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Bewertung
Statistik
Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 82 | |
Wörter: | 1.432 | |
Zeichen: | 8.721 |
Eine Geschichte, ein Roman, ein Märchen - diese Dinge gleichen den Lebewesen, und vielleicht sind es sogar welche. (Erich Kästner)
In der Bibliothek der Gelehrten, welche so gewaltig war, dass sie in einem riesigen Turm untergebracht werden musste, befand sich das gesamte Geistesgut der alten Welt. Jeder Person, die einst lebte, wurde ein Buch gewidmet, welches das Leben von Geburt bis zum Tod beschrieb. Es begann bei Orrorin tugenensis - dem ersten aufrecht gehenden Menschen - und endete bei Livia Ariande, die wiederum den letzten Ziegel des Turms an seinen Platz setzte und diesen somit fertigstellte.
Leaflet, die als Wächterin der Bücher und des Wissens galt, erfreute sich täglich an den diversen Geschichten. Besonders hatten es ihr dabei die Märchen der alten Welt angetan. Egal, wie oft sie diese las, sie blieben spannend und erwärmten ihr Herz. Doch am heutigen Tag stimmte etwas nicht.
Es war nicht der Schnee, der im Hochsommer seinen Weg vom Himmelszelt zum Erdreich zurücklegte und eine blütenweiße Decke über die Wälder warf, in welchen der Turm errichtet war. Es war der dunkle Schatten, der sich Eintritt in die Gemäuer der Bibliothek verschafft hatte. Die Dunkelheit verschluckte das reine Licht der Bibliothek und hüllte sein Inneres in einen unheilvollen Nebel.
Die Wächterin bahnte sich ihren Weg durch den dichten Nebel. Dieser sorgte dafür, dass sie ihre eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. Es war beinahe so, als würde sie sich in einem leeren Raum befinden, aus dem es kein Entkommen gab. Das Einzige, was sich Leaflet offenbarte, waren glühende Runen, die sich scheinbar mit dem dunklen Nebel fortbewegten.
Leaflet, welche den Untergang der Menschheit mit angesehen hatte, war sofort bewusst, was dieser unnatürliche Nebel war. Dieser war das Chaos, das die Welt und ihre physikalischen Gesetze durcheinander brachte und deren Bewohner verschluckte. Somit war die Welt von ihren Zivilisationen und der Plage, bekannt als die Menschheit, befreit. Was zurückblieb, war die Welt, wie sie einst war.
Die Natur holte sich zurück, was einst ihr gehörte. Ganze Städte waren zu Ruinen verkommen und wurden die neue Heimat der einheimischen Pflanzen- und Tierwelt. Das Chaos war somit viel mehr die Reinigung der Welt, als eine Katastrophe. Der einzige Ort, der unberührt blieb, war die Bibliothek der Gelehrten - bis jetzt.
Das Chaos entfernte sich von Leaflet und konzentrierte sich als dunkler Strudel inmitten der unzähligen Bücherregale. Anschließend materialisierte es sich schließlich in der Form einer übergroßen Frau. Die Runen überzogen die pechschwarze Haut der Gestalt, welche sich wiederum konstant windete. Die Frau öffnete ihre glühenden Augen und blickte Leaflet an.
»Leaflet ... Göttin des Wissens und Wächterin der Erinnerungen«, dröhnte die widerhallende Stimme des Chaos durch die Hallen. Dabei bebten sowohl Boden als auch die Wände und Bücherregale der Bibliothek. Einige Bücher, die Leaflet zuvor mühevoll einsortiert hatte, fielen aus den Regalen, erreichten jedoch niemals den Boden, da das Chaos die lokale Gravitation störte. Somit schwebten die Bücher rings in der Dunkelheit umher.
»Umbra«, entgegnete Leaflet. »Wir hatten eine Abmachung.«
»Wahrhaftig. Doch ich besuche lediglich meine kleine Schwester und erfreue mich an ihrem Zeitvertreib.«
Umbra griff mit ihrer Hand nach einem Buch, das soeben an ihr vorbeischwebte und las den Titel auf dem Einband. Hansel und Gretel. Über den gesamten Folianten erstreckten sich die Runen und es wurde von dem dunklen Rauch des Chaos verschleiert. Die Dunkelheit des Chaos durchdrang die einzelnen Seiten des Buches, welche dadurch begannen zu altern.
Bei leerem Magen sind alle Übel doppelt schwer. (Christoph Martin Wieland)
Es war einmal ein Zwillingspaar, dessen Familie Hunger litt. Doch die Eltern der Geschwister waren herzlose Kreaturen und beanspruchten sämtliche Nahrungsvorräte für sich. Somit entschlossen sich die hungernden Zwillinge allein in den düsteren Wald zu gehen, um nach möglicher Nahrung zu suchen. Als Reiseproviant stahlen sie lediglich einen trockenen Laib Brot.
Bereits zum dritten Mal marschierten Hansel und Gretel an einer alten Weide vorbei, die ihre Äste wie Arme nach ihnen erstreckte. Einer dieser Äste wurde von dem Bruder, der voranging, zur Seite geschoben. Sobald er diesen jedoch passierte, schnellte der Ast zurück und peitschte Gretel mit immenser Geschwindigkeit ins Gesicht. Dadurch wiederum verlor sie das Gleichgewicht und stürzte in die feuchte Erde des Waldbodens.
Sobald Hansel dies bemerkte, rannte er zu seiner Zwillingsschwester hinüber, die ihm das Teuerste der Welt war. Er kniete sich zu Gretel in den matschigen Boden und überprüfte zuerst einmal die Verletzung im Gesicht seiner Schwester. Beruhigt atmete Hansel aus, als er feststellte, dass es sich bei der Verletzung nur um eine oberflächliche Wunde handelte.
»Brauchst du eine Pause«, fragte Hansel seine Schwester mit besorgter Stimme.
Gretel schüttelte ihren Kopf und sah schließlich mit ihren blassblauen Augen den besorgten Bruder an. »Mach dir keine Sorgen um mich. Wir müssen weiter.«
Hansel half seiner Schwester auf und sie führten ihren Weg durch den Wald gemeinsam fort.
Nach einer Weile der Reise kamen sie ein viertes Mal an der Weide vorbei. Frustriert seufzte Hansel, da er die Weide aufgrund des Unfalls von zuvor erkannte. Durch ihre geistige Verbindung, verstand Gretel, dass mit ihrem Bruder etwas nicht stimmte und stupste ihn an.
»Was beschäftigt dich?«
»Wir laufen im Kreis«, gestand Hansel seiner Schwester. »Wir kommen einfach nicht voran! Und zurück finden wir sicherlich auch nicht mehr«, stieß der Bruder verärgert aus.
»Willst du denn überhaupt zurück«, fragte Gretel begierig.
»Nein. Ich ... ich weiß es wirklich nicht.«
Zu allem Überfluss begann es nun auch noch zu regnen.
Gretel setzte einen nachdenklichen Blick auf, um ihrem Bruder zu signalisieren, dass sie an seinem Leid teil hatte. Sie streichelte wehmütig den bereits durchnässten Rücken ihres Bruders und lächelte ihn aufmunternd an. Die Woge der Zuneigung, die soeben Hansel durchfuhr, gab ihm neue Kraft und er nickte seiner Schwester zustimmend zu.
»Was auch immer passiert, wir schaffen das gemeinsam«, meinte Hansel. »auch, wenn wir uns eine Hütte im Wald bauen müssen«, beendete Gretel ermunternd den Satz ihres Bruders.
»Momentan wäre es jedoch genug, wenn wir eine Möglichkeit entwickeln, nicht weiterhin im Kreis zu marschieren«, mutmaßte Hansel.
»Wir haben uns doch dieses eine Brot geliehen. Wir könnten etwas davon opfern, um uns zurechtzufinden.«
Hansel nickte Gretels Idee zustimmend ab und nahm den Jutebeutel, den er mit sich führte, von seiner Schulter. Diesen stellte er auf den Boden und öffnete ihn anschließend. Hansel reichte hinein und ergriff den trockenen Laib Backware, den er wiederum hervorholte.
Der Weg des Geschwisterpaares wurde fortgeführt und Hansel ließ in geeignetem Abstand Brotkrumen zurück, damit sie sich zurechtfinden konnten. Und wie durch magische Einwirkung kamen sie durch diese Methode nicht noch ein fünftes Mal an der alten Weide vorbei.
Die Reise der Zwillinge führte sie schließlich an einen ruhigen Bach. Erschöpft und durstig, wie sie beide waren, legten Hansel und Gretel eine Pause ein. Kurz nachdem Hansel seinen Jutebeutel in den matschigen Boden stellte, kramte Gretel einen handgroßen Flakon heraus und entfernte den Korken von dessen Hals. Sie hockte sich vor den Bach und hielt den offenen Behälter gegen die Flussrichtung, wodurch dieser mit halbwegs sauberem Wasser gefüllt wurde.
Hansel setzte sich in das niedrige Gras und streckte die verausgabten Beine von sich. Dabei war es ihm restlos egal, dass der Matsch des feuchten Bodens durch das Textil seiner braunen Leinenhose sickerte. Nach anfänglichem Zögern setzte sich nun auch Gretel zu ihrem Bruder. Sie hingegen winkelte ihre Beine an und lehnte sich gegen die Schulter Hansels. Die Flasche fand ebenfalls Platz auf der tropfnassen Wiese, direkt neben Gretels Füßen.
Die Sonne verschwand bereits zu zwei Dritteln hinter dem Horizont. Anhand des warmen Abendrots, zu dem sich der Himmel wandelte, war zu erkennen, dass sich der Tag allmählich dem Ende neigte. Auch der Regen ließ langsam aber sicher nach. Es wurde ruhig, wie nach einem Sturm. Auch ein frischer Duft stieg in den Himmel hinauf.
Gretel bemerkte, dass ihr Bruder Hansel bereits vor Erschöpfung ins Land der Träume übergewandert war. Seine Lippen zierte jedoch ein zufriedenes Lächeln, was durch die andauernden Tiefen des heutigen Tages eher ironisch wirkte. Darüber machte sich das Mädchen jedoch keine andauernden Sorgen und schmiegte sich an die Schulter ihres Bruders.
Auch Gretel zählte einige Augenblicke später Schäfchen und schlief an der Schulter Hansels ein.
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