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Statistik
| Kapitel: | 2 | |
| Sätze: | 192 | |
| Wörter: | 1.453 | |
| Zeichen: | 8.642 |
Es regnete. Schon wieder. Leo hasste November. Er war auf dem Weg zu diesem alten Lagerhaus, das er vor ein paar Monaten entdeckt hatte. Eigentlich war er nur da gelandet, weil er sich verlaufen hatte. Seine Orientierung war echt beschissen. Das Gebäude stand irgendwo zwischen Kreuzberg und... keine Ahnung. Zwischen einem türkischen Laden und einer Werkstatt, die schon ewig zu war. Leo war 25 und arbeitete in einem Plattenladen namens "Vinyl Dreams". Niemand kaufte mehr Platten. Sein Chef Herbert war alt, vielleicht 70, und redete sich ein, dass das Geschäft irgendwann wieder laufen würde. "Vielleicht morgen", sagte er jeden Abend.
Leo sagte meistens nichts dazu. Was sollte er auch sagen.
Das Lagerhaus war leer. Meistens. Manchmal war eine Katze da, die ihn immer so kritisch ansah. Heute saß sie auf einem Regal. Leo hatte angefangen, sie Sensei zu nennen, weil sie aussah, als würde sie ständig über ihn urteilen.
"Was guckst du so?", sagte Leo.
Die Katze miaute einmal.
Dann sah er es. Ein Paket. Lag einfach so da, zwischen Glasscherben und altem Dreck. In Plastikfolie eingewickelt. Sah irgendwie neu aus, aber das ergab keinen Sinn. Leo hob es auf. Die Katze miaute wieder, lauter.
"Mein Therapeut meint, ich soll öfter mal was Neues probieren", sagte Leo. Er wusste, dass das nicht gemeint war, aber egal. Er machte es auf. Drin: Fotos. Irgendwelche Leute, die er nicht kannte. Eine lange Nummer, zu lang für eine Telefonnummer. Und eine Pistole. Eine echte Pistole.
Leo starrte drauf.
"Fuck", sagte er laut.
Die Katze war schon weg. Einfach durch irgendein Loch in der Wand verschwunden. Leo stand da mit dem Paket. Er wusste, das war keine gute Idee gewesen. Aber jetzt hatte er es schon geöffnet. Was sollte er machen? Wieder hinlegen? Das fühlte sich auch falsch an.Er steckte es in seine Tasche.
Marcus Wolff war fünfzig Jahre alt, 1,91 Meter groß, und hatte in seinem Leben siebenunddreißig Menschen getötet. Er hatte sich die Zahl vor drei Jahren aufgeschrieben, während er betrunken war, und sie in eine Schublade gelegt. Seitdem weigerte er sich, nachzuzählen, weil er befürchtete, sich verzählt zu haben, und das wäre peinlich.
Er saß seit zwei Stunden in einem schwarzen Mercedes gegenüber einem verlassenen Lagerhaus und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht auch nur auf das Ende seiner Thermoskanne Kaffee, den er mit zu viel Zucker getrunken hatte, weil er vergessen hatte, dass er seit drei Jahren versuchte, gesünder zu leben.
Das funktionierte nicht besonders gut.
Dann kam der Junge.
Klein. Dunkle Kleidung. Eine Tasche über der Schulter, die zu groß für ihn aussah. Er bewegte sich wie jemand, der versuchte, unsichtbar zu sein.
Marcus beobachtete, wie der Junge aus dem Lagerhaus kam. Schneller als er reingegangen war. Die Tasche sah schwerer aus.
"Oh nein", murmelte Marcus. "Er hat es gefunden."
Das war nicht Teil des Plans gewesen. Der Plan war gewesen: Paket verstecken, drei Monate warten, Kontaktperson abholen lassen, Beweise an die richtigen Leute geben, vielleicht ins Zeugenschutzprogramm gehen und in einem verschlafenen Dorf in Bayern Bienen züchten.
Bienen waren einfach. Bienen stellten keine Fragen.
Aber natürlich kam die Kontaktperson nie an, weil sie vor zwei Wochen tot in einem Hotelzimmer gefunden worden war, und jetzt hatte ein zufälliger kleiner Typ mit schlechtem Timing das Paket.
Marcus startete den Motor.
Der Junge ging schnell. Marcus folgte ihm langsam.
Das war seine Spezialität gewesen: langsames, geduldiges Verfolgen. Wie eine sehr große, sehr gefährliche Schildkröte
Leo spürte das Auto, bevor er es sah. Das war eine Fähigkeit, die er in Berlin entwickelt hatte – ein siebter Sinn für "Dinge, die mir folgen und mich wahrscheinlich umbringen wollen". Meistens waren es Straßenbahnen. Heute war es ein Mercedes.
Er drehte sich um.
Scheinwerfer. Der Regen machte sie zu verschwommenen Kreisen aus Licht und blendeten ihn.
Leo ging schneller. Seine kurzen Beine bedeuteten, dass "schneller gehen" für ihn eher "aggressives Trippeln" war, aber er gab sein Bestes.
Das Auto folgte ihm weiter.
Leo bog in eine Gasse ein. Die Gasse roch nach nassem Karton. Oder vielleicht nur nach Müll. Schwer zu sagen.
Das Auto hielt. Eine Tür öffnete sich. Schritte.
Leo drehte sich um und dachte kurz daran zu rennen. Dann erinnerte er sich daran, dass seine Kondition hauptsächlich aus "drei Treppen steigen und dann fünf Minuten schwer atmen" bestand.
Der Mann war... groß.
Sehr groß.
"Du hast etwas gefunden", sagte der Mann.
Seine Stimme war tief. Die Art Stimme, die in Filmen "und dann explodierte alles" ankündigte.
Leo überlegte kurz zu lügen. Aber er war ein schrecklicher Lügner. Einmal hatte er versucht, Sabine zu sagen, dass er ihre selbstgemachte Lasagne mochte und sie hatte sofort gewusst, dass er log, weil seine linke Augenbraue anfing zu zucken.
"Vielleicht", sagte Leo.
"Das Paket", sagte der Mann. "Aus dem Lagerhaus."
"Okay, hypothetisch gesprochen – wenn ich zufällig über ein Paket gestolpert wäre, und hypothetisch würde dieses Paket eine Waffe enthalten, würden Sie mir dann erklären, warum jemand Waffen in verlassenen Lagerhäusern versteckt? Weil das erscheint mir als äußerst ineffiziente Lagermethode."
Der Mann starrte ihn an.
Leo starrte zurück.
"Wie heißt du?", fragte der Mann schließlich.
"Leo. Und bevor Sie fragen: Ja, wie das Sternzeichen. Nein, ich identifiziere mich nicht damit. Ich bin ein Skorpion."
"Ich habe nicht vor, nach deinem Sternzeichen zu fragen."
"Oh. Gut. Das wäre auch komisch gewesen."
Der Mann rieb sich die Schläfen, als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. "Ich bin Marcus."
"Hallo, Marcus. Schön, Sie kennenzulernen. Normalerweise treffe ich neue Leute in weniger bedrohlichen Kontexten. Zum Beispiel in Supermärkten. Oder Zahnarztwartezimmern."
"Ich habe das Paket vor drei Monaten dort versteckt", sagte Marcus. "Jemand sollte es abholen. Diese Person ist wohl tot."
"Oh." Leo schluckte. "Das tut mir leid."
"Mir auch. Sie schuldete mir noch zwanzig Euro."
War das... ein Scherz? Leo konnte es nicht sagen. Marcus' Gesicht war wie eine Steinmauer.
"Was ist in dem Paket?", fragte Leo.
"Beweise gegen sehr böse Menschen."
"Wie böse? Auf einer Skala von 'falsch geparkt' bis 'völkermörderisch'?"
"Menschenhandel."
"Ah. Das ist... definitiv am oberen Ende der Skala."
Marcus trat einen Schritt näher. Leo trat instinktiv einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand.
"Du bist klein", stellte Marcus fest.
"Wow. Wirklich? Ich hatte keine Ahnung. Danke, dass Sie das erwähnen. Mein ganzes Leben ist jetzt neu kontextualisiert."
Marcus blinzelte. Dann – und Leo hätte schwören können, dass er es sich einbildete – zuckte sein Mundwinkel. Nur eine Millisekunde. Aber es war da.
"Du hast Humor", sagte Marcus.
"Es ist eine Abwehrstrategie. Wenn ich Witze mache, kann ich nicht schreien."
"Funktioniert es?"
"Nicht wirklich. Ich schreie innerlich die ganze Zeit."
Marcus seufzte. Es war ein tiefes, langes Seufzen.
"Hör zu, Leo. Ich brauche das Paket zurück. Aber wenn du es mir jetzt gibst, werden die Leute, die mich suchen, dich trotzdem finden. Sie werden denken, dass du mehr weißt, als du tust."
"Und wenn ich es nicht gebe?"
"Dann werden sie dich definitiv finden."
"Das sind beides schlechte Optionen."
"Willkommen in meinem Leben."
Leo sah ihn an. Marcus hatte dunkle Augen mit goldenen Flecken, wie kleine Funken in einem Feuer, das fast ausgegangen war. Es gab Falten um seine Augen. Narben an seinen Händen. Er sah aus wie jemand, der zu viel erlebt hat.
"Was schlagen Sie vor?", fragte Leo leise.
"Morgen früh. Zehn Uhr. Das Café mit den roten Stühlen, Oranienstraße. Kennst du es?"
"Ja. Da machen sie guten Kaffee und schlechte Croissants."
"Genau das. Bring das Paket mit. Wir reden."
"Und dann?"
"Dann entscheiden wir, wie wir beide überleben."
Marcus drehte sich um und ging zurück zu seinem Auto.
"Marcus!", rief Leo.
Marcus hielt inne.
"Die Katze im Lagerhaus. Die dreifarbige. Kennen Sie die?"
Marcus drehte sich um "Sie war da, als ich das Paket versteckt habe. Hat zugesehen. Sehr kritisch. Als hätte sie bessere Verstecke vorschlagen können."
Leo lachte. "Sie ist so."
"Hat sie einen Namen?"
"Ich nenne sie Sensei. Weil sie aussieht, als würde sie über die Geheimnisse des Universums nachdenken. Oder über Thunfisch. Schwer zu sagen."
Marcus lächelte. Wirklich lächelte. Es verwandelte sein ganzes Gesicht.
"Sensei", wiederholte er. "Das passt."
Dann war er weg.
Leo stand allein in der Gasse, durchnässt, mit einem gestohlenen Paket und dem seltsamen Gefühl, dass sein Leben gerade eine Richtung eingeschlagen hatte, die definitiv nicht in seinem Fünfjahresplan stand.
Sein Fünfjahresplan war hauptsächlich: "Nicht sterben, vielleicht eine Katze adoptieren."
Das lief nicht gut.
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