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Der Mann, der den Himmel niederbrannte

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13.11.25 16:58
18 Ab 18 Jahren
In Arbeit

Das erste Mal, als ich den Flammen begegnete, verlor ich mein Leben. In einem Meer aus Feuer verschwand alles, dem ich eine Bedeutung gegeben hatte, und ließ den kümmerlichen Rest in tiefer Finsternis zurück.
Ein braunhaariger Junge mit weißem T-Shirt und schwarzer Hose saß gedankenversunken auf den Stufen der Hoftreppe. Auf seiner Wange klebte ein großes Pflaster und am rechten Handgelenk trug er einen Verband.
Seit zwei Wochen befinde ich mich jetzt schon in diesem Waisenhaus.
Seine bereits geschwollenen, hellblauen Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Meine Verwandten halten mich für ein Monster, das seine Eltern getötet hat. Sie sagen, ich hätte die Kontrolle über meine frisch erwachten Magiekräfte verloren und das man ein Kind wie mich unmöglich großziehen kann.
Tatsächlich war es keine Seltenheit, dass Kinder die Kontrolle über ihre Magie verlieren. Die Stärke dieser hängt schließlich teilweise von den Emotionen des Anwenders ab und Kinder können sich gefühlsmäßig noch nicht so gut beherrschen.
Selbst die Erzieher nennen mich nur das Kind der Tragödie.
Der Junge schluchzte: „Warum? Warum konnte ich nicht auch in diesem Feuer sterben?“

Plötzlich tauchte ein Schatten über ihm auf. Er wich überrascht zurück und fiel dabei rückwärts auf die Treppe, wobei er sich leicht den Kopf stieß.
„Oh, sorry … hab ich dich erschreckt?“
Ein dürrer, weißhaariger Junge mit Verbänden an den Armen und brauner Hose, einem roten T-Shirt sowie einer Lederjacke mit kurzen Ärmeln riss ihn aus seiner finsteren Gedankenwelt und reichte ihm seine Hand. Voller Freundlichkeit funkelten seine roten Augen.
„Ich bin Valentin. Valentin Dolor. Und wie heißt du?“, fragte Valentin mit breitem Grinsen.
Nachdem der Junge sich wieder aufgerichtet hatte, betrachtete er diesen skeptisch.
Die vielen Verbände … Scheint ein ziemlich ungeschickter Kerl zu sein. Sowohl körperlich als auch sozial. Taktgefühl ist dem wohl ein Fremdwort.
Er wischte sich seine Tränen weg.
„Hör mal, ich wäre wirklich gerne allein.“
Valentin setzte sich neben den Jungen auf die Stufen.
„Boah, ich erinnere mich noch an meinen ersten Tag hier. Eine wirklich unangenehme Erinnerung. Aber dass du gleich zwei Wochen auf der Krankenstation verbringst, sagt mir, dass dein Einstieg wohl noch viel härter war als meiner vor zwei Jahren.“
Der Junge fasste sich auf seinen Verband am Handgelenk.
So schnell wird mich wohl kein Erzieher mehr in die Nähe von scharfen Gegenständen lassen. 
Genervt entgegnete er: „Mein Name ist Charles. Kannst du jetzt bitte gehen?“
Doch so leicht gab Valentin nicht auf.
„Ach, hab dich nicht so! Ich versuche doch nur, dich aufzumuntern. Ich habe selber eine schwere Zeit hinter mir … Hey, ich kenne einen supertollen geheimen Ort. Wie wäre es, wenn ich ihn dir zeige?“
Mit gesenktem Blick wollte Charles ablehnen, doch bevor er die Chance dazu bekam, ergriff Valentin schon seine Hand.
„Jetzt hab dich doch nicht so. Das wird Spaß machen.“

Missmutig stand Charles auf und ließ sich von ihm über den Hof des Waisenhauses leiten. Eine große Grünfläche erstreckte sich über das gesamte Grundstück. Nicht weit von der Treppe gab es einen beschaulichen Spielplatz, der inmitten eines großen Sandkastens gebaut worden war. Hier gab es eine lange Rutsche, Klettergerüste, mehrere Schaukeln und sogar ein Karussell. Verschiedene Altersgruppen tummelten sich hier. Einige von ihnen schienen im selben Alter zu sein wie Charles, während andere schon fast volljährig aussahen. Vorher war er noch nicht in der Lage, sich darüber Gedanken zu machen, doch nun wurde Charles langsam neugierig und fragte: „Valentin?“
„Was ist, Kumpel?“, erwiderte dieser.
Verdutzt sah Charles ihn an.
Wir sind also schon befreundet? Na, das ging ja schnell …
Ohne sich weiter irritieren zu lassen, stellte Charles seine Frage: „Wie alt bist du eigentlich?“
Froh über das unerwartete Interesse erschien dasselbe breite Grinsen wie am Anfang auf seinem Gesicht, bevor Valentin antwortete: „Ich bin elf und du?“
„Zwölf … Und was ist mit den anderen Kindern? Wie alt sind die? Vor allem: Wie viele gibt es hier?“ „Du hast ja die ersten beiden Wochen hier auf der Krankenstation verbracht, deswegen ist es normal, dass du es nicht weißt, aber wir sind hier ca. fünfzig Kinder im Alter von vier bis sechzehn. Die meisten verschwinden von hier, sobald sie eine Ausbildung gefunden haben, die ihren Magiefertigkeiten entspricht. Manche sogar früher“, erklärte Valentin. 
Das macht Sinn. Recht schnell eine Ausbildung zu finden und von diesem Ort zu verschwinden, sollte wohl auch meine Priorität werden.
Valentin fuhr mit seiner Erläuterung fort: „Im Endeffekt halten einen die Mauern oder die Erzieher auch nicht wirklich auf. Wir sind ungewollte Kinder, sofern wir nicht den Luxus haben, adoptiert zu werden. Man könnte jederzeit verschwinden, wenn man das möchte und kaum jemand würde Fragen stellen. Wichtig sind diese Mauern nur, damit die Kleinen nicht verloren gehen.“
Mit diesen Worten deutete auf eine recht hohe Mauer, die den Hof des Waisenhauses abgrenzte und dabei links und rechts ein gutes Stück des umherliegenden Waldes einschloss. Dies schmückte den hinteren Teil des Hofes mit einem eigenen kleinen Wald, in welchem einige Kinder gerade Verstecken spielten. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Jungen am Ende des kleinen Waldes ankamen und nun vor der weiß gestrichenen Mauer standen. Aus nächster Nähe sah man die Kritzeleien, welche einige der Kinder hinterlassen hatten.
Fast schon künstlerisch wertvoll.
Valentin kniete sich hin und streckte seine Hände aus. Seine Finger hatte er ineinander gefaltet, damit Charles seinen Fuß draufstellen konnte. Der nun durch diese Unterstützung nach oben gehobene Charles, ergriff den Rand der Mauer, zog sich hoch und reichte Valentin seine Hand, um ihm ebenfalls raufzuhelfen. Innerhalb von ein paar Minuten standen beide Jungen auf der Mauer und blickten auf den sich vor ihnen erstreckenden Wald.
„Von hier aus sollten es nur noch zehn Minuten Fußweg sein. Ich weiß, ich spanne dich hier etwas auf die Folter, aber vertrau mir: Das, was ich dir zeige, wird dich umhauen!“
Seine Skepsis wollte noch immer nicht ganz von ihm weichen, aber tatsächlich hatte Valentin ihn erfolgreich abgelenkt.
Dann kann ich mit ihm jetzt auch den Rest des Weges zu diesem supertollen Geheimort gehen.

Beide machten sich nun langsam an den Abstieg.
„Sag mal, Charles, sind deine Magiekräfte schon erwacht?“
Charles schluckte. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Die magischen Kräfte, welche in ihm erwachten, waren extrem gefährlich. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren sie der Auslöser des Feuers, das in seinem Zuhause ausbrach. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass er im Vorgarten erwachte und mit ansehen musste, wie sein Haus in Flammen stand. Bei dem Versuch, hineinzurennen und seinen Eltern zu helfen, verbrannte er sich am Gesicht. Danach war er vor Angst wie gelähmt. Dieses alles verschlingende Feuer, das den beiden Menschen, die er am meisten auf der Welt liebte, keinen Ausweg ließ. Die bald darauf folgenden Todesschreie. Der Gestank vom verbrannten Fleisch und die Hoffnung, dass dies alles nur ein schlimmer Albtraum war, sowie der Herzenswunsch, endlich aus diesem zu erwachen, hatten sich in sein Gehirn gebrannt. Wenn er die Augen schloss, wiederholte sich dieser Moment immer und immer wieder, und wenn er sie öffnete, wurde er mit der Realität konfrontiert, dass von seiner Welt, wie er sie bisher kannte, nur Asche zurückgeblieben war. Jetzt fühlte er nichts außer Wut und einer unheimlichen Traurigkeit in ihm. Auf einmal fasste ihn jemand an die Schulter.
„Alles okay, Kumpel? Hör mal, tut mir leid …! Ich wollte dich nicht verärgern. Du … zitterst ja richtig.“
Es war Valentin, der Charles' Geistesabwesenheit bemerkt hatte. Dieser realisierte erst jetzt, dass er am ganzen Körper zitterte. Erneut schluckte Charles und klatschte sich mit den Handflächen ein paar Mal auf seine Backen.
„Lass uns einfach weitergehen. Wie weit ist es noch?“
„Ja, natürlich, Kumpel …! Keine Sorge, es sind nur noch ein paar Minuten.“
Valentin ging voraus, drehte sich aber mit einem besorgten Blick zu Charles um.
„Sag mal … liest du gerne Bücher?“
Angenehm überrascht über den Themenwechsel antwortete dieser: „Ja, könnte man so sagen. Ich mag Abenteuerromane. Du weißt schon. Diese Storys über Helden, die tief in einen Dungeon herabreisen, diesen erkunden, Schätze finden, Monster bekämpfen und Geheimnisse lüften.“
Das ist wohl auch einer der Gründe, warum ich das Geheimversteck sehen will.
„Und du?“
„Ich mag Liebesromane“, antwortete Valentin.
Charles war sichtlich überrascht.
Was für ein Klischee ist das denn? Der Valentin, der Liebesromane mag. Oh Mann …
„Liebe ist was Besonderes. Sie ermöglicht uns, mit bis dato fremden Menschen unabhängig von Herkunft und Stand eine Verbindung einzugehen. Ein Gefühl, das beide Menschen teilen, schafft ein Verständnis, das auf keine andere Weise erreicht werden kann. Dies ist in meinen Augen das Wunderbarste überhaupt.“
„Also ist Liebe für dich das Wichtigste, weil sie die Menschen miteinander verbindet?“, fragte Charles.
Kopfschüttelnd erläuterte Valentin: „Nein, es gibt noch ein wichtigeres Gefühl, welches die Menschen viel enger miteinander verbindet.“
„Und das wäre?“, fragte Charles überrascht.
Auf einmal blieb Valentin stehen, blickte kurz auf den Boden und drehte sich dann langsam mit dem Kopf zu Charles um. Seine Augen strahlten eine unheimliche Traurigkeit, aber auch Gewissheit aus.
„Das, was uns am stärksten verbindet, sind unsere dunkelsten Momente. Es ist der Schmerz, Charles.“
Vielleicht habe ich ihn einfach nur falsch eingeschätzt. Er ist zwar etwas seltsam, aber scheint ein gutes Herz zu haben.

Kurze Zeit später kamen die Jungen auf einer Lichtung im Wald an. Hier fand eine recht gut erhaltene Holzhütte ihren Platz.
„Da wären wir. Habe ich dir zu viel versprochen? Eine echte Geheimbasis, mitten im Wald. Ein neuer Dungeon zum Erkunden für den Helden Charles.“
Die beiden Jungen betraten die Hütte, welche von innen ziemlich beachtlich eingerichtet war. Nach dem Eingangsbereich mit der Garderobe zierte ein Kamin, der im Moment erloschen war, die linke Seite des Raumes. Davor standen ein gemütlich aussehendes Sofa und Stühle sowie ein Tisch, auf welchem diverse Karten verteilt lagen. Auf der rechten Seite der Hütte befanden sich ein Bartisch mit Hockern und ein dahinterliegendes Getränkeregal, welches derzeit leer stand. Mittig im hinteren Bereich befand sich der Zugang zur Küche und links davon gelangte man anscheinend ins Badezimmer, wenn man der Aufschrift auf der Tür Glauben schenken durfte. Rechts hinter der Bar führte eine Treppe in die zweite Etage, wo ein pompöser Balkon am Geländer des Obergeschosses angebracht war. Während er sich noch umsah, hörte er plötzlich die Stimme eines Mädchens: „Ich heiße euch herzlich willkommen in meinem Königreich. Macht es euch bequem und lasst euch von mir einen Einblick in die wundervolle Welt der Magie geben.“
Ein langhaariges, blondes Mädchen mit einem schwarzen Rollkragenpullover und Rock sowie einem großen grauen Zauberhut saß aus heiterem Himmel auf dem Balkon. Die Beine überschlagen und mit einem Zauberstab in der rechten Hand ließ sie elegant ihr Kinn auf dem linken Handrücken ruhen und sah mit einem zufriedenen Lächeln auf die beiden Jungen herab. Ihre schönen, violetten Augen umgaben sie mit einer geheimnisvollen Aura. „Die Zaubershow der unglaublichen Maya wird in wenigen Minuten beginnen. Ich wünsche euch viel Spaß. Besonders dir, Charles Libertus François.“

Warte mal …! Woher kennt sie meinen Namen? Ich bin mir recht sicher, dass bis auf Valentin und die Erzieher hier noch niemand mit mir geredet hat. Außerdem war er die ganze Zeit an meiner Seite auf dem Weg hierher. Wie hätte er jemand anderem meinen Namen verraten können?
„Hey, du …?“
Bevor Charles fragen konnte, stand das Mädchen vom Balkon auf, streckte die Arme aus und ließ sich vom Balkon fallen.
WAS ZUM …? Der erste Stock ist mindestens drei Meter hoch. Das wird sie nicht unbeschadet überstehen. Ist die verrückt?
Doch als sie auf dem Boden aufkam, verpuffte das Mädchen einfach in der Luft.
Hä …? Was ist gerade passiert?
Verblüfft sah er sich um.
„Suchst du mich etwa, Charles?“
Dieser drehte sich nun erschrocken nach hinten und sah, wie das Mädchen direkt am Eingang der Holzhütte stand.
Sie hielt einen Stapel Karten in der Hand, richtete diesen auf ihn und fächerte dann alle mit einer schnellen Handbewegung auf.
„Für meinen ersten Trick möchte ich, dass du eine von diesen Karten wählst.“
Kartentricks? Nach dem Manöver gerade? Das kann nicht ihr Ernst sein. Unmöglich lässt sich das gerade eben mit einem simplen Force überbieten.
Nachdem er sich eine Karte aus dem Stapel genommen hatte, musterte er sie.
Der Herzkönig. Naja, ist eigentlich egal, welche Karte ich ziehe. Als Nächstes wird sie mich die Karten mischen lassen und auf magische Weise genau die von mir gewählte ziehen. Ich kenne mich mit diesem Trick aus. Der Clou ist: Man kann jede beliebige Karte ziehen. Wichtig ist nur der Moment, in welchem man die Karte wieder auf den Stapel zurücklegt. Der Zauberer oder die Zauberin versteckt diese dann geschickt in der Handfläche. Nach dem Mischen wird sie dann einfach auf den Stapel oben draufgelegt. Somit wird immer die Karte des Zuschauers gezogen. Tut mir leid, aber ich kenne mich etwas aus mit Zaubertricks, Maya.
„Hast du dir die Karte genau angesehen?“, fragte Maya und lächelte dabei selbstbewusst.
Charles steckte die Karte in den ausgefächerten Stapel zurück und sagte: „Ja, das habe ich.“

Daraufhin richtete Maya den Zeigefinger auf seinen Kopf.
„Diese Karte ist jetzt in deinem Kurzzeitgedächtnis abgespeichert. Dort bleibt sie für etwa dreißig Sekunden. Durch eine innere Wiederholung kann diese Information jedoch ins Langzeitgedächtnis überführt werden. In der Regel passiert dies mit Erinnerungen, die für uns besonders relevant scheinen. Die wirklich wichtigen Dinge speichern wir aber nicht nur dort. Sie werden auch woanders aufbewahrt. Weißt du, wo sich dieser Ort befindet?“
Überrascht über die Frage und ein bisschen unsicher, was als Nächstes passieren würde, antwortete er: „Nein, das weiß ich nicht.“
Maya setzte den linken Fuß zurück und holte auf der gleichen Seite mit ihrem Arm aus, als würde sie zu einem Schlag ansetzen.
„Im Herzen, Charles.“
Mit diesem Satz rammte sie ihre Hand in die Brust von Charles. Dieser war im wahrsten Sinne des Wortes wie vom Schlag getroffen. Zuerst realisierte er gar nicht, was passierte. Nachdem der initiale Schock nachgelassen hatte, blickte er voller Unglauben auf seine Brust, in welcher Maya nach seinem Herzen zu suchen schien. Von der Situation überwältigt, blieb er wie erfroren stehen und betrachtete in Horror, was mit seinem Körper geschah. Jetzt, wo er verstanden hatte, was mit ihm passierte, bereitete sich Charles auf den höllischen Schmerz vor, der jeden Moment einsetzen würde. Doch dieser blieb aus. Selbst nachdem Maya etwas Seltsames aus seiner Brust zu ziehen schien. Er blickte auf seinen Oberkörper, in welchem er eine riesige, klaffende Wunde vermutete, aber es war nichts zu sehen. Kein Blut. Keine Verletzung. Gar nichts.
Ich bin vollkommen unversehrt … aber wie?
Vorsichtig ließ er den Blick nach oben wandern und sah, wie Maya zufrieden ein rotes Objekt in der Hand hielt. Bei näherer Betrachtung war es jedoch nicht nur irgendein Objekt. Während Blut von diesem auf den Arm von Maya tropfte, begriff Charles langsam, was sie da in der Hand hielt. Es war sein Herz. Mit der einen Hand auf ihre Hüfte gestützt, präsentierte sie es in der anderen wie eine blutige Trophäe.
„G-GIB MIR MEIN HERZ WIEDER!“, schrie Charles voller Entsetzen und versuchte, seine Hand danach auszustrecken.
Allerdings schob Maya ihren Oberkörper nach vorne und streckte den Arm nach hinten, damit er keine Chance hatte, es zu erreichen.
„Noch nicht, mein Lieber! Tatsächlich versteckt sich hier drinnen etwas. Ein Schatz, der dir bekannt vorkommen sollte. Möchtest du sehen, was sich in deinem Herzen verbirgt?“
Fassungslos starrte Charles sie an, beruhigte sich dann jedoch wieder und ging auf eine Geste ihrer rechten Hand hin einen Schritt zurück, damit die Show weitergehen konnte.
„Sehen wir uns an, was dir wirklich wichtig ist.“
Mit beiden Händen ergriff sie nun das Herz und drückte dieses zusammen. Wie durch Zauberhand verschwand es und zurück blieb nur eine Karte, die sie jetzt zwischen ihren Zeige- und Mittelfinger nahm, um sie Charles zu zeigen.
„Ist das deine Karte?“, fragte sie ihn und hielt dabei den Herzkönig selbstzufrieden in sein Gesicht.
Mittlerweile hatte sich Charles gefasst.
„Ja … aber wie hast du das mit dem Herz gema…?“
Maya unterbrach ihn, indem sie ihren Zeigefinger mitten auf seinen Mund legte.
„Ach Charles, ich dachte, du wüsstest bereits, dass eine gute Magierin niemals ihre Tricks verrät.“
Sie wandte sich von ihm ab und sah nun zu Valentin, bevor sie verkündete: „Kommen wir nun zum Zweiten und leider auch letzten Trick.“

Langsam ging sie auf Valentin zu. Statt eines Lächelns befand sich jetzt ein ernster Ausdruck auf ihrem sonst bezaubernden Gesicht. Direkt vor ihm blieb sie stehen und Charles konnte jetzt den Größenunterschied zwischen ihr und Valentin erkennen. Dieser blickte nur eingeschüchtert hoch. Tatsächlich war sie fast einen ganzen Kopf größer als er.
„Ist das die Hand, mit der du Charles in unser Geheimversteck eingeladen hast?“
Maya deutete auf seine rechte Hand und sagte in einem ruhigen Ton: „Sich zur Begrüßung die Hand zu geben, ist ein Zeichen für Frieden und Freundschaft. Jedoch führst du nicht nur eine Freundschaft mit Charles, sondern auch mit mir und deinen anderen Freunden, welche diese Hütte als Geheimbasis nutzen. Sag mir also: Warum hältst du es für angebracht, uns nicht zu informieren, bevor du neue Leute an diesen Ort bringst?“
Schweigend sah Valentin zur Seite.
Vermutlich schämt er sich. Maya hat schon recht. Ich bin noch ein Fremder hier. Die anderen Kinder zu informieren, dass jemand Neues in ihr Versteck kommt, ist definitiv angebracht.
Nur Maya, die direkt vor ihm stand, konnte den puren Terror sehen, der auf Valentins Gesicht erschienen war. Ihm war bewusst, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde.
„Gib mir deine rechte Hand!“
Valentin gehorchte sofort und streckte seine Hand aus.
„Was mag deine Hand, die zum Frieden erhoben und gleichzeitig zum Brechen von diesem benutzt wird, wohl im Innern verbergen?“
Charles sah gespannt auf das Spektakel, welches sich vor ihm ereignete. Aus ihrem Rock holte Maya nun ein Messer heraus, das sie sich wohl aus der Küche geklaut hatte, und setzte es auf die Hand von Valentin.
„Keine Sorge! Du weißt doch, ich bin ein Profi in sowas“, beruhigte Maya den zitternden Valentin und schnitt seine Hand auf.
Dieser verzog sein Gesicht vor Schmerzen und wandte sich ab. Aufgrund der Ereignisse davor war Charles sich jedoch sicher, dass er nicht wirklich verletzt wurde.
Ein ähnlicher Trick wie bei mir. Wie macht sie das bloß?
Jetzt zog Maya ein kleines, blutiges Objekt aus der Hand von Valentin, welche sie daraufhin losließ. Sofort ballte Valentin sie zu einer Faust, presste diese an sein T-Shirt und legte seine andere Hand schützend darüber. Mit einem Taschentuch, welches sie ebenfalls aus ihrem Rock geholt hatte, säuberte Maya in der Zwischenzeit den Gegenstand. Als sie fertig war, kam eine goldene Münze zum Vorschein. Voller Stolz hielt sie die Münze nach oben und lächelte Valentin an.
„Anscheinend verbirgt sich in deinem Inneren etwas Wundervolles. Du hast ein reines Herz, Valentin, und deshalb verzeihe ich dir deinen Fehler.“
Charles applaudierte.
Keine Ahnung, wie sie das hinbekommen hat, aber das sah sogar noch echter aus als der Trick mit dem Herz. Das Mädchen hat echt Talent.
Voller Zufriedenheit lächelte Maya ihn an und verbeugte sich daraufhin.
„Ich bin froh, dass dir das gefallen hat, Charlie. Dir macht es sicher nichts aus, wenn ich dich so nenne, oder?“

Nachdem sie zu ihm rübergegangen war, streckte sie die Hand aus.
„Ich heiße dich hiermit herzlich willkommen in unserer Gruppe. Freunde von Valentin sind auch meine Freunde. Ich bin übrigens Maya Custos.“
Die Begrüßung erwidernd, sagte Charles: „Sehr erfreut. Meinen Namen scheinst du ja bereits zu kennen. Dürfte ich fragen, woher?“
„Du hast bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, wie könnte ich dich da vergessen?“
Scharf dachte Charles nach.
Woher kenne ich sie? Seitdem ich hier angekommen bin, habe ich doch noch so gut wie mit niemandem geredet.
„Soll ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?“
Maya deutete auf seinen Verband und fragte: „Kommt es dir nicht komisch vor, dass die Erzieher dich so schnell gefunden haben?“
Seine Augen weiteten sich, als es Charles bewusst wurde.
„Du hast mich also …?“
Erneut unterbrach ihn Maya: „Ja, ich habe einen Erzieher geholt, der dich auf die Krankenstation gebracht hat. Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber vor meinen Augen werde ich garantiert niemanden einfach verbluten lassen.“
Sein Gesicht wurde rot vor Scham. In dem Moment hatte Charles einfach nicht daran gedacht, die Tür zum Klo abzuschließen.
Wer konnte auch schon damit rechnen, dass sich mitten in der Nacht jemand dort herumtreiben würde?
„Tut mir leid, dich da hineingezogen zu haben.“
Verlegen griff er sich mit der linken Hand an den Hinterkopf und schaute leicht nach unten.
„Ach, alles gut, aber nun, da die Show vorbei ist, sollten wir ins Waisenhaus zurück. Bald beginnt das Abendessen.“
Das hatte Charles komplett vergessen. Er drehte den Kopf.
„Valentin, wir sollten …“
Jedoch war dieser nicht mehr zu sehen.
Nanu, wo ist er hin? Ich bin mir sicher, ihn eben noch gesehen zu haben.
„Ich glaube, der ist schon mal vorgegangen. Zumindest habe ich gesehen, wie er sich hinausgeschlichen hat, als wir geredet haben“, erklärte Maya.
„Ernsthaft? Der kann mich doch nicht einfach so zurücklassen.“
Genervt machte sich Charles bereit, ihm nachzulaufen, und fragte Maya: „Kommst du auch mit?“
Diese schüttelte den Kopf.
„Ich würde gerne noch etwas an meiner Show feilen. Geh doch schon mal vor und such ihn. Er ist bestimmt noch nicht weit weg. Ich habe eh noch keinen richtigen Hunger, Charlie.“
Mit einem charmanten Lächeln zwinkerte sie ihm zu, bevor sie die Treppe zur zweiten Etage hinaufstieg.

Sogleich lief Charles zur Tür hinaus und begab sich in den Wald, wo er nach Valentin suchte. Er brauchte nicht lange, bis ihm ein Fluss ins Auge fiel, an dessen Ufer ein Junge mit weißen Haaren hockte. Langsam ging er auf diesen zu, doch als der Junge seine Schritte hörte, schreckte er auf.
„WER ...? Oh… du bist es nur, Charles. Ähm… wollen wir zurück zum Waisenhaus und Abendessen?“
„Was machst du hier am Fluss?“, fragte Charles, der sich nicht beirren ließ.
Nervös erhob sich Valentin und starrte in Richtung der Holzhütte.
„Ach, gar nichts. Ich hab nur einen Fleck auf meinem T-Shirt gesehen und wollte diesen schnell abwaschen. Was ist jetzt? Gehen wir? Bleibt Maya hier?“
„Sie will noch ein bisschen üben. Mann … ihre Zaubertricks sind echt cool, aber auch voll gruselig. Ich frage mich immer noch, wie sie das mit dem Herz gemacht hat.“
„Ja, das ist wirklich beeindruckend. Caleb meinte, dass ihre Zauberkräfte schon erwacht seien und definitiv eine Rolle bei diesen Tricks spielen. Im Endeffekt ist sie wirklich eine Magierin.“
Den rechten Ellenbogen in die linke Hand gelegt, führte Charles nachdenklich den Zeigefinger an sein Kinn.
„Stimmt, das könnte einiges erklären, aber welche Affinität und welcher Rang besitzen bitte so eine Fähigkeit?“
Nach kurzem Überlegen musste sich Charles eingestehen, dass sein Wissen in diesem Bereich noch zu unausgereift war.
„Komm schon, Charles, oder ich lasse dich hier zurück“, rief Valentin, der bereits ein gutes Stück vorausgegangen war.
„Warte kurz, ich komme ja schon.“
Gerade als er gehen wollte, bemerkte Charles etwas am Flussufer im Gras. Zuerst konnte er es nicht genau erkennen, doch als er genauer hinsah, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
Da ist … Blut. Eindeutig Blut. Hatte Valentin sich etwa verletzt?
In seinem Kopf ließ er die Show von Maya Revue passieren und erinnerte sich an das seltsame Verhalten von Valentin, was einen Ticken zu realistisch wirkte. Ehe er sich versah, kam ihm ein furchtbarer Gedanke.
Sag mir nicht, dass dies kein Zaubertrick war! Hat sie ihm tatsächlich die Hand aufgeschlitzt?

Auf dem Rückweg zum Waisenhaus dachte Charles über die Geschehnisse nach.
Ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass sein T-Shirt vorhin im Waisenhaus noch einwandfrei aussah. Er ist weder hingefallen, noch hat er sich in der Holzhütte schmutzig machen können. Außer an der Wunde, welche ihm Maya zugefügt hat.
Er starrte auf Valentins rechte Hand, welche dieser in seiner Tasche versteckt hielt. Verstohlen warf dieser ihm daraufhin einen Blick zu und Charles schaute zur Seite.
Jedoch fallen bei einem roten Shirt wie seinem die Blutflecken absolut nicht auf. Warum wollte er dieses dann sauber machen? Es ist viel schlüssiger, dass er am Fluss war, um seine verletzte Hand zu waschen, damit sich die Wunde nicht infiziert. Aber weshalb geht er extra so weit, vor allem wenn die Küche direkt vor ihm liegt? Das würde nur Sinn machen, wenn er die Verletzung verbergen wollen würde. Doch wieso sollte er Maya decken, wenn der Trick bloß schiefgegangen ist?
Seine Augen weiteten sich. 
D-Das war doch nicht etwa Absicht? Bei mir ist der Trick doch auch geglückt und ich kannte sie nicht mal. Valentin hingegen scheint einer ihrer engsten Freunde zu sein. Sollte sie da nicht extra vorsichtig bei ihm sein? Zu vieles deutet einfach darauf hin, dass es kein Unfall war.
In seinem Gesicht zeichnete sich der Schock über diese erschreckende Erkenntnis ab. Valentin bemerkte dies und fragte besorgt: „Alles okay, Kumpel? Denkst du immer noch über die Tricks nach?“

Schnell fasste sich Charles wieder.
„Ohh, ähm… ja. Mann, ich würde auch gerne so zaubern können. Jedoch fand ich den letzten Trick etwas seltsam.“
Unbekümmert fragte Valentin: „Wie meinst du das?“ 
Charles führte die Hände hinter den Kopf, faltete sie ineinander und legte diesen hinein.
„Naja, als sie bei mir diesen Trick gemacht hat, habe ich absolut gar nichts gespürt, obwohl ich eigentlich erwartet hätte, höllische Schmerzen zu haben. War das bei dir genauso? Irgendwie sah das bei dir sogar noch realistischer aus.“
„Ich habe ebenfalls nichts gespürt. Sie ist halt eine routinierte Magierin und weiß, was sie machen muss, um alles noch realer wirken zu lassen. Genau das macht einen guten Trick doch aus: Was sich vor deinen Augen abspielt, wirkt so unerklärlich, aber auch so echt, dass man denkt, Zeuge von echter Magie geworden zu sein“, erwiderte Valentin mit einem Lächeln.
Der Gesichtsausdruck von Charles verfinsterte sich.
„Das ist komisch, denn für mich sah es so aus, als hättest du heftige Schmerzen gehabt.“
An der Mauer angekommen, blieb Valentin stehen, schwieg kurz und kniete sich hin, um Charles mit einer Räuberleiter zu assistieren. Diesmal legte er seine linke Hand auf die rechte, was es Charles unmöglich machte, zu sehen, ob er eventuell eine Verletzung hatte.
„Ich war einfach nur geschockt, genauso wie du. Mir ist nichts passiert. Keine Sorge!“
Während er auf Valentins Hand stieg und sich von ihm nach oben heben ließ, dachte Charles: Wie erwartet. Valentin deckt sie. Er war definitiv am Fluss, um seine Wunde zu versorgen. Doch auch wenn ich ihn jetzt dazu auffordere, mir seine Hand zu zeigen, hat er bestimmt nur eine weitere Ausrede parat.
Als er den Rand der Mauer zu fassen bekam, fiel ihm ein anderes Detail auf.
„Du hättest doch auch einfach aufs Klo gehen können, um dein T-Shirt zu säubern. Warum bist du extra den Weg bis zum Fluss gegangen?“, fragte er Valentin und zog sich sogleich an der Wand hoch.
„Na, weil dieses besetzt war.“
Oben auf der Mauer angelangt, fiel Charles bei dieser Antwort beinah wieder runter.
Da war außer uns noch einer in der Holzhütte? Die ganze Zeit? So lange ist doch niemand einfach nur auf dem Klo. Das heißt … jemand hatte sich dort versteckt? Aber wieso?

-- Zurück im Waisenhaus --

In der Cafeteria schnappte Valentin sich ein Tablett und ging zur Essensausgabe, die an der Seite des Raumes aufgebaut war.
„Oh Mann, ich bin kurz vorm Verhungern.“
Obwohl er anscheinend verletzt ist, scheint das seinen Appetit nicht zu hemmen. Fast so, als wäre das für ihn der Normalzustand.
Sein Blick schweifte über die Verbände an Valentins Armen.
Scheint so, als würde er sich öfter verletzen … oder verletzt werden.
Vor seinem geistigen Auge spielte sich erneut die Szene aus der Holzhütte ab, während er sich ebenfalls ein Tablett griff und Valentin folgte. An einem Schild las Charles die heutige Speisekarte: „Nudeln mit Käse und Tomatensoße oder Fisch mit Kartoffeln sowie Gemüse als Beilage.“
Viel Auswahl gibt es leider nicht. 
Da Charles kein Gemüse mochte und er von seiner Zeit auf der Krankenstation bereits wusste, dass die Erzieher aufs Aufessen bestanden, wählte er die Nudeln. In der Zwischenzeit fokussierte Valentin gierig den Fisch. Dabei lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Abgedeckt hinter einer Glasscheibe standen mehrere dampfende Kochtöpfe, aus welchen die Erzieher jegliche Gerichte zusammenstellten und an die anstehenden Kinder verteilten. Nachdem beide Jungen an der Reihe waren, suchten sie zusammen einen Platz. In der Mitte des Raumes waren mehrere lange Tische aufgebaut, an welchen jeweils sechs Stühle für die Kinder bereitstanden.
Plötzlich ertönte die Stimme eines Jungen: „Hey Vali, hier drüben.“
Alleine an einem Tisch saß ein großer, kräftiger Junge mit dunkelbraunen Augen und schwarzen, kurz geschnittenen Haaren. Gekleidet in einen etwas schmutzigen schwarzen Jogginganzug, an dessen Armen und Beinen seitlich weiße Streifen verliefen, winkte er Ihnen aufgeregt zu.
Seltsam, dass noch keiner an seinem Tisch sitzt. Immerhin ist der Rest der Cafeteria schon fast voll. Wird er etwa ausgegrenzt? 
„Na, Caleb, was geht ab?“, fragte Valentin, ehe er sich zusammen mit Charles an den Tisch setzte,
„Essen fassen!“, antwortete der kleine Riese freundlich strahlend.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Charles.
„Ein neuer Freund, Vali?“
Nun reichte er Charles seine große Hand. Dieser erwiderte den Gruß und musterte dabei Caleb.
Der hat wohl immer brav seine Milch getrunken. In dem Alter so einen Körper zu haben, ist beachtlich. Der ist locker anderthalb Köpfe größer als ich und Valentin. Er ist sogar größer als Maya.
„Freut mich auch, dich kennenzulernen. Mein Name ist Charles und deiner war Caleb, oder? Du bist ja ein richtiger Schrank. Wie alt bist du?“
Jedoch grinste ihn Caleb zu seiner Überraschung einfach nur an, bevor er sagte: „Zwölf.“
Und anscheinend kein Freund vieler Worte …
Valentin, der Charles' leicht verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt hatte, erklärte ihm: „Nimm es Caleb nicht übel! Er ist … Wie soll ich das sagen …? Ein bisschen langsamer als andere Kinder.“
Die Augenlider von Charles sanken zu einem gelangweilten Blick.
Also gleich schon das nächste Klischee? Der freundliche Riese mit wenig im Kopf?

Doch jetzt, da er ihn endlich traf, fiel Charles etwas ein. Sofort wendete er sich wieder an Caleb: „Ach ja, Valentin meinte, du wüsstest über Mayas magische Kräfte Bescheid?“
Vielleicht ist er ja etwas kompetenter, wenn es um Informationen geht, als Valentin.
Zu seiner Überraschung antwortete ihm Caleb ehrlich.
„Du meinst sicher den Veränderungstrick.“
Auf Charles’ Gesicht erschien ein fragender Blick.
„Veränderungstrick? Was ist das?“
„Du weißt schon: Illusion Rang I“, antwortete Caleb.
Nun mischte sich auch Valentin in das Gespräch ein: „AHH! Ich erinnere mich wieder. Das war doch letztens Thema im Unterricht, oder? Rang-I-Illusionisten haben die Fähigkeit, Objekte für die Betrachter anders erscheinen zu lassen, aber ohne diese dabei wirklich zu verändern. Sowas wie ein Partytrick.“
Für Charles fügten sich jetzt einige der Puzzlestücke zusammen: Deswegen konnte sie mein Herz mal eben in der Hand halten, ohne dass ich sterbe. In Wahrheit hielt sie einfach nur die ganze Zeit den Herzkönig fest. Wenn man bedenkt, dass sie vorher ihren Arm in meine Brust gerammt hat, dann scheint sich diese Fähigkeit wohl auch auf lebende Objekte anwenden zu lassen.
„Du hättest Charles’ Reaktion auf den Trick sehen sollen. Wie war das noch? G-GIB MIR MEIN HERZ WIEDER.“
Valentin ahmte die Geste nach, die Charles gemacht hatte, um an sein Herz zu kommen, und verzog auf humoristische Weise das Gesicht. Charles wurde knallrot im Gesicht. Etwas wütend sagte er: „Du warst doch nicht besser …“
Ein fremder Junge unterbrach ihn: „‚Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften.‘ (Jakobus 3,18).“
Warte, ist das nicht ein Zitat aus der Bibel?

Überrascht schaute Charles hinter sich. Der Junge setzte sich zu den Kindern an den Tisch und legte dabei die Lutherbibel, welche er sich unter den rechten Arm geklemmt hatte, um sein Tablett tragen zu können, direkt neben sich. Mit den langen braunen Haaren, dem weißen Hemd und der kurzen braunen Hose wirkte er fast selbst wie aus biblischen Zeiten. Seine grünen Augen wirkten fast wie kleine Smaragde, jedoch waren sie etwas trüb und glanzlos.
„Ach Amadeus, das war doch nur ein kleiner Spaß.“
„Ich sage es ja nur, Valentin“, erwiderte dieser mit einem friedlichen Lächeln.
„Aber egal, ich denke, ich sollte mich dir nun auch vorstellen, Charles. Mein Name ist Amadeus Reinhardt und ich bin elf Jahre alt. Sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.“
„Freut mich ebenfalls. Du liest die Bibel, wie ich sehe? Was fasziniert dich an diesem Buch?“, fragte Charles voller Interesse.
Einen Jungen in dem Alter zu sehen, der ein so komplexes Werk liest und daraus sogar zitiert, faszinierte ihn ein wenig.
„Jep, ich lausche gerne dem Wort Gottes. Für mich ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch. Sie ist mehr sowas wie ein Leitfaden. Eine Sammlung an Weisheiten, die mein Leben verbessert.“
Skeptisch schaute Charles ihn an, bevor er fragte: „Inwiefern das denn?“
„Ich denke, um dies zu verstehen, musst du dich einfach selber damit auseinandersetzen. Ich kann dir meine Bibel gerne leihen, unter der Bedingung, dass du vorsichtig mit ihr umgehst. Schließlich ist das mein einziges Exemplar.“
„Eher das Einzige, welches du in der Bibliothek gefunden hast“, erwiderte Valentin.
Alle Jungs begannen gemeinsam zu lachen. Als das Gelächter verhallte, fragte Valentin: „Dann fehlt ja nur noch Rochelle. Hat sie heute schon jemand gesehen?“
Amadeus klärte ihn auf: „Ich hab sie vorhin im Hof gesehen, aber das ist schon länger her. Seitdem ist sie verschwunden.“
„Wahrscheinlich Diät“, sagte Caleb, der nun tüchtig das Essen in sich hineinschaufelte.
Daraufhin rollte Valentin mit den Augen.
„Ach ja, Mädels sind immer so fixiert auf ihr Aussehen. Dabei ist Rochelle eh schon eines der schönsten Mädchen hier. Dabei ist Rochelle eh schon eines der schönsten Mädchen hier.“
„Die bessere Frage ist eh, wo Maya ableibt“, fügte Caleb hinzu.
Etwas genervt korrigierte ihn Valentin: „Wie oft denn noch? Das heißt ‚abbleibt‘! Außerdem ist ein Essen ohne Maya doch auch nicht schlecht.“
Wütend fixierte Caleb, der gerade sein Essen unterbrochen hatte, Valentin.
Scheint so, als würde er Maya wohl sehr mögen.
Frustriert seufzte Valentin und stand vom Tisch auf.
„Wie auch immer, ich muss jetzt los, Leute.“
Erstaunt blickte Charles auf Valentins leeren Teller.
Der hat sein Essen einfach weggeatmet, sogar sein Gemüse. Das ist ein ganzer Kerl. Aber wo will der denn jetzt so plötzlich hin? Das hat sicherlich was mit Maya zu tun. Sobald ihr Name fiel, hat sich die Stimmung bei ihm komplett gedreht.
Mit Misstrauen sah Charles zu, wie Valentin die Cafeteria verließ.
Was verheimlichst du vor mir, Valentin?

Nach dem Essen verabschiedete sich Charles von den anderen Jungen und ging ins Schlafzimmer der Zehn- bis Zwölfjährigen im zweiten Stock des Waisenhauses, um nach Valentin zu suchen. Da das Waisenhaus Ressourcen sparen musste, schliefen die Kinder im Alter von vier bis sechs, sieben bis neun, zehn bis zwölf und dreizehn bis sechzehn jeweils im selben Zimmer. Nun, da er von der Krankenstation entlassen worden war, fand auch Charles hier seinen Platz. Es war das erste Mal, dass er sein neues Zimmer sah, doch er bemerkte schnell, dass seine persönlichen Gegenstände bereits angekommen waren. Nicht, dass er überhaupt viel mitnehmen konnte. Alles, was das Feuer überlebte, waren sein Schlafanzug, den er in jener Nacht getragen hatte, und sein Handy, das sich in einer der Taschen befand. Da er Valentin weder hier noch auf dem Jungenklo finden konnte, setzte er sich aufs Bett, um das Foto von sich und seinen Eltern auf dem Handy anzuschauen. Er war jedoch überrascht, ein komplett anderes Hintergrundbild vorzufinden. Das bekannte Familienporträt war jetzt durch eines der Standardbilder ersetzt worden. Ihm fielen auch weitere Ungereimtheiten auf. Zum Beispiel war das Handy zwar von derselben Marke, jedoch war es ein komplett anderes Modell und die darauf installierten Apps unterschieden sich sehr von denen, die er gewohnt war. Tatsächlich vermisste er viele der bekannten Spiele und die Novel-App, welche sich eigentlich darauf hätte befinden müssen. 
Charles navigierte in den eigenen Dateien, um zu sehen, ob die Bilder seiner Familie noch vorhanden waren oder die Erzieher diese eventuell gelöscht hatten. Zu seiner Verwunderung befanden sich nur mehrere Ordner mit den Namen „Amadeus“, „Valentin“, „Caleb“ und „Rochelle“ darauf. Er öffnete den Ordner mit dem Namen „Valentin“ und was er dann fand, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Es waren mehrere Bilder von Valentin zu sehen, wie er Amadeus oder Caleb quälte. Auch ein ihm bisher unbekanntes Mädchen, bei dem es sich wahrscheinlich um die beim Essen erwähnte Rochelle handelte, war auf diesen Fotografien vertreten. Mit seinen Fäusten, Füßen oder sogar Stöcken schlug Valentin auf die anderen Kinder ein, zog an ihren Haaren oder hielt ihren Kopf unter Wasser. Andere Fotos waren sogar noch schlimmer. Doch nicht nur Bilder waren dort zu finden. Auch Videos, wie Valentin die Kinder mit Klobürsten oder anderen kratzigen Gegenständen abschrubbte, bis deutliche Rötungen und sogar Blut auf deren Rücken zu sehen waren, befanden sich dort. Absolut angewidert davon wagte es Charles erst gar nicht, in die anderen Ordner zu schauen.
Wie kann Valentin nur so grausam zu den anderen sein? Ich dachte, sie wären alle Freunde, und er wirkte doch wie eine gutherzige Person. Klar hat er hier und da ein paar Macken, aber niemand ist doch perfekt, oder? Ich schätze ihn sonst als sehr nett und mitfühlend ein. Hat er das etwa nur vorgespielt?
Mehrere Fragen schossen ihm jetzt durch den Kopf.
Hat Valentin mir das mit Maya etwa nur verschwiegen, weil sie ihn für seine Taten bestrafte? Wollte er einfach nicht zugeben, dass er die anderen Kinder misshandelt hatte und Maya sich in deren Namen auf dieselbe Weise an ihm rächte?
Charles wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Ihm war übel bei den Gedanken an die Bilder und die nun pseudo-freundlich wirkende Maske, die Valentin anscheinend aufsetzte, um die unglaubliche Bosheit in seinem Herzen zu verbergen.
Womit haben seine „Kumpels“ das nur verdient? Sind sie überhaupt seine Freunde oder kontrolliert er sie nur mit Gewalt?

Bevor er darüber noch weiter grübeln konnte, bemerkte er, wie Valentin plötzlich mit weitaufgerissenen Augen in der Tür stand. Er hatte sich die rechte Hand in einen Verband einwickeln lassen. In seinem Gesicht war indessen der pure Horror zu sehen, als er realisierte, welches Handy Charles da in der Hand hielt.
Bestürzt fragte Charles, dessen Augen sich mit Tränen füllten: „Valentin, wie konntest du nur? Ich dachte, wir wären Freunde!“
Kreidebleich im Gesicht sprach Valentin mit zitternder, aber leiser Stimme: „C-Charles, bitte gib mir das Handy! Egal was du tust, d-du musst mir das Handy geben!“
Langsam ging er auf Charles zu.
„EINEN DRECK WERD ICH TUN. DAS IST DER BEWEIS FÜR DEINE GRAUSAMEN TATEN. ALS OB ICH DIR DAS EINFACH AUSHÄNDIGE!“, schrie Charles.
„D-Du verstehst das nicht. Bitte vertraue mir einfach, Kumpel! Alles wird gut, wenn du mir das Handy gibst.“
„WIE SOLL ICH DIR DENN NOCH VERTRAUEN, NACH DEM, WAS ICH GESEHEN HABE?“
Valentin verstand, dass er mit Charles in diesem Zustand nicht vernünftig reden konnte. Im nächsten Moment stürzte er sich auf ihn und beide landeten auf dem Boden, wobei Charles das Handy aus der Hand rutschte. Die Jungen rangen nun am Boden darum, wer als Erster das Handy zu greifen bekam.
„CHARLES, VERDAMMT. ICH VERSUCHE DOCH NUR, DICH ZU BESCHÜTZEN!“
Voller Frust schrie Charles ihn an: „DU KANNST DOCH NICHTMAL DICH SELBST BESCHÜTZEN!“
Wild schlug Charles um sich, während Valentin versuchte, seine Arme festzuhalten. Beide wälzten sich gegenseitig unkontrolliert auf dem Boden herum, bis es Valentin gelang, die Oberhand zu gewinnen. Er schaffte es, sich auf Charles Rücken zu setzen und seine Arme dort zu fixieren. Dem nun mit dem Gesicht voran am Boden liegenden Charles flossen die Tränen unaufhörlich aus den Augen.
„Tut mir leid, Kumpel. Das ist nur zu deinem Besten. Bitte beruhige dich einfach!“
Valentin stellte sicher, dass er Charles nicht zu sehr wehtat, aber doch die Kontrolle über ihn behielt.
„Wenn Maya uns findet, dann ist das unser End…“ Noch ehe er den Satz beenden konnte, hörte Valentin Schritte hinter sich.
Eine Person schien sich an den Türrahmen des Schlafzimmers zu lehnen und er hörte das Seufzen eines Mädchens. Mit weit aufgerissenen Augen, zitternder Lippe und einer unglaublichen Angst in den Knochen drehte er langsam den Kopf und sah, wie das Mädchen ihre Arme verschränkte. Sie schüttelte den Zeigefinger der rechten Hand.
„Tzz, so geht das aber nicht, Jungs.“
Für Valentin war der schlimmstmögliche Fall eingetreten.
„MA-MA-MAYA“, stotterte er, als sich das Mädchen langsam auf die beiden zubewegte.

Seine Gelegenheit ergreifend wandte sich Charles verzweifelt an sie: „Maya, hilf mir! Valentin ist verrückt geworden. Auf dem Handy sind Videos, wie er die anderen Kinder misshandelt. Wir müssen sofort die Erzieher informieren.“
Maya trat vor ihn, ging etwas seitlich in die Knie, wobei sie darauf achtete, dass Charles ihre langen Beine sehen konnte, und lächelte ihn an. Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr und fragte: „Gefällt dir, was du siehst, mein lieber Charlie?“
Absolut perplex von dieser Frage antwortete er voller Unglauben: „Wovon, verdammt nochmal, redest du?“
Sie hob das Handy auf und ließ es vor Charles' Gesicht baumeln.
„Hat es dir gefallen, in meinem Handy rumzuschnüffeln?“
Schockiert sah er sie an. Es war kaum zu fassen, was er da hörte, und deshalb brachte er nur ein leises „Was?“ heraus, ehe er sich verwirrt zu Valentin umdrehte, der seine Arme losgelassen hatte und voller Furcht zu Maya schaute.
Sie suchte kurz etwas im Handy, bevor sie den Bildschirm zu Charles drehte.
„Das hier ist eines meiner Lieblingsbilder.“
Ihm wurde schlecht bei diesem fürchterlichen Anblick. Im Hintergrund sah man Amadeus, der seinen Kopf nach oben hielt und die Zähne zusammenbiss. Tränen liefen ihm in Strömen über das Gesicht. An seinen Händen, welche er voller Unglauben vor sich hielt, befand sich Blut. Vor ihm lag Valentin scheinbar bewusstlos mit offenen Wunden an den Armen. Als wäre nichts geschehen, stand Maya im Vordergrund des Bildes und lächelte unverblümt. Sie hielt zwei Finger hoch, die zu einem „Peace“-Zeichen geformt waren, und zwinkerte der Handykamera vor ihr zu. In dieser grausamen Situation hatte sie einfach ein Selfie gemacht. Voller Schrecken sah Charles sie an, als ihm die Wahrheit langsam klar wurde. Nicht Valentin misshandelte die Kinder. Es war Maya, welche die Fäden in der Hand hielt, und die anderen zappelten nur an diesen. Sie wurden von ihr erpresst und gezwungen, einander zu verletzen. Zu allem Überfluss schien sich Maya an all dem Anblick zu ergötzen.
„Aber … warum?“, fragte er mit zitternder Stimme.
Mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit, die keinerlei Platz für Zweifel ließ, antwortete sie: „Warum? Hab ich es dir nicht bereits gesagt, Charlie? Das hier ist mein Königreich und ich werde niemals die Kontrolle verlieren. Wer meine Regeln nicht befolgt, der muss halt mit den Konsequenzen klarkommen.“
Nachdem sie das gesagt hatte, erhob sie sich und verließ langsam den Raum. Dabei summte sie fröhlich eine Melodie. Charles erkannte diese sofort. Sie gehörte zu dem Lied, das seine Mutter immer sang. Ihr absoluter Lieblingssong. Doch nun wurden diese angenehmen Erinnerungen von der fürchterlichen Szenerie überschattet, die sich vor ihm abgespielt hatte. Statt etwas Positivem brachte er dieses Musikstück nun vor allem mit der unheimlichen Grausamkeit von Maya in Verbindung. Kaum hatte diese den Raum verlassen, atmete Valentin erleichtert auf.
„Puh …! Ich dachte echt, mir geht es an den Kragen. Scheiße …, Ich hab mir fast in die Hose gemacht.“
Sich die Tränen aus dem Gesicht wischend stand Charles auf und schrie Valentin an: „WIE KANNST DU SIE DAMIT NUR DURCHKOMMEN LASSEN? SIE IST EIN MONSTER!“
Wütend schrie dieser zurück: „UND WAS SOLL ICH DEINER MEINUNG NACH TUN? SOLL ICH EINFACH PETZEN GEHEN UND RISKIEREN, DASS SIE MIR ODER DEN ANDEREN NOCH SCHLIMMERES ANTUT?“
Darauf hatte Charles keine Antwort und drehte den Kopf nur leicht weg, enttäuscht von seiner eigenen Insensibilität dieser verzwickten Situation gegenüber. Valentin legte seine Arme auf die Schultern von Charles und sah ihm ins Gesicht. Tränen liefen ihm langsam die Wangen herab und schlussendlich erzählte er ihm alles.

„Das erste Mal traf ich Maya vor zwei Jahren, als ich frisch im Waisenhaus ankam. Damals war sie noch komplett anders drauf. Sie war nett und freundlich, sogar fast überfürsorglich. Keine Ahnung, woher sie die hatte, aber sie gab mir immer gerne ein paar von ihren Keksen. So wurden wir schnell Freunde. Wir spielten den ganzen Tag und hatten viel Spaß. Doch eines Tages nahm ich mir, ohne zu fragen, einen Keks von ihr und sah ihr wahres Gesicht. Sie starrte mich mit einem unheimlich kalten und emotionslosen Gesicht an. Ihre Augen sahen mir direkt in die Seele und sie sagte: ‚Leg den besser wieder zurück, oder ich breche dir die Hand.‘“
Charles musste schlucken.
„Und was hast du daraufhin getan?“
„Ich wollte es den Erziehern sagen, doch sie hielt meine Hand fest und meinte, dass diese nicht immer da sein können, um mich zu beschützen. Sie hingegen hätte jederzeit die Gelegenheit, mir etwas anzutun. Auf welcher Seite ich stehe, sollte deshalb gut überlegt sein. Natürlich hielt ich das für verrückt. Niemand würde sich einfach so herumschubsen lassen, nicht wahr? Also versuchte ich, meine magischen Kräfte gegen sie einzusetzen, aber es funktionierte nicht.“
Überrascht über diese plötzliche Offenbarung fragte Charles: „Deine Magiekräfte sind also schon erwacht? Sie haben aber in der Situation nicht funktioniert? Wie kann das sein? Hast du dein Mana nicht richtig transportiert?“
„Ja Charles, ich habe die Pyromantie-Affinität. Doch es war, als ob sie meine Zauber einfach mittendrin abbrechen konnte. Ich bin mir sicher, dass ich beim Transport alles richtig gemacht habe, aber kurz bevor das Mana meine Hand erreichte, stoppte es plötzlich. Ich konnte mich nicht an die Erzieher wenden, nicht gegen sie wehren und auch nicht fliehen, weshalb ich ihr schutzlos ausgeliefert war.“
Er ließ die Schultern von Charles los und blickte nach unten. Einzelne Tränen fielen auf den Holzboden des Schlafzimmers, während er mit dem linken Arm die Verbände des anderen festhielt.
„Aber die anderen aus der Freundesgruppe könnten doch was unternehmen, oder nicht? Ihr sitzt doch im selben Boot und mit gemeinsamen Kräften schafft ihr es bestimmt irgendwie, gegen sie vorzugehen“, ermutigte ihn Charles.
„Die anderen sind keine Hilfe, das wirst du noch früher oder später merken, Charles.“
Nach kurzer Überlegung fragte dieser, ob Valentin sich schon Hilfe bei den älteren Kindern geholt hatte.
„Das habe ich in meiner Verzweiflung auch schon versucht, jedoch stellte sich dies als gewaltiger Fehler heraus.“
Überrascht hakte Charles weiter nach: „Warum denn ein Fehler?“
„Ein sechzehnjähriger Junge nahm sich Maya zur Brust. Er sagte ihr, dass wir als ungewollte Kinder zusammenhalten müssten. Sollte sie also einem von den anderen Kindern auch nur ein Haar krümmen, dann würde er dafür sorgen, dass sie es bitter bereute“, erzählte ihm Valentin.

Danach fiel er auf die Knie und stützte sich mit beiden Händen auf diese. Unaufhörlich kullerten ihm die Tränen vom Gesicht.
„Doch der Einzige, der etwas zu bereuen hatte, war ich. Zuerst erleichterte mich der Gedanke, Hilfe von den älteren Kindern zu bekommen, denn egal wie stark Maya war, sie war ihnen körperlich und magietechnisch dennoch unterlegen. Schließlich war sie damals erst elf Jahre alt. Ich hatte aber unterschätzt, wie weit sie bereit war zu gehen, nur um die Kontrolle zu behalten. Nicht mal einen Tag später wurde der Junge mit einer Chlordioxidvergiftung ins Krankenhaus gefahren. Jemand hatte Bleichmittel unter das Essen gemischt. Es grenzte fast an ein Wunder, dass es nur ihn erwischte. Hätte er an diesem Tag doch einfach nur eine andere Pizza gewählt. Aber er griff bei der Pizza Hawaii zu und schon beim ersten Bissen fing das Husten an. Als Nächstes begann er, sich zu übergeben und um Luft zu ringen. Sofort brachten einige Erzieher den Jungen auf die Krankenstation und riefen den Notarzt. Derweil warfen die Küchenhelfer alle Pizzen auf der Stelle weg und verboten den Kindern, die bereits ein Stück hatten, dieses zu essen. Die Kleinen, welche durch dieses furchtbare Ereignis total verstört waren und nun bitterlich weinten, wurden von den restlichen Erziehern in den Arm genommen und beruhigt. Die anderen Kinder schauten hingegen voller Schock zu Maya, die lächelnd ihre Pizza Hawaii genoss. Das unheimliche Funkeln in ihren Augen werde ich niemals vergessen. Wir wussten nicht wie, aber wir waren sicher, dass sie es war, und von dem Tag an wagte es niemand mehr, sich mit Maya anzulegen. Am Ende wurde das Ganze als Unfall abgetan.“
Der sich zitternd vom Boden erhebende Valentin schaute Charles mit Tränen in den Augen an. Sein Gesichtsausdruck strahlte jedoch eine unheimliche Entschlossenheit aus. Bei diesem ungewohnten Anblick erschauderte Charles.
„Gib deine Hoffnung auf, Charles! In diesem Waisenhaus gibt es nur eine Regel, die du unter allen Umständen beachten musst: Stell dich niemals gegen Maya!“

Aufgeben?
Charles schaute auf seinen Verband an der rechten Hand. 
Noch vor kurzem hätte ich aufgegeben, aber das liegt nun hinter mir. Valentin, ich werde dir und den anderen auf jeden Fall helfen. Ich bringe Maya zu Fall.
Valentin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte: „Charles, lass uns heruntergehen zum Spieleabend. Ich würde gerne auf andere Gedanken kommen.“
Dieser nickte ihm zu.
„Ja, geh schon mal vor, ich muss nur noch fix aufs Klo.“
Die beiden Jungen verließen das Schlafzimmer. Von der Eingangshalle des Waisenhauses führte eine große Treppe in die zweite Etage. Hier waren die Mädchenschlafzimmer auf der rechten Seite und zur Linken die der Jungen zu finden. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich die Badezimmer und Toiletten für die jeweiligen Geschlechter. Während sich Charles auf den Weg zum Klo machte, ging Valentin die große Treppe hinunter, um durch die Eingangshalle in den Spieleraum zu kommen. Dort konnten die Kinder jeden Abend zusammenkommen, um sich gemeinsam an diversen Gesellschaftsspielen oder Filmen zu erfreuen.
Tagsüber war dieses Zimmer abgeschlossen, weshalb sich so gut wie alle Kinder jeden Abend hier einfanden. Als sich Charles sicher war, dass Valentin unten angekommen war, bog er kurz vor dem WC ab und machte sich über die Treppe auf den Weg in die dritte Etage zur Krankenstation.
Tut mir leid, Valentin, aber wenn du den Erziehern nicht Bescheid sagen willst, dann werde ich das übernehmen. Ich muss nur darauf achten, dass Maya nicht herausfindet, wer die Informationen über die Misshandlung weitergeleitet hat. Das Ganze muss vertraulich behandelt werden. Am besten, als hätte es einfach einer der Erzieher selber gemerkt.
Doch Charles ging auf dem Weg noch sehr viel mehr durch den Kopf.
Eine Sache macht dennoch keinen Sinn: Wenn sie tatsächlich so versessen auf Kontrolle ist, wieso lässt sie ihr Handy einfach so herumliegen? Moment mal …! Lag es denn wirklich einfach nur herum? Es war genau dort platziert, wo ich mein Handy hingelegt hätte. Mist …! Hat sie etwa gewollt, dass ich es finde? Falls ja, dann ist sie vermutlich gerade im Besitz von meinem.

Noch bevor er diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, stand er auch schon am Eingang der Krankenstation. Im Falle von Verletzungen, einer Krankheit bzw. generellem Unwohlsein oder auch psychischen Problemen hatten alle Kinder jederzeit Zutritt und wurden von den dort anwesenden Erziehern versorgt. Zurzeit waren nur zwei von ihnen im Dienst. Charles erkannte sie sofort. Es handelte sich um die Oberärztin Frau Juno und eine ihrer Assistenzärztinnen.
Beide befanden sich gerade mitten in der Auswertung eines Krankenberichtes. Zögernd betrat Charles den Raum, nachdem er sich versichert hatte, dass sich auf dem Flur niemand anderes herumtrieb.
„Ähm… Frau Juno? Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen.“
Frau Juno drehte sich um und fragte ihn voller Freundlichkeit und Fürsorge: „Oh, hallo, lieber Charles. Was ist denn mit dir, mein Junge?“
Die Assistenzärztin hingegen schien ihm nicht so wohlgesonnen. Genervt zog sie eine Augenbraue hoch und war gespannt darauf, was er für ein Anliegen hatte.
„Naja … vorher muss ich darauf bestehen, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Das ist wirklich wichtig!“
Beide Ärztinnen nickten verständnisvoll.
„Aber natürlich. Auch wir unterstehen schließlich der ärztlichen Schweigepflicht.“
Nachdem er geschluckt hatte, nahm Charles all seinen Mut zusammen und sagte: „Der Junge, den Sie gerade eben verarztet haben, war doch Valentin, oder? 
Ich weiß nicht, was er ihnen erzählt hat, aber diese Wunde an seiner rechten Hand … nein, auch die Wunden an seinen beiden Armen stammen nicht von einem Unfall. Er und auch viele andere Kinder werden von einem der Mädchen, Maya Custos, misshandelt.“
Schockiert sahen ihn die Ärztinnen an.
„Misshandelt, sagst du? Das ist ja schrecklich, aber woher weißt du das so genau?“, fragte Frau Juno.
„Auf ihrem Handy befinden sich viele Videos, welche die Misshandlungen zeigen. Sie zwingt die anderen Kinder dazu, sich gegenseitig zu verletzen, damit sie es filmen kann. Das benutzt sie dann als Druckmittel. Sollte jemand den Erziehern davon erzählen, kann sie die Geschichte auf diese Weise jederzeit umdrehen und sagen, dass in Wahrheit jemand anderes der Täter ist.“
Nachdenklich legte Frau Juno den rechten Ellenbogen auf den linken Handrücken und den Zeigefinger an ihr Kinn. 
„Verstehe …! Und wo ist dieses Handy zu finden?“
Charles antwortete unverzüglich: „Vorhin hatte sie es noch bei sich. Wenn sie Maya durchsuchen, dann sollten sie es finden. Gehen Sie aber auf jeden Fall sicher, dass es so klingt, als würde der Verdacht von Ihnen kommen, sonst weiß ich nicht, was mit den anderen geschehen wird. Am besten gehen Sie gleich jetzt los, bevor sie das Handy noch versteck…“
„WARUM LÜGST DU?“ 
Eine kraftvolle Stimme durchdrang den Raum. Ein großer Junge im Jogginganzug war plötzlich am Eingang aufgetaucht und ging langsam auf Charles und die Ärztinnen zu, während er die Hände in den Taschen hielt.
„Glauben Sie dem kein Wort. Der macht schon die ganze Zeit nichts als Probleme.“
Zum schlechtesten Zeitpunkt überhaupt war Caleb erschienen. Charles ahnte Schlimmes.
Verwirrt schaute Frau Juno zu Caleb.
„Was meinst du mit Probleme, Caleb?“
Dieser deutete auf Charles’ rechten Arm. Jedoch sah Frau Juno dort nur einen Verband und konnte immer noch nicht einordnen, was der Junge ihr versuchte zu sagen.
„Ahh... jetzt erinnere ich mich!“, sagte die Assistenzärztin.
Als hätte sie auf diesen Moment gewartet, wandte sie sich zu Frau Juno und flüsterte ihr ins Ohr: „Du weißt schon: Er ist das Kind der Tragödie.“
Der nah genug stehende Charles konnte seinen unfreiwilligen Spitznamen hören und sein Gesichtsausdruck spiegelte pure Verzweiflung wider.
Nein, nein, nein, das spielt doch absolut keine Rolle hier. Warum muss mir dieser dämliche Stempel gerade jetzt in die Quere kommen? Ich war doch schon kurz davor, sie zu überzeugen.
Die Oberärztin stand von ihrem Drehstuhl auf, kniete sich hin und legte ihre Hand auf Charles rechte Schulter.
„Hör mal, Charles, wir wissen, dass du es nach dem Tod deiner Eltern nicht leicht hast, aber …“
Wütend erwiderte er: „DAS HIER HAT NICHTS MIT MEINEN ELTERN ZU TUN.“
Die Oberärztin sah ihn mitleidig an und schwieg.

„Übrigens, kannst du mir mal sagen, warum du klaust, Charles?“, fragte Caleb und durchbrach damit die unangenehme Stille.
Erschrocken drehten sich Charles und die Ärztinnen zu Caleb.
Er unterstellt mir Diebstahl? Meint er das Handy von Maya, was sie mir untergejubelt hat? Warte …! Woher weiß Caleb eigentlich davon?
Schockiert sah Frau Juno den überraschten Charles an: „Stimmt das etwa? Sag mir die Wahrheit!“
„Nein, die Einzige, die etwas gestohlen hat, ist Maya. Seht in ihren Sachen nach! Dort müsste mein Handy zu finden sein. Sie hat es einfach ohne zu fragen durch ihres ersetzt“, versuchte sich Charles zu verteidigen.
Nach einem Griff in seine Jogginghose hielt Caleb ein rechteckiges Objekt in seinen Händen.
„Du meinst das hier?“
Plötzlich erstarrte Charles. Was der kräftige Caleb da präsentierte, war sein vermisstes Handy.
Wie kann das sein? Hat Maya ihm das Handy etwa zugesteckt?
Langsam wurde es ihm klar.
Sie hat Caleb anscheinend auf die Krankenstation geschickt, um mich zu diskreditieren. Deshalb hat sie ihm mein Handy gegeben, für den Fall, dass ich ihr Diebstahl unterstellen will. Verdammt, sie denkt wirklich an alles.
Bevor er antworten konnte, sagte Caleb: „Ich hab das hier auf dem Klo gefunden. Du und Vali habt euch doch vorhin heftig gestritten. Ging es da etwa um dein Handy? Hast du das von Maya gestohlen, weil du dachtest, sie hätte deins genommen, und er wollte dich zur Vernunft bringen?“
Caleb deutete auf seine rechte Hand.
„Würde mich nicht wundern, wenn du Vali im Streit verletzt hast.“
Nun meldete sich die Assistenzärztin wieder zu Wort.
„Das macht absolut Sinn! Bereits in der Vergangenheit hatte er, sagen wir mal, besorgniserregende Dinge mit scharfen Gegenständen angestellt. Jedoch hätte ich nicht erwartet, dass er das Messer auch gegen andere richten würde.“
Sie schaute Charles finster an. Dieser erschauderte bei ihrem Blick.
Schon seit Anfang des Gesprächs hatte ich das Gefühl, dass sie gegen mich ist und jetzt weiß ich auch, warum: Für sie bin ich einfach nur ein Problemfall.
„So ist das also … Ich bin wirklich enttäuscht von dir, Charles! Wie kannst du wegen eines einfachen Missverständnisses den armen Valentin nur so verletzen?“, fragte Frau Juno, welche ihre Stirn in Falten gelegt hatte und die Augenbrauen herunterhängen ließ.
Tzz, von ihr kann ich jetzt wohl auch keine Hilfe mehr erwarten.
Ihm entwich ein leiser Seufzer, während er sich von ihr wegdrehte.
So ein Dreck …! Es ist vollkommen egal, was ich jetzt sage. Ich kann die Situation nicht mehr zu meinen Gunsten drehen. Ich sollte besser schweigen, bevor es noch schlimmer wird.
Die Assistenzärztin nahm sein Schweigen als Schuldeingeständnis wahr.
„Wie es ausschaut, hast du absolut nichts zu deiner Verteidigung zu sagen, oder? Naja, auch gut. Der Spieleabend ist für dich auf jeden Fall für die nächsten vier Wochen gestrichen und ich erwarte, dass du dich bei Valentin und Maya entschuldigst!“
Sie nahm Caleb das Handy von Charles aus der Hand und steckte es in ihre Tasche.
„Des Weiteren behalte ich sowohl dein Handy als auch dich im Auge, Charles Libertus François.“
Verdammt! Maya hat mich einfach komplett durchschaut. Ich hatte keine Chance gegen sie.

Frustriert über seine Niederlage taumelte Charles durch den Gang der zweiten Etage auf dem Weg in sein Schlafzimmer. Viel mehr blieb ihm auch nicht übrig, weil er nun nicht mehr am Spieleabend teilnehmen konnte.
Sie muss doch eine Schwachstelle haben. Ich gebe zu, dass sie sehr intelligent ist, aber jeder ist doch irgendwo verwundbar.
Als er an der Jungentoilette vorbeikam, griffen urplötzlich Hände nach ihm und bedeckten seinen Mund.
WAS ZUR …?
Eine der Hände fasste um seinen Bauch und zog ihn am Waschbecken vorbei in eine der offenen Klokabinen. Dort wurde er endlich losgelassen und drehte sich sofort um, damit er sehen konnte, wer ihn auf einmal entführt hatte. Zu seiner Überraschung sah er ein Mädchen mit kurz geschnittenen, kastanienbraunen Haaren und gelben Augen. Sie trug einen weißen Rock und ein gleichfarbiges ärmelloses Oberteil. An ihrem rechten Handgelenk trug sie eine Uhr. Als sie die Tür der Kabine verschlossen hatte, wendete sie sich an Charles: „Tut mir leid, dass ich dich ohne Vorwarnung hier reingeschleift habe, aber ich wollte sichergehen, dass uns keiner sieht.“
Sofort erkannte Charles, wer da vor ihm stand. Schließlich hatte er sie schon auf einem der Fotos von Mayas Handy gesehen.
„Lass mich raten, du bist also …?“
Das Mädchen holte drei Würfel aus ihrer Rocktasche, stemmte selbstbewusst den linken Arm in ihre Taille und warf diese zum Spaß leicht in die Luft, um sie dann gleich wieder zu fangen. Sie zog ihren linken Mundwinkel leicht nach oben und antwortete: „Mein Name ist Rochelle Lefort und ich heiße dich herzlich willkommen in meinem Spiel.“
Mit diesen Worten drückte sie einen Knopf an ihrer Armbanduhr.
Valentin hat nicht untertrieben. Rochelle ist wirklich eine Augenweide. Aber wovon redet sie da?
„Was genau meinst du mit Spiel?“, fragte Charles.
Sie gab ihm einen der Würfel.
„Wir haben leider nicht viel Zeit. Also los, wirf ihn!“
Verwirrt ließ Charles den Würfel auf den Boden fallen. Nachdem dieser ein paar Mal davon abgeprallt war, blieb er schlussendlich stehen und es erschien die Augenzahl Sechs.
„Momentan hat Maya die Kontrolle über alle fünf Mitglieder der Freundesgruppe. Man könnte sagen, dass sie momentan die Kraft von sechs Personen besitzt. Fast so, als würde sie sechsmal würfeln können, während du nur einmal an die Reihe kommst.“
Daraufhin hielt sie einen ihrer zwei Würfel zwischen Zeigefinger und Daumen, sodass Charles ihn sehen konnte.
„Egal wie ich es anstelle, mit einem einzigen Wurf kann ich niemals die kombinierte Augenzahl von sechs Würfen schlagen. Aber was wäre, wenn ich ihr einen Würfel klauen könnte?“
Sogleich ließ sie den Würfel los. Dieser fiel auf den bereits am Boden liegenden und stieß ihn dabei um. Nachdem dieser sich auf die nächste Seite gedreht hatte, war statt einer Sechs nun die Augenzahl Fünf zu sehen.
„Auf diese Weise kann man ihre Macht etwas schwächen und rein theoretisch gewinnen. Vorausgesetzt, du würfelst eine Sechs und sie fünfmal eine Eins.“
Sie blickte Charles mit einem ernsten Gesichtsausdruck an und verwies auf den Boden der Kabine.
„Schau auf die Würfel! Dies entspricht deiner momentanen Situation, Charles. Du stehst ganz alleine gegen fünf. Wie hoch denkst du, ist deine Aussicht auf Erfolg bei diesem Szenario?“

Für eine Weile schaute sich Charles die am Boden liegenden Würfel an und blickte dann fragend zu Rochelle.
„Ich nehme mal an, die ist nicht so hoch?“
Sichtlich amüsiert über diese Antwort und sein verwirrtes Gesicht fügte Rochelle hinzu: „Ach Charles, die Wahrscheinlichkeit liegt bei 1 zu 46656. Das ist fast unmöglich!“
Vollkommen perplex fragte Charles: „Warum ist die nur so gering?“
„Mit fünf Würfeln, welche die Augenzahl von eins bis sechs haben, gibt es sechs hoch fünf verschiedene Möglichkeiten. Weißt du, warum?“
Er schüttelte den Kopf.
„Ein Würfel hat sechs Seiten und kann rein theoretisch auf jede dieser Seiten landen. Mit fünf Würfeln wächst die Anzahl der Kombinationen potenziell. Wirft Maya mit Würfel A eine Eins und mit Würfel B eine Fünf, hat sie schon ein Unentschieden erreicht. Dasselbe gilt auch, wenn A eine Zwei zeigt und B eine Vier. Dazu kommen noch alle Würfe, bei denen sie garantiert gewinnen würde. Du musst jede dieser Möglichkeiten beachten!“
Langsam verstand Charles, was sie versuchte zu erklären, und hörte gespannt weiter zu.
„Insgesamt hat man also 7776 Möglichkeiten und tatsächlich ist, wie bereits erwähnt, nur eine davon schlagbar. Mit einem Würfel hast du ganz klar nur die Sechs, welche dir den Sieg holen würde. Wir rechnen also 1/6 mal 1/7776, um die Wahrscheinlichkeit für diese eine Kombination zu erhalten. So komme ich auf die 1 zu 46656.“
Nun wiederholte sie mit ihrem letzten Würfel exakt dasselbe wie zuvor.
Erneut rollte der Würfel von Charles auf eine andere Seite und zeigte jetzt die Vier.
„Nehmen wir einfach mal an, du kriegst es hin, ihr noch einen Würfel zu stehlen, dann könntest du zweimal und sie viermal würfeln. Wie sehr würden deine Chancen dann steigen?“
Nach kurzem Überlegen sagte Charles: „Sechs hoch zwei mal sechs hoch vier.“
„Jackpot! Und wenn man das nun durch die Fälle, in welchen du Erfolg hättest, teilt, was 1674 wären, dann erhält man gerundet eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 28. Verstehst du, was für ein gewaltiger Unterschied das ist?“
Tatsächlich hatte Charles mittlerweile begriffen, worauf sie hinauswollte. Naiverweise hatte er versucht, alles alleine zu regeln, und versagte, weil Maya in der Überzahl war. Jedoch steigerten sich seine Erfolgschancen enorm, wenn er auch nur einem von den anderen Kindern genug Hoffnung gibt, um sich ihr zu widersetzen. Rochelle legte Ihre Hände an die Wangen von Charles und zog sein Gesicht nah an ihres. Ihre wunderschönen Augen funkelten voller Eifer.
„Los, Charles! Zeig mir, dass du es wert bist, alles zu riskieren!“

Charles ahnte, was Rochelle von ihm erwartete: Er sollte das Vertrauen der anderen Kinder gewinnen und diese überzeugen, sich gegen Maya zu stellen. Zumindest einer würde schon reichen, damit Rochelle dazu bereit wäre, sich ihm anzuschließen. So könnten sie mindestens eine Chancengleichheit erreichen. Plötzlich vibrierte die Uhr von Rochelle. Sie ließ Charles’ Gesicht los, betätigte den Ausschaltknopf an der Seite und ging in Richtung Ausgang. Mit einem Blick nach links und rechts verkündete sie: „Die Zeit ist um. Der Spieleabend ist gleich zu Ende. Ich verlasse zuerst die Toilette und du kommst ein paar Minuten später nach!“
Sie drehte sich kurz zu Charles um.
„Ich hoffe, dies war ein guter Ersatz für den geplatzten Spieleabend. Erwarte aber nicht, dass dies zur Gewohnheit wird! Innerhalb des Hofes sollten wir am besten gar nicht miteinander sprechen. Wenn ich dir etwas Wichtiges sagen muss, dann mache ich dieses Zeichen.“
Rochelle verschränkte die Arme und klopfte mit ihrem Zeigefinger dreimal auf den linken Arm.
„Wenn du das siehst, dann gehst du in zehn Minuten auf die Jungentoilette und achtest darauf, dass dir niemand folgt! Eine Sache ist noch ganz wichtig: Halte deine Affinität nach Möglichkeit besser geheim. Ansonsten könnte deine Wahrscheinlichkeit, Maya zu besiegen, auf null sinken.“
Mit diesen Worten verschwand sie.
Meine Affinität geheim halten? Das hatte ich eh vor. Nichts wäre schlimmer, als wenn ich gezwungen wäre, meine magischen Kräfte preiszugeben oder gar einzusetzen.

-- Am nächsten Tag --

In der Nacht hatte sich Charles einen Plan gemacht, wie er mindestens eines der anderen Kinder auf seine Seite ziehen könnte.
Aber bei wem habe ich wohl die besten Chancen? Caleb ist offensichtlich die schlechteste Wahl. Nach dem Ereignis auf der Krankenstation wird er mir gegenüber vorsichtiger sein. Valentin hat bereits klargemacht, dass er nichts unternehmen wird, und Rochelle hält sich im Hintergrund, bis ich meinen strategischen Wert bewiesen habe. Dann bleibt also nur noch Amadeus.
Auf einmal kam ihm die Bibel in den Sinn, welche Amadeus immer bei sich trug.
Mhm … Das könnte funktionieren.
Angekommen in der Cafeteria schnappte er sich Besteck und eine Schüssel, um sich an der Essensausgabe Zerealien zu holen. Das Frühstück war größtenteils Selbstbedienung für die älteren Kinder. Nur die Jüngeren bekamen Hilfe beim Einschenken der Frühstücksflocken und der dazugehörigen Milch. Jedoch hatte Charles einen sehr eigensinnigen Geschmack und schenkte sich statt Milch lieber Apfelsaft ein. Der fruchtige Geschmack unterstützte die zuckrigen Cornflakes noch viel mehr und ließ ein simples Frühstück zu einem halben Festmahl für ihn werden.
Außerdem erinnert mich das an früher.
Vor seinem geistigen Auge spielte sich eine bekannte Frühstücksszene mit seinen Eltern ab. Er sah, wie seine Mutter mit ihren langen, braunen Haaren und Sonnenblumenschürze in der Küche stand, wo sie Essen machte. Sein Vater war gerade dabei, den Tisch zu decken, als Charles den Raum betrat und er ihm daraufhin den Kopf streichelte. Nachdem sich Charles an den Esstisch gesetzt hatte, bemerkte er zufrieden, wie seine Eltern ihn voller Liebe anlächelten. Ein friedliches Leben, in das er nie wieder zurückkehren konnte. Doch Charles zwang sich schnell wieder dazu, fokussiert zu bleiben.
Nicht jetzt, du Idiot! Du hast eine Mission. Konzentriere dich!

Er ging zum bekannten Stammtisch der Freundesgruppe, an welchem sich bereits alle Jungen versammelt hatten. Der flüchtige Blick, den Valentin in seine Richtung warf, verriet Charles, dass dieser etwas sagen wollte. Kurz davor wandte sich Valentin allerdings wieder von ihm ab und biss sich auf die Lippe. Anscheinend hatte Caleb schon erzählt, was auf der Krankenstation geschehen war.
Scheint so, als wäre Valentin sehr enttäuscht von mir. Ich kann es ihm auch nicht verübeln, da ich seine Warnung einfach in den Wind geschlagen habe.
Entschlossen sah Charles ihn an.
Ich werde das wieder gutmachen. Ganz bestimmt!
Nun schaute er zu den anderen Jungen. Zu seiner Überraschung lächelte ihn Caleb an, als wäre zwischen ihnen nichts vorgefallen.
Sowas …, ich hätte erwartet, dass er mir von jetzt an etwas skeptischer gegenübersteht, aber er wirkt keinen Deut anders als sonst. Macht vermutlich auch Sinn. Schließlich hat Maya ihm höchstwahrscheinlich befohlen, auf die Krankenstation zu gehen, um meinen Plan zu durchkreuzen. Generell scheint es kein böses Blut zwischen uns zu geben.
„Was geht, Leute?“, fragte Charles nach kurzem Zögern.
Wie üblich antwortete Caleb mit „Essen fassen“, während er ihn anstrahlte.
Nachdem sein Blick auf die Bibel von Amadeus fiel, setzte sich Charles direkt neben ihn und fragte: „Du hast mir ja angeboten, dass ich mir deine Bibel mal ausleihen könnte, oder?“
Amadeus' Augen fingen an zu funkeln und er drehte sich sofort zu Charles.
„Also interessierst du dich auch für das Wort Gottes? Natürlich leihe ich sie dir aus. Ich hoffe, dass sie dir genauso sehr weiterhelfen wird wie mir.“
Mit einer schnellen Armbewegung griff er nach der Bibel und legte sie in die Hände von Charles, welcher unter dem Gewicht des Buches etwas zusammensackte.
Diesen Wälzer trägt der immer mit sich herum? Ich schätze, der Glaube kann wirklich Berge versetzen …
Aufgeregt bat ihn Amadeus, dass er gut auf die Bibel achtete und seine Lieblingspassagen aufschrieb, damit sie später darüber diskutieren konnten.
„Natürlich! Ich werde gut darauf aufpassen.“

Nach einem tiefen Atemzug stand Charles auf, lächelte freundlich und unterbreitete den anderen Jungen einen Vorschlag: „Da ich jetzt der Neue in dieser Freundesgruppe bin, würde ich euch alle gerne besser kennenlernen. Wie wäre ein Grillabend in der Geheimbasis? Ich stelle mir ein gemütliches Lagerfeuer am Fluss vor. Wir könnten umgefallene Bäume als Sitzbänke nutzen und eine riesige Menge Fleisch verdrücken, welche wir hier nur selten zu sehen bekommen. Schöne, saftige Steaks und Bratwürste. Wir könnten sogar noch eine Currysauce dazu machen, sofern wir das eklige Gemüse weglassen. Was haltet ihr davon?“
Bevor einer der Jungen antworten konnte, ertönte eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund. Erschrocken drehte Charles sich um und direkt neben ihm stand plötzlich Maya, mit einem Tablett in den Händen, während sie ihn charmant anlächelte.
„Das ist wirklich eine großartige Idee, mein lieber Charlie!“
Hinter ihr stand Rochelle, welche etwas genervt zu Charles sah. Sie hatte bemerkt, wie er kurz davor war, das Gesicht vor Abscheu zu verziehen, und signalisierte ihm, sich zu beherrschen, indem sie mit ihren Augen wiederholt auf Maya deutete.
„Da seid ihr ja endlich. Warum brauchen Mädchen morgens eigentlich immer so lange?“, fragte Valentin.
Patzig erwiderte Rochelle: „Dann stell du dich mal am Morgen an der Schlange zur Mädchentoilette an! Mal sehen, ob du dann immer noch solche doofen Fragen stellst.“
Sie wandte sich zu Charles. „Ich stimme Maya übrigens zu, die Idee ist hervorragend.“
Auch Amadeus nickte. Sogleich warf Caleb eine Frage in den Raum: „Die Idee ist cool, aber wo kriegen wir das Fleisch her?“
Maya setzte sich neben Charles an den Tisch, woraufhin Rochelle gegenüber von ihr Platz nahm.
„Ich kann euch das Fleisch besorgen. In der Stadt habe ich so meine Quellen“, sagte Maya.
Mit strahlendem Gesicht sah Caleb sie an. 
„Wie von dir zu erwarten war. Auf dich können wir zählen.“
WOAH …! Moment mal? Ihr vertraut Maya einfach so die Beschaffung der Lebensmittel an? Seid ihr bescheuert? Was ist, wenn sie das Essen vergiftet?
Hilfesuchend sah Charles zu Valentin, doch dieser schien ihm immer noch auszuweichen.
Da er keine andere Wahl hatte, ergriff er nun das Wort: „Ach, mach dir nicht so einen Aufwand! Wir nehmen uns einfach etwas aus der Küche.“
Mit hochgezogenen Mundwinkeln sah Maya zu Charles und strich mit ihren Fingern eine Haarsträhne über ihr Ohr. Dann legte sie ihr Kinn auf den linken Handrücken, während sie den Kopf leicht zu ihm beugte. 
„Sagen wir es mal so: Aufgrund von bedauerlichen Unfällen in der Vergangenheit sind die Sicherheitsmaßnahmen in der Küche in Bezug aufs Essen leider gestiegen. 
So einfach kannst du dir nicht mal eben Essen abzweigen, ohne dass es den Erziehern hier recht schnell auffällt. Es würde sofort eine Durchsuchung gestartet werden und wir bekämen eine saftige Strafe statt eines Steaks.“
Und wessen Schuld ist das wohl?

Angestrengt versuchte Charles, seine Wut runterzuschlucken und ruhig zu bleiben, doch für einen kurzen Moment zitterte seine Lippe, was Maya sofort bemerkte und ein Lächeln bei ihr hervorrief.
„Keine Sorge, Charlie! Ich besorge uns schon das Fleisch. Jedoch ist es niedlich zu sehen, wie engagiert du bist.“
„Jep, das ist wirklich gutes Engagument von dir, Charlie“, sagte Caleb.
Der immer noch schmollende Valentin wollte gerade ansetzen, um diesen Satz zu korrigieren,
allerdings kam ihm Charles zuvor: „Du meinst sicher Engagement, Caleb.“
Ungläubig blickte Valentin zu Charles, welcher ihn nur anlächelte. Für einen Moment vergaß Valentin seinen Ärger und beteiligte sich auch an der Konversation.
„Okay, dann ist es also beschlossene Sache. Wir machen alle zusammen morgen Abend eine Grillparty in der Geheimbasis.“
Die Kinder steckten ihre Köpfe zusammen, planten alles und beendeten dann gemeinsam ihr Frühstück. Danach teilten sie sich auf, um in ihre jeweiligen Klassenräume zu gehen. Von der Eingangshalle aus befand sich die Cafeteria links und die Klassenräume auf der rechten Seite. Genau wie bei den Schlafzimmern wurden hier mehrere Altersgruppen zusammen unterrichtet. Punkt neun Uhr fing täglich der Unterricht an. Finster schaute Charles dabei zu, wie Maya in Richtung des Klassenzimmers der Dreizehn- bis Sechzehnjährigen ging.
Als ob ich dich das Fleisch alleine besorgen lasse. Ich habe dich auf jeden Fall im Auge!
Aus heiterem Himmel drehte sich Maya um und zwinkerte ihm mit einem charmanten Lächeln zu.
Kann sie etwa … meine Gedanken lesen? Echt unheimlich!
Ohne eine Miene zu verziehen, machte er sich auf den Weg zum Unterricht.

Im Klassenzimmer angekommen, suchte Charles etwas verloren nach einem freien Sitzplatz, als ihm Amadeus zuwinkte und rief: „Hier drüben, Charles. Ich habe dir einen Platz freigehalten.“
Seit ich ihn nach der Bibel gefragt habe, ist er mir gegenüber viel freundlicher geworden. Tja, ich kann’s ihm nicht verdenken. Leute mit ähnlichen Interessen sind einem halt sympathisch.
Auf seinem Gesicht erschien ein unheilvolles Grinsen.
Und schließlich ist das auch Teil meines Plans.
Er setzte sich neben Amadeus und begutachtete die Tische. Diese hatten an der Unterseite ein geräumiges Fach, in welchem sich die Bücher der Kinder für die verschiedenen Unterrichtsfächer befanden. „Affinitätslehre“, „Manakontrolle für Anfänger“, „Die magische Welt der Mathematik“, „Zauberhafte Sprachen“ und so weiter. Tatsächlich wurden hier im Waisenhaus fast dieselben Fächer wie an einer richtigen Schule unterrichtet. Kurz nachdem er sich einen Überblick über die Lehrbücher verschafft und den Affinitätslehrband Nummer I auf seinen Tisch gelegt hatte, betrat der Dozent den Raum.
„Guten Morgen, Kinder. Ich heiße euch recht herzlich willkommen zum Unterrichtsfach ‚Affinitätslehre‘. Mein Name ist Herr Alatar. Das erwähne ich heute extra, weil wir einen Neuzugang bei uns begrüßen dürfen. Charles, steh bitte kurz auf und stell dich der Klasse vor!“
Au weia, damit habe ich nun absolut gar nicht gerechnet … 
Nervös stand Charles auf und blickte kurz neben sich. Mit beiden Daumen nach oben gestreckt grinste ihn Amadeus zuversichtlich an. Genervt schaute Charles gleich wieder weg. Mit gezwungenem Lächeln begann er, zur Klasse zu sprechen: „Ähm… also, wie gerade eben erwähnt, bin ich euer neuer Mitschüler, Charles Libertus François. Ich bin zwölf Jahre alt und lese gerne. Falls ihr Fragen habt, dann beantworte ich diese natürlich gerne.“
Ein Junge aus der hinteren Reihe fragte: „Sag mal, Charles, sind deine Magiekräfte bereits erwacht?“
Das falsche Lächeln verschwand sofort aus Charles Gesicht und er wurde stattdessen kreidebleich.
Verdammter Mist …! Die Frage hatte ich echt nicht erwartet … Damit ist der schlimmstmögliche Fall eingetreten. Was mache ich denn jetzt bloß?

Soll ich einfach lügen? Aber wie kann ich das Vertrauen der anderen gewinnen, wenn ich mir jetzt schon Dinge ausdenke? Falls ich von meiner Pyromantie-Affinität erzähle, wird mir dasselbe Spezialtraining zuteil, welches alle Kinder bekommen, deren magische Kräfte bereits erwacht sind. Normalerweise wäre das auch kein Problem, jedoch sind meine Kräfte momentan zu unkontrollierbar, um ihre Folgen einzuschätzen. Außerdem wird auf diese Weise Maya unweigerlich davon erfahren.
Wie eingefroren blieb Charles still an seinem Platz stehen, während seine Mitschüler mittlerweile zu tuscheln begannen. Nach einer Weile fragte ihn Herr Alatar: „Hey, Charles? Alles in Ordnung mit dir? Einer deiner Mitschüler hat dir eine Frage gestellt. Möchtest du sie nicht beantworten?“
Charles biss sich auf die Lippe. Verzweifelt sah er sich im Raum um. Von allen Seiten prasselten fragende Blicke auf ihn ein.
Okay, dann muss ich halt lügen. Das Risiko ist andernfalls viel zu hoch. Ich darf Maya nicht in die Hände spielen!
„Nein, ich …“
Bevor er seinen Satz beenden konnte, stand Valentin plötzlich auf.
„Ich kenne nicht die genauen Umstände, aber Charles scheint hier gelandet zu sein, weil ihm in Bezug auf Magie etwas unheimlich Schlimmes passiert ist. Ob seine Kräfte erwacht sind oder nicht, ist vollkommen egal. Wir haben nicht das Recht, uns in seine Angelegenheiten einzumischen, und wenn er darüber nicht reden möchte, dann sollten wir das akzeptieren. Das ist zumindest meine Meinung.“

Die anderen Kinder wirkten überrascht, aber niemandem fiel ein logisches Gegenargument ein. Es breitete sich ein Schweigen im Raum aus, bis Herr Alatar die Stille durchbrach.
„Wirklich schön gesagt, Valentin! Du und Charles scheinen bereits gute Freunde geworden zu sein. Es freut mich, zu sehen, wie du dich für ihn einsetzt! Außerdem hast du vollkommen recht. Wir wollen niemanden dazu zwingen, seine Affinität preiszugeben, wenn er das nicht möchte. Ich will aber an der Stelle betonen, dass Kinder mit magischen Kräften spezielle Förderung kriegen können, die ihnen dabei helfen kann, im Rang aufzusteigen und neue, spannende Fähigkeiten zu erlernen. Sollte sich Charles also bereit fühlen, uns über den Stand seiner Magie zu informieren, dann stehen meine Türen jederzeit offen.“
Valentin setzte sich wieder hin, lehnte sich nach hinten und ließ seine Stuhllehne an Charles’ Tischkante fallen. Dann flüsterte er ihm leise zu: „Auch wenn wir hin und wieder mal unsere Meinungsverschiedenheiten haben, kannst du dir über eines im Klaren sein: Ich lasse dich niemals hängen, Kumpel!“
Diese freundschaftliche Geste rührte Charles fast zu Tränen.
Ich kenne dich zwar erst seit zwei Tagen, aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass du ein herzensguter Mensch bist, Valentin. Du willst dich zwar aus Angst nicht gegen Maya auflehnen, jedoch rührt diese vor allem von der Tatsache her, dass andere Kinder ebenfalls in Gefahr geraten könnten, wenn du dich gegen sie stellst. Du setzt dich für die Leute, die dir wichtig sind, aus vollem Herzen ein. Dieser Ansatz ist definitiv nicht verkehrt!
„Danke, Valen…"
Er schüttelte den Kopf.
„Ich meine …, danke, Kumpel!“

Herr Alatar fuhr nun mit dem Unterricht fort: „Was ist Magie? Wir definieren Magie als die Fähigkeit, durch Handlungen eine übernatürliche Wirkung zu erzielen. Dies erfordert nicht unbedingt ein spezifisches Ritual, setzt jedoch gewisse Kenntnisse voraus. Grob lässt sich die Magie in drei Kategorien einteilen:

– Unterstützungsmagie:
Hierbei handelt es sich um Zauber, die eine klar erkennbare Modifikation einer Entität, egal ob leblos oder lebendig, bewirken.

– Angriffsmagie:
Dazu zählen jegliche Zauber, die einen negativen physischen oder psychischen Effekt zur Folge haben.

– Heilmagie:
Alle Zauber, die zur Wiederherstellung von organischen oder unbelebten Objekten führen oder den Gesundheitsstatus positiv beeinträchtigen, zählen zu dieser Kategorie.

In welcher Form sich die Magie zeigt, hängt von euren Fähigkeiten ab, welche anhand eures Ranges und der Affinität definiert werden. Bei der Klasse Humanoid starten Menschen, deren magische Kräfte erwacht sind, auf dem ersten Rang und können bis zum zehnten Rang aufsteigen. Jedoch ist es nach Rang III nur besonderen Magiern vorbehalten, die restlichen Stufen zu erklimmen.“
Einer der Schüler meldete sich und stellte die Frage, ob es noch andere Klassen außer Humanoid gäbe.
„Äußerst interessante Frage und in der Tat werdet ihr in anderen Fächern lernen, dass sich in unserem Universum mehrere bewohnte Planeten mit intelligentem Leben befinden. Dort kann es auch andere Klassen geben.“
Nun meldete sich Charles.
„Und welche dieser Klassen ist die stärkste?“
Der Dozent antwortete: „Das ist schwer zu sagen, da wir bisher nur einen Bruchteil aller Planeten erforschen konnten. Allerdings ist es äußerst wahrscheinlich, dass uns andere Spezies da draußen bei Weitem überlegen sind.“
Nachdem Charles verständnisvoll genickt hatte, machte Herr Alatar mit dem Unterricht weiter.
„Heute behandeln wir die Affinität Solar, deren Hauptthema das Licht ist. 
Dieses kann sowohl die primäre Energieressource für jegliche Lebewesen sein als auch die Ursache für deren Tod. In der Natur finden sich viele Beispiele. Hierbei handelt es sich auf den niedrigeren Rängen hauptsächlich um Heilkräfte, jedoch kommen auf höheren Rängen auch Angriffsfähigkeiten hinzu. Rang I beinhaltet genau zwei Fähigkeiten:

– Licht der Heilung:
Damit kann man Verletzungen heilen. Der Grad der zu heilenden Verletzungen hängt sehr stark vom medizinischen Wissen des Magiers ab. Tatsächlich werden Wettbewerbe abgehalten, bei denen mit dieser Rang-I-Fähigkeit versucht wird, schwere Verletzungen zu heilen, und die Magier dabei ihr Wissen testen können.

– Licht der Reinigung:
Befreit den Körper von Gift und anderen Unreinheiten. Dies setzt jedoch voraus, dass der Anwender weiß, um welches Gift es sich genau handelt und womit man dieses negiert.

Wie ihr seht, ist Wissen unheimlich wichtig, um das Maximum aus euren Kräften herauszuholen.“
Das wären wirklich essenzielle Fähigkeiten im Kampf gegen Maya. Wenn wir Licht der Heilung in unserem Repertoire hätten, würden ihre Bestrafungen definitiv an Gewicht verlieren.
Gespannt hörte Charles dem Unterricht weiter zu, um eventuell noch weitere Hinweise zu bekommen, welche ihm bei seiner Mission helfen könnten. Bevor er sich versah, war der Schultag auch schon vorbei.

Die Vierertruppe der Jungs verließ gerade das Klassenzimmer in Richtung der Cafeteria. 
„Oh man… das waren mir einfach zu viele Informationen auf einmal. Ich hoffe, dass ich niemals eine Affinität oder sowas bekomme“, sagte der sehr müde aussehende Caleb.
Skeptisch blickte ihn Charles an.
Erstmal hast du diese Affinität bereits seit Geburt und zweitens hat der Lehrer doch heute extra nochmal die Grundlagen durchgenommen, weil ich neu war. Komischerweise hattest du keine Probleme, dir die Affinität von Maya zu merken. Tja, wenn man eine Person mag, passieren halt die seltsamsten Sachen.
Charles kicherte innerlich bei diesem Gedanken.
„Weniger reden, mehr laufen! Da alle Kinder zur selben Zeit Unterrichtsschluss haben, muss man schnell sein, sonst steht man bei der Essensausgabe ewig an.“, sagte Valentin, dem bereits das Wasser im Mund zusammenlief.
„Ich würde mich erstmal ausklinken, um etwas in der Bibel zu stöbern. Eventuell komme ich später noch vorbei.“, verabschiedete sich Charles und winkte dabei.
Außerdem kann ich von meinem Zimmer aus den Hof gut im Auge behalten, für den Fall, dass Maya sich auf den Weg macht, um das Fleisch zu besorgen.
„So wie das aussieht, wird das heute wieder ein Massaker. Auf dem Schlachtfeld wirst du später nur noch leere Teller vorfinden, Kumpel. AUF IN DEN KAMPF, MEINE FREUNDE!“
Valentin zog nun das Tempo der Gruppe gewaltig an, als er bemerkte, wie ein paar andere Kinder sie überholten.
Während er die Treppe hochging, sah Charles, wie die Jungen in die Cafeteria flitzten und dabei von einer Erzieherin ermahnt wurden, auf dem Gang nicht zu rennen. Im Schlafzimmer angekommen, nahm sich Charles einen Stuhl, setzte sich nah an das Fenster und begann, in der Bibel zu blättern. Hin und wieder richtete er seinen Blick nach draußen. 

Erst als der Spieleabend vorbei war und alle Kinder bereits auf ihre Zimmer gegangen waren, sah er eine Gestalt in einem grauen Mantel, wie ihn sonst nur alte Magier aus Fantasyfilmen tragen würden, über den Hof laufen. Sie trug eine Taschenlampe und einen großen Rucksack.
Damit beginnt die Verfolgungsjagd, dachte Charles, klappte die Bibel zu und schlich sich unbemerkt in den Hof.
Nachdem er durch das kleine Waldstück gelaufen war und sich kurz vor der Mauer in einem Gebüsch versteckt hatte, merkte er, wie die mysteriöse Gestalt bereits auf einen Baum geklettert war und von dort aus auf die Mauer sprang.
Ich hatte mich schon gefragt, wie sie es ganz ohne Hilfe da rauf schaffen möchte.
Er tat es ihr gleich und gelangte ohne größere Probleme auf die Mauer. Von dort aus konnte er sehen, wie die Entität im Wald verschwand. Um keine Zeit zu verlieren, wollte er sich direkt an den Abstieg machen. Doch dann rutschte ihm das Herz fast in die Hose, als er bemerkte, dass hinter ihm aus heiterem Himmel jemand stand. Sofort drehte sich Charles um. Das geheimnisvolle Wesen, das eben im Wald verschwunden war, stand ihm jetzt lächelnd gegenüber. 
„Ach Charlie, wenn du mit mir alleine sein willst, dann hättest du das doch einfach sagen können.“
Die rätselhafte Gestalt zog die Kapuze des Mantels runter und das Gesicht eines wunderschönen Mädchens kam zum Vorschein.
„Ma-Maya? Aber du warst doch gerade …“
„Spionierst du mir etwa hinterher?“, fragte ihn Maya.
Langsam ging sie nun auf Charles zu und leckte sich über die roten Lippen, während sie ihn mit ihren lila Augen scharf ansah.
„Sowas kann ich gar nicht leiden!“

Charles ging ein paar Schritte zurück. Sein Gesicht zeigte pure Angst.
So ein Mist, ich bin zu weit vom Waisenhaus entfernt. Selbst wenn ich schreie, wird mich niemand hören. Verdammt! Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein?
Indessen hatte Maya ihn erreicht und legte ihre Hände auf sein Gesicht.
„Mein lieber Charlie, denkst du etwa, ich würde meine Freunde vergiften?“
Bei diesen Worten fiel Charles aus allen Wolken.
WOHER WEISS SIE DAS?
Schnell fasste sich Charles wieder und antwortete dann: „Nein, ich dachte mir nur, dass du eventuell Hilfe beim Tragen gebrauchen könntest.“
Diese Aussage brachte Maya zum Lächeln.
„Du bist ein schlechter Lügner, Charlie. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn du mir zumindest etwas vertraust.“
Vertrauen? Ich soll dir vertrauen? Nach dem, was du getan hast, kann dir doch niemand mehr vertrauen!
Nun ließ Maya sein Gesicht los und streckte ihre Arme aus.
„Kannst du mir vertrauen, Charlie? Falls ja, dann nimm meine Hände!“
Misstrauisch betrachtete Charles die Szenerie vor sich. Mayas Haar glänzte im Mondlicht und ihr unschuldiges Lächeln ließ es so wirken, als könnte sie nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun. Ihre Augen strahlten eine unheimliche Sanftmütigkeit aus. Doch er zögerte. Eigentlich wollte Charles einfach nur so schnell wie möglich weglaufen, aber er wusste nicht, was Maya dann mit ihm anstellen würde.
Ich weiß genau, das ist alles nur Fassade, jedoch sollte ich besser so tun, als wäre das Gegenteil der Fall, und den Unwissenden spielen. Wenn ich mich an ihre Regeln halte, wird mir schließlich nichts passieren, oder?
Daraufhin nahm er ihre Hände und bereute es einige Sekunden später wieder, denn Maya lehnte sich zur Seite und ließ sich von der Mauer fallen. Da er ihre Hände nicht loslassen konnte, weil sie diese festhielt, wurde auch Charles mit nach unten gezogen. Er verlor den Halt und stürzte mit dem Kopf voran von der Mauer. Rückblickend betrachtet wusste Charles es schon vom ersten Moment an.
DIESES MÄDCHEN IST KOMPLETT WAHNSINNIG!

Die Augen zusammengekniffen, rollte sich Charles zum Schutz ein und bereitete sich auf den Aufprall vor. Zu seiner Überraschung fiel dieser jedoch weicher aus, als er erwartet hatte. Zögerlich öffnete er die Augen.
Hä …? Bin ich bereits im Himmel? Warum fühlt es sich so an, als würde ich auf einer Wolke liegen?
Völlig verwirrt sah er sich um. Beide waren auf einem großen Kissen und einer Bettdecke gelandet, welche über einem Busch lagen. Offenbar hatte jemand schon im Voraus an dieser Stelle ein provisorisches Sicherheitsnetz errichtet. Die neben ihm liegende Maya fing laut an zu lachen, woraufhin Charles vor Scham ganz rot im Gesicht wurde. Er richtete seinen Oberkörper auf und stützte sich mit beiden Armen auf die Decke, während er wütend in ihre Richtung schaute. Die Angst, welche er vorhin noch verspürt hatte, war komplett verschwunden.
„WAS SOLLTE DER MIST? DAS HÄTTE FÜR UNS BEIDE SCHIEFGEHEN KÖNNEN!“
Mit sanftmütigem Lächeln drehte Maya ihren Kopf zu ihm.
„Siehst du? Ich hab es dir doch gesagt! Du kannst mir vertrauen.“
Überrascht schaute Charles sie an. Maya stand von der Decke auf und reichte ihm die Hand.
„Es gibt absolut keinen Grund für mich, meine Freunde zu vergiften oder dich zu verletzen. Also lass mich einfach das Fleisch besorgen und geh wieder schlafen, okay?“
Nachdem sie Charles hochgeholfen hatte, zog Maya die Kapuze ihres Zaubermantels über den Kopf und knipste ihre Taschenlampe an. Nach einer kurzen Verabschiedung verschwand sie daraufhin in der Dunkelheit des Waldes.
Ich bin zwar nochmal ungeschoren davongekommen, aber ich sollte es lieber nicht drauf anlegen, erneut von ihr beim Spionieren erwischt zu werden. Sie hat schon recht: Wenn sie mir hätte schaden wollen, dann wäre dies die beste Gelegenheit gewesen. Allerdings gibt es derzeit keinen Grund dafür.
Sein Blick glitt über den Strauch mit dem darauf liegenden Bettzeug und verlor sich im dunklen Wald.
Die allseits bekannte Frage bleibt trotzdem … Wie hat sie das verdammt nochmal gemacht?
Ihm blieb keine Wahl, als ins Waisenhaus zurückzukehren und sich schlafen zu legen.

-- Am nächsten Morgen --

Als alle Jungen in seinem Schlafzimmer bereits zum Frühstück gegangen waren, erhob sich schlussendlich auch Charles aus dem Bett und stellte sich in den Türrahmen. Von dort konnte er sehen, dass Rochelle ganz hinten an der Schlange zur Mädchentoilette stand. Zu seinem Glück war Maya anscheinend schon eher aufgestanden und bereits in der Cafeteria. Er signalisierte Rochelle, dass er sich gerne mit ihr treffen möchte, und nachdem die Schlange vor dem Mädchenklo verschwunden war und sie ihre Angelegenheiten dort beendet hatte, berieten sich die beiden wie üblich in einer der Kabinen vom Jungenklo.
„Sich so früh am Morgen zu treffen, ist gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns jemand beim Frühstück vermisst, ist recht hoch. Wenn nicht zumindest ich bald auftauche, wird Maya definitiv Verdacht schöpfen“, sagte Rochelle.
„Keine Sorge, ich habe den anderen bereits gesagt, dass ich keinen Hunger habe und gerne noch ausschlafen möchte. Die werden mich erst wieder im Unterricht erwarten. Außerdem wollte ich dir meine neusten Informationen über Maya nicht länger vorenthalten.“
Die verblüffte Rochelle sah ihn mit Funkeln in den Augen an.
„Du hast etwas herausbekommen?“
Charles nickte und erzählte ihr dann, dass er Grund zur Annahme hatte, dass Maya Gedanken lesen kann.
„Und wie hast du das herausgefunden?“
„Gestern Abend habe ich leider erfolglos versucht, sie zu verfolgen, um herauszufinden, ob sie das Essen für den Grillabend vergiften möchte. Sie wusste nicht nur, dass ich ihr auf den Fersen war, sondern auch, was meine Vermutungen in Bezug auf ihre Pläne waren.“
Bei diesen Worten verschränkte Rochelle die Arme und sah ihn genervt an.
„Tja, was denkst du wohl, warum?“
Verwirrt über ihre Reaktion fragte Charles, was sie damit meinte.
„Hast du schon mal von Mikroexpressionen gehört? Das sind flüchtige Gesichtsausdrücke, die nur Sekundenbruchteile dauern. Jedoch ist das bereits mehr als genug Zeit, um die wahren Gefühle einer Person abzulesen.“

So ganz verstand Charles immer noch nicht, was sie ihm da versuchte klarzumachen, doch dann tippte Rochelle mit ihrem Zeigefinger plötzlich auf seine Lippe.
„Erinnerst du dich an deine Reaktion beim gestrigen Frühstück? Als sie die Sicherheitsmaßnahmen in der Küche erwähnte, hast du hiermit ganz kurz gezittert, weil du dich daran erinnert hast, dass sie dafür verantwortlich ist.“
Jetzt wurde Charles einiges klar und Rochelle las an seinem Gesicht, dass er begriffen hatte, worauf sie hinauswollte.
„Ich bin also derjenige, der ihr verraten hat, dass mir Valentin von dem Essensvorfall erzählt hat? Sie hat dann nur eins und eins zusammengezählt und angenommen, dass ich ihr in der Hinsicht nicht mehr vertraue?“
Mit ernster Miene antwortete Rochelle: „Jackpot! Aber das war ein großer Fehler, ihr gestern Abend zu folgen! Damit hast du ihre Annahme komplett bestätigt. Valentin wird die Konsequenzen zu spüren bekommen. Schließlich hat er ihre Regeln gebrochen und dir unerlaubt davon erzählt.“
Komplett überrumpelt von dieser Information bekam Charles langsam Panik.
Sie hat mich also gestern nur laufen lassen, weil sie bereits gemerkt hatte, dass Valentin mich dazu veranlasst hat. Das ist schlimm! Ich muss ihn schleunigst warnen! Wenn ihm meinetwegen was passiert, dann kann ich mir das nicht verzeihen.
Da sich das Gesicht von Charles vor Verzweiflung verzogen hatte, legte Rochelle ihre Hände auf seine Schultern und sagte: „Es ist alles okay, verhalte dich einfach ruhig bis zum Grillabend und lass dir nichts anmerken! Wenn alles so bleibt, wie es ist, dann kommt Valentin sicherlich mit einem blauen Auge davon.“
Nun fiel Charles rein zufällig eine komplett andere Sache auf: „Hey …, woher weißt du eigentlich, was Valentin und ich alles besprochen haben?“
Selbstsicher leckte sich Rochelle über die Lippen.
„Sagen wir einfach, ich bin sehr gut im Verstecken.“
Skeptisch darüber, was er mit dieser Antwort anfangen sollte, sah er dabei zu, wie Rochelle einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr warf, ehe sie sagte: „Ich muss jetzt dringend los, bevor sich eine gewisse Dame fragt, wo ich so lange bleibe.“
Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und ließ den mittlerweile gedankenversunkenen Charles alleine in der Kabine zurück.
Auch wenn noch Fragen offen bleiben, ist eines mehr als nur klar geworden: Der Grillabend muss auf jeden Fall ein Erfolg werden. Weitere Fehler darf ich mir nicht erlauben!

-- Später am Abend --

Alle Mitglieder der Freundesgruppe hatten sich an der Geheimbasis eingefunden. Vor dieser hatten sie einen Kreis aus Steinen errichtet, in welchem ein paar Holzscheitel, trockenes Gras und viele Äste bereitlagen, um ein Lagerfeuer anzünden zu können. Rund um dieses wurden, wie von Charles vorgeschlagen, umgefallene Bäume gelegt, welche als Bänke dienen sollten. Auf einer dieser Bänke sah Charles, wie Amadeus allein dasaß. Kurz vergewisserte er sich, dass die anderen gerade in der Küche das von Maya beschaffte Fleisch vorbereiteten, bevor Charles seine Chance ergriff. Er nahm die Bibel, welche auf dem Tisch vor dem Kamin lag, ging nach draußen und setzte sich rechts neben Amadeus.
„Hi Charles, was geht so?“, fragte dieser.
„Ach, du weißt schon, das Übliche.“
Nach einer kurzen Stille zwischen den beiden holte Charles die Bibel hervor, die er in der linken Hand gehalten hatte.
„Hör mal, ich habe in der Bibel eine wirklich interessante Geschichte gelesen und wollte einfach mal mit dir darüber reden.“
Sofort fingen Amadeus' Augen an zu strahlen und er hörte aufgeregt zu.
„In dieser Geschichte lehnte sich ein einfacher Zimmermann gegen die Obrigkeit auf. Die meisten Menschen zu jener Zeit konnten die Bibel, welche damals nur aus dem Alten Testament bestand, nicht lesen und die sogenannten Pharisäer, eine politisch-religiöse Gruppierung, erzählten ihnen, was da drin vorkam. Dies führte schnell dazu, dass Fehlinformationen unter den Leuten verbreitet wurden, um daraus Profit zu schlagen. Der Zimmermann, genannt Jesus, brachte den Leuten bei, was wirklich im Alten Testament stand. Er stellte sich als Einziger den Pharisäern entgegen. An einem Punkt in der Handlung warf er sie zum Beispiel aus einem der Gotteshäuser hinaus, weil sie dort Geschäfte betrieben. Zudem vollbrachte er viele andere großartige Taten, wie das Heilen von Kranken oder Verletzten. Am Ende bezahlte er jedoch einen hohen Preis für die Tatsache, dass er erzählte, der Sohn Gottes zu sein.“
„Ja, das Leben von Jesus ist sowohl sehr tragisch als auch extrem hoffnungsvoll. Gott war bereit, seinen eigenen Sohn zu opfern, um uns wieder auf den rechten Pfad zu lenken.“
„Exakt, jedoch bin ich mir unsicher, was die Moral der Geschichte genau aussagen soll.“
Perplex schaute ihn Amadeus an.
„Inwiefern meinst du das?“

Nach kurzer Überlegung antwortete Charles: „So wie ich das verstanden habe, ist es was Gutes, sich gegen ein unterdrückendes System aufzulehnen, selbst wenn man die Gefahr eingeht, dabei zu sterben. Jesus gab sein Leben, aber rettete dadurch das von vielen anderen. Meinst du, Gott will uns diese Geschichte erzählen, weil er erwartet, dass wir seinem Beispiel folgen?“
Mit diesen Worten schaute Charles hinter sich in die Küche zu Maya und Amadeus folgte daraufhin seinem Blick.
„Angesichts unserer momentanen Situation sind wir definitiv nicht anders als die Menschen, welche von den Pharisäern kontrolliert und manipuliert wurden.“
Amadeus verstand, worauf Charles hinauswollte, und erwiderte: „Also denkst du, dass jeder die Rolle von Jesus einnehmen könnte?“
Innerlich jubelte Charles, als er das hörte.
Jawohl! Ich habe ihn genau da, wo ich ihn wollte. Zeit, den Sack zuzumachen.
„Ich denke, Gott möchte, dass wir es zumindest versuchen. Wir alle haben die Chance, einen Unterschied in dieser Welt zu bewirken. Sonst hätte er mit Sicherheit etwas getan, um uns diese Möglichkeit zu nehmen.“
„Für einige mag das zutreffen, aber sicherlich nicht für alle. Unser Potenzial ist zwar rein theoretisch grenzenlos, jedoch ist jedem von uns ein anderer Weg bestimmt“, fügte Amadeus unerwarteterweise hinzu.
„Jeder ist doch seines Glückes Schmied, wie man so schön sagt. Man sollte meiner Meinung nach versuchen, das Beste aus seinem Leben zu machen.“
Nach kurzem Schweigen fragte Amadeus: „Charles, kennst du die Geschichte von Hiob?“
Dieser schüttelte den Kopf. Langsam nahm Amadeus die Bibel von Charles und schlug das Alte Testament auf.
„Es geht um eine Wette zwischen Gott und dem Teufel. Dieser behauptete, dass dessen Anhänger ihm nur folgten, weil er ihnen einen so großen Segen gewährte. Sobald dieser wegfallen würde, wären sie ihm gegenüber mit Sicherheit nicht mehr so treu, wettete Satan. Gott ließ sich auf diese Wette ein und wählte einen seiner Anhänger, mit dem Namen Hiob, für diese schwere Prüfung aus. Er erlaubte Satan, Hiobs Besitz zu zerstören, seine Kinder zu töten und ihn mit einer Krankheit zu plagen. Doch auch als seine Brüder und sogar die Frau von Hiob ihn anbettelten, sich von Gott abzuwenden, bestand dieser seine Prüfung, lieferte den Gegenbeweis für Satans Anschuldigungen und wurde am Ende von Gott belohnt.“

Amadeus klappte die Bibel zu und wandte sich an Charles: „Was lernen wir wohl aus dieser Geschichte?“
„Sag du es mir!“, erwiderte dieser.
„Ich glaube, die Lektion ist, dass Gott uns nichts aufbürdet, was wir nicht schultern könnten. Schließlich ist Gott allwissend und war sich im Klaren, dass Hiob die Tortur des Satans überstehen würde. Wenn wir also nicht denselben Pfad wie Jesus beschreiten, dann weil Gott weiß, dass wir diesen nicht meistern.“
Nach einer kurzen Gedenkzeit fragte Charles: „Welche Rolle lässt Gott dir deiner Meinung nach zuteilwerden? Die Rolle eines Sklaven, der nur von anderen kontrolliert wird?“
Mit einem ruhigen Lächeln erwiderte Amadeus: „Gott testet mich.“
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, bevor Charles skeptisch in Richtung von Amadeus schaute. 
„Wie meinst du das?“
„Na, genauso wie bei Hiob. Er will sehen, ob ich die Plage, die mir Satan auferlegt hat, namens Maya, schultern kann, ohne meinen Glauben zu verlieren. Im Prinzip ist das, was sie mir bisher angetan hat, unheimlich wichtig für meine Entwicklung gewesen. Schließlich habe ich nur so zu Gott gefunden. Ich bin kein Untertan von Maya. Schon lange nicht mehr. Allein dem Vater im Himmel bin ich unterstellt und seinem Willen folge ich. Egal wohin mich dieser führt, ich bin überzeugt, dass nichts ohne Grund geschieht. Gott hält einen Plan und Weg für mich bereit, auf denen er mich behütet. So wie er es bei allen seinen Kindern macht.“
„Und was macht dich da so sicher? Vielleicht hasst dich Gott einfach. Ein Autor zum Beispiel erschafft auch nicht ausnahmslos Charaktere, die er liebt. Manchmal kreiert er sogar Figuren, die er hasst, damit diese als Antagonisten dienen. Manchmal wird auch ein einstmals geliebter Charakter durch seine Handlungen zu einem Ärgernis für seinen Schöpfer, welcher daraufhin einen Groll gegen diesen hegt.“
Für einen kurzen Moment lies Amadeus den Kopf hängen und schaute dann ohne einen Funken Selbstzweifel in die Augen von Charles. Sein Haar wehte wild in der frischen Abendbrise.
„Ich bin mir sicher, dass Gott mich liebt. Der wichtigste Beweis für seine Liebe wurde mir bereits gegeben. Schließlich heiße ich Amadeus – der von Gott Geliebte.“

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Kapitel: 8
Sätze: 1.199
Wörter: 17.282
Zeichen: 102.501

Kurzbeschreibung

『 Getauft in Flammen. Im Feuer geformt. Steck den Himmel in Brand. Ein Gott wird geboren. 』 Charles verliert seine Eltern bei einem Hausbrand, der offenbar durch seine frisch erwachten Magiekräfte ausgelöst wurde. Im Waisenhaus muss er bald feststellen, dass dieses unter der Kontrolle eines der Kinder steht, welches den anderen strenge Regeln auferlegt und diese bei Zuwiderhandlung durch grausame Bestrafungen in Angst und Schrecken versetzt. Unter den Waisen gilt daher nur eine Regel: Lehne dich niemals auf! Doch Charles stellt sich dem scheinbar aussichtslosen Kampf. Triggerwarnungen: • Kindesmisshandlung • Kindesmissbrauch • extreme Gewalt • Suizid • Selbstverletzung • Tod • Schimpfwörter

Kategorisierung

Diese Story wird neben Fantasy auch in den Genres Action, Thriller, Mystery und Philosophie gelistet.