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| Kapitel: | 3 | |
| Sätze: | 301 | |
| Wörter: | 7.345 | |
| Zeichen: | 42.423 | 
Patrais verabschiedete sich für die Nacht von Urzan, der ihr freundschaftlich auf die Schulter klopfte und "bis morgen", brummte, bevor er die Tür hinter ihr verschloß. Im Licht des vollen Mondes schlenderte sie die schmale Gasse entlang und drehte lächelnd den Kirschbaumzweig zwischen den Fingern, den ihr die hübsche Manala zusammen mit einem leidenschaftlichen Kuß geschenkt hatte. Manalas Lust war überaus verführerisch gewesen, aber so spät wurde Hermil sicher unruhig, wenn Patrais länger ausblieb. Und morgen würde Manalas Lust noch heißer brennen.
Von Urzans Bordell, in dem sie als Mann unter dem Namen Harhan als Türsteher und Verteidiger der holden Weiblichkeit bei Übergriffen der Kunden diente, und gelegentlich auch als hingebungsvoller Tröster dieser holden Weiblichkeit, waren es nur ein paar Schritte bis zu dem Torgang, hinter dem sich ein kleiner Ama-Schrein befand und das Haus der Hebamme Ensha, in dem Patrais als ihr angeblicher Neffe wohnte.
Sie drückte einen für die Göttin gedachten Kuß auf die dicht stehenden Knospen, dann legte sie den Zweig vor die Füße der vom Mondlicht übergossenen kleinen Statuette. Stumm dankte sie Ama, daß sie ihr wieder die Freude am Leben und an der Liebe geschenkt hatte, die sie damals, als sie Enshas Haus das erste Mal betrat, für immer verloren glaube.
Dann sah sie die vermummte Gestalt neben der Tür der Hebamme auf dem Boden sitzen, das war keine Letrani, die hier Hilfe oder Zuflucht suchte, und sicher nur scheinbar schlafend. Patrais legte die Hand auf den Griff des Dolches, den sie in Urzans Diensten als einzige Waffe mit sich führte und näherte sich vorsichtig. Kaum, daß Patrais vor ihr stand, hob die Person wie erwartet den Kopf. Sie hatte auf Patrais gewartet.
Die junge Frau schien plötzlich überaus vertraut. Patrais entspannte sich, es drohte keinerlei Gefahr. Obwohl sie sich nicht recht erinnern konnte, war das eine gute Freundin aus Kindertagen. Also streckte sie die Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
Tatsächlich ergriff die andere mit ihrer Rechten Patrais Hand, aber stand so mühelos auf, als wäre es nur Freundlichkeit ihrerseits gewesen, die Hand zu nehmen, nicht der Bedarf an Hilfe. Sie war barfuß, so groß wie ihr Gegenüber und trug ein Bündel im linken Arm, verborgen unter dem Mantel, den sie um sich gewickelt hatte. Und als sie den Saum des Mantels von ihrem Scheitel zog, enthüllte sie so weiße Haare, wie sie auch Patrais unter ihrer Verkleidung hatte, geerbt von ihrer unirdischen Mutter, und ebenso hellgraue Augen.
"Bist du eine Schwester von mir?" fragte Patrais erstaunt. Ein so starkes Gefühl der Verbundenheit hatte sie nach dem Verlassen ihres Vaters nur mit ihrem eigenen Sohn erlebt.
Ja, sie waren verwandt. Und die andere hatte eine Bitte an sie.
Natürlich würde Patrais ihr jede Bitte erfüllen, etwas anderes stand außer Frage. Es überkam sie, die Frau voller Zuneigung zu umarmen und die empfangenen Küsse auf beide Wangen zu erwidern, dann führte Patrais sie zu der Bank unter dem schmalen, umlaufenden Dach des Innenhofes, gegenüber dem Schrein der Göttin. "Was kann ich für dich tun, Cousine?"
Sie brachte ihr Kind, das nicht bei ihr bleiben konnte. Für einen Augenblick sah Patrais eine große, rotgoldene Blüte in den von Liebe erfüllten Gedanken der Unirdischen, die ein fernes Echo in ihr widerhallen ließ, als habe sie die Blüte selbst schon gesehen. Ob das Tyrimas Flamme war, von der es in den Schriften hieß, sie wärme die Gärten der Freude? Vielleicht erinnerte sie sich auch aus ihrem ersten Lebensjahr in den Gärten daran. Doch länger konnte ein sterbliches Kind dort nicht bleiben, daher hatte auch ihre Mutter ihr Kind zu seinem sterblichen Vater gebracht.
Doch bei seinem Vater konnte das Kind nicht sein. Die Unirdische schlug das Ende des Mantels von ihrem verhüllten Arm zurück, und Patrais sah, daß das Bündel tatsächlich ein nackter Säugling von vielleicht drei oder vier Monaten war, ein schlafendes Mädchen mit so dunkler Haut, wie Patrais selbst sie hatte und sehr feinem, weißen Haar auf dem Kopf, das im Licht des Mondes glänzte. Ohne Zweifel hatte dieses Kind ebenfalls das Blut der Unirdischen in sich, und es war liebenswerter als jedes andere Kind, das Patrais je gesehen hatte - nein, ermahnte sie sich dann, nicht liebenswerter als ihr eigener Sohn.
Dieses Kind war wie Patrais. Und sie würde für sein Wohlergehen sorgen, bis sie wieder mit der Unirdischen zusammentraf. Sofort streckte Patrais der Unirdischen die Hände entgegen, doch hielt dann inne. Was, wenn sie Letran mit Hermil verlassen wollte, bevor die Unirdische zu ihrem Kind zurückkehrte? Das Kind würde seine Mutter immer finden. Also nahm Patrais das Kind in Empfang, das sich gleich voller Vertrauen in ihre Arme schmiegte. Liebevoll streichelte sie den Schopf des kleinen Wesens, das sie nun aus so hellgrauen Augen anblickte, wie seine Mutter und Patrais selbst sie hatte. "Wie heißt das Kind?" fragte sie, schon ganz verliebt in das Mädchen, und blickte wieder auf, aber die Unirdische war spurlos verschwunden. Vielleicht suchte sie für ihre Tochter in der Zwischenzeit ja einen Ort zum Aufwachsen, an dem weiße Haare und graue Augen weniger fremdartig waren, als es Patrais Aussehen unter den schwarzhaarigen und dunkeläugigen Nachkommen der Tarib in Hannai gewesen war.
Wie es ihr Vater schon früh vorhersagte, hatte sich mit dem Heranwachsen auch das zu Patrais Aussehen passende unirdische Erbe entwickelt, jedoch nicht so schnell, wie es nötig gewesen wäre. Als Nefut Tashrany damals von Unstimmigkeiten mit dem König sprach und seine Tochter drängte, unerkannt aus Hannai zu fliehen, hatte sie noch ihre Haare färben müssen, doch inzwischen konnte sie nicht nur die Gefühle der Menschen lesen, sondern beherrschte auch die Kunst, die Wahrnehmung anderer so zu manipulieren, daß sie sahen, was sie sehen sollten: braune Augen anstelle der hellgrauen, schwarze Haare anstelle der weißen und einen Kinnbart wie der Stallmeister ihres Vaters ihn getragen hatte, wenn sie als Mann erscheinen wollte. Hätte sie dieses Talent doch nur schon früher besessen, dann hätte sie vielleicht nie aus Hannai fliehen müssen. Doch dann wäre sie Lanas nie begegnet, hätte ihn nie geliebt und hätte nie seinen Sohn empfangen.
Als Lanas Kind geboren worden war, gab Patrais ihm natürlich den Namen des größten Helden ihres Stammes, denn kurz vor seiner Geburt hatte sie geträumt, daß ihr Sohn im Mannesalter Hannai einnehmen würde. Wenn die Zeit reif war, würde er, genau wie jener andere Hermil Tashrany vor vier Jahrhunderten, die Stadt in wenigen Tagen erobern und den Plan ihres Großvaters endlich umsetzen, indem er den Nachkommen des Usurpators stürzte. Und durch diesen Traum verstand sie auch, daß die Götter ihren Vater nie dazu bestimmt hatten, die Herrschaft der fremden Könige zu beenden.
Über die Freude an Hermil hatte sie dank der Gnade Amas inzwischen fast vergessen, wie mit der Ermordung ihres Geliebten die verbliebenen Reste ihres alten Lebens um sie herum in Scherben gefallen waren. Auf der Flucht aus Hannai, in jener mondlosen Nacht, während einer Rast in den Grasbergen, war ein von Lanas Vater geschickter Handlanger aufgetaucht. Er beschuldigte Lanas des Vertragsbruches und Unterschlagung, und so erfuhr Patrais, daß der Mann, den sie liebte, ein ehrloser Auftragsdieb war. Zudem war der Auftraggeber, den er betrogen hatte, niemand anderes gewesen als ihr eigener, ihr bis dahin unfehlbar scheinender Vater Nefut, der doch wie ein Oshey stets den Geboten der Weisen und Heiligen gefolgt war, so daß ihn sogar eine Unirdische als Vater ihres Kindes erwählt hatte. Doch er war nicht nur darin schlecht beraten gewesen, den König allein auf sich gestellt herauszufordern, sondern auch darin, für diese Herausforderung den Edelstein aus dem Szepter des Königs stehlen zu lassen und so schließlich doch gegen die Gebote der Menschen und Götter zu verstoßen. Vielleicht hatte er ja geglaubt, von den Tashrany-Königen genug unirdisches Blut geerbt zu haben, daß die Götter ihm verzeihen und durch den Edelstein sogar helfen würden. Aber der Dieb hatte ihn betrogen, der Stein war unauffindbar, und Nefut Tashranys Beteiligung an dem Diebstahl wurde bekannt. Und so erfuhr Patrais in jener Nacht in den Grasbergen auch, daß bereits Stunden nach ihrem Aufbruch aus Hannai die Mitglieder des Haushaltes verhaftet und Nefut selbst als Hochverräter hingerichtet worden war.
Lanas bekannte dem Handlanger seine Schuld sofort. Trotzdem wurde er kaltblütig ermordet, nachdem er den rot funkelnden Edelstein, das 'Herz Hannais', ausgehändigt hatte. Patrais meinte, ihr Herz bliebe stehen, so sehr erschütterten sie damals die neuen Erkenntnisse über das Schicksal ihres Vaters und die Bluttat vor ihren Augen. Zu keiner Bewegung fähig starrte sie den Mann an, dessen Schwert noch in der Brust ihres Geliebten steckte. Und dieser Mann starrte zurück, doch das Schwert zog er nicht aus Lanas Leib. Patrais wußte nicht, ob sie fliehen sollte oder sich ihrem Schicksal ergeben, wünschte sich gegen jede Vernunft, der Mörder würde sie einfach nicht mehr sehen, und plötzlich war er verschwunden.
Als sie endlich begriff, daß ihr keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, raffte sie die um die Feuerstelle verteilten Besitztümer zusammen und lief in die finstere Nacht. Nach Tagen oder Wochen gelangte sie irgendwie weiter in den Norden bis nach Letran und erreichte endlich das Haus von Ensha. Nicht ganz drei Jahre lebte sie nun bei der Hebamme, der sie am Tag ihrer Begegnung das Herz ausgeschüttet hatte und die seither Patrais Geheimnis getreulich hütete.
"'Neffe', was sitzt du so lange hier draußen", erklang in dem Moment Enshas tadelnde Stimme. Obwohl der Mond so hell schien, kam die Hebamme mit einer Lampe aus dem Haus. "Grübelst du wieder... oh, wer ist das denn?" Wie verzaubert betrachtete sie das kleine Mädchen, das Patrais mit beiden Armen umfangen hielt.
Einen Namen hatte die Unirdische nicht genannt, aber für Ensha brauchte sie den wohl. "Dies ist Amit", erklärte Patrais also, auch wenn Amit in der alten Sprache der Stämme nichts anderes hieß als 'Mädchen'. "Ihre Mutter ist eine Verwandte von mir und bat mich, für sie zu sorgen, bis sie von ihrer Reise zurückkehrt." Und Amit lächelte die Hebamme mit ihrem zahnlosen Mund so lieblich an.
"Bring sie schnell ins Haus, hier draußen ist es viel zu kalt für sie", mahnte Ensha und schob Patrais vor sich her durch die Tür.
Da Hermil sich noch immer zur Nacht stillen ließ, hatte Patrais genügend Milch für den Säugling. Und so lag das Mädchen wenig später selig schlafend neben Hermil in dem am Deckenbalken aufgehängten Weidenkorb in Patrais Kammer. Sie sang den beiden ein Wiegenlied der Tashrany vor, mit dem sie selbst als Kind eingeschlafen war und für einen Moment war ihr, als seien sie beide ihre leiblichen Kinder, auch wenn sie sich bis auf die Hautfarbe kaum ähnelten, der eine mit den schwarzen Locken, die auch Lanas gehabt hatte und die andere mit feinem weißen Haar, wie eine viel jüngere Version ihrer selbst. Und nach einigen Tagen war es, als wäre Amit tatsächlich schon immer in ihrer Obhut gewesen.
Lange bevor die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster bis zu ihrem Bett drangen, erwachte Patrais. Wie vor seiner Geburt hatte sie im Traum ihren Sohn als Mann vor den Toren Hannais gesehen, ein Bild von einem Oshey, diesmal mit einer berittenen Armee der Stämme hinter sich. Wenn Hermil also bei den Stämmen zu einem braven Oshey erzogen worden war und alle einem Fürsten anstehenden Künste erlernt hatte, würden die Götter dafür sorgen, daß er mit Hilfe der Stämme den Thron zurückgewann.
Der Traum zeigte ihr auch, daß sie jetzt handeln mußte. Es beunruhigte sie jedoch, daß sie kein Anzeichen einer dauerhaften Herrschaft ihres Sohnes gesehen hatte, aber das mochte an den momentanen Verhältnissen in Hannai liegen. Während er bei den Stämmen aufwuchs - und das in seinen bernsteinfarbenen Augen so deutlich sichtbare unirdischer Erbe würde dafür sorgen, daß sich die Fürstenfamilie selbst um ihn kümmerte -, konnte sie Hermil in der Stadt den Weg bereiten. Patrais mußte nur einen verläßlichen Boten finden, der ihren Sohn allein zu seinem Stamm brachte, denn kein Oshey würde jemals erlauben, daß eine Mutter ihr unmündiges Kind verließ, ohne durch den Tod dazu gezwungen zu sein. Und als sie mit Ensha frühstückte, legte sie kurz ihr Vorhaben dar, um der Hebamme zu erklären, warum sie Letran gerade jetzt verlassen mußte.
"Wenn du Hermil allein zu den Stämmen schicken willst, frag doch beim Handelsposten in den Grasbergen an der Straße nach Taribai, der liegt nur eine Tagesreise südlich von hier", schlug Ensha daraufhin vor. "Von dort brechen jeden Tag Karawanen in den Süden auf. Du wirst doch sicher erkennen können, ob einer der Reisenden zuverlässig genug ist, um ihm deinen Sohn anvertrauen zu können."
"Ja, das würde ich erkennen", gab Patrais ihr Recht.
"Und du wirst nicht so bald zurückkehren, oder?" fragte Ensha dann traurig. Als Patrais nickte, stand die Hebamme auf und umarmte sie. "Ich werde dich vermissen", sagte sie leise und in ihrer Stimme waren die Tränen zu hören, die sie zurückhielt.
Patrais erwiderte Enshas Umarmung. Wenn sie die mit ihren etwa dreißig Jahren gerade einmal gut zehn Jahre ältere Hebamme unter anderen Umständen kennengelernt hätte, wären sie jetzt vielleicht Liebende, und Patrais hätte Ensha den Trost, den ihr weicher Körper ersehnte, in ganz anderer Weise als durch eine bloße Umarmung schenken können. Doch wie es nun stand waren sie zumindest Freundinnen und so küßte sie die Hebamme schwesterlich auf die Wange. "Bevor ich abreise muß ich auch noch Urzan Bescheid geben", sagte sie dann und löste sich von Ensha. Und sie mußte natürlich auch von der liebeshungrigen Manala in angemessener Weise Abschied nehmen.
Am frühen Nachmittag hatte Patrais sich verabschiedet und von ihren Ersparnissen ein nicht mehr ganz junges Pferd gekauft. Hermil würde vor ihr mit auf dem Sattel sitzen können, um auch Amit eine bequeme Reise zu ermöglichen befestigte sie den Weidenkorb am Sattel, ihr weniges Gepäck nutzte sie als Gegengewicht und wollte aufbrechen.
"Du reist ja wirklich ab", hörte sie da die erstaunte Stimme von Manala, die im Schatten des Torgangs stand.
"Das hatte ich dir gesagt", erinnerte Patrais sie, klopfte dem Pferd beruhigend auf die Kruppe und ging hinüber zu ihrer Geliebten.
Kaum daß sie in den Schatten trat, streckte Manala sich ihr entgegen, schlang die so auffällig hellen Arme um ihren Hals und schmiegte sich an sie. "Ich hatte gedacht, du wolltest nur besondere Leidenschaft schmecken", flüsterte sie, ihre weichen Lippen so dicht, daß sie Patrais Wange streiften.
"Deine Leidenschaft schmeckt immer besonders", gab Patrais zurück und küßte sanft Manalas zarte Wange, dann gieriger ihre Lippen. Wie erregend sie sich an ihr rieb, wie ihre Lust sie umhüllte wie ein kostbares Parfum. Vielleicht war es ihr Awrani-Erbteil, das sie so besonders machte, über ihre helle Haut und die rötlichbraunen Haare hinaus, auch wenn sie immer wieder betonte, daß sie eine Letrani sei. Es fiel so schwer, sie in Letran zurückzulassen, aber Patrais wollte ihr nicht erklären müssen, warum sie in Hannai als Frau auftreten würde.
"Ich habe nie zuvor einen Mann wie dich getroffen, Harhan", hauchte Manala in Patrais Atem, "und ohne prahlen zu wollen, ich habe viele gekannt." Dann ging sie einen halben Schritt auf Abstand und lächelte frech.
Patrais gab das Lächeln zurück. "Ich weiß, Geliebte." Dann verneigte sie sich nach Art der Stämme. "Dies ist der Abschied, Manala. Ich reise zurück in den Süden."
"Und wirst du meine Künste besingen und meinen schönen Körper preisen, um mir an deiner Stelle neue Liebhaber zu verschaffen, Harhan?" Und Patrais sah, das sich hinter diesen aus einem beliebten Soldatenlied entliehenen Worten echter Abschiedsschmerz verbarg.
"Das werde ich tun", sagte Patrais, auch wenn sie nicht wußte, wem gegenüber sie von Manalas Künsten singen sollte. "Und nun muß ich gehen."
"Dann geh'", stieß Manala mit halberstickter Stimme hervor, drehte sich um und lief davon. Und als Patrais das Pferd durch den Torgang geführt hatte, war ihre Geliebte schon nicht mehr zu sehen.
Patrais nahm die Taribische Straße, die bei Letran westlich des Amaar verlief und seinem Verlauf folgte. Gerade außerhalb der Stadtmauern standen rechts und links der Straße die Kasernen für Letrans großes Heer. Die in dieser Garnisonsstadt untergebrachten Männer von nah und fern sorgten dafür, daß nicht nur die Stadt sondern auch die letranischen Dörfer trotz der Nähe der Berge und der dortigen Banditenverstecke sicher waren. Zudem ermöglichten sie ihrem ehemaligen Arbeitgeber Urzan und den zahlreichen anderen Bordellbesitzern Letrans florierende Geschäfte.
Schon bald merkte Patrais, daß sie lange nicht so schnell voran kam, wie sie gehofft hatte. Im Frühjahr waren viele Reisende unterwegs und rasteten neben der Straße oder am Ufer des Amaar, so daß Patrais sich bei jeder Stillpause für Amit ein sichtgeschütztes Plätzchen an der flußabgewandten Seite der Straße suchen mußte. Da der Amaar sich immer weiter nach Westen schlängelte, verlief auch die Straße immer näher am westlichen Gebirgszug, an dessen Hängen zahlreiche kleine Dörfer lagen, wodurch sich die Zahl der für Patrais geeigneten Rastplätze noch weiter verringerte. Wäre sie als Frau unterwegs gewesen, hätte sie den Säugling wie die Bäuerinnen einfach am Wegesrand stillen können.
Erst als sich der zweite Reisetag dem Ende neigte, flammten mit Beginn der Dämmerung die Lichter der großen Stadt Tetraos an den Steilhängen des westlichen Gebirgszuges auf. Um größere Menschenmengen bei der Übernachtung zu vermeiden, verzichtete Patrais darauf, der Straße noch das Stück weiter bis zu der aus taribischer Zeit stammenden großen Brücke über den Amaar zu folgen, sondern führte ihr Reittier weg von der Straße weiter nach Westen und suchte sich und den Kindern zu Füßen Tetraos ein hübsches Plätzchen in einem kleinen Hain, durch den ein in den letzten rötlichen Sonnenstrahlen glitzerndes, munter plätscherndes Rinnsal floß, das sich wohl erst viel weiter im Westen mit dem breiten Flußdelta des Amaar vereinte. Sie füllte ihren Trinkschlauch mit dem klaren Wasser, stillte die Kinder und sang ihnen das Wiegenlied. Dann aß sie selbst und richtete sich für die Nacht ein.
"Orem, schenke mir die Gnade einer ruhigen Nacht und beschütze meinen Schlaf", hörte Patrais plötzlich eine Männerstimme und dachte für einen Moment, sie träume von ihrem Vater. Aber das war kein Traum, ganz in der Nähe mußte ein Mann aus den Stämmen sein Nachtlager eingerichtet haben. Vielleicht konnte sie sich einen oder sogar zwei weitere Reisetage bis in die Grasberge sparen, wenn sie schon hier einen Oshey antraf, dem sie Hermil mitgeben konnte.
Patrais erhob sich also wieder, steckte Lanas' Schwert in den Gürtel, nahm den schlafenden Knaben aus dem Körbchen und nahm das Bündel mit den Besitztümern ihres Großvaters, die Hermils Herkunft und Erbe belegen sollten. In einem Bogen näherte sie sich dem Lichtschein des Kochfeuers, an dem der Oshey sitzen mußte, dessen Gebet an den nächtlichen Träumer sie geweckt hatte.
Ein grauhaariger Mann war es, der da am Kochfeuer saß und sich einen Tee bereitete. Sein Pferd graste friedlich weiter, doch er sprang sofort auf und griff nach dem Heft seines langen Schwertes, als Patrais in den Lichtschein des Feuers trat. Auch die Narben an seinen Händen und in seinem Gesicht zeigten, daß er eher ein Kämpfer als ein Händler war. Die gemalte Spirale zwischen seinen Augenbrauen stand für den Steinbock der Temhaly, wenn sie sich recht erinnerte.
"Seid gegrüßt, Temhaly", begrüßte Patrais den Mann mit einem Lächeln. "Mein Name ist Harhan. Meine Herrin Patrais Tashrany wünscht, daß ihr Sohn sicher zu ihrem Stamm gelangt und ich wollte euch bitten, das zu übernehmen." Sie ließ ihn sehen, was er erwartete und gab ihm ein, daß sie und das Kind vollkommen harmlos waren. Es mußte unbedingt gelingen, daß Hermil allein zu den Tashrany gelangte und dieser Mann war zuverlässig in den Dingen, die er versprach, das konnte sie sehen. 'Versprich mir, daß du Hermil zu den Seinen bringst.'
Der zunächst skeptische Gesichtsausdruck des alten Mannes wurde immer freundlicher, er kam näher und sah das schlafende Gesicht Hermils an. "Ich heiße Neshrim Temhaly. Meine Empfehlung an eure Herrin. Ich war Söldner in Letran und bin nun auf dem Weg zum Handelsposten vor Taribai, um mit einer Karawane zurück zu meinem eigenen Stamm zu reisen. Aber ich bin gerne bereit, sie und den Knaben zu den Tashrany zu begleiten. Wie heißt der Junge denn?"
"Meine Herrin nannte ihn Hermil, da ihn ein großes Schicksal erwartet. Er hat unirdisches Blut in seinen Adern", antwortete Patrais freimütig. Hermil regte sich leicht im Schlaf, als merke er, daß über ihn und sein Schicksal gesprochen wurde. 'Schlaf ruhig, mein Sohn. Wir werden uns wiedersehen, sobald du alt genug bist, den Goldenen Thron Hannais zu erobern und ich sichergestellt habe, daß man deine Herrschaft dort ersehnt', versprach Patrais ihm und küßte ihn auf den lockigen Schopf, dann drückte sie ihn dem Temhaly in den Arm. Und so wie der Mann ihn entgegen nahm hatte er wohl selbst Kinder und Enkel, Hermil würde bei ihm in sehr guten Händen sein. "In diesem Bündel sind das Schwert und ein paar weitere Besitztümer seines toten Urgroßvaters, die sein Erbteil sind", erklärte Patrais.
"Legt es dort ab, Tashrany", sagte der Temhaly und zeigte auf ein paar Taschen, die sein eigenes Gepäck darstellten. "Wollt ihr nicht einen Tee mit mir trinken, um unsere Freundschaft zu besiegeln?"
Ja, damit hatte der Alte recht, und er würde sich noch mehr dazu verpflichtet sehen, Hermil auch getreulich abzuliefern. Also willigte Patrais ein, zog das Schwert aus dem Gürtel und legte es neben sich, um sich bequem an das Feuer zu setzen.
Als der Mann Hermil auf die Decken legte, die sein eigenes Nachtlager waren, war der Junge wieder völlig ruhig, dann begann er, an einer geträumten Brust zu nuckeln. 'Du wirst gut bei den Tashrany ankommen und du wirst zum Mann heranwachsen', versprach Patrais ihm. 'Und du wirst eine Dynastie gründen, die mindestens ebenso lange Bestand hat, wie die erste Tashrany-Dynastie.' Daran glaubte sie so fest, daß sie plötzlich anstelle des alten Temhalys, der gerade die Teetassen füllte, ihren Sohn in fortgeschrittenem Alter auf seinem Thron sitzen sah, zu seinen Füßen ein schwarzgelockter Säugling, der sein Enkel, ihr eigener Urenkel war. Verwirrt durch diese Doppelsicht schüttelte Patrais unwillkürlich den Kopf, und das Bild verging, aber nun war sie beruhigt, ihr Sohn hatte eine Zukunft nach der Eroberung Hannais.
"Wo bleibt eure Herrin?" fragte der Alte natürlich, als sie beide an ihrer ersten Tasse nippten. "Und wie kommt es, daß ihr sie nicht zu ihrem Schutz begleitet, Tashrany?"
Patrais sah in das Kochfeuer des Alten. 'Frag das nicht', bat sie im Stillen, denn sie wollte den freundlichen Alten nicht noch mehr anlügen. "Seine Mutter hat Anteil an unirdischem Blut und...", begann sie dennoch und sah, wie sich dieser Halbsatz in den Gedanken des Temhaly mit den altbekannten Sagen über die Unirdischen, die diese Welt in Falkengestalt verließen, vermischte. Bevor er nachfragen konnte, warf sie schnell ein: "Ihr habt doch sicher ebenfalls Kinder, Temhaly."
"Natürlich, aber es ist lange her, daß sie so klein waren." Der Blick des Temhaly zu Hermil war so liebevoll, daß Patrais das Herz leichter wurde. "Und so schnell wird ihnen die Stirnlocke geschoren, daß man sich wundert, wo die Zeit geblieben ist. Ich habe vier Enkel bei den Stämmen, und eine kleine Tabit, die Tochter meiner Tochter."
Nach den zwei Tassen Tee, die die Höflichkeit gebot, verabschiedete Patrais sich. "Ich danke euch zutiefst, Neshrim Temhaly. Mögen die Götter über euch wachen. Und wenn ich noch etwas für euch tun kann, zögert nicht, es vorzubringen."
Der alte Mann lächelte und schüttelte den Kopf. "Ich freue mich auf meine Heimat. Nach so vielen Jahren in der Fremde gibt es nichts, was mir ebensolche Zufriedenheit geben könnte wie die Aussicht, in wenigen Tagen wieder in den Zelten meines Stammes zu sein."
"Dann wünsche ich euch eine gute Reise und ein langes, gesundes Leben im Kreise eurer Familie." Patrais verbeugte sich tief.
"Diesen Wunsch erwidere ich in dem Geist, in dem er gegeben wurde", antwortete der Alte formell und verneigte sich ebenfalls. Und Patrais kehrte, wiederum in einem weiten Bogen, zu ihrem eigenen Lager an dem kleinen Bach zurück.
Es war ein seltsames Gefühl, Hermil zurückzulassen, auch wenn Patrais ihn in guten Händen wußte. Und sie ahnte, daß dieses vage Gefühl der Entlastung bald dem Schmerz des Verlustes weichen würde. Ob es der Unirdischen ebenso gegangen war, als sie ihr Kind Patrais überlassen hatte?
Als Patrais unirdische Mutter dereinst ihr Kind dem Mann in die Hände legte, der es gezeugt hatte, war es bereits ein Jahr alt gewesen. Zu alt, um weiter in den Gärten der Freude zu bleiben. Doch das Kind, das die Unirdische Patrais vor ein paar Wochen in die Arme gelegt hatte, war nun maximal ein halbes Jahr alt. Und die Unirdische hatte gesagt, sie käme wieder... nein, die Unirdische hatte gar nicht gesprochen, fiel Patrais nun auf. Es waren eher Gefühle oder eine Lenkung ihrer Gedanken gewesen. Ob die Unirdische ihr den alten Temhaly geschickt hatte? So konnte Patrais sich nun ganz der Tochter der Unirdischen widmen, bis deren Mutter sie wieder abholte. Bei den Stämmen würde Hermil zu dem Mann heranwachsen, den sie in ihren Visionen gesehen hatte, erst dann würde sie ihn wiedersehen. Bis dahin blieb ihr nur die Erinnerung an ihn und die Aufgabe, seiner Eroberung Hannais den Weg zu bereiten.
Patrais hatte schon fast ihren Lagerplatz nahe dem kleinen Bächlein erreicht, als ihr auffiel, daß ihr Kochfeuer nicht mehr glimmte. Im Licht des Mondes, der durch das noch spärliche Laub der umstehenden Bäume fiel, erkannte sie, daß es mit Wasser gelöscht worden sein mußte. Wer hatte das getan? Auch ihre Decken waren durchnäßt. Und der Korb, in dem das Kind der Unirdischen geschlafen hatte, war verschwunden! Patrais Herz setzte einen Schlag aus - wo sollte sie nach Amit suchen?
Beruhigen, erst einmal zur Ruhe kommen! War das schmale Rinnsal nicht breiter als zuvor? So nah am Wasser hatte sie ihr Lager doch nicht aufgeschlagen. Und der Korb hatte auch ein gutes Stück vom Wasser entfernt gestanden, direkt neben ihrem Lager, genau dort, wo nun die Decken nass waren. War der Korb mit dem Kind von diesem kleinen Bach davongetragen worden?
Eilig raffte Patrais ihre Habseligkeiten zusammen, lud sie auf ihr Pferd, führte es an dem zunehmend schilfbewachsenen Lauf des Baches entlang. Er schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch nach Süden, floß mit einem leisen Gurgeln über Steinansammlungen und Baumwurzeln. Hätte der Korb nicht hier hängenbleiben müssen? Der Bach führte doch kaum genug Wasser, um auch nur einen kleinen Ast fortzutragen.
Das Licht des schon wieder fast vollen Mondes half Patrais, dem glitzernden Wasser weiter zu folgen. Als sie die Bäume hinter sich gelassen hatte, saß sie auf und ritt neben dem Rinnsal entlang, folgte seinem Lauf nun nach Westen. Vielleicht hatte sie ja Glück, und der Korb war doch irgendwo am Ufer im Schilf hängengeblieben. Wenn er in die zahllosen Wasserläufe des Amaar-Deltas geriet, würde sie ihn sicher nie wiederfinden. Es mußte einfach gelingen, den Korb einzuholen, und Amit mußte sich auch noch im Korb befinden, alles andere war undenkbar.
Über die Ebene, selbst durch das hohe Gras, konnte sie galoppieren, war damit wohl auch schneller als der Korb auf dem Wasser. Doch zu sehen war er trotz des hellen Mondscheins nicht. Patrais richtete den Blick die meiste Zeit auf das im Mondlicht glitzernden Wasser des Baches, und als sie das nächste Mal den Blick einen kurzen Moment in die Ferne schweifen ließ, sah sie nicht mehr die grasbewachsene Ebene, auf der eine Herde der Pferde schlief, sondern auf eine endlos scheinende Wasserfläche, die leicht gekräuselt das Mondlicht reflektierte. Dort hinein mündete der Bach. Nördlich davon konnte sie noch reiten, auch wenn der schlammige Boden die Hufe des Pferdes bei jedem Tritt nur mit einem schmatzenden Geräusch wieder freigab. Auf dem Wasser war nirgends ein Korb zu sehen.
Sie hatte die Küste erreicht. Im Norden sah sie einige Hütten, die länglichen dunklen Gebilde waren wohl Boote, die über Nacht auf den flachen Strand gezogen worden waren. Und im Süden, ein gutes Stück entfernt auf dem bleifarbenen Wasser, tanzte etwas wie ein kleines helles Boot auf den sachten Wellen, als würde die Göttin selbst es sanft wiegen. Das mußte doch der Weidenkorb sein! Zu Pferd konnte sie ihn nicht erreichen, aber vielleicht schwimmend. Gelang das nicht, holte sie sich ein Boot - und jemanden der es fahren konnte.
Patrais beschwerte die Zügel ihres Pferdes mit ein paar Handvoll des matschigen Sandes, dann zog sie sich aus und lief in die salzigen Fluten. Nach wenigen Schritten stand ihr das kalte Wasser bereits bis zum Bauch und sie begann zu schwimmen. Die Weidenzweige, aus denen der Korb geflochten war, glänzten im silbrigen Mondlicht gelblich. So waren sie auch auf Entfernung gut zu sehen. Aber der Korb kam und kam nicht näher, egal wie sehr sie sich anstrengte. Wie hatte der Bach in so kurzer Zeit überhaupt dermaßen anschwellen können, daß er den Korb wegtrug? Die Zeit der Frühjahrsüberschwemmungen war doch noch gar nicht angebrochen.
Inzwischen schien der Korb doch etwas näher gekommen zu sein und Patrais versuchte, ihr Tempo zu erhöhen. Sie merkte, daß sie an die Grenzen ihrer Kräfte kam, doch sie weigerte sich, aufzugeben. Wieder war der Korb ein gutes Stück näher, also lohnte sich die Anstrengung. Ausruhen konnte sie sich, wenn sie Amit wieder sicher an Land hatte. Atmen, gucken, atmen, da war der Korb, Amit lag darin und schlief selig, atmen, weiter, gleich war sie da, gleich konnte sie ihn mit der Hand greifen. Auf der anderen Seite mußte der Griff mit dem Lederband sein, mit dem sie ihn an den Sattel ihres Pferdes gebunden hatte. Atmen, das fiel inzwischen deutlich schwerer. Ihr Herz schlug so schmerzhaft schnell und für einen Augenblick floss salziges Meerwasser über ihre Lippen, anstelle der Luft. Sie spuckte aus und versuchte dabei, weiter an den Korb heranzuschwimmen, gleich war sie da, aber die kleine Welle, die sie erzeugte, als sie den Arm danach ausstreckte, trieb ihn ein Stückchen fort.
Sie versuchte, den Korb zu umrunden, so daß sie unter Wasser das Lederband greifen konnte. Aber in diesem Augenblick ereilte sie eine Vision. Ihr Sohn, rücklings und unzweifelhaft tot in einem der flachen Wasserbecken liegend, wie es sie in den Gärten vornehmer Häuser Hannais gab, sein Gesicht alt und faltig und das Haar nun fast so weiß wie das seiner Mutter. Sie versuchte, dieses Bild zu ignorieren und fühlte ein feuchtes Etwas ihren Arm streifen. Das mußte das Lederband sein, sie griff danach, und plötzlich war das Haar ihres toten Sohnes in der Vision schwarz und das Gesicht jugendlich, das genaue Ebenbild seines Vaters Lanas. Erschrocken ließ Patrais das gerade gefundene Lederband fahren und nun hatte ihr toter Sohn in der Vision wieder die weißen Haare eines uralten Mannes.
Amits Schicksal also bestimmte, ob ihr Sohn eine Zukunft über seine Reife zum Mann hinaus hatte oder nicht. Doch allein der Moment des Zögerns über diese grausame Erkenntnis nahm ihr die Entscheidung aus der Hand. Eine etwas größere Welle trug das Körbchen mit sich und das Lederband aus Patrais unmittelbarer Reichweite. Ihr fehlte plötzlich die Kraft, diese Entfernung noch einmal zu überwinden.
Dann wurde ihr eisig kalt. Wie konnte sie das Schicksal ihres Kindes mit dem eines anderen erkaufen? "Ihr Götter, was habe ich getan?" entfuhr ihr und Tränen bahnten sich ihren Weg. Verschwommen sah sie, wie der Korb von der nächsten Welle noch weiter fort getragen wurde.
Sie zitterte vor Kälte als sie erwachte, nackt auf dem Sand liegend. Es begann schon zu dämmern und sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wie sie wieder an Land gekommen war. In nicht allzu weiter Entfernung sah sie ihr Pferd stehen, das anscheinend etwas zu fressen gefunden hatte. Mühsam erhob sie sich und schleppte sich zu ihrem Reittier, sammelte auf dem Weg ihre Kleidungsstücke ein und zog sich wieder an. Sie hiefte sich hinauf in den Sattel, dann ritt sie fort von der Küste, zurück ins Landesinnere, zurück zur Straße. Hoffentlich hielt Ama ihre schützende Hand über das Kind, so daß der Korb wohlbehalten eine friedliche Küste erreichte.
Als Patrais sich wieder ihrer Umgebung bewußt wurde, erkannte sie, daß sie nach der anstrengenden Nacht erneut der Schlaf übermannt hatte. Das Pferd lief auf der Taribischen Straße nach Norden, zurück nach Letran. Es wollte wohl wieder in seinen Stall. Und nun, nachdem sie das Kind der Unirdischen verloren hatte, mochte dieses Ziel für Patrais sogar hoffnungsvoll sein, denn sie konnte sich in Letran mit ihrer Freundin Ensha beraten. Doch das Tier machte um Letran einen Bogen. An der Weggabelung südlich der Stadt nahm es den Weg, der über die Südliche Brücke, an den großen Kasernen vorbei und dann direkt zum östlichen Gebirgszug führte, zum Paß nach Irim. Die Stute mochte also tatsächlich von einem Bewohner der Berge, die die letranische Ebene von den Städten der Awrani trennte, in Letran verkauft worden sein.
Es wurde immer kälter und ungemütlicher, je weiter das Pferd auf dem ansteigenden Abschnitt der Taribischen Straße voran kam, zwischen zunächst noch von Gras und kleinen Büschen überwachsenen Hügeln. Die fruchtbare Hügel wichen steinigen Erhebungen und kargen Abhängen und endlich umgab sie bloßer schroffer Fels. Allein, ohne Kinder, bestimmte der Rhythmus des Pferdes, wann Patrais eine Pause zu machen hatte, sie hatte keine eigenen Bedürfnisse mehr und sich ganz in die Hände der Götter begeben. Und nur, weil das Pferd mit Einbruch der Dämmerung direkt neben der unter Steinsplittern und Geröll kaum mehr erkennbaren Straße ein paar spärliche Grasbüschel zwischen den Steinen fand und begann, sie langsam abzurumpfen, ließ sie sich aus dem Sattel rutschen und wickelte sich zu Füßen des Tieres in ihre noch immer feuchten Decken.
In dieser Einöde gab es wohl seid der Herrschaft der Tashrany-Könige keine Reisenden mehr. Und auch die drei oder vier heruntergekommenen Dörfer nahe dem Aufstieg zum Paß nach Osten hatten weitgehend unbewohnt gewirkt. Der Rauch aus einigen Kaminen rührte wahrscheinlich daher, daß diese Häuser Banditen als Unterschlupf dienten. Wenn diese Banditen in ihr eine lohnende Beute sahen, dann sollten sie doch kommen und ihr Glück versuchen.
Kurz nach Sonnenaufgang beschnupperte das Pferd Patrais Ohr und weckte sie. Auch diesen Tag stieg es weiter die zu einem schmalen Pfad verengte Straße zwischen den Felswänden hinauf und kurz nach der Mitte des Tages erkannte Patrais zwischen den Felsen weithin sichtbare, schwarze Steinsäulen, eine rechts und eine links des Pfades, die den Beginn des Passes nach Irim markierten und mit der in riesigen Lettern verfaßten, altertümlichen Inschrift den Anspruch der taribischen Könige auf das Land vor und hinter den Wolkenbergen kund taten. Mindestens fünfhundert Jahre mußten diese Säulen hier stehen, doch sie waren nicht einmal nennenswert verwittert, anders als jene ganz ähnlichen schwarzen Säulen, die Patrais in ihren Kindertagen weit südlich von Hannai in der Wüste gesehen hatte. Nur blaugrüne Flechten und ein wenig Moos wuchs hier und da in den Vertiefungen der Buchstaben.
Und das Pferd lief weiter, zwischen den Säulen hindurch. Stammte die Stute gar von den Irimar? Würde sie jetzt, im erst beginnenden Frühling, nur mit einem Pferd und klammen Decken über die noch im Winter gefangenen Berge reiten, deren entferntesten, schneebedeckten Gipfel das ganze Jahr hindurch in den Wolken verborgen waren? Nach wenigen Schritten aber bog das Pferd ab in einen sehr viel schmaleren Bergpfad, der sich nach Norden erstreckte, schritt furchtlos durch einen Hohlweg und dicht neben einem Abgrund entlang, und endlich standen sie im Schatten von zwei aus dem Fels gemeißelten, mindestens zweimannhohen Pfeilern, die den Eingang in eine schmale Schlucht flankierten.
Auf den ersten Blick wirkte diese Schlucht wie einer der Eingänge zu den Begräbnisstätten von Tetraos, die in der westlichen Gebirgskette in der Nähe jener Stadt in den Fels gehauen waren, doch dann entdeckte Patrais die schon etwas verwitterten Inschriften in den Pfeilern, die nicht nach einer Begräbnisinschrift aussahen.
Neugierig stieg Patrais vom Pferd, um die Inschriften zu lesen: auf dem rechten Pfeiler wurden Reisende im Quellheiligtum des Amaar willkommen geheißen, auf dem linken wünschte die Ama-Priesterschaft des Heiligtums eine gesegnete Reise. Das Pferd schritt, seiner Hauptlast entledigt, zügig zwischen den Pfeilern hindurch und verschwand im Schatten.
Beunruhigt lief Patrais dem Tier hinterher, durch die sehr kühle Engstelle, hinter der sich unvermittelt ein erstaunlich großes, trotz der Jahreszeit bereits reich begrüntes Tal öffnete. Das Pferd hatte nahe dem Durchgang halt gemacht und zupfte am hochstehenden Gras. Das Zwitschern der Vögel im Geäst der schon verblühenden Obstbäume hatte sie vor den Pfeilern nicht gehört, und hier summten sogar Bienen und flatterten Schmetterlinge. Es war in diesem Talkessel so viel wärmer als im restlichen Gebirge, daß Patrais nach wenigen Augenblicken ihren Mantel öffnen mußte.
An der dem Eingang gegenüberliegenden Felswand waren zwei weitere große Pfeiler eingemeißelt, das mußte das eigentliche Heiligtum sein, genau dort also war die Quelle des großen Flusses, der die letranische Ebene durchfloß, um südlich von Tetraos schließlich in das Westmeer zu münden, dessen Wellen ihr den Korb mit Amit entrissen hatten.
War es das Wirken der Göttin gewesen, das sie nun genau hierher geführt hatte? Sollte sie an der Quelle von Amas großem Fluß die Unirdische um Verzeihung bitten? Vielleicht sollte sie zunächst einmal die Priesterinnen des Heiligtums fragen, was sie für angemessen hielten.
Links von sich entdeckte sie in den Felswänden Öffnungen mit hölzernen Läden, die Türen und Fenster für dahinter liegene Höhlen waren, in denen die hiesige Priesterschaft wohl lebte. Es war niemand zu sehen, aber vielleicht beteten die Priesterinnen gerade an der Quelle oder gingen anderen Verpflichtungen nach. Neugierig ging Patrais näher an die erste Wohnhöhle heran, trat durch die nur angelehnte hölzerne Tür, doch die Bewohnerin dieser Behausung war nicht nur für ein Gebet gegangen, der Ort war verlassen: Pflanzen hatten ihren Weg durch die Fensterläden gefunden, Marder wohnten in den Resten eines Bettes, Vögel hatten sich Nester auf den Schränken gebaut. Die nächste Höhle sah nicht viel anders aus, und bei näherem Hinsehen entdeckte Patrais draußen Reste von Zäunen, fast zur Unkenntlichkeit überwucherte Kräutergärten, und auch die Obstbäume schienen schon jahrelang dem Wildwuchs überlassen worden zu sein.
Die sinkende Sonne hatte schon die Felsspitzen um den Talkessel erreicht, als Patrais die jeweils drei Höhlen auf der rechten und der linken Seite des Heiligtums untersucht hatte. Außer den Wildtieren hatte sie kein lebendiges Wesen gefunden, noch nicht einmal Reste von Leichen der Bewohner. Ohne Zweifel hatten hier Priesterinnen gelebt, Buchrollen, von Nagern zerfressen, lagen zum Teil noch auf Lesepulten, oder in etwas besserem Zustand in Schränken und Truhen, ebenso waren Kleidungsstücke vorhanden und verschlossene Vorratsgefäße mit verdorbenen Früchten. Alles wirkte, als hätten die Frauen nur kurz ihre Wohnungen verlassen, um dann für Jahrzehnte auszubleiben. Blieb noch das Heiligtum. Vielleicht war die Priesterschaft im Laufe der Jahre auf zwei oder drei Frauen zusammengeschrumpft, die nun im Heiligtum selbst lebten, auch wenn bisher nichts von diesen angenommenen Bewohnerinnen zu hören oder zu sehen gewesen war.
Es begann zu dämmern, aber noch immer war aus dem Heiligtum nichts zu hören. Es unaufgefordert zu betreten wagte Patrais nicht, sie würde sich also hier, nahe dem Heiligtum, zum Schlaf betten und darum bitten, daß ihr der nächtliche Träumer einen Rat gab, was sie tun sollte. Da fiel plötzlich ein goldener Lichtschein aus dem Durchgang ins Quellheiligtum. Es gab also doch noch mindestens eine Priesterin, die dieses Heiligtum pflegte. Patrais säuberte mit den Händen so gut es ging ihre Kleidung und zog sie zurecht. Dann trat sie an den Eingang. "Geehrte Mutter...", begann sie, aber der Anblick verschlug ihr die Sprache.
Es war das Licht der untergehenden Sonne, das durch eine vom Boden bis zur Decke reichende Öffnung auf der linken Seite in den kleinen Raum hinter dem mächtigen Eingang schien. Es funkelte rotgolden auf dem Boden vor dieser Öffnung ins Freie und der Blick erstreckte sich in die Weite, bis hinab in die im Abendlicht liegende letranische Ebene, durch die sich der von anderen Zuflüssen gewaltig gewachsene Amaar schlängelte. Zu ihren Füßen war ein kleines Becken, aus dem sein Anfang quoll, das Wasser ständig in Bewegung, so daß es das Sonnenlicht tausendfach brach und als kleiner Wasserfall in den Abgrund hinter der Lichtöffnung stürzte. Hier konnte sich kein weiterer Mensch verbergen, sie war allein an der Quelle des großen Flusses der Göttin.
Der Widerschein des schwindenden Sonnenlichts in diesem Quellheiligtum erinnerte Patrais an die große, rotgoldene Blüte in den von Liebe erfüllten Gedanken der Unirdischen, als sie Patrais ihr Kind in Obhut gegeben hatte. Diese Blüte war wie Feuer gewesen - wärmend aber ebenso voll zerstörerischer Macht. Erfurcht vor dem Anblick, Liebe zur Göttin, Verzweiflung über den Verlust der kleinen Amit und Angst, einer rachsüchtigen Unirdischen gegenübertreten und sich für das Verschwinden ihres Kindes rechtfertigen zu müssen überwältigten sie. Ohne zu wissen wie, fand Patrais sich neben dem Wasserbecken auf Knien wieder, den Kopf auf den Felsboden gedrückt. "Ihr Götter, steht mir bei und helft mir", flehte sie. "Ama, ich bitte dich, beschütze das Kind der Unirdischen, bis ihre Mutter oder ich es wiederfinden." Mit ihrem Messer schnitt sie eine Strähne ihres dunkel erscheinenden Haars als Opfer für die Göttin ab, das nach dem Schnitt in ihren Händen so weiß wurde wie es wirklich war. Sie warf die Haare aus der Lichtöffnung, um sie der Göttin zu übergeben, ein Windstoß trug sie mit sich davon, in Richtung des Amaar. Und Patrais hoffte, daß dies ein glücksverheißendes Zeichen war.
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