, trat näher, richtete sich langsam auf, tastete nach dem Gürtel. Sena unterdrückte ein Schlucken.

«Was ist mit den echten Soldaten passiert? Liegen sie massakriert irgendwo in den Wäldern?»

«Hat lange gedauert, bis du drauf gekommen bist, Senalisas.» Er spuckte ihren vollständigen Namen geradezu von sich, das einzige Anzeichen für die Wut, die in ihm schwelte. «Wie?»

«Der Graf.»

«Was ist mit ihm?»

«Als ich das letzte Mal von ihm hörte, hieß er noch Hadenaes, nicht Ladenais. So hast du ihn bezeichnet.»

Tikat lachte laut auf. «Das war alles? Das hat uns verraten?»

«Ja. Ansonsten wart ihr perfekt, alle beide. Wahrscheinlich hätte ich euch nie enttarnt. Schade eigentlich, ihr wart stets angenehme Gäste. Habt mir zudringliche Kerle wie den da vom Leib gehalten. Es bricht mir das Herz, dass ihr nicht wegen mir hier wart, sondern um Reisende auszurauben.» Theatralisch presste sie ihre Hand auf ihre Brust, doch ihr Blick war düster.

«Hadenaes», wiederholte Tikat kopfschüttelnd. «Bist du sicher?»

«Ich müsste nachsehen, aber ich bin ziemlich sicher, der Name prangt unter der Besitzurkunde meiner Schenke. Ist mir auf dem Abort wieder eingefallen.»

«Und nun?», fragte Tikat und trat noch einen Schritt näher. Er wirkte um einiges größer, wenn er direkt vor einem stand, stellte Sena fest.

«Ich muss dich natürlich anzeigen.»

Er lachte los, ein herzhaftes, höhnendes Lachen, das ihren Kopf zum Schwingen brachte. «Bei wem denn? Cemm und ich sind das Gesetz hier draußen.»

Wie zur Bestätigung krachte ein Körper gegen die Hintertür, die daraufhin aus den Angeln sprang. Cemm landete im Gastraum, pitschnass und mit glühenden Augen. «Tikat», rief er. «Im Stall ...» Seine Worte gingen in weiteren Geräuschen unter. Sena vernahm das Splittern von Holz, das panische Wiehern der Pferde, das Klatschen von Fäusten.

Tikat fuhr herum, starrte den Jüngeren an. «Was zum Teufel redest du da?»

«Der Fremde», sagte Sena, über deren Wangen sich ein Lächeln ausbreitete.

«Was ist mit ihm?»

«Er räumt auf, so wie es sich anhört.»

Tikat verlor die Beherrschung. «Verdammt, Cemm! Habt ihr nicht aufgepasst?»

«Wir dachten, zu dritt ...»

Weiter kam er nicht, denn mit Wind, Eis und Regen stolperten andere Männer in die Stube, schlitterten über den schlammbedeckten Boden. Quentin und Jonas, beide mit blutigen Gesichtern und zerschnittenen Jacken. Der Fremde war direkt hinter ihnen. Sein Dolch steckte halb in Jonas‘ Nacken, der um sich blickte wie ein Kaninchen, das einer Schlange ins Auge starrte.

«Wollten sie Euch ausrauben?», erkundigte Sena sich bei dem Kämpfer, der sich in der Gaststube umsah.

«Wo ist sie?», herrschte er Sena an, ohne sich um ihre Frage zu kümmern.

«Die Frau, die Ihr verfolgt?»

«Verdammt!», stieß Tikat aus. «Sie gehört uns.»

Statt einer Antwort rammte der Fremde den Dolch tiefer in Jonas‘ Genick, bis der Holzfäller mit einem Seufzen zusammenbrach. Unbeeindruckt schob der Kämpfer die Leiche mit dem Fuß beiseite. Auf Quentins Gesicht malten sich Fassungslosigkeit und Angst. Sena schloss die Augen. Zu langsam. Sie war zu langsam geworden. Die verfluchten Gelenke.

«Sie gehört mir», sagte der helläugige Mann zu Tikat.

Tikat mahlte hörbar mit den Zähnen, seine Kiefer tanzten unter den stoppeligen Wangen. «Teilen wir?»

«Schluss», rief Sena und hob den Arm. Die Narbe an ihrem Ellenbogen erglühte auf ihrer Haut. «Sie gehört niemanden. Und dein Kopfgeld schieb dir in den Arsch, Tikat.»

Ihre Augen flammten kaffeefarben auf. Ohne Vorwarnung spritzte Nummer Eins auf. Die heiße Flüssigkeit schwappte über Tikats Leib, legte sich um ihn wie eine Fessel. Der falsche Soldat fluchte, stöhnte, wehrte sich verzweifelt, schrie auf. Sekunden später verlor er das Bewusstsein.

Stille senkte sich über den Raum, nachdem Tikat verstummt war. Lediglich Barras, der sich mit unsteten Blicken über den Boden wälzte, war zu hören.

«Was ... das ... Hast du ... Er ist doch nicht ...»

«Er lebt», zerschnitt Sena Quentins Gestammel. «Noch», setzte sie düster hinzu. Sie strich über ihren Hals, wo das strichdünne Wundmal aufleuchtete wie ein blutiger Riss.

«Aber wie?»

«Sie kann zaubern», stellte Cemm das Offensichtliche fest und brach in ein Kichern aus. Ungläubig glotzte er Sena an. «Hexe!», brüllte er jählings und ging mit dem Schwert auf sie los. Die Klinge des Fremden, die, von der linken Hand geführt, seitlich in seinen Hals tauchte und aus dem Mund wieder heraus kam, stoppte ihn, bevor er Sena auch nur ein Haar krümmen konnte. Mit einem Röcheln sackte er zu Boden. Der Kämpfer zog den Dolch aus der Leiche und rollte sie neben Jonas.

«Ihr braucht sie nicht alle gleich umzubringen», stöhnte Sena, sich das Handgelenk reibend.

«Acht», krächzte eine Stimme hinter ihnen. Sie fuhren zu Barras herum, der sich schwankend in die Senkrechte brachte. Er musste sich am Tisch festhalten, um nicht wieder umzufallen.

«Acht was?», fragte Sena, augenblicklich in Alarmbereitschaft.

«Acht tote Reisende im vergangenen Jahr. Zumindest sind das die, von denen wir wissen. Über ein Dutzend räuberische Überfalle, zumeist Händler und Kaufleute. Aber auch Gaststuben, Poststationen, Höfe, Häuser. Selbst vor armseligen Pilgern machten sie nicht Halt. Wenn die Leute Glück hatten, verloren sie nur ihren Besitz. Viele hatten Pech. Sie verloren Zähne, ihr Gedächtnis, ihren Verstand, einige Frauen ihre Würde, ein Mann sein Auge, die meisten eine Menge Blut. Zwei Häuser brannten nieder, nachdem die Bewohner sich gewehrt hatten. Sie sind Abschaum der allerschlimmsten Sorte, vor allem der Kleine und er.» Barras‘ Finger wies zitternd auf Tikat. «Die Soldaten.»

«Sie sind nicht echt», sagte Sena, die verblüfft auf den schweinsgesichtigen Mann starrte. «Die echten haben sie umgebracht. Er hat es vorhin zugegeben. - Was ist mit Euch, Quentin?»

Quentins Augen quollen fast aus seinem Schädel, als sie sich ihm zuwandte. «Ich bin ich», stotterte er. «Wir sind ... waren ... Waldarbeiter.»

«Für Hadenaes?»

«Erst für den Alten, jetzt für den Sohn», bestätigte Quentin.

«Habt Ihr nicht genug verdient?»

«Beim Alten schon. Der Sohn ist ein Knauser.»

«Deshalb mordet Ihr Unschuldige?» Mokkafarbener Zorn wallte in Senas Augen auf.

Furchtsam schielte Quentin zu den Kaffeetöpfen. Das Blubbern und Pfeifen hatte sich verstärkt. Braune Brühe spritzte an den Rändern hoch, zischte auf der Herdplatte. «Jonas und ich haben nur die Wege ausgekundschaftet, Kutschen in die Irre geleitet», verteidigte er sich. «Ab und an Euren Gästen was abgeknöpft. Die haben das nicht einmal gemerkt. Dass man in Schenken ausgeraubt wird, ist doch normal.»

Senas Brauen zogen sich unheilverkündend zusammen. Nummer Zwei begann, durchdringend zu fiepen.

«Nicht», bat Quentin, aber Sena hatte den Kaffee bereits entfesselt. Ihre Narben glühten auf wie die Herdplatte, dann schoss ein Strom Gebräu um den Waldarbeiter, drang in dessen Mund, erstickte die flehenden Worte. Tränen rannen aus Quentins Augen, als seine Kehle von innen verbrühte. Auf dem Boden krümmte er sich, kurz darauf lag er still. Kaffee tropfte von den blasigen Lippen.

«Nicht alle umbringen, ja?», wiederholte der Fremde leise, während Barras zu ihnen trat und Sena gegen den Tresen sank.

Der Fremde musterte sie eingehend. «Strengt das Zaubern Euch an?», erkundigte er sich.

«Nicht schlecht», hustete Sena, die Hände auf ihre Knie gestützt. «Ihr schafft es, wirklich besorgt zu klingen. Wenn Ihr mich aus dem Weg räumen wollt, dann jetzt.» Sie betrachtete ihre Narben, die blutrot im Halbdunkel der Gaststube glänzten.

«Er bringt Euch nicht um», brummte Barras und stellte sich neben den Fremden.

«Wollt Ihr mich davon abhalten?», fragte der.

«Seid nicht zu überheblich», blaffte Barras. «Ihr versteht zu kämpfen, aber ich weiß ebenso eine Waffe zu führen.» Aus dem Nichts erschien ein Messer in seiner Faust, das er dem Kämpfer an die Kehle hielt.

«Etwas anderes hätte ich von einem Söldner auch nicht erwartet», gab der Fremde ruhig zurück. «Indes seid versichert, dass ich nicht wegen der Wirtin hier bin.»

«Inspektor», verbesserte Barras. «Ich bin im Auftrag der Grafen unterwegs.»

«Der Grafen?», wiederholte Sena.

Barras nickte. «Ein paar von ihnen haben sich zusammengeschlossen, weil die Überfälle überhandnahmen. Das ist schlecht für das Geschäft. Der Grenzhandel ist beinahe eingeschlafen, niemand traut sich mehr in die Südwälder. Leute wandern ab, solche Sachen.»

«Und sie beauftragten Euch?» Unglauben troff aus Senas Stimme.

«Ausgerechnet mich, ja. Und ich hatte sie fast. Kev und ich standen kurz vor der Verhaftung.»

«Kev? Der Kaufmann?»

«Eben der.» Stöhnend bewegte Barras den Schädel hin und her.

«Er arbeitet mit Euch zusammen?»

«Ich habe ihn angeheuert. Sein Bruder ist wirklich Krämer. So konnte ich die Truppe zusammenstellen.»

«Als Lockvögel», dämmerte Sena. «Das ist ... abscheulich. Und zugegebenermaßen raffiniert.»

Barras hielt Sena die linke Pranke hin, ohne das Messer von der Kehle des Fremden zu nehmen. «Manchmal braucht es abscheuliche Taten, um etwas zu Ende zu bringen. Gute Arbeit, Wirtin.»

«Wirtin? Nicht Weib? Schöne? Süße? Kleine? Schätzchen? Hat der Schlag Euren Verstand beschädigt?»

Barras grinste säuerlich. «Gehört zur Rolle. Nichts für ungut. Die meisten Komplimente waren ernst gemeint.»

Sena schnaubte, schlug die Hand weg. «Vergesst es. Ihr seid ein echtes Scheusal.»

«Ich habe mein Blatt wohl überreizt», stellte Barras fest.

«Oh, Ihr ahnt nicht, wie weit. Ich bin noch nie so oft auf weibliche Geschlechtsteile reduziert worden. Wirklich ... originell. Die Kombination mit Ausscheidungen vor allem.» Senas Augen blitzten vor Zorn.

Scham färbte Barras‘ Gesicht dunkel. «Ich dachte, Keleb und Einauge reagieren schneller», räumte er zerknirscht ein. «Konnte ja keiner ahnen, dass die Vogelscheuche da eine Axt zückt.» Er wies auf Quentin. «Ich behaupte ja nicht, der anständigste Kerl der Welt zu sein. Himmel, ich bin ein Arschloch. Deshalb holt man mich für die Drecksarbeit. Aber die Tirade vorhin, das gehörte zu meiner Rolle. Zumindest größtenteils. Ich musste glaubhaft sein, versteht Ihr? Ich hätte weder Euch noch der Kleinen ein Haar gekrümmt. Bei den Göttern, ich dachte, Ihr schreitet viel eher ein, um die Ehre Eurer Gäste zu schützen ...»

«Gebt ja nicht mir die Schuld!» Sena richtete sich drohend auf.

«Nein», hob Barras die linke Hand. «Nein. Ich ... Nein. Verzeiht. Das alles.»

«Warum?», wandte der Fremde sich unversehens an den Inspektor. «Warum musstet Ihr diese Rolle spielen? Warum habt Ihr die Kerle nicht einfach dingfest gemacht?»

«Weil ich nur Verdachtsmomente hatte, mehr nicht.»

«Hadenaes», flüsterte Sena.

«Ich kenne ihn», pflichtete Barras ihr bei. «Ein Mann wie ein Bluthund. Er war letztes Jahr in Ravenas dabei, als sie mich anheuerten. - Dann gab es andere Indizien. Zwei Waldarbeiter, die Abend für Abend in einer Schenke essen und trinken, einen Stallplatz bezahlen. Normale Holzfäller übernachten im Wald, selbst im Winter. Sie schlagen ein Zelt auf, arbeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für ein mageres Auskommen, stellen Fallen auf und jagen. Soldaten, die zu keiner Garnison zu gehören scheinen, die niemals abgelöst werden. Es passte alles nicht richtig zusammen. Andererseits laufen die Dinge hier draußen nicht so wie in den Städten. Hier gibt es eigene Gesetze. Es galt, abzuwarten, zu beobachten, Köder auszulegen.» Er verstummte, sah Sena und den Fremden abwechselnd an. «Es tut mir leid», hielt er der Wirtin erneut die Hand hin. «Freunde? Ich schwöre, alle Frauen zukünftig zu behandeln wie Königinnen.»

Sena beäugte ihn. «Trottel», murmelte sie schließlich und schlug müde in die fleischige Pranke ein, bevor sie sich an den Tresen lehnte.

«Ihr seid die erste Hexe, der ich die Hand schüttelte», erklärte Barras feierlich. «Magie, meine Fresse. Meine Großmutter hat mir früher von so was erzählt. Dachte stets, das sind Märchen und Hirngespinste.» Er schüttelte den Kopf. «Ich hoffe, ich halluziniere nicht. So ein Schlag auf den Hinterkopf bringt manchmal ganz schön was durcheinander.»

Sena kniff sich in die Nasenwurzel. «Ihr halluziniert nicht. Wenn Ihr mir nicht glaubt, haue ich Euch liebend gern in ein Körperteil Eurer Wahl.»

«Ich glaub es nicht. Kaffeezauber. Ts.» Dann beugte Barras sich zu dem Kämpfer, den er immer noch mit dem Messer in Schach hielt. Zumindest vermittelte der Fremde den Eindruck, dass er sich in Schach halten ließ. «Also, Freund. Was hat es mit Euch und der mysteriösen Frau auf sich?»

«Sie ist meine Angelegenheit.»

«Aha. Wollt Ihr uns wenigstens Euren Namen nennen?»

«Namen sind Schall und Rauch.»

Der massige Inspektor zuckte die Achseln. «Schon. Ist aber schöner, jemanden anreden zu können.»

«Raques», sagte der Fremde nach kurzem Zögern, die zweite Silbe betonend.

«Klingt so unbekannt wie Euer Akzent», meinte Sena. «Kommt Ihr von drüben?» Ihr Kopf nickte unbestimmt in eine Himmelsrichtung.

«Ein Grenzläufer», pfiff Barras durch die Zähne. «Stimmt das? Seid Ihr aus dem Kaiserreich getürmt? Man hört die merkwürdigsten Dinge von dort. Wenn man überhaupt etwas hört. Kriege, Aufstände, Seuchen. Drachen. Da scheint es zu brodeln. Seid Ihr deswegen geflohen?»

«Nein», sagte Raques knapp. «Ich kam schon vor vielen Jahren.»

«Ist sie auch von drüben?», fragte Sena. «Cai?»

«Ist das der Name, den sie Euch nannte?»

«Ist er falsch?»

«Nicht ganz. Ihr vollständiger Name lautet Amiracai.»

«Ist sie eine Verbrecherin?»

«Nein», tönte eine Stimme von der offenen Hintertür her. Cai stand tropfend im Türrahmen, beide Arme um den eigenen Bauch gelegt. Ihre schwarzen Augen musterten die regungslosen Leiber am Boden, schwenkten dann über Sena, Barras und den Fremden. Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben. «Was ist passiert?»

Sena richtete sich auf. «Wie seid Ihr hereingekommen? Die Treppe führt nicht nach außen und die Kellertür ist verrammelt und verriegelt.»

«Ihr zuerst.» Cai sah noch immer mitgenommen aus, wenngleich sie ausgeruhter wirkte als vorhin. Ihre Augen blickten weniger matt, ihre Gestalt stand aufrechter.

«Cemm, Tikat, Jonas und Quentin stellten sich als Straßenräuber heraus. Gesetzlose, die viele Leben auf dem Gewissen hatten. Barras war ihnen auf den Fersen. Er wollte sie stellen, indem er die Händler als Lockvogel benutzte. Heute Abend haben sie sich verraten.»

Barras applaudierte schweigend, nachdem Sena ihre Zusammenfassung beendet hatte.

«Jetzt Ihr», forderte Sena die jüngere Frau auf.

«Fenster.»

«Ihr seid die Wand hinunter geklettert?»

«Ich erwachte. Ihr wart nicht da. Also floh ich. Unten sah ich das Licht in der Schenke und die offene Tür. Ich dachte, Ihr wärt möglicherweise in Schwierigkeiten.»

«Ähm. Danke. Aber ich komme klar.»

«Ohne jeden Zweifel», erwiderte Cai, zwei Schritte näher tretend. «Euer Kaffee besitzt noch mehr Eigenschaften als die, die Ihr aufgezählt habt. Ihr benutzt ihn für Eure Magie. Er ist Euer ... Brennstoff. Und Eure Waffe. Eure Materie.»

«Euer Verstand ist scharf wie Raques‘ Klingen, Amiracai», sagte Sena. «Und nun erzählt Eure Geschichte. Es ist schon beinahe Morgen. Ich bin müde.»

«Ich bin keine Verbrecherin.»

«Ihr seid desertiert», gab Raques grimmig zurück. «Das ist ein Rechtsbruch, für den harte Strafen zu erwarten sind.»

«Ein Söldner wie Ihr sieht die Dinge wohl so. Ich hingegen glaube, dass ich vor den Verbrechern geflohen bin.»

Raques schob Barras‘ Messer mit der Fingerspitze beiseite und trat einen Schritt auf Cai zu.

«Vorsicht», warnte Sena. Nummer Drei begann zu sieden. Auch Barras blieb in Habachtstellung.

«Wem versucht Ihr etwas vorzumachen?», wollte Raques wissen. «Ihr habt im selben Heer gedient wie ich.»

«So dienten wir beide im Heer eines tollwütigen Tyrannen.»

«Ihr wusstet vorab, auf was Ihr Euch einlasst. Gold gegen Kampfkraft, ohne Fragen zu stellen.»

«Ganz so war es nicht», flüsterte sie rau.

«Ihr habt einen Vertrag mit ihm geschlossen. Er hat Euch aus der Armut befreit, Euch ein Zuhause gegeben, Essen, Kleidung.»

«Er hat mich gekauft», zischte sie. Erbitterung loderte in ihren schwarzen Augen auf.

«Er hat Euch aus dem Gefängnis geholt.»

«Und in ein anderes gesteckt.»

Sena spürte Cais Zorn, als wäre es ihr eigener. Das Kaminfeuer flackerte auf. Nummer Vier rutschte über die Herdplatte und krachte zu Boden. Verdutzt sprang sie beiseite.

«Cai», raunte sie.

«Unsinn. Er hat Eurem Leben einen Sinn gegeben. Dem Leben einer armseligen Verbrecherin.»

«Ich habe Essen gestohlen.» Ein heiseres Aufbegehren. Cais Arme krampften sich um ihren Bauch, dieweil Flammen aus dem Kamin schlugen, eine Tischkante ansengend.

«Und Menschen getötet!» Raques Erwiderung kam scharf, ohne Erbarmen, ohne Vergebung.

«Ohne es zu wollen!», schrie Cai auf und beugte sich vornüber, als bekäme sie keine Luft mehr. Nummer Drei und Nummer Fünf begannen über den Herd zu wandern. Die Becher auf den Tischen und in den Regalen klapperten, kippten um. Das Feuer erreichte die Tischplatte, leckte gierig die Bierpfützen auf. Die Herdplatte hob und senkte sich so unrhythmisch wie Cais Atem.
«Sie starben, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.» Amiracais Worte gingen in einem Schluchzen unter.

«Macht es nicht noch schlimmer», trat Raques auf sie zu. «Kommt mit mir heimwärts. Er wird Gnade walten lassen, wenn Ihr Euch freiwillig stellt.»

«Sie zaubert», stieß Sena hervor und zerrte den Kämpfer am Ärmel zurück. «Cai, hört auf!»

Senas Narben begannen zu glühen, rissen auseinander, als sie sich auf Nummer Drei konzentrierte. Blut tropfte aus dem rohen Fleisch. Ihre Augen verdunkelten sich vom Karamellton hellen Milchkaffees zur Teerfarbe alten Kaffeesatzes. Duftende Flüssigkeit spritzte aus Nummer Drei, dick und zäher als Honig, klebrig und heiß, floss auf Cai zu, die auf die Knie fiel und die Arme von sich streckte. «Amiracai», wollte sie rufen, aber ihre Stimme klang erstickt. Schmerz hüllte sie ein, ein Gefühl, als bräche ihr Körper an mehreren Stellen entzwei.

«Sie bluten», hörte Sena Barras wie durch einen Nebel brüllen. Ihre Ohren klingelten, ihr Kopf surrte. Der Inspektor blickte beunruhigt zwischen ihr und Cai hin und her, unschlüssig, was er tun sollte.

Raques indes sprang in die Gaststube, in der das Kaminfeuer über den Boden lief wie Öl aus einem zerbrochenen Krug. Er trampelte auf dem brennenden Strom herum, raffte Barras‘ Decken an sich, schlug auf die Flammen ein.

Zu heiß, platzte ein Gedanke in Senas Verstand auf.

Sie konzentrierte sich auf den Herd. Nummer Drei und Nummer Fünf kippten herunter, als die singende Platte zersprang und Feuerzungen die Wand hinauf leckten. Sena stöhnte, weil die Narbe an ihrem Hals sich weiter öffnete, ihre Gelenke sich anfühlten, als würden sie zu Knochenstaub gemahlen.

Barras rannte zum Spülbecken und begann hektisch, mit einem Becher Wasser auf die Herdplatte zu schaufeln. Dabei fluchte er unentwegt.

«Ihr müsst es kontrollieren», krächzte Sena gegen die Hitze an, die um die jüngere Frau aufloderte. Sie sah Rauch aus Cais Nase und Mund aufsteigen, sah das Blut, das die Vorderseite ihres Wamses tränkte.

Cai wimmerte und krümmte sich. Sena unterdrückte einen Aufschrei, als sie den verschütteten Kaffee auf die andere Frau ausrichtete und auf die Reise schickte. Der Kaffee floss um Barras‘ Beine herum auf Cai zu, deren Leib in Krämpfen erschauerte.

Schneller, spornte Sena sich selbst an, biss die Zähne noch fester zusammen. Ihre eigenen Knie gaben nach, sobald der Kaffee Cai erreicht hatte. Mit einem letzten Kraftakt leitete sie den Strom durch das zerfetzte Wams in Cais Körper, was die Frau ein weiteres Mal aufstöhnen und gleich darauf verstummen ließ.

Erschöpft sackte Sena gegen den Tresen. Um sie wirbelte das Dunkel der drohenden Ohnmacht. Schemenhaft sah sie Barras, dem es gelang, das wütende Herdfeuer zu löschen, und Raques, dessen Decken das Kaminfeuer endlich erstickten. Dann ließ sie sich ins Dunkel fallen, froh darüber, dem Schmerz zu entkommen.

Eiskaltes Regenwasser brachte sie zurück in die Welt der Lebenden. Keuchend fuhr sie in die Höhe und schnappte nach Luft.

Nach mehrfachem Blinzeln manifestierte sich ein hässliches Gesicht vor ihr. Eine Visage mit nur einem Auge, das zu allem Überfluss ziemlich unverhohlen auf ihre nasse Bluse starrte.

«Du!», stieß sie aus und ergriff Einauge am Hemdkragen.

«Lasst ihn leben», fiel Barras ihr in den Arm. «Er ist ein Idiot, aber harmlos.»

«Ich reiße ihm sein letztes Auge aus!»

«Ach, kommt. Er ist nur ein armer Schlucker. Gönnt ihm einen kurzen Blick auf etwas, das er nie besitzen wird.» Sein Schmunzeln erstickte ihre Empörung.

«Er ist kein Inspektor, oder?»

«Der? Ich hab ihn und Keleb auf dem Weg hierher erwischt, als sie klauen wollten. Dachte, sie wären mir vielleicht von Nutzen. Waren sie auch. Hau jetzt ab, Halbhirn!», riet er Einauge. «Sorg dafür, dass wir unsere Ruhe haben.»

Barras streckte Sena den Arm hin, zog sie in die Höhe, bis sie wieder auf eigenen Füßen stand. «Hier», schälte er sich aus seiner Weste. «Hängt Euch das um, bevor Ihr alle Männer hierum den Verstand bringt.»

Sie blickte an sich herunter. Blutschlieren verliefen auf ihrer klatschnassen Bluse. Schweigend hüllte sie sich in Barras‘ Weste. Dann tapste sie zu Cai, die regungslos auf dem Boden lag. «Wie geht es ihr?»

«Ohnmächtig. Wie Ihr.»

«Helft mir», befahl sie Raques und Barras, die die Frau aufhoben und auf den Tresen legten.
Senas Finger knöpften bereits das Wams auf, schoben mehrere Kleiderschichten hoch, bis sie auf Haut trafen.

Sie spürte, wie die Männer neben ihr versteiften, als sie die Narben sahen, lange, gezackte Linien, die über Bauch und Unterleib verliefen, einige entzündet. Die jüngste Verletzung, ein Schnitt quer über die Rippen, blutete eitrig.

«Kein Wunder, dass sie fiebert», murmelte Sena.

Barras räusperte sich. «Habt Ihr auch so viele?»

«Das sind keine Magienarben, zumindest nicht alle.»

«Was sind sie dann?»

«Peitschenhiebe», erklärte Raques finster, ohne sich abzuwenden.

«Ich weiß ja nicht, was genau Euer Auftrag ist», wandte Sena sich an ihn. «Aber wenn Ihr sie zu dieser Bestie zurückschickt, schickt Ihr sie in den Tod. Entweder bringt er sie um oder die Magie.»

«Das wusste ich nicht», flüsterte der Grenzläufer.

«Dieser Graf holte sie zu sich, weil er ihr Potenzial erkannte. Zwang sie zum Töten, vielleicht zu Schlimmerem.»

«Deshalb ist das Kopfgeld so hoch», sinnierte Raques, mehr an sich selbst gerichtet.

«Wahrscheinlich ist sie die tödlichste Waffe, die er besitzt.»

«Warum bringt sie ihn nicht um?»

«Weil sie nicht will. Habt Ihr das immer noch nicht verstanden? Magie ist ein Fluch, kein Segen. Vermutlich hat sie das erste Mal als Kind getötet. Ein Tier, einen Menschen. Womöglich sogar ihre Familie. Sie kann es nicht kontrollieren. Niemand hat sie ausgebildet. Armes Ding.» Fast liebevoll streichelte Sena Cais Wange, bis die jüngere Frau allmählich zu sich kam.

Raques trat vom Tresen weg, zermalmte Schlamm mit dem Stiefelabsatz, dachte lange nach. Düsternis umwölkte seine Stirn. «Sie ist hier nicht sicher.»

«Nein. Sie wird immer auf der Flucht sein. Sich verteidigen müssen. Weiter morden. Das frisst sie auf. Irgendwann.»

«Ich will nicht», wälzte Cai sich hin und her, erst halb bei Bewusstsein. «Ich will nicht.»

Sena wischte ihr zärtlich blutverschmierte Tränen aus dem Gesicht, rieb Cais eiskalte Hände. «Ich weiß, Kleines.» Dann schaute sie auf den Grenzläufer. «Ihr müsst eine Entscheidung treffen.»

Der Kämpfer sagte nichts. Seine hellen Augen starrten ins Nichts. Die Finger der linken Hand spielten mit dem Griff des Dolches, die rechte massierte das bartlose Kinn. Er stieß unterdrückte Flüche in einer fremden Sprache aus.

Endlich schlug Amiracai die Augen auf. Sie suchte Raques‘ Blick, fing ihn ein. «Zuletzt wollte er an meinen Kopf. Wollte ihn öffnen. Hineinschauen, um es zu begreifen. Mich begreifen. Was ich bin, was es mit mir macht. Es. Sie. Die ... Magie. Diese verheerende Kraft. Dabei begreife ich es selber nicht. Er ist ein böser Mensch. Wenn Ihr in seinem Heer dient, wisst Ihr das. Er hat begonnen, andere zu unterjochen. Er wird weiterziehen. Immer weiter ziehen. Plündern. Morden. Erobern. Ich nicht. Verstehst du? Ich. Nicht.»

Raques hielt ihrem Blick stand, schwieg, kaute auf dem Inneren seiner Wangen, mahlte mit den Kiefern, nickte schließlich. «Die Ebenen. Die Wälder. Später die Grenzlande. Und dann zieht er hinüber.» Erstaunt hielt er inne, als überrasche ihn der eigene Gedanke.

«Was kommt da drüben?», wollte Sena wissen.

«Nach den Nebelbergen das Schaummeer. Es wird ihn aufhalten, aber nicht lange. Danach eine längliche Insel. Friedliche Menschen. Bauern, Handwerker. Er wird über sie rollen wie eine tödliche Woge.»

«Ist sie Eure Heimat? Die lange Insel?»

Raques schüttelte den Kopf. «Mein Vaterstamm lebt weit von ihr entfernt mitten in den Sümpfen. Schwer zu finden, noch schwerer zu erobern. Obwohl es den Kaiserlichen gelungen ist.»

«Bringt sie hinüber», befahl Barras.

«Was sagt Ihr?» Der Kämpfer fuhr auf dem Hacken herum.

«Nehmt sie mit. Geht zurück in Eure Heimat. Warnt die Menschen. Bringt sie in Sicherheit.»

«Auch drüben brodelt es, hört man», wandte Sena ein.

«Ich bin Inspektor und ich kann Euch versprechen, dass es hier viel mehr brodeln wird. Ihr Graf hat seine Späher bereits ausgesandt. Er wird Raques hinrichten, wenn er mit leeren Händen zurückkehrt, oder nach ihm suchen lassen, wenn er es nicht tut. So sind die Grafen hier. Wie der Bluthund Hadenaes. Verbissen, aggressiv und nachtragend.»

Sena blickte Raques an. «Einauge und Keleb werden ihre Klappen nicht ewig halten, selbst wenn Barras sie einschüchtert. Die Händler werden bald erwachen, das Gemetzel hier sehen und Fragen stellen. Wir sollten zusehen, dass wir dann weit genug weg sind.»

«Wir?», echoten Barras und Raques wie aus einem Mund.

Sena tätschelte Cais Hand. «Jemand muss auf sie aufpassen.»

«Ich glaube, Raques ist ein ganz passabler Kämpfer», wandte Barras ein.

«Der nichts von Magie versteht.» Sena versenkte ihre Augen in Cais. «Jemand muss dir beibringen, wie man mit Magie umgeht. Wie du merkst, hinterlässt sie Spuren. Körperliche genauso wie seelische. Sie ist ein fieses Aas.»

«Könnt Ihr das?» Hoffnung schimmerte in den schwarzen Augen auf.

«Man kann ihr nicht entkommen und man kann sie nicht bezwingen. Aber man kann sie zügeln, sie beherrschen. Ich bin keine Expertin, aber ich kann dir beibringen, sie dosiert loszulassen, damit sie sich nicht aufstaut.»

«Mit Kaffee?»

«Ich habe mit anderen Stoffen herumexperimentiert. Mit Flüssigkeiten und Gegenständen. Kaffee ist perfekt. Außerdem kann man ihn trinken. Ich koche uns jetzt einen. Für unsere Wunden und unsere Nerven.»

«Was ist mit Eurer Taverne?»

«Diese Spelunke? Geschenkt», winkte Sena ab.

«Sicherlich hängt Euer Herz an ihr. Immerhin ernährt sie Euch.»

«Nicht sehr. Hab sie bei einem Spiel gewonnen.»

«Habt Ihr geschummelt?»

«Ein bisschen.»

Cai brachte ein Lächeln zustande, das die Härte in ihren Zügen aufweichte. «Das ist gemein.»

«Ja, aber ich sehnte mich wirklich, wirklich nach Ruhe. Dachte, es wäre eine gute Idee, irgendwo neu anzufangen.»

Cai versteifte. «Euer altes Leben war eine Hölle wie meines, nicht wahr?»

Senas Wangen zuckten. «Wir sollten nicht mehr an früher denken. Vor uns liegt eine Zukunft, hoffentlich eine bessere, an einem Ort, wo es schön warm und trocken ist. Und jetzt lasst uns einen Kaffee trinken.»

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Sairens Profilbild
Sairen Am 19.08.2020 um 12:31 Uhr
Sehr gute Geschichte und ein ebenso guter Schreibstil. Ich hätte nicht gedacht dass man so viel aus dem Stichwort Kaffee holen kann.

Du beschreibst die Personen nur mit dem Nötigsten. Das mag ich sehr gern, da ich oft negativ Beispiele mit zu viel Beschreibungen gelesen habe.
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Aidan (Autor)Am 23.09.2020 um 16:41 Uhr
Auch, wenn es ein bisschen spät kommt: Vielen Dank für den netten Kommentar. Der ist eine echte Aufmunterung.

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Kapitel: 7
Sätze: 1.303
Wörter: 11.185
Zeichen: 66.225

Kurzbeschreibung

Eine Taverne mitten in den Wäldern des Grenzlandes. Gäste, die Schutz vor den Regenschauern des Spätherbstes suchen. Eine Wirtin, die spürt, dass Ärger sich ankündigt, und auf die besondere Wirkung ihres Kaffees vertraut. Die Geschichte war ursprünglich als Wettbewerbsbeitrag zum Thema "Kaffee" gedacht. (Doch die Ausschreibung ist auf magische Weise in den Tiefen des Internets verschwunden...)

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