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Derhan: Das Ende des Weges

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23.05.24 23:07
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Als der Heerzug der Berreshi die große Brücke über den Sheyshen hinter sich gelassen hatten, flog Derhan eine wohlige Empfindung an: er war auf dem Weg nach Hause. Klang nicht sogar der Schritt der Pferde über die Steine dieses Abschnittes der Taribischen Straße vertrauter, als über den auf der anderen Seite des Flusses?

Auch wenn es immer gutes Geld brachte, sich dem Truppenaufgebot anzuschließen, mit dem der Rat von Berresh die Kriegszüge des verbündeten Hannai unterstützte, reichten ihm die gewöhnlich sieben bis zehn Tage Knochenarbeit als Feldscher nun auch wieder. Und zuhause erwartete ihn nicht nur seine Frau, nach deren weichem Leib er sich seit dem frühen Aufbruch aus Taribai sehnte, sondern ein inzwischen siebenjähriger Sohn, der aufgeweckt und neugierig war und kurz vor Derhans Aufbruch das Schreiben gemeistert hatte. Mit Hilfe des Patrons würde sich sicher auch ein guter Lehrer für den Jungen finden lassen.

*

Endlich erreichte der Trupp den Musterungsplatz vor dem Westtor der Neuen Stadtmauer. Wie die anderen stieg Derhan von seinem Pferd und reihte sich an seinem Platz in der Feldscher-Wannim ein. Die meisten dieser zehn Mann waren wie ihr Wanack Chirurgi, dazu kamen zwei Männer, die gewöhnlich in einem Badehaus aushalfen, der Lehrling eines Chirurgus und Derhan selbst. Er kannte keinen anderen im Heiligtum des Ungenannten ausgebildeten Arzt, der bei den Truppen mitzog. Wenn sie denn einen Kriegszug begleiteten, fand man sie gewöhnlich bei der Priesterschaft. Allerdings kannte er außer sich selbst auch keinen im Tempel von Berresh ausgebildeten Arzt, der nicht zugleich auch Bürger der Stadt war. Durch sein Studium hatte er sich immerhin das Recht verdient, die weiße Kappe des Tempelgelehrten auf seinem kahlrasierten Schädel zu tragen. Natürlich trug er sie auch im Feld, denn er hatte die Erfahrung gemacht, daß die verletzten Offiziere dann viel großzügigere Trinkgelder für die Behandlung ihrer Blessuren springen ließen. Die tatsächliche Qualität seiner Behandlung schien eher nebensächlich zu sein, obwohl er damit sicher hinter kaum einem in der Einheit zurückstand. Und so kehrte er auch diesmal wieder mit einem erklecklichen Batzen Geldes heim, ein kleiner Ausgleich für die Tatsache, daß er als Mitwohner Berreshs für Behandlungen in der Stadt nur die Hälfte der Bezahlung verlangen konnte, die ein Bürger erhielt.

Die Schreiber prüften ihre Listen, dann folgte die Ausmusterung und der Anführer jeder Einheit erhielt das von Hannai zugesagte Geld, so daß Derhan von seinem Wanack zu seinen bisherigen Einnahmen noch achtzehn Tar für die neun Tage Kriegszug gegen Räuber in den Grasbergen erhielt, deren einziger Schatz ihre Pferde gewesen waren. Noch ein oder zwei Kriegszüge und er konnte sich endlich in die Bürgerschaft einkaufen.

Derhan stellte seine Stute wie immer bei dem Pferdehirten nahe des Westtores unter und trug seine Taschen dann zu Fuß in die Stadt. Trotz der schon vorgerückten Stunde war Derhans Schritt regelrecht beschwingt, als er den Weg nach Hause einschlug. Die Lampen an den Hauseingängen waren bereits entzündet, auch wenn es noch nicht einmal dämmerte, und so fühlte er sich willkommen geheißen, schon bevor er an die Tür seines eigenen Hauses geklopft hatte.

Es dauerte einen Moment, bis der Haussklave die Tür öffnete und dann seinen Herrn mit auffälliger Erleichterung begrüßte, als habe er vor der Tür einen Hausfremden vermutet. "Erwartet meine Gattin noch Besuch?" fragte Derhan daher.

Jamul schüttelte den Kopf. "Nein, Herr", dann griff er nach Derhans Gepäck: "Laßt mich das nehmen, Herr", und drehte sich schon um, um die Taschen in Derhans Räume zu bringen.

"Mach mir ein Bad", rief Derhan ihm nach, ging dann in den Innenhof, legte seine Waffen ab und begrüßte die seiner Frau so wichtigen Hausgötter in ihrem kleinen Schrein in der Ecke mit einem respektvollen Nicken. Doch wo war seine Familie? Konnte er nicht erwarten, daß zumindest seine Frau ihn begrüßte? Sie mußte doch Nachricht von der Rückkunft der Truppen erhalten haben.

Ah, da erreichte ihn der Duft gebratener Köstlichkeiten, nun hörte er auch Töpfeklappern und Frauenstimmen aus der Küche. Da steckte Lefiët wohl und ließ ein festliches Begrüßungsmahl für ihren Gatten bereiten. Beruhigt ging Derhan in sein Behandlungszimmer, entzündete die Lampe und hebelte dann die Türschwelle zu seinem Vorratsraum mit den Kräutern und Tinkturen auf, um zweiunddreißig glänzende Silbertar zu seinem Ersparten in den Tontopf zu legen, den er unter der Schwelle versteckt hatte. Es wärmte sein Herz zu sehen, wie voll dieser Topf inzwischen geworden war, er hatte sein Ziel wirklich bald erreicht. Wenn sich alles gut fügte, war Derhan Bürger von Berresh, bevor Dandar wirklich verstand, was genau den Unterschied zwischen einem solchen und einem bloßen Mitwohner der Stadt ausmachte.

Zufrieden legte Derhan die Türschwelle wieder zurück und trat sie fest, zog im ehelichen Schlafzimmer die Kleidung aus und begab sich in das daran anschließende kleine Bad, um sich für eine intimere Wiedersehensfeier als ein gemeinsames Nachtmahl mit seiner Frau bereit zu machen.

*

Frisch bekleidet wollte Derhan endlich seine Frau begrüßen. Doch in der Küche waren nur die Köchin und die Haussklavin. Die Herrin sei bei Dandar, den sie trösten müsse, erfuhr er. Also ging er, nach seinem Sohn zu sehen.

Lefiët saß auf der Bettkante und hielt mit der Linken noch die kleine Hand des inzwischen schlafenden Kindes, dessen weißes Haar sich auf dem Kissen lockte, die weißen Augenbrauen und Augenwimpern auf dem hübschen, dunklen Gesicht wie mit Kreide aufgemalt. Gerötet waren die Augenlider, Dandar hatte offensichtlich geweint. Und auf Lefiëts Schoß lag ein feines Leinentuch, das sie sonst in ihrem Ärmel trug und mit dem sie wohl die Tränen ihres Kindes getrocknet hatte. Sie selbst wirkte ebenfalls bedrückt, wahrscheinlich weil der Knabe sich nicht hatte trösten lassen.

Als Derhan einen Schritt näher an das Bett seines Sohnes herantrat und der hölzerne Fußboden knarrte, drehte Lefiët sich zu ihm um, dann lächelte sie ihren Gatten etwas zögerlich an. Doch bevor sie sich erhob, wandte sie sich noch einmal Dandar zu und küßte seine Stirn.

"Was...", fragte Derhan flüsternd, doch Lefiët schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen. Natürlich, nicht hier, damit der Junge nicht wieder geweckt und erneut von seinem Kummer bedrängt wurde. Und als sie das Zimmer verlassen und die Tür geschlossen hatten, war das Essen fertig.

Die nach Art des Westens bereiteten Speisen, die ihren vertrauten Wohlgeruch im Speisezimmer entfalteten, dieser überaus appetitliche Anblick direkt in Reichweite seiner Hände, erinnerten Derhan daran, daß er seit dem Frühstück bei Morgengrauen nichts mehr gegessen hatte, zudem hatte er während des Kriegszuges die heimische Küche vermisst. Lefiët stammte zwar aus Menrish, aber auch dort aß man wie bei den Stämmen und es war ihr gelungen, eine Frau aus ihrer Heimat als Köchin zu finden.

Da Lefiët den Appetit ihres Mannes offenbar nicht mit Dandars Kummer belasten wollte, schwieg sie während des Essens davon, sagte überhaupt kaum etwas, ebenso wie Derhan. Als jedoch der Tee gebracht wurde, erhob Derhan sich von seinem Platz und setzte sich auf das andere Speisesofa neben seine Frau, die schweigend an ihrer Teeschale nippte. "Was also hat Dandar für einen Kummer?" fragte er endlich, obwohl er sie lieber zu ihrem gemeinsamen Bett geführt hätte.

Lefiët hob den Blick nicht, als sie die Teeschale sinken ließ und begann: "Der Patron war heute mittag hier."

"Er wußte doch, daß ich erst mit dem Heer zurückkehren würde", warf Derhan ein.

"Ja, das wußte er wohl", bestätigte Lefiët. Die Schale zitterte in ihren Händen. Sie stellte sie ab und verschränkte die Finger auf ihrem Schoß. Doch sie fuhr nicht fort zu sprechen.

"Hatte er also einen Vorschlag, zu welchem Lehrer man Dandar geben könnte?" fragte Derhan wieder nach.

Doch Lefiët schüttelte den Kopf. "Nein, jedenfalls hat er nichts dazu gesagt." Sie verstummte wieder, ihre Finger verkrampften sich umeinander. "Derhan, wieso haben die Götter ihn nicht davor bewahrt? Er hat doch das Blut der Unirdischen in sich", schluchzte sie plötzlich, die Tränen flossen über ihre Wangen.

"Wovor bewahrt?" fragte Derhan verwirrt. Doch es war ihm auch eine gewisse Genugtuung, daß sie endlich einsah, daß die Götter sich nicht im Geringsten um Menschen mit angeblich unirdischem Blut kümmerten. So oft hatte sie ihm Gottlosigkeit vorgeworfen, wenn er seine Überzeugung zu diesem Thema geäußert hatte, denn kein Gott hatte den Tod seines eigenen Vaters verhindert als Derhan gerade geboren worden war, obwohl er angeblich so viel unirdisches Blut gehabt hatte, daß er Gedanken lesen konnte. Und kein Gott hatte Derhan in seiner Jugend davor bewahrt, verspottet und geschlagen zu werden, da er von seinem Vater nur die weißen Haare geerbt hatte, ansonsten jedoch nicht den Hauch irgendwelcher unirdischer Fähigkeiten.

Lefiët behauptete immer, das segensvolle Wirken der Götter für Derhan habe sich darin gezeigt, daß sie einander gefunden hatten, und eine Zeitlang hatte er es glauben wollen. Doch genauso gut konnte es reiner Zufall gewesen sein, denn in Menrish erwartete keiner von ihm Wunderdinge, und keiner sah ihn schief an, als er begann, sich nach Städtersitte den Schädel zu rasieren, um so das weiße Haupthaar zu verbergen, die Brauen und Wimpern immerhin waren bei ihm mit dem Heranwachsen dunkler geworden.

Derhan war kurz davor, eine spöttische Bemerkung zu machen, als er sah, wie sein Weib die Hände rang, die Finger der einen Hand mit denen der anderen endlich so fest umklammerte, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Wenn sie sich Dandars Kummer so sehr zu Herzen nahm, war es wohl mehr als eine kindliche Laune. Also nahm er sie statt dessen zärtlich in die Arme. "Was ist denn überhaupt passiert", wollte er wissen.

Lefiët blieb in seinen Armen steif wie ein Brett. "Er ist doch dein Patron", flüsterte sie. "Wie hätte ich ihm denn verweigern können... selbst wenn ich gewußt hätte..." Sie schluchzte plötzlich. "Aber... erst als... wie konnte er das nur tun?" Und nun vergrub sie ihr tränenüberströmtes Gesicht in den Händen.

Was sie da sagte, ergab keinen Sinn. Ratlos rückte Derhan noch näher, so daß sie doch endlich ihren Kopf an seine Brust legte, doch ihre Schultern zuckten im Rhythmus ihrer Schluchzer. Sie war seine Liebste, seine Gattin, die Mutter seines Sohnes. Sie war der Mensch, der ihm Halt gegeben hatte, als er, noch ein halbes Kind, aus den Zelten der Yoshany fortgelaufen war. Sie war die erste gewesen, die ihn akzeptiert hatte, wie er war; die ihren Vater überredet hatte, ihn aufzunehmen und zum Kräuterhändler auszubilden, obwohl er von den Stämmen kam. Und später hatte sie ihn ermutigt, in Berresh zu studieren und war ihm nach Abschluß dieses Studiums in die Fremde gefolgt, ohne zu zweifeln oder auch nur zu fragen. Was auch immer Furchtbares in seiner Abwesenheit geschehen war, allein für Lefiëts Beständigkeit ihm gegenüber mußte er versuchen, alles wieder gut zu machen. Also wollte er sie mit seinen Küssen trösten, doch seine Gattin drehte das Gesicht weg.

"Du verstehst es nicht", flüsterte sie unter Tränen. "ICH habe ihn zu Dandar gelassen. Ich bin fortgegangen, hab' unseren Sohn mit ihm allein gelassen. Er ist doch dein Patron..." So leise war sie geworden, daß er das letzte Wort mehr erschlossen als tatsächlich gehört hatte.

Was war nur für eine Ungeheuerlichkeit vorgefallen? Er umfaßte zärtlich Lefiëts Gesicht und drehte es sanft, so daß sie ihn ansehen mußte. "Geliebte, was genau ist geschehen?"

Doch Lefiët weinte nur und schüttelte den Kopf.

"Er hat Dandar etwas angetan", vermutete Derhan, und sie nickte. "Hat er ihn geschlagen?"

Aber nun schüttelte Lefiët wieder den Kopf. "Er hat Dandar... Gewalt angetan, hier in deinem Haus, unter deinem Dach", seufzte sie unglücklich.

Einen Moment glaubte Derhan nicht, was er da gerade gehört hatte. Dandar war ein kleines Kind! "Wie konnte er das wagen? Auch ein Patron kann sich nicht alles herausnehmen. Wir sind schließlich nicht seine Sklaven!" brach sich endlich der Zorn die Bahn.

"Als Mitwohner sind wir weniger als Sklaven", warf Lefiët nun mit leiser Stimme ein, "denn Sklaven gehören jemandem und bei einem Übergriff hätte er Schadenersatz leisten müssen. Du kennst doch die Gesetze hier. Unser einziger Schutz sind die Götter, doch wenn sie nicht helfen, ist für uns alle Hoffnung verloren."

Kein Oshey hätte gewagt, einem Kind so etwas anzutun. Natürlich, die Gesetze der Stämme galten hier nicht, doch es konnte nicht sein, daß sein Sohn in Berresh einem solchen Übergriff einfach ausgeliefert sein sollte, sie waren doch nicht irgendwo im wilden Osten, sondern in einer der ältesten Städte der zivilisierten Welt. Doch an wen konnte er sich um Hilfe gegen den Patron wenden?

Bei den Yoshany wäre der Fürst die höchste Autorität gewesen, im Heer hätte er zuerst den Zweiten seines Wanack ansprechen müssen. Hier in Berresh lag die Gerichtsbarkeit beim Rat der Stadt, doch dort konnte er als Mitwohner nicht selbst vorstellig werden, dafür brauchte er einen bürgerlichen Vertreter - eine Funktion, die für gewöhnlich der Patron des Mitwohners innehatte.

Dann fiel Derhan ein, daß - selbst wenn die Götter Dandar im Moment der Gefahr nicht geholfen hatten - der Hohepriester des Ungenannten doch nicht dulden würde, daß dem Sohn eines seiner Tempelgelehrten ungeahndet etwas zustieß. "Ich werde zum Hohepriester gehen, jetzt gleich", entschied er, trocknete mit dem Ärmel zärtlich Lefiëts Wangen und küßte sie auf den von ihren Tränen salzigen Mund. "Der wird uns helfen."

* * *

Natürlich war es schon längst dunkel und die ersten Sterne standen am Himmel, als Derhan die Alte Stadtmauer durchschritt und zur Prozessionsstraße eilte, die hinaufführte zur Oberstadt, wo neben dem Ratspalast der Tempel des Ungenannten stand. Die Tempelfront war übergossen vom orangenen Schein des Ewigen Feuers, doch nicht der Tempel war Derhans Ziel, denn außer der Handvoll Priester, die sich nachts um das Feuer kümmerten und für die wenigen nächtlichen Besucher die Gebete an den Gott sprachen, war dort zur Zeit niemand. Der Hohepriester des Ungenannten aber wohnte in einem vornehmen Haus direkt an der Prozessionsstraße, am oberen Ende des Aufstiegs zur Oberstadt.

Als er vor der Eingangstür stand, überlegte Derhan einen Moment, ob er zu so später Stunde noch beim Hohepriester vorstellig werden konnte oder sich durch die Störung aller Chancen beraubte, Gehör zu erhalten. Aber rechts und links der Tür brannten die Lampen, über dem Dach sah man Lichtschein aus dem Innenhof des Hauses, und Derhan hörte Stimmen und Lachen, anscheinend fand in diesem Haus noch ein geselliges Miteinander statt. Allerdings mochte das Eindringen eines Fremden in eine Gesellschaft als noch unangenehmer empfunden werden, als die eher private Störung kurz vor der Nachtruhe. Trotzdem faßte Derhan sich ein Herz und klopfte an die einladend beleuchtete Tür.

Ein vornehm gekleideter junger Mann öffnete. "Was wünscht ihr, Herr?" fragte er mit etwas blasiert klingender Stimme.

Derhan verneigte sich tief. "Ich bin Derhan aus Menrish und wurde vor einigen Jahren im hiesigen Tempel zum Arzt ausgebildet", stellte er sich vor. "Ich brauche die Hilfe eures Herrn."

Der junge Mann, der wohl nichts anderes als der Türwächter des Hohepriesters war, nickte und ließ Derhan ein, bat ihn jedoch, in dem großzügigen Vorhof direkt hinter der Eingangstür zu warten, während er in den Innenhof zu der Gesellschaft ging, wahrscheinlich um zu fragen, ob Derhan empfangen wurde. Es dauerte nicht lange, bis der Türwächter in Begleitung eines elegant gekleideten, schlanken Mannes in fortgeschrittenem Alter in den Vorhof zurück kam.

Erst auf den zweiten Blick erkannte Derhan den Hohepriester, den er bisher nur in seinen prachtvollen Tempelgewändern gesehen hatte. In seinem Haus waren die dem Gottesdienst vorbehaltenen Kleidungsstücke sicher unangebracht, aber er trug nicht einmal eine weiße Gelehrtenkappe. Seine bodenlange Tunika und das bei den Männern der adligen Familien übliche, locker über eine Schulter und die Hüfte geschlungene Tuch waren allerdings aus sehr feinem, in verschiedenen Farben schimmerndem Stoff, so daß seine Privatkleidung kaum der Pracht der Tempelgewänder nachstand.

Auch wenn Derhan nicht an die Fürsorge der Götter glaubte, erwies er doch dem offiziellen Vertreter der Institution, der er seine Ausbildung zum Arzt verdankte, den schuldigen Respekt, indem er sich nun ehrerbietig verbeugte. "Euer Eminenz, bitte entschuldigt die Störung", beeilte er sich zu versichern, "aber ich brauche eure Hilfe."

Der Hohepriester nickte und wedelte vor Derhans Nase kurz mit der Hand, anscheinend ein Zeichen für ihn, daß er sich aus seiner Verbeugung erheben sollte. "Wir feiern gerade die Amtseinsetzung des neuen Hohepriesters in Hannai", erklärte der Hohepriester von Berresh, "aber die Herren werden sich auch eine Weile ohne mich unterhalten können." Und er geleitete Derhan in einen kleinen Raum, dessen Wände hinter büchergefüllten Schränken verborgen waren. "Setz dich, mein Sohn", bot er Derhan einen Platz auf einem der unbequem aussehenden Holzstühle an. "Wofür brauchst du meine Hilfe?"

Derhan mußte sich einen Moment sammeln, bevor er das Geschehen in seinem Hause ruhig darlegen konnte: "Ich bin hier in Berresh nur Mitwohner, wie ihr wißt. Während meiner Abwesenheit besuchte mein Patron mein Haus, brachte meine Gattin dazu, ihn zu unserem siebenjährigen Sohn zu lassen, und hat diesen dann in meinem Haus vergewaltigt."

Der Hohepriester zog die Augenbrauen hoch. "Dein Patron ist doch nicht ebenfalls ein Tempelgelehrter, oder?" fragte er dann.

Derhan schüttelte den Kopf. "Es ist...", aber der Hohepriester winkte ab. "Wenn kein Angehöriger des Tempels direkt daran beteiligt ist, denke ich, daß es eher ein Fall für die weltliche Gerichtsbarkeit ist. Dafür brauchst du natürlich einen Vertreter vor Gericht, denn dein Patron kommt dafür selbstverständlich nicht in Frage. Aber ich glaube, darin kann ich dir wirklich helfen, denn wie es der Zufall will, gehört zu meinen Gästen heute abend auch Manord Havatim, der einen Narren an den Oshey und euch anderen Leuten aus dem Westen gefressen hat. Er wird dir sicher helfen." Der Hohepriester stand auf und winkte durch die noch offene Tür einen der Sklaven aus dem Innenhof zu sich. "Geh' und hol' mir Manord Havatim, mein Junge."

Der Sklave nickte und lief durch den Innenhof in das Speisezimmer.

"Versteh' mich nicht falsch, Derhan. Wenn es um einen Frevel gegen die Götter ginge oder gar dämonische Umtriebe, würde ich selbst vor der Herabrufung des Ungenannten nicht zurückschrecken, um dir zu helfen. Aber hier in Berresh sind das göttliche und das weltliche Gesetz - und auch seine Durchsetzung - seit langer Zeit streng getrennt. Das bestehende Gleichgewicht zwischen dem Rat und dem Tempel ist zu kostbar, um es eines einzelnen Vorfalles wegen aufs Spiel zu setzen, weil der Vater eines mißhandelten Kindes nun zufällig Tempelgelehrter ist. Aber Manord Havatim wird dir helfen, er ist ein kluger und rechtschaffener Mann, der mein volles Vertrauen genießt. Bräuchte ich einen Vertreter vor dem Gericht des Rates wäre er meine erste Wahl."

Derhan nickte ergeben, denn was sollte er sonst tun, als diese einzige Aussicht auf Hilfe anzunehmen.

"Und was die Gerichtskosten betrifft, so mach dir keine Sorgen, die werde ich aus meinem privaten Vermögen tragen", fügte der Hohepriester dann noch mit einem freundlichen Tätscheln auf Derhans Knie hinzu, "soviel immerhin kann ich für einen Tempelgelehrten tun, ohne einer ungebührlichen Einmischung in Angelegenheiten des Rates verdächtigt zu werden."

Das war mehr als freundlich, aber auch diese Zusicherung sorgte bei Derhan nicht für die Erleichterung, die er sich von einer Hilfszusage des Hohepriesters erhofft hatte. Doch das Gespräch mit Manord Havatim, der seinem Namen nach zu einem der mächtigsten Adelshäuser der Stadt gehörte, mochte seinen Besuch hier noch zum Positiven wenden.

Und da führte der Sklave auch schon einen beim Gehen über seinen Stock gebeugten, untersetzten alten Mann durch den Innenhof, ein weiterer Sklave, der einen gepolsterten Stuhl trug, folgte den beiden.

"Mein lieber Freund, dies ist Derhan aus Menrish, ein Mitwohner Berreshs, der in unserem Tempel zum Arzt ausgebildet wurde", stellte der Hohepriester Derhan vor und erläuterte kurz dessen Problem, während der alte Adlige, der bis auf einen schmalen, stark ergrauten Haarkranz so kahl war wie Derhan, für den gepolsterten Stuhl einen Platz anwies. Manord Havatim ließ sich schließlich steifbeinig auf der mitgebrachten Sitzgelegenheit nieder. Angesichts seiner Bewegungen und einiger verkrümmter Finger plagte ihn offensichtlich die Gicht.

"Seid ihr wegen eurer Gicht in Behandlung, Herr?" erkundigte Derhan sich besorgt, nachdem er sich ehrerbietig verbeugt hatte.

"Ah, ein wahrer Arzt, immer um leidende Menschen besorgt", warf der Hohepriester mit einem freundlichen Lächeln ein, während Manord Havatim Derhan mit einem kritischen Blick musterte. "Was, wenn ich nicht in Behandlung wäre?" fragte er zurück.

"Ihr scheint einen akuten Anfall zu haben. Also würde ich euch einen schwachen Tee vom Grün der Herbstzeitlose empfehlen, um eure Schmerzen zu lindern, Herr", gab Derhan zurück.

Nun umspielte auch Manord Havatims Lippen ein Lächeln und er nickte. "Das tat auch mein Arzt. Nun gut, ich bin bereit, euch vor dem Gericht des Rates zu vertreten, wenn ihr nicht gerade einen Freund von mir verklagen wollt. Wer also ist euer Patron, junger Mann?"

"Das ist Oseram Kasiterim", gab Derhan zur Auskunft.

Und nun erhellte sich das ganze Gesicht des alten Mannes. "Welch glückliche Fügung!" rief er aus. "Nicht nur kein Freund sondern der Sohn eines meiner... Feinde könnte man sagen. Sorfan, du kannst mich mit dem Mann allein lassen, wir werden uns schon einig. Aber vielleicht läßt du mir noch ein paar von diesen köstlichen Früchten aus dem Süden bringen, und eine Kanne von dem Oinos, den du mir versprochen hattest."

Der Hohepriester nickte, winkte die Sklaven hinaus, dann verabschiedete er sich und schloß die Tür.

"Oseram hat also euren Sohn vergewaltigt", vergewisserte sich der alte Mann noch einmal.

Derhan nickte nur, da er es nicht über sich brachte, die Tat noch einmal in Worten zu bestätigen.

"Nun, dann werden wir die Anklage auf der Nähe Oserams zu den Ostlern und dem damit einhergehenden, allgemeinen Sittenverfall in der Stadt aufbauen. Wenn wir Erfolg haben, wird sein Vater es schwer haben, in seinem Stadtteil für die anstehende Wahl zum Ratsherren aufgestellt zu werden." Manord Havatim lachte bösartig und rieb sich zufrieden die Hände. "Es wird ihn politisch vernichten." Dann strich er nachdenklich über seinen fast weißen Kinnbart. "Natürlich ist euer Sohn nicht der Sohn eines Bürgers, aber ihr seid anscheinend ein fähiger Arzt. Ich meine mich auch zu erinnern, daß einer meiner Enkel von euch erzählt hat. Habt ihr vor zwei Jahren einmal einen Kriegszug als Arzt begleitet?"

Derhan nickte. "Ich war in den vergangenen vierzehn Jahren jedes Jahr dabei, in der Wannim der Feldscher."

"Natürlich, ihr seid ja kein Bürger. Wie lange wohnt ihr schon in Berresh?"

"Mein Studium hier begann ich vor fast siebzehn Jahren. Seit zehn Jahren bin ich in Berresh als Arzt tätig."

"Und ihr spart, um euch in die Bürgerschaft einzukaufen, nehme ich an?"

Derhan nickte. "In spätestens zwei Jahren werde ich es mir leisten können."

"Klug, strebsam, Berresh ein guter Diener und auf dem Wege ein guter Bürger zu werden, das hilft uns sehr. Und euer Sohn, ist er vielleicht auch schon ein guter Schüler eines berühmten Lehrers?"

Derhan schüttelte den Kopf. "Er ist sieben Jahre alt und hat vor kurzem das Schreiben gemeistert. Meine Frau und ich haben ihn bisher unterrichtet, aber er soll bald eine gute Schule besuchen."

"Erzähl mir noch etwas. Ist er schon in den Übungshöfen zu finden? Oder will er ein Arzt werden, wie sein Vater?"

Derhan hatte das Gefühl, daß sein Gehirn wie leergefegt war, aber dann fiel ihm ein: "Er hat unirdisches Blut, seine weißen Haare zeugen davon."

Doch nun sanken die zuvor so erfreut hochgezogenen Mundwinkel des alten Adligen herab. "Das sollten wir gar nicht erwähnen. Schon schlimm genug, wenn er weißes Haar hat und der Verteidiger selbst auf die Idee kommen könnte, das zu verwenden. Ganz schnell sind wir da bei dämonischem Zauber, den der Junge gewebt haben soll, um einen ehrenwerten Bürger, nämlich deinen Patron, zu verführen. Damit tun wir unserer Sache keinen Gefallen, denn dann muß das Tempelgericht tätig werden und prüfen, ob es tatsächlich unirdisches oder vielleicht doch eher dämonisches Blut ist, das in seinen Adern fließt. Und ihr wißt selbst, daß die Priester des Ungenannten bei Dämonen keinen Spaß verstehen. Wenn nur der Hauch eines Zweifels an eurer Aussage besteht, seht ihr euren Sohn nach der Prüfung im Tempel nicht wieder. Und eure Einbürgerung könnt ihr dann auch vergessen."

"Aber er ist ganz sicher unirdischen Blutes", betonte Derhan, der seine Familienehre verletzt sah. "Mein Vater hatte schon die weißen Haare und konnte Gedanken lesen."

Manord Havatim schüttelte traurig den Kopf. "Ihr müßt diese westliche Einstellung vergessen, wir sind hier in Berresh. Im Zweifel ist es dämonisches Blut, das diese weißen Haare hervorruft. Weiß denn euer Vater, wie es in die Familie kam?"

"Mein Vater ist tot, schon seit Jahrzehnten. Er starb kurz nach meiner Geburt."

Der Alte hob abwehrend die knotigen Hände. "Auch das noch! Schweigt von der ganzen Sache, sonst seid ihr der Dämon und habt ein dämonisches Kind - und euren ehrenwerten Vater machen sie zu einer Leiche, die von einem Erzdämon besessen war, als er euch zeugte. Kommt zu eurer mangelnden Zeugnisfähigkeit als Mitwohner auch noch eine Nachforschung des Tempels, haben wir gar keine Möglichkeit, die Anklage durchzubringen."

Derhan wußte, daß den Priestern des Ungenannten der Eid abgenommen wurde, dämonisches Treiben zu unterbinden wo immer sie es vermuteten, ebenso wie den Ärzten der Eid abgenommen wurde, mit ihrem Wissen keinem Menschen zu schaden. Doch wie die Ärzte geschult wurden, auch ähnliche Krankheitsbilder sicher voneinander unterscheiden zu können, waren doch auch die Priester gewiß dazu in der Lage, die Abkömmlinge der Kinder ihres Gottes von den Erzfeinden eben dieses Gottes zu unterscheiden. Der Hohepriester vertraute dem Urteil dieses gichtigen alten Mannes, also sollte Derhan es ebenfalls, wenn er Hilfe wollte - aber wohl war ihm dabei nicht. Zu wenig schien die geplante Anklage damit zu tun zu haben, daß ein kleiner Junge von einem erwachsenen Mann mißbraucht worden war, grundlegende moralische Fragen verschwanden bei ihrem Aufbau hinter innenpolitischen und religiösen Themen.

Inzwischen brachten die Sklaven ein mit Speisen überladenes Tablett, außerdem zwei große, sehr flache Trinkschalen, dazu eine Kanne, in der eine streng und zugleich lieblich riechende rote Flüssigkeit schwappte.

"Nehmt auch einen Schluck von dem Oinos", lud Manord Havatim Derhan ein und ließ beide Schalen füllen. "Besiegeln wir damit, daß ich ab sofort als euer neuer Patron für euch sorgen werde, bis ihr euch in die Bürgerschaft eingekauft habt."

Das war also jenes teure Getränk aus dem Osten, von dem Derhan schon hatte reden hören. Neugierig aber doch zögernd führte er die Trinkschale wie der Alte mit zwei Händen an den Mund und nippte daran. Das Getränk erinnerte an den Dattelwein, der bei der Schur seiner Stirnlocke ausgeschenkt worden war, es war jedoch nicht ganz so süß, dafür wärmte es die Kehle und den Magen viel mehr, als Derhan es herunterschluckte.

Manord musterte Derhan über den Rand seiner eigenen Schale. "Erinnert euch an den Geschmack dieses Oinos. Ihr werdet ihn hier in Berresh nur selten bekommen." Dann trank er selbst mit sichtlichem Genuß.

Und Derhan nahm noch einen zweiten und einen dritten kleinen Schluck, dann gönnte er sich größere Schlucke der recht wohlschmeckenden Flüssigkeit, bis sich seiner ein unangenehmes Schwindelgefühl bemächtigte. Er setzte die noch halbvolle Schale ab.

Manord ließ sich indessen schon nachschenken. "Besucht mich morgen nachmittag. Ich wohne zur Zeit nahe der Alten Stadtmauer an der Ratsstraße, auf der Außenseite, in dem Haus, das ehedem Murhan Darashy gehörte, als er in Berreshs Diensten stand", erklärte er. "Ich werde bis dahin eine Anklageschrift verfaßt haben und mit euch die noch anstehenden Details besprechen." Dann führte er die frisch gefüllte Trinkschale wieder zum Mund, und Derhan machte es ihm nach, da das Schwindelgefühl wieder etwas abgeklungen war.

"Habt ihr den Städtezerstörer denn auch noch kennengelernt, wenn ihr seit Jahren die Kriegszüge der Stadt begleitet?" fragte Manord zwischen zwei Schlucken. "Ich denke, er war so etwas wie der letzte taribische Kriegsherr, auch wenn er nur als Söldner in den Diensten anderer Städte stand, soweit ich weiß. Aber seine Erfolge waren legendär, schon zu seinen Lebzeiten."

Derhan hatte das Gefühl, seine Sicht würde verschwimmen und er stellte die Trinkschale vorsichtig wieder ab. Es fiel ihm schwer, sich auf seine Erinnerungen zu konzentrieren und sie dann in Worte zu fassen, aber Murhan Darashy mit seiner sagenumwobenen Schlangenklinge, die doch nicht mehr als ein gewöhnliches Oshey-Schwert gewesen war, hatte er wirklich einmal gesehen. "Ich hatte gerade meine Studien begonnen, als ich ihn bei einer Heerschau sah. Einige Jahre später hieß es dann, er sei in Letrans Diensten vor Tetraos gefallen."

Manord nickte nachdenklich. "Ich war sein Patron in der Zeit, in der er hier lebte. Und ich mag den kargen Stil der Stämme, der sich in seinem Haus widerspiegelt. Auch er hatte nur einen Sohn, genau wie ihr. Ist es im Westen unüblich, mehrere Kinder zu haben? Wie konnten die taribischen Stämme die halbe Welt erobern mit dieser Haltung?"

Jedes Kind bei den Stämmen wußte, daß die Kriegsherren des Taribischen Reiches ihre Erfolge ihren unirdischen Fähigkeiten und nicht einer umfangreichen Nachkommenschaft zu verdanken hatten. Und trotzdem hatten die Götter ihren Niedergang nicht verhindert. Aber es gelang Derhan, von diesem Thema zu schweigen. "Ich kann nur für meine Frau und mich sprechen", sagte er statt dessen diplomatisch. "Uns war bisher kein weiteres Kind vergönnt. Vielleicht ging es dem Darashy ja ähnlich."

Manord brummelte irgend etwas, von dem Derhan nur "...und fünf Töchter, die mich ein Vermögen kosten", verstand. Dann hatte er seine Trinkschale erneut geleert, erhob sich mit Hilfe seines Stockes und verließ mit den Sklaven und dem gepolsterten Stuhl das Studienzimmer des Hohepriesters.

Derhan erhob sich ebenfalls und wurde von einer plötzlichen Verstärkung des Schwindels überrascht. Als er den Innenhof erreicht hatte, stützte ihn der Türwächter des Hohepriesters am Arm, um ihm aus dem Haus und auf die Prozessionsstraße zu helfen. Er wies ihm noch die richtige Richtung nach Hause, doch auf der steil abwärts führende Straße war er auf sich allein gestellt.

Der Abstieg von der Oberstadt stellte für Derhan eine Herausforderung dar, da er immer wieder Probleme mit seinem Gleichgewicht bekam und strauchelte. Wo es ging stützte er sich an den Hauswänden ab, bis die Straße so eben wurde, daß er nicht mehr das Gefühl hatte, den Halt zu brauchen. Doch da hatte er ein gutes Stück des Weges zur Alten Stadtmauer noch vor sich. Und sein Haus lag in den entfernteren Gebieten der Außenseite.

* * *

"Herr, da seid ihr ja! Oh, dieses Unglück!" rief Jamul aus.

Natürlich war er da, aber das Bett war in dieser Nacht ungewöhnlich unbequem gewesen, seine Knochen schmerzten und in Derhans Kopf hämmerte es, als wären alle Schmiede der Darashy dort am Werk. Nein, er lag auf Steinen, in einem Torgang, und es dämmerte gerade! Anscheinend hatte er es in der Nacht nur bis knapp vor die Haustür geschafft. Die berauschende Wirkung des Oinos hatte ihn wohl übermannt.

Mit Jamuls Hilfe erhob Derhan sich mühsam, duldete, daß sein Haussklave den Unrat von seiner Kleidung fegte und nahm seine weiße Kappe entgegen, die ihm während des Schlafes offenbar vom Kopf gerutscht war. "Was für ein Unglück?" verlangte er dann zu wissen, auch wenn der kräftige, fordernde Ton seiner Stimme nach dem ersten Ansatz viel leiser als geplant ausfiel, weil die selbst gesprochenen Worte in seinem Kopf unangenehm widerhallten.

Jamul geleitete seinen Herrn zur Haustür und hinein in den Innenhof. "Herr, eure Gattin wartete die halbe Nacht auf eure Rückkehr. Und als ihr von eurer Unterredung mit dem Hohepriester nicht zurückkehrtet, schickte sie mich, euch zu holen. Doch als ich beim Hohepriester vorstellig wurde, der eine Gesellschaft geladen hatte, sagte er mir, ihr wäret längst gegangen, nachdem ihr mit einem seiner Gäste gesprochen hättet."

"Wo ist Lefiët denn nun? Lefiët, ich bin wieder zuhause!" rief Derhan, nachdem er sich gegen die zu erwartende Erschütterung in seinem Schädel gewappnet hatte.

"Herr, das wollte ich euch sagen. Ich kehrte mit einer Nachricht dieses Gastes zur Herrin zurück. Sie war darüber bestürzt und zog sich in ihr Schlafgemach zurück, aber anscheinend hat sie später in der Nacht noch das Haus verlassen."

"Nun komm' zum Punkt. Was ist mit meiner Frau?" fragte Derhan ungeduldig, der Jamul gar nicht so weitschweifig kannte.

"Eben klopfte einer der Gehilfen der Stadtwache an die Tür. Seine Frau und sein Kind waren lange Patienten bei euch und er kannte daher auch die Herrin. Er hat in der Morgendämmerung ihr mit Vögeln und Blumen besticktes Umschlagtuch auf der Richtklippe gefunden", erklärte Jamul darauf. "Wir befürchten, daß sie sich in der Nacht von dort in den Tod gestürzt hat. Ich wollte gerade gehen, um zwischen den Felsen am Hafen nach ihrem Leichnam zu suchen, als ich euch fand."

Derhan ließ sich erschüttert auf den steingepflasterten Boden des Innenhofes plumpsen. In was für einen Alptraum war er geraten? Das mußten doch die Nachwirkungen des Oinos sein, die ihm einen Streich spielten. Lefiët würde doch nicht auf die Idee kommen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Wenn sie verzweifelte, betete sie eher die ganze Nacht zu den Hausgöttern. Hatte es etwas mit der Nachricht zu tun, die ihr gebracht worden war? "Weißt du, welchen Inhalt der Brief an meine Gattin hatte?" fragte er also, wenn auch ohne Hoffnung, eine Auskunft zu erhalten.

"Es war kein Brief, Herr. Manord Havatim bat mich, der Herrin auszurichten, daß sie von dem angeblich unirdischen Blut ihres Sohnes unbedingt schweigen solle, weil das als dämonisch angesehen und der Klage gegen den Patron nicht dienen würde", antwortete Jamul.

Eine solche Nachricht mußte Lefiëts ohnehin geringe Vertrauen in die Gerechtigkeit der Gesetze Berresh' gegenüber den Mitwohnern tatsächlich aufs Tiefste erschüttert haben. Dazu war ihr Mann nach dem Gespräch mit eben diesem Manord Havatim scheinbar verschwunden, wie sollte sie da noch Hoffnung haben, daß die Tat an Dandar gerächt würde?

"Oh nein, Götter helft! Herr, kommt schnell hierher, euer Sohn!" schrie auf einmal ein Weib.

Mit Jamuls Hilfe rappelte Derhan sich auf und eilte in die Küche. Dort lag Dandar auf dem Boden, aus seinem Hals sprudelte das helle Blut, es hatte sich schon eine Lache um ihn gebildet. Derhan stürzte an die Seite seines Sohnes und versuchte, die Blutung durch den Druck seiner Finger zu stoppen, aber noch immer floß ihm das Blut durch die Hände. Der Schnitt seitlich an Dandars Hals war nicht groß, aber die Verletzung der Ader lag so unglücklich unterhalb des Schlüsselbeins, daß Derhan sie mit seinen Fingern nicht richtig erreichte. Und sein Sohn sah ihn mit einer Mischung aus Schuldbewußtsein und Anklage an, dann flatterten seine Augenlider, er wurde ohnmächtig.

"Ich habe ihn eben gefunden. Er hat sich wohl dieses Küchenmesser in den Hals gestoßen", klagte die Köchin unter Tränen, das blutbefleckte, kleine Messer in der Hand. "Er war so aufgelöst, als er von dem Büttel hörte, daß seine Mutter sich zu Tode gestürzt habe. Ich dachte, Mirra könnte ihn vielleicht besser trösten und habe ihn in die Küche geschickt, doch dann sah ich, daß sie gerade im Garten bei den Hühnern war, um sie zu füttern." Sie warf sich neben dem sterbenden Jungen auf die Knie, strich ihm zärtlich die schulterlangen weißen Haare aus dem Gesicht, versuchte dann, mit ihrem Ärmel vereinzelte Blutspritzer aus seinem Gesicht zu wischen.

Dandars Nachtgewand war inzwischen durchnäßt vom Blut und dessen viel zu vertrauter, süßlicher Geruch, den Derhan auf dem Schlachtfeld ignorieren konnte, weckte nun Übelkeit in ihm. Er schloß die Augen, weil er den Anblick seines sterbenden Kindes nicht mehr ertrug, fühlte, wie das warme Blut noch immer durch seine vergeblich pressenden Finger quoll, wie der Herzschlag seines Sohnes schwächer und schwächer wurde und sein Körper schließlich völlig erschlaffte.

Er hielt seinen toten Sohn umfangen, als könne ihn allein die Dauer des Haltens oder der bloße Wille zurückbringen. Doch natürlich war das vergebens. Wofür lohnte es sich jetzt noch zu kämpfen, da Frau und Kind sich das Leben genommen hatten?

*
 

Derhan wußte nicht, wie lange ihn die Finsternis umfangen hatte, aber nach dem tiefen Stand der Sonne zu urteilen mußte es fast der ganze Tag gewesen sein. Er saß noch immer auf dem Küchenfußboden und hielt noch immer sein kaltes, totes Kind in den Armen. Das Haus war so still, nicht einmal eines der Hühner war aus dem Garten zu hören. Die Köchin und seine Sklaven hatten ihn in seiner Trauer allein gelassen, wie hätten sie ihm auch helfen können?

Die Tat seines Patrons hatte seine Frau und seinen Sohn in den Tod getrieben. Aber er konnte seiner geliebten Lefiët und seinem Sohn nicht einfach folgen - und er würde sich auch nicht mehr damit aufhalten, Oseram Kasiterim zu verklagen. Der Mann mußte sterben! In seiner ärztlichen Vorratskammer würde sich schon etwas Brauchbares finden.

Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, trug Derhan seinen toten Sohn in das Behandlungszimmer und legte ihn, blutig wie er war, auf die Liege, die dort für die Patienten stand. Dann sichtete er seine Vorräte. Es mußte etwas sein, das giftig genug war, in ausreichender Menge den Tod herbeizuführen, aber es durfte nicht so bekannt sein, daß schon die Küchenhilfen das Gift erkannten. Zudem mußte er die Möglichkeit haben, sich des Todes Oseram Kasiterims zu vergewissern. Doch zunächst fand er nichts, was bei der Verabreichung keinen Verdacht erregen würde.

Beim Blick in den noch gut gefüllten Topf mit den Stechapfelblättern hatte er jedoch plötzlich eine Idee. Lefiëts Vater hatte ihnen in hartnäckigen Fällen krampflösende Wirkung zugeschrieben und es hieß, in alter Zeit hätten die Schamanen der Tarib sie für ihre Visionen verwendet. Da sie in Berresh und Umgebung jedoch nicht gediehen, waren sie hier praktisch unbekannt. Derhan wußte, daß schon eine leichte Vergiftung mit Stechapfel sowohl zu Halluzinationen als auch zur Erblindung führen konnte, aber da war auch Eichenrindentinktur. Mit etwas Glück würde das die Wirkung des Giftes bei ihm selbst ausreichend verlangsamen, so daß er sich des Todes des Patrons vergewissern konnte. "Jamul!" rief er hinaus in den Innenhof. "Bring mir die silberne Teedose aus dem Speisezimmer!"

Der Haussklave eilte herbei. "Hier ist sie, Herr", sagte er und stellte sie auf den Tisch in der Mitte des Raumes. Er wirkte offensichtlich erleichtert, daß sein Herr wieder Wünsche hatte. "Und ich habe euch ein Bad bereitet, vielleicht wollt ihr euch erst einmal waschen, bevor ihr... was auch immer ihr vorhabt... macht."

Derhan merkte erst jetzt, daß seine Hände, mit denen er nach der Dose hatte greifen wollen, von getrocknetem Blut bedeckt waren und er hielt inne. "Ja, du hast recht, danke."

Gewaschen, rasiert und frisch gekleidet, von der Haussklavin noch mit einer Schale heißem Tee versorgt, stand Derhan etwas später wieder in seinem Behandlungszimmer. Dandar lag noch immer auf der Liege, aber sein blutiges Nachthemd war gewechselt, das Blut von seinem Körper abgewaschen. Und es hatte ihm jemand mit dunkler Farbe einen stilisierten Vogel auf die Stirn gemalt, der ähnlich aussah wie die mit Schwarzer Tinte geschriebenen Segenssprüche der Oshey für ihre Toten, deren Buchstaben oft zu einer Vogelform angeordnet wurden. Es konnte also nur die des Schreibens unkundige Köchin gewesen sein, die Dandar in der Zwischenzeit so hergerichtet hatte.

"Möge Orem dich in die Gärten der Freude einlassen", flüsterte Derhan und hoffte für seinen Sohn, daß es wirklich so kam, auch wenn er es nicht glauben konnte. Dann ging er wieder in seine Vorratskammer.

An Deckel und Topf der Stechapfelblätter hafteten die Spuren seiner blutigen Hände, an vielen anderen Gefäßen ebenfalls. Doch das war nun unerheblich. Derhan nahm die Stechpfelbätter in das Behandlungszimmer, setzte sich an den Tisch und schrieb eine Freilassung für seine Sklaven. So hatte er auch einen Vorwand, den Patron aufzusuchen, denn er mußte sich dieses Dokument für die Rechtsgültigkeit ja von einem Bürger gegenzeichnen lassen. Dann hebelte er die Türschwelle aus und stellte den Tontopf mit seinem Ersparten auf den Tisch. Schließlich leerte er die silberne Teedose aus und füllte sie statt dessen mit den fein geschnittenen, getrockneten Stechapfelblättern. Den restlichen Tee in seiner Schale reicherte er mit einigen Tropfen der Eichenrindentinkur an, um seinen Magen eine Weile vor dem Gift zu schützen, dann stürzte er die bittere, lauwarme Mischung in einem Schluck herunter.

*


Im Innenhof verabschiedete Derhan sich von der Köchin und seinen Sklaven. "Ich werde nicht zurückkehren. Ich lasse euch frei und vermache euch alles was ich besitze, aber ihr müßt für eine anständige Beerdigung meiner Frau und meines Sohnes Sorge tragen. Jamul, du begleitest mich zum Patron, doch du kehrst sofort hierher zurück, wenn er eure Freilassung beglaubigt hat. Mein Geld liegt auf dem Tisch in meinem Behandlungszimmer."

Die Frauen nickten nur schweigend, aber Jamul schüttelte den Kopf. "Herr, wollt ihr euch nun auch noch töten?" fragte er erschüttert.

Derhan wich seinem Blick aus. "Ich weiß nur einen Weg, wie ich den Verursacher dieses Übels in der Form zur Stecke bringen kann, die er verdient. Ich werde meinen Eid als Arzt dafür brechen und darauf steht der Tod. Es wäre also wohl ratsam, wenn ihr die Stadt recht bald verlassen würdet. Nicht, daß ihr noch unter meiner Tat leidet."

Jamul nickte nun zögernd, und Derhan drückte ihm die Teedose in die Hand, dann machten sie sich auf zum Hause seines Patrons.

Oseram Kasiterim wohnte innerhalb der Alten Stadtmauer, am Fuße der Oberstadt. Derhan erklärte dem Türwächter, daß er seinen Patron um die Beglaubigung einer Urkunde bitten und mit ihm auch über die Schulausbildung seines Sohnes sprechen wolle. Dafür habe er einen exquisiten Tee aus seiner Heimat mitgebracht.

Da er auch bei vergangenen Besuchen immer eine Dose Tee oder Früchte aus dem Westen als Gastgeschenk mitgebracht hatte, kam nur die übliche Frage aus der Küche, wie viel der Blätter für zwei Schalen aufzubrühen sei. Und plötzlich war es schwer, den Gedanken daran zu verdrängen, daß er mit seinem Plan in zweierlei Hinsicht Unrecht tat. Das Gesetz des hiesigen Tempels zu brechen war eines, aber es waren auch seine heimatlichen Gebräuche, die er damit verletzte. Den Tee zu teilen war der Kern der Gastfreundschaft im Westen, das gegenseitige Versprechen von Gast und Gastgeber, dem anderen nicht zu schaden. Nach dem Begrüßungstee hatte ihn Lefiëts Vater wie einen Sohn aufgenommen. Und wie oft hatte er mit dem Patron Tee geteilt? Daß der Patron die Gastfreundschaft zuvor gebrochen hatte, machte seinen eigenen Bruch nicht weniger gravierend. Derhans einziger Trost war, daß er keine Strafe mehr zu fürchten hatte - selbst wenn die Götter sich doch noch einmischten. Was konnten sie ihm außer seinem Leben noch nehmen, was er nicht schon verloren hatte? Derhan gab für das Aufbrühen der Stechapfelblätter eine sehr großzügige Menge an, die in kurzer Zeit tödlich wirken mußte. Zwei Teeschalen von diesem Sud würde niemand überleben.

*


Der Patron, der mit knapp dreißig Jahren etwas jünger war als Derhan selbst, begrüßte seinen Schützling in seiner üblichen, tatsächlich eher herzlich als herablassend zu nennenden Art, ließ sich noch im Innenhof die Freilassungsurkunde vorlegen und unterschrieb sie ohne weitere Fragen. Jamul eilte damit nach Hause, während für den Patron und Derhan im Speisezimmer der Tee serviert wurde.

Der Patron schien sogar erfreut über Derhans Besuch, erzählte, daß er am Vortag Derhans Frau und Kind einen Besuch abgestattet habe und machte Derhan ein Kompliment zu seinem hübschen Jungen. Derhan versuchte, nicht daran zu denken, was sich während dieses Besuches abgespielt hatte, sondern nickte höflich zu allem, während der Patron den Tee ausschenkte. Dann roch er an dem hochgiftigen Aufguß und erkannte die typischen Stechapfelaromen. Doch der Patron hatte mit dieser im Westen sehr verbreiteten Droge offenbar noch nicht viel zu tun gehabt, denn er nippte gleich vorsichtig an der heißen Flüssigkeit. Derhan tat es ihm gleich, um keinen Verdacht zu erregen. Recht bitter war der Aufguß, aber auch viele der im Westen beliebten Teesorten waren eher bitter. Tatsächlich schmeckte der Stechapfelaufguß nicht einmal schlecht - fast ein Jammer, daß er ihn nur dieses eine Mal trinken konnte.

Um von dem herben Geschmack abzulenken, erkundigte Derhan sich nach möglichen Schulen, an denen sein Sohn umfassend und in Hinblick auf seine eigene baldige Bürgerschaft angemessen ausgebildet werden würde.

Der Patron hatte die erste Schale geleert und es war noch genug in der Kanne, beide Schalen ein weiteres Mal zu füllen. Dabei lobte der Patron den Geschmack des Tees, dann zählte er einige Schulen in der Stadt auf, zu denen die adligen Bürger ihre Kinder schickten, doch seine Sprache wurde zunehmend undeutlicher und Derhan sah, daß die Pupillen des Patron sich schon geweitet hatten. Der Stechapfel tat bei ihm offensichtlich bereits seine Wirkung.

Derhan selbst merkte jedoch noch nicht viel, anscheinend half die Eichenrindentinktur als Gegenmittel tatsächlich. Allerdings waren die hoffentlich eingebildeten kleinen Blutstropfen, die über die Hände des Patrons krochen, schon etwas beängstigend. Zu sehr erinnerten sie Derhan an das Blut, das aus Dandars Hals gequollen und von seinen eigenen Fingern getropft war - und das er nicht hatte stoppen können.

"Was ist mit euch?" erkundigte sich der Patron mit lallender Stimme, dann kippte er plötzlich vom Speisesofa mit dem Gesicht voran auf den Boden und regte sich nicht mehr. Die Blutstropfen jedoch krochen nun von seinen Händen über den Boden auf Derhan zu.

Derhan sah außer den kriechenden Tropfen nicht mehr viel und auch das Atmen wurde mühsam. Sein einziger Trost war, daß es dem Peiniger seines Sohnes nicht viel anders ging. Reine Willensstärke verlieh ihm die Kraft, sich bis zu dem noch immer regungslos auf dem Boden liegenden Patron zu schleppen, dann sank er neben ihm auf den Boden.

Die kriechenden Blutstropfen verursachten Derhan Ekel, trotzdem griff er nach der Hand des Patrons, um den Puls zu fühlen. Der war inzwischen sehr flach. Mühsam drehte er den Mann auf den Rücken und prüfte seinen Atem, indem er die Hand zunächst auf seinen Brustkorb legte und dann über dessen leicht geöffneten Lippen hielt: da war keine Bewegung, kein Luftzug mehr. Doch nun stiegen von den Lippen des Patrons Blutstropfen auf und krochen wie Käfer über Derhans Hand. Erschrocken versuchte er, sie abzuschütteln, aber sie krochen nur schneller.

Nicht das Ziel aus den Augen verlieren! Er mußte sicherstellen, daß der Patron tatsächlich starb, bevor er dazu nicht mehr in der Lage war. Derhan rückte noch näher und hielt das Ohr über die Lippen des Patrons – nichts. Er atmete tatsächlich nicht mehr. Wenn ihn nicht in den nächsten Augenblicken jemand fand, starb er, denn um Hilfe rufen konnte der Bewußtlose nicht mehr. Das war so beruhigend, daß Derhan sich der um ihn aufsteigenden blutroten Dunkelheit ergeben konnte.

* * *

Wasser auf seinem Gesicht weckte ihn, salziges Wasser, er lag zum Teil darin. Wo ... warum ...

Es dämmerte, die glitzernde Wasseroberfläche befand sich knapp unter seiner Augenhöhe, endlos schien sich das Wasser zu erstrecken, unter ihm jedoch war kühler Fels. Es roch nach Algen und fauligem Fleisch, über ihm eine überhängende Felswand, um ihn herum unregelmäßig geformte Felsen, Seegras ... nein, verfaulende Gewänder an ebenso faulenden Leibern, halb von der Flut bedeckt, ebenso wie er selbst. Das mußte die Richtklippe von Berresh sein, die über ihm aufragte, und neben ihm diejenigen, die gerichtet worden waren. Er hatte durch den Schutz der Eichenrindentinktur wohl nur das Bewußtsein verloren, war aber für tot gehalten worden.


Derhan setzte sich auf. Seine Schuhe fehlten, auch die Kappe - natürlich; die Stoppeln auf seinem Scheitel waren länger, als ... als jemals zuvor, seit er sich jeden Tag den Schädel rasierte. Wie lange hatte er hier gelegen? Es schien die Morgendämmerung zu sein, der Himmel hellte sich zunehmend auf und die Möwen begannen zu kreischen. Folglich mußten es mindestens zwei Nächte und ein Tag gewesen sein. Sie hatten ihn also gefunden und erkannt, daß er den Patron mit Gift töten wollte. War es ihm gelungen?

Seine linke Seite, der linke Arm, das Bein schmerzten, doch gebrochen schien nichts, sie hatten ihn also nicht von der Klippe gestürzt. Der Weg hinauf war immerhin lang und mühsam, sie hätten ihn tragen müssen, denn für einen Wagen war der Pfad nicht breit genug. Die zum Tode Verurteilte waren gewöhnlich nicht schon selbst wie tot und gingen auf eigenen Beinen zur Richtstätte. Und anstatt ihn tot auf den Felsen hinauf zu schaffen und von dort hinunterzustürzen, hatten die Henkersknechte es sich wohl einfach gemacht und ihr nur unter die Klippe gelegt.

Sollte er sich jetzt darüber freuen, daß er noch lebte? Ihm war eher danach, sich wieder hinlegen und einfach zu sterben, denn wofür lohnte es sich denn weiterzuleben? Selbst wenn Oseram Kasiterim tatsächlich tot war, Dandar und Lefiët brachte das nicht zurück. Die Tat hatte seine Rachegelüste befriedigt, aber da war noch immer das Loch, das der Tod seiner Liebsten gerissen hatte.

*

Irgendwann merkte er, daß er weinte, und die Mengen Rotz und Tränen auf seinem Gesicht ließen ihn für einen Moment denken, daß die grenzenlose Trauer der Zurückgebliebenen vielleicht für das Salz im Ozean sorgte. Was sollte er nun tun? Die guten Götter hatten sich nie um ihn geschert und nun verwehrte ihm auch noch Chelem den Einzug in die Totenwelt. Vielleicht mußte er einfach viel direkter selbst Hand an sich legen, als zwei Tagesmärsche entfernt vom Meer Krabbenbrot zu essen, wie das Sprichwort sagte. Einige der Muschelschalen, die zwischen den Leichen auf den rundgewaschenen Felsen lagen, mochten zerbrochen scharf genug sein, sich damit eine oder zwei der großen Adern aufzuschneiden. Selbst seinem kleinen Sohn war es gelungen, sich mit einem einzigen Schnitt zu töten. Wieder flossen die Tränen heftiger, nahmen ihm die Sicht, als wolle der Ozean der Trauer in seinem Innern sich mit dem Kreismeer vereinigen.

Die Sonne kroch langsam über den Horizont und enthüllte, was das Zwielicht zuvor gnädig verhüllt hatte: die verrenkten Glieder und aufgesprengten Schädel der Toten, von Krabben auf die Knochen abgenagte Gliedmaßen. Das Gesicht einer augenlosen, aber noch frisch zu nennenden Toten fing Derhans Blick ein, sie hatte sich durch den Sturz wohl den Hals gebrochen, denn für eine solche Drehung des Kopfes war der Mensch nicht gemacht. Doch das lange schwarze Haar und ein paar Krabben verdeckten Hals und Schultern, so daß man fast glauben mochte, sie schlafe bloß.

Es fing seinen Blick, weil es vertraut war. Dort lag seine geliebte Lefiët, ganz ohne Zweifel. So hatte sie immerhin einen schnellen Tod gehabt. Waren die Köchin und seine ehemaligen Sklaven entkommen? Hatten sie zumindest Dandar eine Beerdigung ausrichten können?

Er sorgte sich um Jamul, Mirra und die Köchin ... Kabit. Sie hatten ihm und seiner Familie immer treu gedient und verdienten nichts als Gutes für ihre Dienste. Doch als sein ehemaliger Besitz und Bedienstete drohte ihnen, dieselbe Strafe zu erleiden wie ihr Herr, wenn die Stadtwachen ihrer habhaft wurden. Es war schon spät gewesen, als er den Patron vergiftet hatte, die Stadttore mochten schon geschlossen gewesen sein, als sie versuchten, Berresh zu verlassen. Er konnte nicht die Hände in den Schoß legen - oder mit einer Muschelschale gegen sich selbst richten -, bevor er nicht verläßliche Informationen über ihr Schicksal erhalten hatte. Das zumindest war er ihnen schuldig, denn ihnen konnte vielleicht noch geholfen werden.

Hatte Kabit nicht gelegentlich von ihrer Schwester in der nördlichen Vorstadt gesprochen? Ihr Schwager hatte dort eine Bäckerei und Lefiët hatte mehr als einmal gescherzt, wenn Kabit nicht mehr die Küche führen wolle, wüßte sie ja zumindest, wo anständiges Brot zu kaufen sei. Vielleicht hatten es die drei an dem schicksalshaften Abend noch bis in die Vorstadt geschafft.

Doch wie kam er durch die Stadt, ohne ... da lag eine am Deckel beschädigte Krabbenreuse, als Transportkorb würde sie funktionieren. Ihn würde mit den stoppeligen Wangen und Schädel - und ohne seine Gelehrtenkappe - niemand auf den ersten Blick erkennen. Seine Kleidung hatte ein paar Risse, die wohl von der unsanften Behandlung während seines Transportes hierher stammten, Arme und Beine hatten einige Schrammen und sein linker Fuß schmerzte beim Auftreten. Auch eine gründliche Untersuchung bestätigte jedoch seine erste Diagnose: gebrochen war nichts, aber er würde humpeln. Wenn er auch noch gebeugt ging, mochte man seine weißen Haare einem viel höheren Alter zuschreiben, als er es tatsächlich hatte, und seine Hose und das Hemd waren einfach genug, daß man ihn für einen Tagelöhner halten konnte. Er wusch sich das verklebte Gesicht mit sauberem Meerwasser und auch die mit seinen Sekreten befleckte Front seines Hemdes. Es würde getrocknet sein, bevor er den Hafen erreichte.

Bevor er seinen Plan umsetzte, legte er zwei aufgelesene Muschelschalen auf Lefiëts leere Augenhöhlen und schrieb seiner geliebten Frau mit Meerwasser einen Abschiedsgruß auf die Stirn. Mehr konnte er im Moment nicht für sie tun. Dann begann er, die hungrigen Krabben, die im Schatten der Klippe an den Leichen fraßen, einzusammeln. Mühelos hatte Derhan in kurzer Zeit die Reuse gefüllt. Von einem herrenlosen Gewand riss er ein paar Streifen ab, die er zur Fixierung des Deckels - und um seine Hände beim Transport vor den Scheren der Tiere zu schützen - darum knotete, dann trug er seine Beute vor sich her über den schmalen Felsenpfad, der vom Fuße der Richtklippe zum Hafen führte.

Zu dieser frühen Morgenstunde waren am Hafen nur Fischer, ein paar Händler und Dienstpersonal unterwegs, so daß niemand ihn anhielt und nach seinem woher und wohin fragte. Er vermied den Weg nach Westen, um nicht doch erkannt zu werden, hielt sich nördlich und passierte ohne Probleme die Neue Stadtmauer durch das Nordtor. Dann rief ihn eine der Wachen zurück.

Derhan versuchte, seinen Atem ruhig zu halten, drehte sich langsam wieder um und humpelte zu dem Torwächter, der ihn heranwinkte.

"Was sollen denn deine Krabben kosten, Alterchen?"

Derhan hielt seinen Blick gesenkt. "Die sind schon bestellt, Herr", nuschelte er dann.

"Na, du hast da zehn oder zwölf drin, wenn ich richtig sehe. Meinst du, dein Kunde merkt das, wenn zwei fehlen?"

"Aber Herr ...", begann Derhan und erlaubte seiner wachsenden Panik, hörbar zu werden.

"Ich geb dir ein Vierteltar für zwei, weil mein Schatz die so mag. Und ich kann mir nach der Nachtwache den Weg zum Hafen sparen."

Das war ein stolzer Preis für zwei Krabben. Wenn er das Angebot ausschlug, würde er sich verdächtig machen. "In Ordnung, Herr, für ein Vierteltar geb ich euch zwei." Derhan stellte die Reuse ab, löste die Knoten der Stoffbänder so weit, daß er den Deckel öffnen konnte und holte eine Krabbe heraus. "Wo soll ich sie reintun?" fragte er.

Der Torwächter überlegte einen Moment, dann nahm er kurzentschlossen den Helm vom Kopf und streckte ihn Derhan entgegen. "Erst mal da rein, ich hol eben das Geld." Eilig verschwand der Mann in der Wachstube und kam mit ein paar Kupfermünzen zurück, als Derhan schon wieder die Bänder verknotete. Er zählte das Geld, es war in der Summe tatsächlich ein Vierteltar. "Dann wünsche ich eurem Schatz guten Appetit, Herr." Er knotete das Geld in den Saum seines Hemdes.  "Aber nun muß ich weiter, ich werde schon erwartet, Herr."

"Natürlich", der helmlose Torwächter nickte und ließ Derhan gehen, dann sah er mit einer Mischung aus Stolz und Verzweiflung auf die beiden Krabben, die schon begannen, aus dem Helm zu klettern. Und Derhan machte, daß er in die nördliche Vorstadt kam.

 

*


Nach ein paar Schritten stellte Derhan fest, daß er schon mitten drin war in der nördlichen Vorstadt. Ein kleiner Orem-Tempel, sogar ein Ama-Tempel direkt an der Straße, gleich daneben Werkstätten und Geschäfte, die gerade öffneten. Hier also hatte die Köchin stets die ansonsten schwer zu bekommenden Früchte und Gewürze aus dem Westen erworben. Vielleicht kannte man sie hier und konnte ihm den Weg zur Backstube ihres Schwagers weisen.

"Herr", sprach er einen hochgewachsenen Obsthändler an, "kennt ihr die Köchin Kabit? Sie arbeitet in der Weststadt und hat mich mit Krabben zu ihrem Schwager geschickt. Aber ich hab seinen Namen vergessen. Ich weiß nur, daß er hier eine Bäckerei hat."

"Meinst du Nefut den Bäcker?" fragte der Angesprochene.

Aus dem hinteren Bereich des Ladens ließ sich nun eine Frauenstimme vernehmen. "Natürlich meint er Nefut. Die Schwester seiner Frau heißt Kabit und die arbeitet bei einem Mitwohner als Köchin."

Derhan nickte. "Ja, ich meine wohl Nefut, Herr", erklärte er. "Wo hat er denn seine Bäckerei?"

"Gleich neben dem Tyrima-Tempel, ein Stück die Straße runter. Heißt das, es gibt heute Nachmittag Krabbenbrot bei ihm zu kaufen?"

"Immer denkst du nur ans Essen, Lehan!" ereiferte sich die Frauenstimme.

"Natürlich denke ich immer ans Essen, ich verkaufe Obst! Und wenn Nefut Krabbenbrot backt, wollen die Leute Melonen dazu haben, also solltest du vielleicht die Jungs schicken, noch mehr zu holen."

Derhan humpelte schon weiter - und bekam Hunger. Vielleicht ließ Nefut sich ja wirklich dazu bewegen, Krabbenbrot zu backen. Eine deftige Mahlzeit würde ihm nach seinem unfreiwilligen Fastentag guttun.

Da war der Tyrima-Tempel, gut erkennbar an den spiegelblanken Messingornamenten um die Tür, und links daneben wirklich eine Bäckerei. Die Auslage war gut gefüllt, eine Frau, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Kabit zu haben schien, verkaufte das Brot und sonstige Gebäck, und neben dem Ofen stand ein stämmiger Mann und knetete Teig.

"Ich hab gehört, euer Krabbenbrot soll so gut sein", sprach Derhan die Frau an und hob die noch gut gefüllte Reuse so weit an, daß sie den quicklebendigen Inhalt sehen konnte.

Ihre Augen wurden groß. "So frisch! Nefut, das wird Krabbenbrot, was du da knetest", bestimmte sie dann. "Was willst du für die Krabben haben, Väterchen?"

"Etwas von dem Krabbenbrot, etwas Melone, eine Auskunft und vielleicht eine Schale Tee", zählte Derhan mit den Fingern seiner freien Hand auf.

Kabits Schwester kniff die Augen zusammen. "Was für eine Auskunft", fragte sie mißtrauisch.

"Ist Kabit gut nach Haus gekommen?" fragte Derhan mit gesenkter Stimme.

Die Frau atmete ein paar Mal tief durch. "Und das willst du wissen, weil ...?"

"Weil sie eine gute Köchin ist. Und weil mein Sohn sie geliebt hat."

"Ach der Kleine", seufzte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wischte sie mit dem Ärmel fort. "Wir haben ihn hier beerdigt, gestern schon, als Kabits Sohn", flüsterte sie. "Aber die Mutter ... sie mußten schnell weg, das versteht ihr sicher. Sie haben Geld für die Beerdigung der Mutter hier gelassen, damit wir uns darum kümmern, wenn wir sie gefunden haben." Dann flüsterte sie: "Und für eure Beerdigung ebenso, Herr. Es hieß, ihr seid wegen Mordes hingerichtet worden."

"Sie hielten mich wohl für tot", antwortete Derhan leise, "und haben mich nur unter der Klippe abgelegt. Heute morgen erwachte ich dort. Der Körper meiner Gattin liegt noch da. Ich habe Muschelschalen auf ihre Augen gelegt, daran könnte man sie erkennen, wenn man ihr noch ein ordentliches Begräbnis geben wollte."

"Sie wird es bekommen, Herr, ganz sicher. Und ihr bekommt euer Krabbenbrot mit Melone... und Tee. Gebt mir nur den Korb. Ihr geht jetzt ins Badehaus und sagt, daß Mebit euch geschickt hat. Wascht euch, pflegt eure Wunden, und ich lasse euch noch frische Kleidung bringen. Da müßte es auch schwarze Tinte geben. Wißt ihr, wie sie anzuwenden ist?"

Derhan nickte. Auch wenn er die Yoshany schon lange hinter sich gelassen hatte, sie waren doch immer noch ein Teil von ihm - und auf diese Weise konnte er für die Berreshi tatsächlich unsichtbar werden.

*

 

Das Badehaus war drei Häuser weiter nördlich und wirkte - abgesehen von der sattgrünen Vegetation in seinem Innenhof - als sei es direkt aus der taribischen Steppe hierher versetzt worden. Als Derhan begann, sich zu entkleiden, erinnerte er sich an die Münzen, die er in sein Hemd geknotet hatte, zog es wieder über, ging zurück in den Vorhof und reichte dem Aufseher, der ihn nach dem Zauberwort 'Mebit' ohne Bezahlung durchgewunken hatte, das Geld. "Weihrauch für Orem, bitte", sagte er. Der Mann nickte, während er die Münzen zählte.

 

Derhan ging langsam zurück und als er von der Tür in den Vorhof zurückschaute, stiegen schon feine Rauchfäden von drei Räucherstäbchen im Sand der Opferschale auf. Im Bad entkleidete er sich, wusch sich und setzte sich ins heiße Wasser. 'So endet nun also mein Weg mit Lefiët und nichts davon ist mir geblieben.' Wie betete man zu einem Gott, wenn man nicht glaubte, daß er zuhört? Sie hatte geglaubt, doch war nun tot, ebenso wie ihr gemeinsamer Sohn. Und er lebte. War es doch die Hand des Gottes gewesen, die ihn bewahrt hatte? Hatte der Gott ihn damit zu längerem Leid verdammt, da Derhan selbst Dandars Erbe des unirdischen Blutes zur Sprache gebracht und damit die letzte unglückliche Verkettung der Ereignisse in Gang gesetzt hatte? War es die Rache des Gottes an Derhans geringer Wertschätzung dieses Erbes des eigenen Vaters?

Alle Fragen an Orem waren fruchtlos, denn Derhan konnte keine Antworten erwarten. Alles, was er tun konnte, war, das geschenkte Bad zu genießen und zu überlegen, wohin er nun gehen sollte, da alle Bande, die ihn zuvor mit anderen Menschen verbunden hatten, gekappt waren. Die Yoshany hatte er vor langem verlassen, in Menrish hatte er Lefiët und ihren Vater gefunden, doch auch dort war niemand mehr, zu dem er zurückkehren konnte. Und nach dem Tod von Lefiët und Dandar gab es keinen Grund mehr, in Berresh zu bleiben. Tatsächlich konnte sein Bleiben sogar gefährlich für Mebit und ihre Familie werden. Sollte der Rat erfahren, daß er seiner gerechten Strafe entgangen war, würden alle, deren Hilfe auch nur vermutet wurde, dafür bestraft werden. Wenn die Stadtwachen ihn fingen, würden sie ihn dieses Mal natürlich vom Felsen stürzen, schon um sicherstellen, daß er wirklich starb. Doch wer wußte, ob der Gott es diesmal zulassen würde?

Mebits Rat mit der schwarzen Tinte war so gut wie ihr Rat, das Bad zu besuchen. Er brauchte nur für eine kurze Zeit wieder zu dem zu werden, der er einst gewesen war: ein Oshey. Er kehrte zurück in die Steppe und suchte sich dort eine neue Heimat, deren Regeln er verstand - eine Heimat, in der nicht Politik und seltsamer Dämonenglaube über das Wohl von Kindern gestellt wurde. Für ihn ohne Stamm würde diese Heimat wohl eine Bande von Stammeslosen sein, und vielleicht konnte er durch die Fürsorge für diese Menschen zumindest einen Teil seiner Schuld an Lefiëts und Dandars Tod sühnen.

Derhan nickte kurz ein im warmen Wasser und als er wieder erwachte, lag auf der Bank neben dem Waschzuber und dem Handtuch ein Stapel frischer Kleidung: eine dunkelblaue Hose und eine dunkelrote Jacke, ein schwarzer Mantel und ein schwarzes Kopftuch. Sogar ein paar saubere, aber offensichtlich gebrauchte Stiefel standen dabei, die erstaunlich gut paßten und seine durch den ungewohnten Barfußmarsch geschundenen Fußsohlen auf das angenehmste abpolsterten.

Wie in allen taribischen Badehäusern war neben der Tür eine gemauerte Nische in der Wand, an deren Rückseite eine polierte Bronzescheibe als Spiegel befestigt war. Dort stand die Flasche mit schwarzer Tinte, ganz traditionell geformt wie drei aufeinanderliegende Kugeln und mit einem Pinsel am Stopfen, der gerade bis zum Boden des obersten Flüssigkeitsreservoirs reichte. Dieser Anblick war so vertraut, daß er - trotz mangelnder Übung in den letzten zwanzig Jahren - problemlos seine Augenlider manierlich schminken und auch das Stammestotem der Yoshany ausreichend erkennbar zwischen die Augenbrauen malen konnte: die vier Säulen und die offene Schriftrolle, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Fünf Striche mit dem Pinsel, die zusammen ein stilisiertes Pferd darstellten.

Er kämpfte einen Moment mit den Tränen, noch war die Tinte an seinen Augenlidern nicht getrocknet. Er wollte nicht tagelang mit den auffälligen Zeichen einer momentanen sentimentalen Anwandlung im Gesicht herumlaufen. Zudem hätte es im Zweifel seine Identifizierung einfacher gemacht. Ohne schwarze Tränenspuren auf den Wangen war er einfach nur irgend ein Yoshany, den die Handelswinde bis nach Berresh getragen hatten. Und nun würden sie ihn wieder davon tragen, zurück in die Steppe, wo er spätestens mit dem Verblassen der Tinte nicht mehr auffindbar sein würde.

 

* * *

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Elisabeths Profilbild Elisabeth

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Kapitel: 4
Sätze: 583
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Kurzbeschreibung

Derhan erlebt die bisher schlimmsten Tage seines Lebens - wer es wagt, kann ihn dabei begleiten.