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Kapitel: | 14 | |
Sätze: | 4.023 | |
Wörter: | 44.836 | |
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Adivs Gesicht glänzte vor Anstrengung. Sie zog den Lappen zu sich heran und wrang ihn über dem hölzernen Eimer aus. Dann hielt sie inne, warf seufzend einen Blick auf den Treppenabsatz unter sich, klatschte den Schmutzlappen auf die nächste Stufe und beobachtete, wie er Schlieren auf der Stiege hinterließ.
Männerlachen ließ sie zusammenzucken. Sofort stülpte sie die Kapuze über und vertiefte sich in ihre Aufgabe. Ihre geröteten Hände schoben den Lappen über die ausgetretenen Stufen. Verborgen unter langen Haarsträhnen huschten ihre Augen hin und her, während sie sich so klein wie möglich machte.
Hinter ihrem Rücken betraten vier massige Männer den Raum der Kommandantur. Adiv hörte, wie sie sich lautstark unterhielten, sich gegenseitig Gehässigkeiten an den Kopf warfen. Eine Mischung aus Schweiß, Pfeifenqualm und Branntwein wehte zu ihr hinauf. Leise wischte sie weiter, obwohl die Stufe bereits blank gescheuert war.
Ihr Atem beschleunigte sich, als die Gespräche verstummten und sie die Blicke der Männer in ihrem Rücken spürte. Stiefeltritte näherten sich und jemand beugte sich über sie. All ihre Muskeln spannten sich an.
„Wen haben wir denn da?“, hauchte eine heisere Stimme.
Ekel wallte in ihr auf, als sie den alkoholsauren Atem roch und Speicheltropfen auf ihrer Wange fühlte. Sie wagte es nicht, die Augen zu heben.
Eine Hand riss sie auf die Füße. Der Wärter, der sie am Arm gepackt hielt, erinnerte sie an die Schränke aus Hartholz, die das Zimmer des Kommandanten schmückten. Sein Griff war brutal, seine von farblosen Wimpern umkränzten Augen stechend. Das Gesicht glich dem eines wütenden Kampfhundes, grobschlächtig, grobporig, von ungesundem Rot, mit einem Geflecht aus Äderchen zu beiden Seiten der fleischigen Nase.
„Du hast mit deinem Drecklappen meine Stiefel berührt“, knurrte er.
Adiv biss sich auf die Zunge. In Gedanken hörte sie ihre Mutter. Halte deine Zunge im Zaum. Dein loses Mundwerk wird dich noch in Schwierigkeiten bringen. Sie stand mit ihren Eltern auf Kriegsfuß, seit sie den Kinderschuhen entwachsen war, aber manche Ratschläge beherzigte sie. So hielt sie den Blick gesenkt, versuchte, das Johlen der anderen Männer zu überhören.
„Verzeiht, Herr“, presste sie hervor. „Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Verflucht noch eins, da hast du recht“, riss er ihren Arm so heftig zur Seite, dass sie gegen die Wand torkelte.
Sie schrie auf und umklammerte ihre Schulter. Eine Strähne ihres rotgoldenen Haares löste sich und fiel ihr in die Stirn. Hastig schob das Mädchen sie wieder zurück.
„Ho, unter all dem Dreck scheint eine kleine Schönheit zu stecken“, rief einer der Kumpane.
„Scheint dein Glückstag zu sein, Jorgen“, lachte ein zweiter meckernd.
Der Angesprochene knurrte zustimmend und wollte ihr die Kapuze vom Kopf reißen. Adiv kniff die Augen zusammen und wehrte den Mann mit beiden Händen ab.
„Die kleine Hexe widersetzt sich“, stieß Jorgen belustigt aus und griff erneut nach ihrer Kopfbedeckung. Seine Faust krallte sich in ihren Schopf, zog an ihren Haaren. Verzweifelt rang Adiv mit dem zunehmend erzürnten Wärter.
Gerade, als er die Faust zum Schlag hob, trat ein Mann an das Geländer im oberen Stockwerk.
„Jorgen.“
Das Wort hatte die Wirkung eines Geschosses. Die Wärter verstummten und sahen den Mann auf der Treppe an. Er war klein, von schmaler Statur, gerade gewachsen wie die Kiefern rund um K’yr. Sein Gesicht war unscheinbar, seine strohfarbenen Haare so kurz geschnitten, dass die Kopfhaut durchschimmerte.
Jorgen ließ das Mädchen los. „Kommandant. Sie…“
Der Befehlshaber winkte uninteressiert ab. Er nickte in Richtung seines Zimmers, bevor er mit einem langen Blick Jorgen maß, sich straffte und ihnen allen den Rücken zuwandte.
Die Männer stapften an Adiv vorbei nach oben. Jorgens Adamsapfel hüpfte, während er mit den Kiefern mahlte. Im Vorbeigehen griff er den Eimer, stellte ihn auf der obersten Stufe ab. Adiv schloss die Augen und verfluchte ihn und seine Brut still, als der Stiefel den Kübel nach unten stieß.
Vom Haus des Kommandanten aus rannte Adiv in die Küche. Sie schleuderte den Eimer in die nächstbeste Ecke und griff an dem schimpfenden Küchengesellen vorbei nach Holznapf, Brot und Wasserkanne. Nebenher schenkte sie ihrer besorgt aussehenden Freundin ein Lächeln und hastete dann quer über den staubigen Hof. Mit dem Fuß stieß sie eine schief in den Angeln hängende Tür auf und tauchte in das muffige Halbdunkel ein. Ratten huschten zur Seite.
Nach mehreren Zwischentüren gelangte sie in einen fensterlosen, modrig riechenden Raum, an dessen Wänden schwarzer Schimmel hochkroch. Durch das Türloch spähte sie in das dahinterliegende Zimmer.
Chries saß an einem ausladenden Tisch, vor sich einen Stapel Pergamente und Schriftrollen.
Befehle, Anweisungen, Regularien, schätzte sie.
Sie nahm sich Zeit, ihn zu begutachten. Sein ebenmäßiges Gesicht. Die muskulöse Gestalt in der engen Bekleidung der Offiziersanwärter. Seine Uniform wies den verwaschenen Grauton auf, den Kleidung und Haut in der Boragha annahmen, weil Staub und Kälte alle Farben ausbleichten.
Suppe und Wasser in einer Hand balancierend, steckte sie den Kanten in die Kitteltasche, straffte ihre Schultern, warf die Kapuze nach hinten und zog den Gürtel um ihre Taille enger. Ihre Hand strich über ihre Locken. Gern hätte sie ihr Gesicht überprüft, doch ein Spiegel war nicht zur Hand. Verhalten klopfte sie an. Durch das Türloch beobachtete sie, wie Chries sich vom Tisch erhob, seinen Rock straff zog und mit eckigen Schritten zur Tür kam. Noch fehlte ihm die arrogante Haltung und aggressive Mimik der älteren Wärter.
Seine Augen weiteten sich, als er sie gewahrte. Sie zögerte kurz, dann schlüpfte sie an ihm vorbei. Unbeholfen trat er zur Seite und blieb am Tisch stehen, während er sie betrachtete. War es Wohlgefallen, das sie in seinen Augen las? Mit brennenden Wangen dachte sie an die Schmutzschicht auf ihrem Gesicht, an den Geruch aus Staub und Schweiß, den ihr Körper verströmte.
Er bemerkte, dass sie auf ihn wartete, räusperte sich und schaufelte Pergamente, Tintenfass und Federn beiseite.
„Du bist spät heute.“ Es waren die ersten Worte überhaupt, die er an sie richtete.
„Verzeiht, Herr“, murmelte sie.
„Du siehst anders aus als sonst.“
Innerlich lächelte Adiv. In der Regel vergaß er ihre Anwesenheit, schreckte zusammen, wenn sie das leere Geschirr abräumte. Heute dankte er ihr für die Mahlzeit.
Sie trat in eine der Nischen des Raumes zurück und wartete, während er sein Abendmahl zu sich nahm. Ein unangenehmes Schweigen trat ein, unterbrochen nur vom Klappern des Löffels und Schluckgeräuschen.
Nachdem er Suppe, Brot und Wasser hinuntergestürzt hatte, bedeutete er ihr, abzuräumen. Sie ergriff Napf und Kanne und ging langsam an ihm vorbei nach draußen. Der weite Ärmel ihres Kittels berührte ihn flüchtig. Als sie die knirschende Holztür aufstieß, warf sie einen Blick über die Schulter zurück auf den jungen Wärter. Er reagierte mit einem flüchtigen Lächeln.
Seufzend brachte Adiv das Geschirr zurück in die Küche. Gleich darauf stand sie in dem von hohen Gebäuden bedrängten Hof, betrachtete die Mauern, die in den grauen Himmel hineinragten. In Gedanken analysierte sie die Begegnung mit dem attraktiven Offiziersanwärter.
Sie gestattete sich nur wenige Minuten für dieses Vergnügen, dann schoben ihre Instinkte sie weg von dem Platz, der von zu vielen Seiten eingesehen werden konnte.
Sie steckte die Haare zu einem Knoten auf, stopfte einzelne wirre Strähnen hinter die Ohren, stülpte die Kapuze wieder über ihren Kopf. Den Gürtel lockerte sie, sodass der Kittel ihre Figur nicht mehr betonte, bevor sie den Weg durch die Gebäudeschluchten zu ihrem Wohnverschlag antrat.
Die Route, die sie für den heutigen Heimweg auswählte, hätte jeden Uneingeweihten in die Irre geführt. Trotzdem sah sich Adiv ständig nach allen Seiten um und bewegte sich mit eiligen Schritten. Ihr Körper blieb angespannt, bereit, bei jeder verdächtigen Bewegung einen Haken zu schlagen.
Bis sie den unterirdischen Bretterverschlag erreichte, den ihre Familie Zuhause nannte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass es Chries‘ Zurückhaltung war, die ihr am meisten gefiel. Er schien anders als die Grobiane. Das Gefängnis wimmelte von armen Geschöpfen, denen die Wärter Gewalt angetan hatten; wandelnde Leichen, Hüllen mit abgestorbenen Empfindungen. Und es gab viel zu viele Kinder, die niemandem gehörten.
Die meisten Frauen überlebten die Zudringlichkeiten. Andere fand man nie wieder. Das unüberschaubare Gewirr von Schluchten, Gängen, Höhlen, Kanälen und Verschlägen bot viele Verstecke. Als Militärangehörige mussten die Übeltäter sich nicht einmal vor der Kaisermiliz fürchten, die Recht und Ordnung im Dran‘bara ausübte. Nur wenige Vorfälle drangen überhaupt zu den Behörden auf Yruish oder Prant. Kaadaa’boragha war sich überlassen, Niemandsland, ein eigener Staat. Das Leben hier regelten Wärter und Gefangene unter sich. Nur auf dem Papier war der Gefängniskoloss noch Yruish unterstellt. Es gab keine Gitter, die Insassen und Aufseher trennte. Lediglich die Uniform und das öffentliche Tragen von Waffen unterschieden die Wärter von dem Pack, das über und unter der Erde hauste.
Nachforschungen, munkelte man, gab es nur, wenn das Mädchen aus einer der sagenhaften Insassenfamilien stammte. Geschlechter, die seit Generationen in der Boragha lebten und ihre eigenen Regeln befolgten. Niemand kannte sie, aber jeder wusste, dass sie existierten. Angeblich residierten sie in Palästen, ganz wie die Kaiserfamilie auf Yruish. Hinter vorgehaltener Hand wurde aber auch gewispert, dass sie in Löchern viele Klafter tief im Erdreich hausten.
Adivs Mutter hielt beide Versionen für Ammenmärchen, winkte ab, wann immer sie mit Fragen über die Majestes löcherte. „Spukgestalten für unartige Kinder. Hoffnung für all die Verzweifelten hier. Sie leben nirgendwo. Außer in der Fantasie der Menschen.“
Zum Glück waren Adivs Begegnungen mit den Wärtern immer glimpflich ausgegangen, so wie vorhin. Ein Angstschauer rieselte über ihren Rücken, als sie an die gierigen Augen des Bulldoggengesichtes dachte. Rasch legte sie ihre Fingerspitzen aneinander und schlug sich zweimal auf die Brust.
Während sie an Urinpfützen vorbei lief, grübelte sie, was sie falsch gemacht hatte, wie sie der Gefahrensituation aus dem Weg hätte gehen können, aber ihr fiel nichts ein. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Dieser Gedanke machte sie so wütend, dass sie sich mit der Faust in die Handfläche boxte.
Als sie schließlich mehrere Meter unter der Erde in der Nähe einer der älteren Kloaken anlangte, schwitzte sie. Pestilenzartiger Gestank strömte aus der Kloake. Hinzu kam der Geruch von ungewaschenen Menschen, Rattenkadavern und schwammiger Fäulnis. Sie hatte Mühe zu atmen, schlug ein Halstuch vor Mund und Nase.
Wie alle Menschen hier unten nahm Adiv nur noch die intensiveren Nuancen wahr. Sie fragte sich, wie sie wohl für Chries roch. Als Wärter lebte er oberirdisch in einer der doppelstöckigen Baracken. Wahrscheinlich in einer fensterlosen Nische in einem der Mannschaftsräume.
Heißer Schrecken durchfuhr sie, als sie sich vorstellte, wie ihr schmuddeliger Kittel Chries‘ Uniform berührt hatte. Verstohlen hob sie ihren Ärmel an ihre Nase, fluchte und nahm sich vor, Aan nach einem Duftstoff oder einer Seife zu fragen. Aan kam von draußen und kannte sich mit so etwas besser aus.
Adiv sprang über ein ölig schimmerndes Rinnsal, umrundete einen Betrunkenen mit abgeschlagener Hand und wich einem geifernden Köter aus. Endlich erreichte sie die Tür aus zusammengezimmerten Holzlatten. Diffuses Licht flackerte durch das Wachspapier an der Innenseite.
„Tochter“, begrüßte ihr Vater sie auf ihre flüchtige Verbeugung hin. Er sah kaum von dem Buch auf, das er schon hunderte Male gelesen haben musste und wie einen Schatz hütete. Adiv ging zu ihm und streifte seine Wange mit einem Kuss. Wie jeden Tag kam sie dieser Aufgabe nur widerstrebend nach.
Nachdem sie die Berührung mit unangebrachter Hast hinter sich gebracht hatte, machte sie sich an die Zubereitung des Abendmahls. Bald schon rumorte sie in der Küche, klapperte mit Geschirr, kramte in Behältern, verrückte Utensilien. Ihr Vater runzelte die Stirn und rutschte in seinen Stuhl, das Buch wie einen Schild vor sich haltend. Wie jeden Abend genoss Adiv ihre Revanche für den lästigen Tochterkuss.
Während die Rüben kochten und das Brot in heißem Fett zischte – ihr Vater verzog bei diesen Tönen das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen – zündete Adiv weitere Kerzen an. Mit Tintenzeichnungen und Holzkohleformeln bekritzelte Wände tauchten aus der Düsternis auf. Obskure Gemälde von menschlichen und unmenschlichen Kreaturen. Wegeskizzen, Landkarten. Unleserliche Abfolgen von Ziffern und Buchstaben.
Pünktlich zum Essen öffnete sich die Tür und eine winzige Frau trat ein. Ihre grauen Haare klebten an ihrem Kopf. Tiefe Furchen zeichneten ihr Gesicht. Ihr Mund war eingefallen, blutige Krater bedeckten Wangen und Stirn. Schnell huschten ihre Blicke über Adiv, dann griff sie mit der linken Hand nach dem Schöpflöffel und füllte die angeschlagenen Blechteller mit der dünnen Suppe. Sie trug einen Teller zu ihrem Mann, der das Essen mit der gleichen Beiläufigkeit in sich hinein schlang, mit der er seine Tochter begrüßt hatte.
„Bedank dich nicht, alter Wirrkopf“, murmelte Adivs Mutter in sich hinein, während sie sich im Schneidersitz gegenüber ihrer Tochter niederließ. Der einzige Stuhl der Behausung war dem Bücherleser vorbehalten.
Schweigend schlürften sie die Suppe, jeder in seine eigenen Gedanken versponnen. Löffel kratzten über Blech.
„Planst du einen Besuch bei Aan?“
Adiv schreckte hoch. „Was? Ja. Ja, ich wollte hin.“
Die Mutter kniff die Augen zusammen. „Ist etwas vorgefallen heute?“
Auf Adivs Wangen erschienen zwei rote Flecke. „Nein. Das heißt, doch. Etwas Dummes. Mein Eimer fiel um und das Schmutzwasser ergoss sich durch den Eingangssaal der Kommandantur. Ich musste frisches Wasser holen und die Halle trocken wischen. Dadurch habe ich das Essen für den Wärter im Südhof verspätet gebracht.“
„Gab es Ärger?“
„Nein. Du kannst beruhigt sein.“
„Sieh dich besser vor in Zukunft. Um deine Arbeit reißen sich die Leute. Solche Fehler darf man sich nicht erlauben.“
„Ich weiß. Du hast es mir schon hunderte Male erzählt.“
Nach einer Ewigkeit wanderten die Augen der alten Frau zu ihrem Mann, der nur wortlos den Kopf schüttelte.
„Wenn du zu Aan gehst, sei vorsichtig“, griff die Mutter den Faden von vorhin auf. „Es ist Letzte Nacht.“
„Ist es schon wieder soweit“, seufzte der Vater und krümmte sich wie ein verwundetes Tier.
Die Letzte Nacht feierten nur die Wärter und einige der älteren Gefangenen, denen jede Gelegenheit auf einen Becher Branntwein recht war. Für die anderen Insassen war es nur der Abschluss eines weiteren Jahres in der Hölle. Kein Grund zum Feiern, eher ein Tag des Kummers. Für viele außerdem ein Tag der Angst, sobald der Alkohol alle Hemmungen nahm.
Ausnahmsweise teilte Adiv die Abneigung ihres Vaters. Trotzdem würde sie sich vor die Tür wagen, denn ihre Freundin Aan schaffte es immer, eine Flasche Prantener Branntwein zu besorgen. Woher ihre Beute stammte, verriet sie nie, nicht einmal, wenn der Wein ihre Zungen lockerte. Adiv war sich nicht sicher, ob sie überhaupt wissen wollte, wie Aan an die Schätze gelangte.
Ihre Eltern würden sich in ihrer Unterkunft verbarrikadieren wie die meisten Bewohner und hoffen, dass man sie in Ruhe ließ. Adiv zog es zu Aan und Arlen, zu Fröhlichkeit und Ausgelassenheit. Arlen würde Geschichten deklamieren, ihnen Lieder vorsingen, sie kitzeln, dass sie vor Lachen zur Seite kippten.
„Adiv!“, drang die ärgerliche Stimme ihrer Mutter in ihr Bewusstsein.
Benommen schüttelte sie ihre Gedanken ab.
Ihre Mutter wies auf das schmutzige Geschirr. Adiv kam dem stummen Befehl nach.
Sie passierte mehrere Windungen, bis sie an einem verrotteten Rohr stoppte, das aus einer Erdwand ragte. Aus dem Rohr tröpfelte ein dünnes Rinnsal Wasser, das aus einem Regenbecken unter die Erde abgeleitet wurde. Ungeduldig hielt Adiv den Lederschlauch an das Bächlein, lauschte nach allen Seiten. Nachdem der Schlauch gefüllt war, eilte sie zurück zu ihrer Wohnung.
Inzwischen war ihre Mutter damit beschäftigt, eine Münze zwischen den Fingern ihrer linken Hand zu balancieren. Sie war so in ihre Übung vertieft, dass sie ihrer Tochter keine Beachtung schenkte. Die Nase ihres Vaters steckte in seinem Buch. Sie hörte ihn unverständliche Worte murmeln und in den steifen Seiten rascheln; Geräusche, die sie seit ihrer Geburt begleiteten.
„Seniler Wirrkopf, hör auf zu lärmen“, sagte ihre Mutter, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
Der Alte plinkerte irritiert, runzelte die Stirn und streckte eine gelb gefleckte Zunge heraus. Aus heiterem Himmel blinkte etwas in der staubigen Luft auf. Adivs Vater ließ sein Buch los und umklammerte mit beiden Händen den Hals. Adiv stand wie erstarrt, den Schlauch in den Fingern, derweil ihr Vater eine Münze von seiner Zunge klaubte. Er betrachtete sie, indem er sie nah vor seine halb blinden Augen hielt.
„Yvas’ hübsches Antlitz, sieh an“, lachte er meckernd, als er die einstige Kaiserin auf dem Goldstück erkannte. „Diese Münze ist älter als ein Jahrhundert. Sie dürfte draußen einiges wert sein. Wo hast du sie her, Alte?“
Adivs Mutter zuckte mit den Achseln. „Hab sie seit einer Ewigkeit.“
„Eine Trophäe?“
Jetzt entblößte Adivs Mutter ihre verbliebenen Zähne zu einem Feixen. Ihre Augen glitzerten triumphierend. „Am Tag unserer Ankunft nahm ich sie einem Wärter ab. Er war so vertieft in seine Mission, uns zu läutern, dass er nicht einmal bemerkte, wie meine Hand in seine Tasche glitt.“ Sie lachte bei der Erinnerung.
„Du hast nichts von deiner Geschicklichkeit verloren.“
„Vor zwanzig Jahren wäre sie deine Kehle hinunter gerutscht.“
„Doch überlege, in welchem Zustand du sie zurückbekommen hättest.“
„Zu wissen, wie du dich durch deine Ausscheidungen wühlst, wäre es wert gewesen.“
Wehmütig beobachtete Adiv das Geplänkel. Kindheitserinnerungen überschwemmten sie. Erstaunt stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, wie außergewöhnlich ihre Eltern einst gewesen waren. Wie viel frohmütiger und gesprächiger. Bis das Schweigen Einzug gehalten hatte. Wann war das passiert?
In diesem Moment wandten sich ihre Eltern verlegen voneinander ab. Ihr Vater warf die Münze zurück. Ihre gnomenhafte Mutter fing sie mit drei Fingern, ließ sie in eine der verborgenen Taschen ihres Kittels gleiten.
Adiv schüttete das Wasser in einen Bottich, säuberte das Geschirr, wischte ihre Hände an ihrem Kittelkleid ab. „Ich gehe. Wartet nicht auf mich“, verkündete sie.
„Geh den langen Weg“, riet die Mutter beim Hinausgehen.
Adiv öffnete den Mund, um aus Gewohnheit zu widersprechen, nickte dann aber. Das Gezänk ihrer sonst so verschlossenen Eltern stimmte sie wohl sentimental.
Im Alter von drei Monaten wurde er von Koliken gequält, die so schlimm waren, dass sein Körper sich vor Schmerzen aufbäumte. Am Abend des vierten Tages peinigte ihn ein besonders heftiger Anfall. Er schrie so ungestüm, dass er sich an seinem Speichel verschluckte. Da er zu ersticken drohte, lief seine Amme zu seiner Mutter. Die Bedienstete war unerfahren und neu am Hof, aber sie wusste, dass sie sich in Gefahr brachte. Dennoch holte sie die Mutter, stammelte von Vergiftung, Mord und Tod, schlug die Hände vor das Gesicht und flüchtete aus dem Raum.
An diesem Abend erschien seine Mutter in seinen Gemächern und der Junge erlebte, wie ihre Umarmung sich anfühlte. Erstaunlicherweise beruhigte er sich. Ihm ging es zusehends besser. Die Hofangestellte überlebte ebenfalls, wurde jedoch öffentlich gerügt, weil sie sich nicht an das Protokoll gehalten hatte.
Drei Jahre später tauchte seine Mutter erneut in der Tür auf. Daran konnte er sich erinnern. Sie verscheuchte die Wachen und seine Kindermädchen mit knappen Handbewegungen, schritt händeknetend vor dem Kaminfeuer auf und ab, rang um Worte. Dann erzählte sie ihm, dass sein Vater gestorben war. Er sah ihre Augen im Feuerschein glitzern, aber ihre Gestalt blieb aufrecht, ihre Stimme fest. Er trat auf sie zu und sie umarmte ihn. Hernach ging sie.
Ein Jahr darauf kam sie wieder. Abends. Allein. Er lag im Bett und fieberte. Sein Herz schlug rasend, sein Körper verbrannte. Er delirierte und konnte sich kaum an die Nacht erinnern. Doch er wusste, dass sie an seiner Seite gesessen, seine Stirn mit Umschlägen gekühlt, ihm Lieder vorgesungen und Geschichten erzählt hatte.
Nachdem ihn die Lanze in die Luft gehebelt hatte, lag er im Zelt, umringt von Ärzten und Quacksalbern. Er sah sie in der aufgeregten Menge stehen, bleich, gefasst. Sie blickte auf ihn herunter, besorgt und so voller Schmerz, dass sein eigener sich darin auflöste. Sie sprach nicht, zumindest nicht in Worten, bevor sie sich umwandte und das Zelt verließ, ihren neuen Gemahl im Schlepptau.
Ylaiy y’l Yrvois befeuchtete seinen Zeigefinger an seiner Zunge und schlug eine Seite um. Kurz sann er darüber nach, wie viele nasse Finger und schweißige Hände vor ihm die Pergamentseiten berührt haben mochten. Ekel durchfuhr ihn. Gleichwohl versenkten sich seine Augen wieder in die ebenmäßigen Buchstabenkolonnen und er vergaß seinen flüchtigen Eindruck.
Der junge Mann hatte viele Namen und Titel und er kannte sie alle auswendig. Er war der Sohn der Kaiserin und damit Erbe des Reiches. Daneben war er Verwalter über verschiedene Grafschaften, Träger zahlreicher geistlicher und akademischer Ränge, Oberhaupt diverser öffentlicher und halböffentlicher Einrichtungen, Sprecher mehrerer Bildungsinstitutionen. Er fürchtete sich vor dem Tag, an dem er den Überblick über all seine Verpflichtungen verlieren, an dem sein Verstand ihn im Stich lassen würde.
In vielen Nächten geisterten Ahnenreihen durch seine Halbträume. Namen von Männern und Frauen, die einst das Inselreich regiert hatten. Menschen, die zusammengebrochen waren unter der Last der Pflichten. Die der Bürde ihrer Verantwortung erlegen waren. Die der Wahnsinn eingeholt hatte. Suliels Geschichte fand er am beängstigendsten. Suliel, der Kindkaiser, der zuckend in der Bibliothek zusammengesackt war. Der den Rest seines Lebens sabbernd und brabbelnd verbracht hatte. In solchen Nächten lag er mit brodelndem Magen wach, die Decke bis an das Kinn gezogen, unbeweglich wie eine Käferlarve in ihrem Kokon, über das Pensum brütend, das ihn am nächsten und darauffolgenden Tag erwartete. Dann beschwor er sich, mit dem Studium zu pausieren, eine Rede abzusagen, sich von einem Bankett zu entschuldigen.
Bei hochoffiziellen Anlässen wurde er mit vollständigem Namen vorgestellt. Eine endlose Litanei, die der Hofmeister mit tragender Stimme und einem wahrhaft grandiosen Gedächtnis herunterbetete. Ansonsten war es viel zu zeitraubend, alle Namen und Titel zu benutzen, weshalb man ihn Ylaiy nannte. Prinz Ylaiy, um genau zu sein. Dran’o in der Sprache der Elboin. Palastangestellte und Würdenträger nannten ihn auch Prinz Glück, vul Dran’o. Der Spitzname wurde hinter vorgehaltener Hand und mit bedeutungsschweren Blicken geflüstert.
Vier überlebte Attentate. Zwei Vergiftungen, ein getarnter Jagdunfall, eine Lanze, die für ein Turnier eindeutig zu angespitzt war. Vier Mordanschläge, die nie aufgeklärt wurden. Daneben ein verirrter Pfeil, ebenfalls auf der Jagd, der ihn aber nicht traf. Vermutlich ein Unfall. So wie der lose Mauerstein, der wenige Zoll neben ihm niederschlug.
Der Prinz seufzte, rieb sich die müden Augen, betrachtete seine tintenbefleckten Finger. Wenigstens in dieser Hinsicht war er noch wie das Kind, das einst mit Begeisterung alles verschlungen hatte, was die Bibliothek ihm bieten konnte. Wehmut flackerte in ihm auf.
Das Lächeln wich einem gepeinigten Gesichtsausdruck, als sein Blick den Stapel zu seiner Linken streifte. Die Kriege der Elboin im Ersten Zyklus. Pflichtlektüre. Ebenso die fünf Folgebände. Darüber geschichtet mehrere schmale Erzählbände.
Mit Mühe unterdrückte er ein Stöhnen und sah sich verstohlen nach den beiden Türwächtern um, die an ihm vorbei ins Leere starrten. Ylaiy war sich sicher, dass Wachposten eine Form der inneren Selbstabkehr beherrschten. Sie erlaubte es ihnen, sich aus der realen Welt in eine der Schwerelosigkeit und Ruhe zurückzuziehen. Wie sonst sollte es möglich sein, stundenlang unbeweglich auf der Stelle zu verharren? Nicht einmal zu blinzeln? Nachdenklich betrachtete er die Statuen. Bestimmt berichteten sie seiner Mutter. Besser, er konzentrierte sich auf seine Aufgabe.
Er schlug den Wälzer zu, in dem er gelesen hatte, griff nach dem obersten Buch, einer Zusammenstellung von Heldenliedern. Rasch vertiefte er sich in den Kampf des sagenhaften Elboin-Königs Jurt gegen seinen Vater Jaron. Seine Augen flogen über das Pergament mit den meisterhaften Initialen und bestechend regelmäßigen Buchstabenreihen. Ylaiy las, wie er immer las: die Beine um die Stuhlbeine geschlungen, die Ellenbogen nebeneinander auf den Tisch gelegt, beide Fäuste unter die Jochbeine gepresst, neben sich ein in Leder gebundenes Journal, ein kunstvoll verziertes Tintenfässchen und Schreibfedern.
Jurt gegen Jaron. Vater und Sohn, die in der Schlacht aufeinandertreffen und sich nicht erkennen. Die tragische Geschichte, deren Ausgang verloren gegangen war, kannte jeder am Hof. Ylaiy war, wie alle Kinder im Burgpalast der Hauptstadt, mit solcherart Liedern aufgewachsen. Sie erinnerten adlige Nachkommen an die ruhmreiche Vergangenheit ihrer Vorfahren. Wie alle Märchen waren die Geschichten nicht ohne Hintergedanken. In ihnen steckte eine Moral, höfische Erziehung. Sie waren Leitfäden für die vielen Benimmregeln, die es täglich einzuhalten galt.
„Eifere den Helden in den Büchern nach, so wirst du ein geachteter Herrscher.“
Halblaut ahmte Ylaiy die Worte seiner Lehrer nach und erschrak über die Abneigung in seinem Herzen.
Er schüttelte den Kopf, merkte, wie er in nutzlose Gefühlswelten abglitt. Das passierte neuerdings öfter. Schleichend ergriff etwas von ihm Besitz. Eine Unlust beim Lernen. Sie erschreckte ihn, verstörte ihn. Er, der Bücherwurm, dem die Bibliothek Zuhause, Zuflucht, Versteck war, verlor die Lust am Lesen. Konzentrationsschwächen, wiederkehrend, immer häufiger. Gefühle, die Kreise und Kurven in die schnurgeraden Bahnen seines Verstandes schnitzten. Tagträumereien. Unruhige Nächte.
Jurt und Jaron. Hatten sie das auch erlebt? Die Zweifel, die Unsicherheit, das Zögern? Die Furcht? Sicher nicht. Helden kannten kein Zaudern.
Er rieb sich die Augen, vor denen die Buchstabenreihen allmählich zu tanzen begannen. Anschließend trat er an den ins Mauerwerk eingelassenen Sehschlitz und warf einen Blick auf die Sonnenuhr im Gärtchen. Sie zeigte den frühen Nachmittag an, was bedeutete, dass er seit acht Stunden hier unten saß. Sein Magen jaulte vor Hunger. Er versuchte, sich an seine letzte Mahlzeit zu erinnern, überdachte die Hofanlässe der zurückliegenden Tage.
Die zahllosen Bankette, Bälle, Ehrungen, Audienzen, Beratungen, Empfänge und anderweitigen Verpflichtungen woben sich zu einem langen Band an enervierenden Trivialitäten. In einem Anfall von Wut warf er den Bücherstapel um, durch den er sich heute würde quälen müssen.
Eine der Wachen erwachte aus ihrer starren Haltung und ging in Habachtstellung. Soldatenaugen fixierten den Kaisersohn. Ylaiy schrumpfte unter dem Blick. Mit rotem Kopf raffte er die Bände zusammen und hastete an den beiden Wachtposten vorbei aus dem Studierzimmer. Er redete sich ein, dass sie hinter seinem Rücken in stummes Gelächter ausbrachen.
In seinen Räumen herrschten Ordnung und Chaos.
Ein gedrungener Schreibtisch in der Mitte des Zimmers nahm den größten Platz ein. Auf ihm häuften sich Bücher, Pergamentrollen, Schreibfedern, Tintenfässchen, Zirkel, Lineale, Siegelwachsstückchen und Kerzen. Die Oberfläche des hölzernen Ungetüms schimmerte dunkel verfärbt. Auf ihr vermischten sich Tintenflecke mit Wachstropfen, eingeritzten Symbolen und Formeln.
Das Regal neben der Tür beherbergte mechanische Apparaturen, Uhren, Prismen, geometrische Formen, Thermometer, Geräte, mit denen man seltsame Töne erzeugen konnte, und noch mehr Bücher.
Im Rest der Gemächer regierte Sauberkeit. Die dicken Teppiche waren gründlich ausgeklopft, das Feuerholz im Kamin sauber geschichtet, die Kerzen frisch, die Dochte noch weiß. Geschlossene Fensterläden knarrten im Rhythmus des Windes. Die Decken auf der erhöhten Schlafstatt waren aufgeschüttelt und akkurat aufeinandergelegt, die Eimer im angrenzenden Abort mit frischem Wasser und duftendem Torf gefüllt. Im Ankleidezimmer hingen alle Roben und Uniformen nach Anlass geordnet auf Bügeln. Stiefel standen poliert und nach Schuhwichse riechend auf Holzgestellen darunter.
Als der Prinz seine Räume betrat, war sein Zorn noch nicht verraucht, doch er widerstand dem Impuls, die Bücher auf den Boden zu schleudern. Stattdessen legte er sie auf dem überfüllten Schreibtisch ab und trottete zur Waschstatt. Dort goss er Wasser aus dem Krug in die Schüssel, tauchte seine Finger ein und benetzte seine Stirn. Erfrischt setzte er sich auf einen Sessel, legte die Arme auf den Seitenlehnen ab, schmiegte den Kopf an die Rückwand und seufzte.
„Geht es Euch gut?“, fragte eine helle Stimme hinter ihm.
„Nein“, antwortete er, ohne sich umzudrehen.
„Peinigt Euch Euer Kopf?“
„Wie immer.“ Er versuchte, nicht jammernd zu klingen, doch er hörte selbst, wie hoch seine Stimme schwang.
„Vielleicht lindern meine Finger Eure Schmerzen.“ Sie formulierte die Aussage als Frage, um ihm die Entscheidung zu überlassen.
„Meinetwegen.“ Seine Stimme tönte befehlender nun, sogar ein wenig herablassend. So sollte es sein.
Er hörte, wie sie sich raschelnd näherte. Gleich darauf massierten kühle Fingerspitzen sanft seine Schläfen. Er schloss die Augen und überließ sich dem Wohlbehagen.
Schon bald wanderten ihre Finger an seinem Gesicht hinab nach unten, kneteten seine Schultern, streichelten seine Brust. Als sie sich hinter ihm nach vorn beugte, kitzelte ihr langes Haar seine Wange. Ihr Atem floss heiß in sein Ohr.
Er sah nach oben. Ihre Augen trafen sich in stillem Einverständnis; sie lächelte mit feuchten Lippen. Er zog ihre Arme nach unten, sodass ihre Hände seinen Bauch berührten, sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Dann ließ er ihre Arme los, zog ihr Gesicht an seines, bedeckte mit stürmischen Küssen ihre Wangen und ihren Hals.
Keuchend gab sie ihre unbequeme Position auf und trat vor ihn. Ohne zu zögern, hob er ihr Kleid, verbarg seinen Kopf in ihrem Schoß. Schnaufend glitt er auf seine Knie und umklammerte ihre Beine. Sie stand da, das Kleid über ihn gebreitet, die Hände auf seinem Rücken, ihr Atem zusehends erregter.
Als er wieder zum Vorschein kam, sah sie ihn betäubt an. Ohne ein Wort schlug sie seine Robe beiseite, zerrte seine Beinkleider hinunter. Er ließ es zu, dass sie ihn in den Sessel zurückdrückte und sich auf ihn setzte. Ebenso widerstandslos überließ er sich anschließend ihrer Leidenschaft. Die ganze Zeit sprachen sie kein Wort. Erst als er aufzuckte, entwich ihm ein Stöhnen.
Für einen Moment blieben beide aufeinander hocken und brachten ihren Atem unter Kontrolle. Dann schob er sie von sich, einen verlegenen Dank murmelnd.
Sie nickte, ordnete ihre Kleider und kehrte durch das Ankleidezimmer in das Dienstbotenzimmer zurück.
Nachdem er sich gereinigt hatte, setzte Ylaiy sich an den Schreibtisch und schlug das nächste Buch auf. Die Ablenkung hatte ihm gutgetan. Mit frischer Energie vertiefte er sich in sein Studium, las hoch konzentriert, tauchte für die nächsten Stunden in den Lehrstoff ein.
Eine gebrüllte Anweisung ließ ihn aufmerken. Er horchte nach außen, vernahm Tumult unter dem Fenster.
Beunruhigt öffnete er einen Türflügel und spähte hinaus. Im Gang war nichts zu sehen, doch die Wachen wirkten alarmiert.
„Was ist vorgefallen?“
„Scheint, als gäbe es Aufruhr, Herr.“
„Ist jemand in den Palast eingedrungen?“, fragte er erschrocken. Im nächsten Moment ohrfeigte er sich innerlich für die Frage. Längst hätten die Wachen dann ins Geschehen eingegriffen oder Hilfe angefordert.
„Nein, Herr. Offenbar steht jemand vor dem Tor und begehrt Einlass.“
Mit wehender Robe stürmte Ylaiy zum Fenster, riss die Läden auf und beugte sich so weit nach draußen, wie Gleichgewicht und Schicklichkeit es ihm erlaubten.
Weil Lärm ihn vom Lernen ablenkte, lagen die prinzlichen Gemächer gegenüber dem Thronsaal in einem Nebengebäude der verschachtelten Palastanlage. Ylaiy residierte in einem der oberen Stockwerke. Das verschaffte ihm einen exzellenten Blick auf das geschäftige Treiben im Hinterhof.
Hier regierte die Dienerschaft.
Der Prinz beobachte sie gern. Die Handwerker vor ihren mit Werkzeug überladenen Schuppen. Die Dienstmägde, die Wasser von der Zisterne holten oder Wäsche auf den Waschsteinen klopften. Die Bauern, die ihre Tiere über den Hof trieben. Die Musiker, die ihre Instrumente reinigten. Die Knaben, die den Kot der Tiere einsammelten, die kleineren Kinder, die mit Fassreifen spielten. Er wusste, dass der Tag dieser Menschen im Morgengrauen begann und mit Sonnenuntergang endete. Sie schufteten hart, um ihn und seine Familie zufriedenzustellen. Außerdem all die Grafen, Äbte, Vögte, Damen, Bischöfe, Botschafter und Gesandten, von denen zu jeder Zeit mindestens ein Dutzend am Hof weilte.
Insgeheim beneidete er die Bediensteten, die regelmäßige Abfolge ihres Alltags. Keine störenden Gedanken, wie sie sein Leben bestimmten. Keine endlosen Stunden über den Büchern. Kein soldatischer Drill, keine Vorträge über höfisches Benehmen, Sittenregeln, Tugenden und Pflichten.
Er lugte über die Ställe nach Osten zur Hauptburg. Wie erwartet, näherte sich niemand aus dieser Richtung. Besucher und Gäste betraten den Kaiserpalast durch das prächtige Haupttor, schritten geradewegs zur Freitreppe des Hauptgebäudes. Niemals verirrten sie sich in den westlichen Teil der weitläufigen Anlage. Kaum ein Gast bekam zu sehen, was sich hinter den blütenweißen Marmormauern und vergoldeten Dächern der Vorderburg befand.
Folglich wandte der Prinz seine karamellfarbenen Augen zum Dienstboteneingang, einem engen Durchlass, der leicht kontrolliert werden konnte. Vor der Tür, durch die gewöhnlich Bauern und Handwerker mit ihren Karren rumpelten, schien es wahrhaftig einen Aufruhr zu geben. Nichts, was einen in Besorgnis versetzte, aber doch außergewöhnlich genug, dass die Menschen in ihrer Arbeit innehielten und sich vor dem Tor versammelten.
Ylaiy kniff die Augen zusammen. Mit Mühe erkannte er zwei Gestalten. Sie erschienen etwa gleich groß oder - im Vergleich zu den hochgewachsenen elboischen Wachen - gleich klein. Eine Gestalt wirkte nur wenig breiter als die Schwerter des Wachpersonals. Sie stützte sich auf einen Speer; gewiss der Grund für die Aufregung der Soldaten. Die andere Person hielt einen Stock und war gebaut wie die Kommoden in den Vorzimmern der Kaiserin. Gekleidet war sie in ein fließendes Gewand.
Der Prinz hörte laute Stimmen und barsches Lachen, doch er verstand nicht, was gesagt wurde. Bevor Logik und Überlegung seine Gefühle übermannten, stürzte er aus dem Zimmer. Auf dem Gang begann er, ganz und gar unhöfisch zu rennen.
Die Leute schauten auf, als sie die flatternde Robe sahen. Sie tuschelten; einige junge Frauen kicherten, als der Talar nach oben schwang und sie einen Blick auf eine haarige Wade erhaschten. Auch die Männer starrten dem Kaisersohn hinterher, dessen kinnlanges Haar im Rhythmus seiner langen Schritte wippte. Fast war er attraktiv zu nennen, der Prinz Glück, mit seinen klaren Gesichtszügen, den goldgesprenkelten Augen, der stolzen Nase und dem kirschfarbenen Mund. Schade, dass er nur eine halbe Portion war. Dass er nicht ein Viertel von dem Mumm in den Knochen hatte wie sein dahingeschiedener Vater.
Ylaiy kümmerte sich nicht um die Leute, sondern lief an den Schmieden und Drechslern vorbei in Richtung Tür. Vor der Menschenansammlung kam er atemlos zum Stehen.
„Was geht hier vor?“ Die Frage kam nicht so gebellt wie beabsichtigt. Immerhin brach seine Stimme nicht mehr in die hohen Kindertöne aus, die ihn lange begleitet hatten. Er ignorierte die Schweißtropfen auf der Stirn, das Stechen in der Brust.
„Herr, die beiden hier begehren, die Kaiserin zu sehen. Wir haben ihnen mitgeteilt, dass niemand Ihre Majestät ohne Voranmeldung und Bestätigung sehen dürfe, aber sie hören nicht zu. Der Junge spricht kaum die Reichssprache, der Greis besteht darauf, sofort vorgelassen zu werden. Wir haben ihnen mit dem Kerker gedroht.“
Ylaiy betrachtete den dunkelhäutigen Knaben, der in der Nachmittagssonne zu frieren schien. „Welche Sprache spricht er?“
„Das wissen wir nicht, Herr.“
„Er spricht die Sprache Berlens, Herr“, verneigte sich der Greis vor Ylaiy. „Genauer genommen, die Sprache der Madif-Nomaden.“
„Im Süden und Westen“, erinnerte sich Ylaiy. „Halbnomaden, um bei der Wahrheit zu bleiben. Sprechen eine Variation des Madifschen. Primitiv, ohne Flexionen, ohne Zeitformen.“
Der Alte gab dem Prinzen mit einer erneuten Verbeugung recht.
„Warum bist du hier?“, wandte sich der Kaisersohn an den Jungen, dessen dunkle Augen aufglommen, als er die heimatliche Mundart vernahm.
Ein Soldat stieß den Knaben unwirsch an und deutete eine Verbeugung an, die dieser ungeschickt nachahmte.
„Sprich“, forderte Ylaiy ihn auf.
„Mein Bruder, er heißt Kian und lebt mit meiner Mutter und mir in Ranand, er wurde entführt. Nachts, in aller Dunkelheit. Ich, wir, konnten nichts tun, es ging so schnell. Sie kamen von oben und nahmen ihn. Zum Felsen. Wir sind ihnen nach. Gradh. Ich. Sie nahmen ihn mit. In die Luft. Es war dunkel, Herr, und sie waren leise. Sehr leise. Wir liefen durch die Wüste, viele Tage und Nächte. Alles war voller Blut. Er ist weg, Herr. “
Mit gerunzelter Stirn hörte Ylaiy sich die gestammelten Worte an, die keinerlei Sinn für ihn ergaben, zumal er Schwierigkeiten hatte, den Dialekt zu verstehen. In den Augen des Jungen standen Tränen, die er mit den Knöcheln wegwischte und ableckte.
„Vielleicht kann ich das Gebrabbel meines Begleiters verständlicher machen“, erbot sich der Greis in der Reichssprache.
Ylaiy nickte auffordernd.
„Bedenkt, dass ich seine Geschichte ebenfalls nur aus zweiter Hand kenne. Akim stammt aus dem Südwesten, aus einer der uralten vertrockneten Oasen. Er schlief mit Mutter und Bruder in seiner Behausung, als der jüngere Bruder entführt wurde. Mit seinem Lehrmeister verfolgte er die Entführer. Der Lehrer starb bei einem weiteren Angriff, Akims Tod konnte ich verhindern. Seitdem reisen wir zusammen.“
„Er sagte etwas von Luft und Blut.“
Der Alte nickte und sammelte sich kurz. „Die Angreifer kamen aus der Luft, Herr.“
Ylaiys ungläubiges „Was?“ ging im wiehernden Gelächter der Wachen unter. Er hob den Arm mit dem ärgerlichen Schwung, den er bei seiner Mutter so oft beobachtet hatte, und tatsächlich verstummten sie schlagartig. „Aus der Luft? Wie das?“
Jetzt wand der Alte sich, zögerte die Antwort hinaus. Akim übernahm in seiner Heimatsprache. „Bur-an-gnea”, sprach er deutlich. „Wesen mit Flügeln. Vogelmenschen.“
Nachdenklich sah Ylaiy den Jungen an. Die Wächter bewegten sich nicht. Sie hatten den Jungen nicht verstanden, aber das fremdartige Wort, angsterfüllt geflüstert, bescherte ihnen eine Gänsehaut.
„Unsinn“, krächzte eine hohe Stimme in Ylaiys Rücken.
Er wandte sich um. Hinter ihm stand Urdat Vei, Oberbefehlshaber der Palastwache, so groß und dünn, dass er im Wind zu schwanken schien. Selbst die hochgewachsenen Elboin mussten die Köpfe in den Nacken legen. Doch Ylaiy wusste, dass Vei niemals schwankte; weder in seinen Anweisungen, noch in seinen Ansichten. Wie immer besänftigte Ylaiy die Tatsache, dass Veis Stimme mit seiner körperlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten hatte; der Stimmbruch hatte sie nie verändert. Vei übte unablässig daran, diesen Makel mit Flüstern und Raunen auszugleichen. Allein: Wann immer er laut einen Befehl verkündete, raubte die hohe Stimme ihm ein Stück seiner Autorität.
„Werft die beiden Narren hinaus. Lassen sie sich je wieder hier blicken, inhaftiert sie“, zischte Vei seinen Untergebenen zu und drehte sich auf dem Stiefelabsatz um. „Geh an deine Bücher“, warf er Ylaiy über die Schulter hin.
„Wie Ihr wünscht, Vater“, würgte der Prinz hervor.
Grob stießen die Wachen die Eindringlinge durch die Tür. „Ihr habt es vernommen. Kehrt nicht zurück, wenn euer Leben euch lieb ist.“
„Herr“, rief der Alte dem Prinzen nach, sich gegen die Arme der Wachtposten zur Wehr setzend. „Es ist wahr, Herr, glaubt es mir. Ihr müsst dem nachgehen, der Junge lügt nicht.“
„Und woher weißt du das, alter Mann?“
„Weil es Jonoypret auch passiert ist!“ Der Alte schrie verzweifelt, während die Wachen ihn bedrängten und mit Schwertern in Schach hielten. „Jonoypret ist meine Enkelin. Sie verschwand in meinen Träumen. Geraubt von den Flügelwesen. Wie der Junge. Sie fliegen zum Fels, Herr. In der Wüste! Mitten in der Wüste steht er. Der Blutfels, Herr! Die Bur-an-gnea. Ihr müsst uns glauben! Ihr müsst uns helfen!“
Die Tür fiel klappernd ins Schloss und schnitt die Schreie des Alten ab.
Die Worte klangen in Ylaiys Ohren nach, nisteten sich in seinem Hirn ein. Blutfelsen? Geflügelte Wesen? Er schüttelte den Kopf, um die wirren Ideen loszuwerden. Am Ende wurde er selbst verrückt. Besser, die beiden schnell zu vergessen.
Der beherzte Sprung ins Wasser rettete ihm das Leben.
Noch im Fallen sah er die Fackeln, die die Trümmer des Dorfes beleuchteten. Die Flammen loderten heller als der grünlich schillernde Mond, der das Meer wie flüssiges Moos aussehen ließ.
Sie waren organisiert zu Werke gegangen. Die planvolle Gründlichkeit stand in grausamem Gegensatz zu den kopflos umherhetzenden Bewohnern. Von den Soldaten hörte er nur vereinzelt Befehle. Sie schwangen Schwerter, die ein hohes Klingen erzeugten. Sie selbst schwiegen, als sie das Dorf niedermetzelten. Die Ruhe, mit der sie das Todesurteil vollstreckten, saugte kalt an seinem Herzen.
Er wusste nicht, wie viele Nachbarn und Freunde noch lebten, hatte einzelne auf die Bäume und moosbewachsenen Hügel zu rennen sehen, aufgeschreckt wie Eidechsen, leichte Beute für die am Waldrand wartenden Häscher.
Sicher war, dass Tarolf und seine Familie die ersten Opfer gewesen waren. Einen Wimpernschlag lang fühlte Gillok Schadenfreude in sich aufsteigen wie Sodbrennen. Tarolf und seine Eitelkeit. Früher hatten die Dorfältesten in Hütten geschlafen wie alle anderen, doch Tarolf war bald nach seiner Wahl mit Frauen und Kindern in das Versammlungshaus gezogen. Die ersten Fackeln waren auf dem Dach in Millionen Funken zerstoben. Sie fraßen sich schneller durch die Schilfschindeln, als Tarolf brauchte, um die Augen aufzubekommen.
Die älteren Einwohner, die ihre Häuser in der Mitte des Dorfes errichtet hatten, starben ebenso rasch im Hagel der Brandpfeile und Speere. Diejenigen, die am Rande lebten, sprangen blindlings aus den Hütten. Humpelnd kämpften sie sich vorwärts, stolperten in die ausgestreckten Breitschwerter der Kriegsknechte. Frauen scheuchten Kinder vor sich her in Richtung Wald, merkten bald, dass dieser Weg abgeschnitten war, machten kehrt, strömten zum Meer. Sie kamen nicht weit. Die Soldaten hatten den Weg einkalkuliert und schossen Brandpfeile auf die Flüchtenden.
Mit aufgerissenen Augen beobachtete Gillok vom Wasser aus den Untergang Grulorhs. Glücklicherweise kamen einige Dorfbewohner barfuß auf dem nassen Sand flinker voran als die Bewaffneten in ihren schweren Stiefeln. Kinder und junge Erwachsene schlugen Haken um die im Sand steckenden Brandpfeile, warfen sich ins Meer und tauchten sofort unter. Er betete, dass ihre Kräfte reichten, um sie in Sicherheit zu bringen.
Er selbst war nach dem waghalsigen Sprung aus Syras abgelegener Hütte im Ozean verschwunden wie ein Fischotter. Im Moment war er außer Gefahr. Er bezweifelte, dass die Soldaten ihn gesehen hatten, aber möglicherweise folgten sie den anderen Geflohenen und verirrten sich in seine Richtung. Er musste vorsichtig sein.
Alle Hütten standen in Flammen. Gillok biss sich auf die Innenseite der Wangen, bis seine Augen tränten und warmes Blut in seinen Mund floss. Der Schmerz lenkte ihn ab von den lang gezogenen Schreien, dem Wimmern und Winseln der armen Seelen, die Unsagbares erdulden mussten, bevor ein Schwertstreich sie erlöste.
Dann verstummten jegliche menschlichen Geräusche. Was blieb, war das Knistern und Knacken von Holz und Knochen. Die Kriegstreiber schwiegen, standen herum und beobachteten, wie die Welt in Asche versank. Bald würde die Flut letzte Überreste wegspülen. Ein ganzes Dorf würde spurlos verschwinden.
Nachdem Syras Hütte in den Flammen verraucht war, riss Gillok die Hände vor den Mund. Magensäure sammelte sich in seinem Hals, Tränen liefen über seine Wangen. Der Gedanke an all die Menschen, die er in weniger als einer Stunde verloren hatte, nagte an seinem Verstand.
Syra, was hast du getan? War es das wert?
Ein Pfiff, gefolgt von mehreren harschen Worten, riss den Sumpfmann aus den Grübeleien. Vor Entsetzen und Trauer wie erstarrt, verfolgte er, wie Soldaten sich am Ufer in einer Reihe sammelten. Es waren viele und sie trugen unterschiedliche Uniformen.
Sie können unmöglich alle aus Frarn kommen.
Weitere Fackeln wurden verteilt. Die Soldaten schwenkten sie in Richtung Wasser, spannten sie in ihre Bogen.
Unhörbar schwamm er rückwärts in die Dunkelheit.
Wie dumm ihr seid.
Niemand vermochte einen Frâgg im Wasser zu entdecken. Selbst die schlechtesten Schwimmer unter ihnen konnten minutenlang tauchen, sich notfalls im Meeresboden vergraben. Die Frage war, wie lange sie aushielten, bevor ihnen die Muskeln erlahmten, Raubfische und Seeschlangen sie witterten.
Gillok tauchte ab, als eine Salve Brandpfeile zischend im Meer versank. Er hoffte, dass die geflohenen Dorfbewohner sich nicht in Reichweite der Pfeile aufgehalten hatten.
Als er wieder auftauchte, löste die Reihe der Soldaten sich auf und setzte sich Richtung Waldrand in Marsch.
Einige verharrten am Wasser. Sie rauchten, hockten sich in den Sand, hielten ihre Gesichter in die Nachtluft. Der Wind trug den Geruch von Ruß und den Klang menschlicher Stimmen aufs Meer hinaus.
„War er hier?“
Gillok hörte die Worte entfernt, aber deutlich. Eine junge Stimme, tastend, unsicher.
„Hast du ihn gesehen?“, kam die Gegenfrage. Älter. Verächtlich.
„Wie sollen wir ihn lebend finden, wenn wir alle töten, ohne sie uns vorher auch nur anzuschauen?“
„Halte dein verdammtes Maul! Tu, was man dir sagt!“
Waren sie gar nicht hinter Syra her? Ging es nicht um Rache? Gillok verfiel in tiefes Nachdenken. Wen suchten sie? War seine Stammesschwester einer Sache auf der Spur, die größer war, als sie anfangs gedacht hatte?
Das zurückkehrende Meer drückte ihn in Richtung Dorf. Einen Augenblick war er versucht, sich an den Strand treiben zu lassen, wie er es oft mit Syra oder Bada gemacht hatte. Das Bedürfnis, nach Hause zu gehen, überwältigte ihn mit solcher Macht, dass er sich körperlich dagegen stemmen musste. Erst die Vorstellung von verbrannten und verkrüppelten Toten ließ ihn einen Entschluss fassen.
Sein Hals weitete sich, als er tief Luft holte. Sein Brustkorb dehnte sich, bis er das Doppelte seines Umfangs erreichte. Gillok stieß die Luft in den Körper, speicherte sie in Schultern, Brust, Armen und Beinen. Finger und Zehen spreizten sich, sodass die dünne Haut zwischen ihnen sich auffächern konnte. Über seine Augen glitt ein milchiger Film. Wie immer schluckte er unbewusst, als die Trommelfelle sich mit einem unangenehmen Knacken verschlossen. Sämtliche Muskeln angespannt, tauchte er mit einer eleganten Drehung in die Tiefe und entfernte sich rasch.
Er schaute nicht zurück.
Das Holz im Kamin knackte. Ylaiy blinzelte in das flackernde Kerzenlicht, das die Buchstabenreihen in sich windende Schlangen verwandelte, die ihn giftig anstarrten. Müde klappte er den Wälzer zu, lauschte voller Genugtuung auf das schmatzende Geräusch, mit dem die Buchdeckel aufeinander fielen.
Sekunden später sank er mit einem Ächzen auf sein Lager, hüllte sich in die Decken und schloss die Augen. Sein Kopf kam ihm vor wie ein Schrank, in den er Wissen gestopft hatte, bis die Türen sich kaum mehr schließen ließen.
Gewöhnlich genoss er es, sich ausgestreckt auf seinem Bett vom Tag zu verabschieden, während die Glut im Kamin die Gespenster der Dunkelheit in Schach hielt.
Heute wogen die Gedanken so schwer, dass sie ihn in die Kissen drückten. Er spürte die Knötchen in den Schultern, die angespannten Muskeln im Rücken, die pochenden Schläfen. Selbst seine Hände schmerzten. Wovon? Vom Halten der Feder? Vom Umklammern der Buchbände?
Und immer wieder die Gedanken. Unablässig jagten sie durch seinen Geist, verfingen sich, umschlangen sich. Suliel. Sila, die ihn von hinten umarmte. Urdat Vei. Der Unterschied zwischen elboischem und stalephschem Erbrecht. Die Blicke der Wachen. Die Elboinkriege. Jurt. Jaron. Das Mädchen auf seinem Schoß. Die herablassend heruntergezogenen Mundwinkel der Handwerker. Die hohe Stimme des Befehlshabers. Ein Traktat über das Maßhalten. Ein Aufsatz über die lyrische Sprache des Gajander. Der Hass auf seinen Stiefvater.
Dazwischen, wie Irrlichter: ein Mann mit weißem Haar und ein Junge aus den Weiten der Wüste mit so traurigen Augen, dass die Welt darin zu ertrinken schien.
Nach einer Weile erkannte er, dass er nicht einschlafen würde. Auf bloßen Füßen tapste er zum Tisch. Einer Schublade entnahm er ein Pfeifchen, das er mit dem Tabak stopfte, den er in einer Büchse aus geriebenem Metall versteckte. Das Kraut wuchs in entlegenen Talgründen im Norden Stalephs. Selten und ausgesprochen kostspielig. Ylaiy vermischte es mit einer Prise Gyoth, der getrockneten Blüte einer Rosenart, von der man sich eine beruhigende Wirkung versprach. Er hatte das Rezept auf der Rückseite eines Pergamentblattes gefunden. Es war kaum mehr leserlich gewesen, doch mit einem Lösungsmittel und einem starken Leseglas hatte Ylaiy es entziffert. Am Hof lehnte man Tabak und andere besänftigende Substanzen ab. Sie trübten das Kalkül. Bei früheren Versuchen hatten Ylaiy Hustenreiz, Übelkeit und ein schlechtes Gewissen geplagt, aber nur so lange, bis die entspannende Wirkung einsetzte.
Der Prinz hockte sich im Schneidersitz vor den Kamin, entzündete die Pfeife mit einem Span und nahm zwei Züge. Rauch breitete sich warm in den Lungen aus, stieg in seinen Kopf. Ylaiy schloss die Augen, ließ die Schultern fallen, konzentrierte sich auf seinen Geist. Er stellte sich vor, wie der Qualm die Gedankenfetzen auseinander wirbelte und endlich Raum schuf für klare Überlegungen.
Der Greis und sein Begleiter. Akim. Wie alt mochte der Junge sein? Vierzehn? Sechzehn? Womöglich älter, denn ständiger Hunger ließ einen nicht gedeihen, so wie Pflanzen verkrüppelten, wenn man sie nicht goss.
Unmöglich, das Lebensalter des Alten zu schätzen. Runzeln, Furchen, Falten überall.
Ylaiy zog erneut an seiner Pfeife. Der Bruder des Jungen entführt. Genauso wie ein Mädchen? Hatte er das richtig verstanden? Jonoypret, erinnerte er sich. Die Enkelin. Aus dem gleichen Dorf? Nein, der Alte sah nicht aus wie ein Wüstenbewohner. Woher kam er?
Unter dem Einfluss der Droge kehrte Frieden in Ylaiys Geist ein. Die Kälte unter Beinen und Rücken merkte er nicht. Er schwebte in einen Zustand der Entspannung, in dem sein Gehirn ungehindert arbeitete, sortierte, ausmusterte, analysierte. Nach und nach setzte er die wirren Worte der Fremden zu einem wackeligen Gedankengebäude zusammen.
Zwei Kinder. Entführt von Flügelwesen. Im Rausch gelang es ihm, ihre Existenz in den Bereich des Vorstellbaren zu schieben. Zwei Menschen, die die Kinder suchen. Der Junge in Begleitung des Lehrmeisters. Akim hatte den Namen erwähnt, aber Ylaiys Erinnerung versperrte ihm den Zugang. Sie verfolgen die Geschöpfe. Finden einen Felsen. Mit Blut? Gab es Steine in der Wüste? Die Bücher sprachen von Sandbergen. Aber Felsen? Man müsste dorthin reisen.
Er merkte nicht, wie er in den Schlaf glitt. Die Pfeife, bereits erkaltet, rutschte aus seiner Hand. Der Dran’o, Nachkomme der mächtigsten Dynastie der Reichsgeschichte, lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Fußboden, die nackten Füße gefährlich nah an der schwimmenden Kaminglut.
Das Mädchen, das unhörbar aus dem Nebenzimmer hereinwehte, breitete eine Decke über ihn und ließ sich an der Wand nieder, wo sie über ihn wachte.
Fußgetrappel weckte ihn. Er hielt die Augen geschlossen und horchte. Bewegung. Geräusche. Am Rande registrierte er, dass eine Decke ihn vor der Kälte bewahrte; umso stärker nahm er seine trockene Kehle wahr.
Mit steifen Gliedern erhob er sich. Die Glut war nur noch eine dünne Schicht. Matt stocherte er mit einem Scheit in ihr, bis Funken aufstoben und den Raum erhellten.
Am Boden entdeckte er die Pfeife. Schnell verstaute er sie in ihrem Versteck. Dienstboten waren verpflichtet, seiner Mutter Dinge wie diese mitzuteilen. Ylaiy verspürte keine Lust auf eine Auseinandersetzung. Ihn grauste vor den beherrschten Reaktionen der Kaiserin, ihren unwiderlegbaren Argumenten und der Enttäuschung in ihren Augenwinkeln.
Die kurze Schlafrobe tauschte er gegen Talar, Stiefel und Umhang. Waren die Tage noch mild und sonnig, so streckte nachts der Winter seine Frostfinger aus. Im Palast würde es eisig sein.
Er öffnete die Flügeltür und warf einen prüfenden Blick den Gang hinauf und hinunter. Beide Wachen standen auf ihren Posten, doch ihre Blicke flackerten und ihre Haltung war angespannt.
„Report“, befahl Ylaiy, aus der Sprache des Hofprotokolls wählend.
„Wir wissen es nicht genau, Herr. Potenzielle Eindringlinge.“
„Schon wieder? Wo?“
„In der Hauptburg, Herr.“
„Begleitet mich.“ Er wandte sich zum Gehen. Die Wachen blieben zögernd zurück.
„Das ist ein Befehl.“ Es gelang ihm, die Worte mit harter Stimme zu sagen. Die Wachen traten an seine Seite. „Über den Hof. Das geht schneller.“
Der Hof bot weniger Sicherheit als die Geheimgänge. Andererseits flößten ihm Enge und Dunkelheit in den unterirdischen Korridoren mehr Angst ein als ein Angriff in offenem Gelände.
Bis auf die Wachmannschaften war der Hof menschenleer. Augenblicklich verflog Ylaiys Furcht. Er straffte die Schultern, kämmte sich das wirre Haar aus dem Gesicht, zerrte an seiner Robe. Dann lief er zügig in Richtung Palast.
Dort angekommen, schritt er die Haupttreppe hinauf und betrat das imposante Gebäude, dessen Mauern in der Dunkelheit leuchteten. Er folgte den Geräuschen in den ersten Stock, richtete sich nach links. Bald stieß er auf eine Menschentraube, überflog diese mit besorgten Augen, bis er die hochgewachsene Gestalt seiner frühzeitig ergrauten Mutter ausfindig machte. Er drängte sich durch den Pulk von Soldaten, Palastangestellten und Höflingen und verneigte sich vor ihr.
„Ylaiy. Was tust du hier?“, fragte sie mit unwirscher Handbewegung, die ihm signalisierte, sich aufzurichten. Nicht das leiseste Anzeichen von Unruhe war an ihr auszumachen.
„Ich war in Sorge um Euch.“
„Die Situation ist unter Kontrolle.“
„Was ist passiert?“
„Zwei Männer, die mich zu sprechen wünschten. Sie haben bereits heute Nachmittag Einlass begehrt und wurden abgewiesen. Mir wurde zugetragen, dass du ebenfalls mit ihnen gesprochen hast.“ Bei den letzten Worten wurden ihre Augen schmal und richteten sich fragend auf ihren Sohn.
„Richtig. Sie berichteten von entführten Kindern.“
Die Kaiserin runzelte kaum wahrnehmbar die Stirn.
„Berichteten?“, ließ sich eine hohe Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. „Wohl eher faselten. Eine wirre Erzählung von Blut und geflügelten Wesen.“
Urdat Vei tauchte an der Seite seines Stiefsohns auf. Seine Augen waren auf seine Gemahlin gerichtet. Ylaiy galt lediglich das kalte Lächeln in seinem Gesicht.
Der Dran‘o verstummte. Er konnte nicht verhindern, dass seine Knie zu zittern begannen. Wie so oft, wenn seine Eltern nebeneinanderstanden, fiel ihm auf, wie gut sie zueinander passten. Beide hielten ihren Körper aufrecht, als wäre er an unsichtbaren Fäden nach oben gezogen. Beide besaßen einen stechenden Blick und markante Gesichtszüge, denen kaum eine Gefühlsregung anzusehen war. Eisgraues Haar, das von Urdat borstig, das der Kaiserin in einen kunstvollen Knoten gestrafft, bedeckte ihre Häupter.
Nicht zum ersten Mal erkannte der Thronfolger, dass ihm die Härte fehlte, die es brauchte, um das Kaiserreich zu regieren wie seine Eltern. Allein die Enttäuschung in den Augen seiner Mutter und das geringschätzige Lächeln seines Stiefvaters reichten aus, ihn zum Schweigen zu bringen.
„Die beiden wurden verwarnt. Ich werde alles Weitere sofort veranlassen, Herrin“, sagte Urdat Vei mit kaum angedeuteter Verbeugung und wandte sich zum Gehen.
„Mit meiner Einwilligung, Gemahl.“
Urdats Fuß verharrte kurz in der Luft, seine Augen verengten sich. „Selbstverständlich, Herrin.“
Jetzt erst sah Ylaiy, dass der Greis und Akim fortgeführt wurden. Unter den Elboin wirkten sie wie Kinder. Ihre Hände steckten in Fesseln, den Speer hatte man dem Jungen abgenommen, ebenso den Dolch, der in einem Gurt am Oberarm gesteckt hatte. Akim begegnete Ylaiys Blick. Seine Lippen flüsterten Worte, die Ylaiy nicht verstand, aber er sah das Flehen in den dunklen Trauerseen seiner Augen.
„Wohin bringt man sie?“, fragte er seine Mutter, die sich anschickte, in ihre Gemächer zurückzukehren.
„Ins Verlies, anschließend in die Boragha.“
„Ohne Gericht?“
Die unergründlichen Augen seiner Mutter starrten ihn an. „Sie haben sich Zutritt zum Kaiserpalast erzwungen. Zwei Mal. Das gilt als Angriff auf mich und somit als Hochverrat.“
„Jeder hat ein Recht auf eine Verhandlung.“
„Dein Vater hatte sie verwarnt. Das ist Verhandlung genug“, schloss sie mit einer knappen Handbewegung, die keinerlei Widerspruch mehr zuließ.
Der Bursche beobachtete das Mädchen mit zur Seite geneigtem Kopf. Sein Lächeln war schief, ohne die harmonisierende Wirkung, die man von einem Lächeln erwartete. Es gab Menschen, die brachte es aus der Fassung. Andere fanden es schlichtweg absonderlich, wie sich der Mundwinkel auf der rechten Seite hob und halbe Zahnreihen entblößte, während die linke Gesichtshälfte versteinert wirkte. Ardanna dachte oft, dass das Antlitz aussah, als hätte jemand es in der Mitte durchbrochen. Er wusste das und lächelte nur wenig.
Ihre Tochter schien es nicht zu stören, dass das Konterfei ihres Freundes unbewegt blieb, auch jetzt, als er ihr vom Türrahmen aus Beifall spendete. Sie konzentrierte sich ganz auf die Beendigung des Tanzes. Mutter und Gäste bewunderten die federleichte Eleganz der fast Zwölfjährigen.
Videm folgte ihren Bewegungen mit unverhohlenem Staunen. Er selbst galt als Tollpatsch. Von mittlerer Körperhöhe und gedrungener Breite, besaß er nicht annähernd die schwerelose Geschmeidigkeit, mit der sie von Position zu Position floss. Ihre Füßchen glitten in waghalsigen Manövern und undurchschaubaren Schrittfolgen über das Parkett.
Beifälliges Klatschen und Murmeln drang durch den Saal. Die Gäste erhoben sich, um der Kleinen Lob auszusprechen, bevor sie sich wieder an ihr Tagwerk begaben.
Mit Hüfte und Schulter am Türrahmen lehnend, verabschiedete Videm die Männer und Frauen und plauderte mit seinem Ringermeister, während Sphita sich die verschwitzte Stirn abtrocknete und einen Becher Wasser trank, bevor sie zu ihm trat.
„Hat es dir gefallen?“, fragte sie, in den Ohren ihrer Mutter eine Spur zu kokett.
„Sehr. Ich wünschte, ich hätte einen Körper mit deiner Beweglichkeit“, gestand er ohne Neid. „Meine Kampflehrer wären über alle Maßen erfreut.“
„Du solltest tanzen lernen.“
„Es wäre eine nützliche Ergänzung zu meinen Kraftübungen und Waffenlektionen. Doch sieh mich an: Sieht so ein Tänzer aus?“, spottete er gutmütig.
„Du urteilst zu hart über dich“, mischte sich Ardanna ein.
Unerwartet griff er nach ihrer Hand und führte sie an seine Lippen. Seine Augen, hellblau strahlend wie bei seiner Geburt, zwinkerten ihr zu. Ardanna schlug ihm auf die Finger, doch sie lächelte zurück, froh über die spontane Zuneigung, die sich in seiner Geste offenbarte. Lange genug hatte es gedauert, bis er sich ihr gegenüber geöffnet hatte.
„Ich weiß, dass ich neben deiner Tochter aussehe wie der Klotz, auf dem Warmuth das Brennholz spaltet.“
Er hob die Hände, um Einwände von Mutter und Tochter abzuwehren. Sein Gesicht blieb freundlich. Nur ein guter Beobachter mochte die winzige Spur Bitterkeit auf ihm wahrnehmen.
„Warum besuchst du uns, Videm? Gibt es einen besonderen Grund?“, lenkte Sphita das Gespräch in eine andere Richtung.
„Ist dich tanzen zu sehen nicht Grund genug?“, fragte er zurück. Dann wurde er ernster. „Ich wollte euch nur wissen lassen, dass vorhin ein Bote vorgesprochen hat.“
„Neuigkeiten von deinem Vater?“, fragte Ardanna mit plötzlich geröteten Wangen.
„Er ist auf dem Weg zurück und sollte morgen gegen Mittag in Perth eintreffen.“
„So verpasst er die Feier zur Letzten Nacht!“
„Er ist nicht versessen auf Feiern dieser Art, wie du weißt. Immerhin sollte er zu Sphitas Geburtstag hier sein. Den werden wir zelebrieren. Bestimmt bringt Vater einen Karren voller Geschenke für dich mit“, wandte er sich an Sphita. Wie immer verlor er sich in den Grübchen, die das Lächeln auf ihre Wangen zauberte. Und wie immer wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie entartet sein eigenes Gesicht aussah, wenn er lächelte.
Ardanna seufzte enttäuscht. Videm nahm ihre Hand, tätschelte sie. Das rührte sie. Mit den Kleinkindaugen und Überresten des Säuglingsspecks sah Videm viel zu jung aus für seine achtzehn Jahre. Stets hatten sie und die anderen Bediensteten das Gefühl, ihn versorgen zu müssen. Dabei war er es, der sich auf unauffällige Art um andere kümmerte.
„Gehabt euch wohl“, verabschiedete er sich.
Mutter und Tochter sahen ihm hinterher, wie er den Gang hinunter lief, das linke Bein leicht nachziehend, den Kopf auf die Seite gelegt.
Die von raffinierten Tüftlern ersonnene und von erfahrenen Handwerkern gefertigte Anlage aus Fächern, Windklappen und Pergamentmühlen surrte. Sie saugte jedes Wärmeteilchen aus der Luft, verwandelte den Schweiß auf seiner Haut in eine klamme Umarmung. Noch wenige Tage, dann würde das spätherbstliche Schönwetter Nebelfeldern und Schauern weichen. Dor, die dunkle Jahreszeit, würde sich wie ein Mantel um die flache Insel legen. Er fürchtete die Stunden der Melancholie und Langeweile.
Videm stand am Fenster und starrte nach draußen in die Dämmerung. Es war schwer, hinter den kunstvoll gemusterten Glasflächen scharfe Konturen wahrzunehmen. Vor Jahren hatte er seinen Vater überredet, das verätzte Glas, dessen Herstellung einem Gildenmeister gerade erstmalig gelungen war, statt des Buntglases einsetzen zu lassen.
„Es wird mich ein Vermögen kosten“, hatte sein Vater theatralisch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Da wusste Videm, dass er gewonnen hatte. Dabei hatte der Ausgang von vornherein festgestanden. Es gab nicht viel, das Cledent Baraten seinem einzigen Sohn abschlug.
Hinter der Scheibe verschwammen die Häuserzeilen. Videm rieb sich die Augen. Die staubfreie Luft des Arbeitsraumes trocknete die Augäpfel aus.
Als er sie wieder aufschlug, sah er in der Scheibe sein Abbild und erstarrte zu Stein. Vor ihm stand ein Mann mit der Statur eines Athleten. Die Übungsstunden im eigens für ihn angelegten Kampfraum hatten Spuren hinterlassen, zweifellos. Schaudernd dachte er zurück an die ersten Monate nach dem Unfall, an die Schinderei, die vergossenen Tränen, die durchgebissenen Lippen. Mittlerweile hatte er sich an die harten Übungen gewöhnt, doch Muskeln und eine robuste Kondition allein entschädigten ihn nicht für die tägliche Folter. Oft musste er sich daran erinnern, dass die Qualen mehr bewirkten. Durch die Laufübungen schwanden die Kopfschmerzen, die ihn regelmäßig heimsuchten. Die Ausbildung im Nahkampf und an den Waffen gaben ihm ein Gefühl von Gleichgewicht zurück. Er hatte immer noch Mühe, Richtungen zu bestimmen und sich an Wege zu erinnern - an schlechten Tagen fand er sich nur zurecht, wenn er andere um Hilfe bat – aber er wankte nicht mehr, als hätte er zu viel Wein getrunken.
Videm musste zweimal tief Luft holen, bis er es schaffte, den unförmigen Schädel in Augenschein zu nehmen. Er scheute den Anblick, vermied es normalerweise, in spiegelnde Flächen zu schauen, hielt den Kopf gesenkt, um sein Abbild nicht in den Augen anderer zu sehen.
„Wie geschaffen, um Wände damit einzustoßen“, hatte Maxim herablassend gesagt.
„Der viertklügste Kopf in Levents Schülerschaft“, hatte Videms Vater den alten Mann gerügt. „Und wenn es nach mir geht, wird er am Ende der Schulzeit der klügste sein.“
Dann hatte er Videm angesehen und Videm hatte genickt. Die Entschlossenheit seines Vaters war unantastbar. Man stellte sich dem Leitenden Inquisitor nicht in den Weg.
„Er hat den Kopf eines verdammten Nardchads. Ich wette einen Jahreslohn, dass er nie der findigste Schüler wird.“
Man stellte sich dem Leitenden Inquisitor nicht in den Weg, es sei denn, man hieß Maxim Baraten und war der Vater des Leitenden Inquisitors.
„Eine Wette mit dir wäre sinnlos. Wenn du verlierst, bittest du mich, dir einen Jahreslohn zu leihen.“ Die Stimme seines Vaters konnte bitterkalt klingen. In Momenten wie diesen fühlte Videm Mitleid mit den Menschen, die eines Verbrechens bezichtigt waren und eine Unterredung mit dem Inquisitor durchstehen mussten.
Maxim hatte nichts erwidert. Sein Blick war abschätzend über den Enkel gewandert, einmal von unten nach oben, in unerträglicher Langsamkeit. Über der Stirn war er hängen geblieben. „Mach was mit diesen Haaren“, hatte er gesagt, bevor er auf leisen Lederschuhen durch die turmhohe Tür der Halle geschritten war. Videms Vater hatte ihm nachgesehen und geseufzt.
In den Straßen und Gassen unter ihm flammten Laternen und Fackeln auf. Ihr Schein reflektierte auf der Scheibe, verzerrte sein Abbild, die grausigen Einzelheiten. Ein Schädel, roh behauen und kantig. Auf dem Schädeldach eine kreisrunde, feuerrote Narbe. Rings um die verwucherte, eingedellte Haut wuchs kein Haar mehr, sodass er den Mönchen ähnelte, die in vergessenen Klöstern ihre Religion praktizierten.
Versunken strich er über den Krater, befühlte das wulstige Geflecht. Die Taubheit unter seinen Fingerspitzen war so unnatürlich, dass ihm übel wurde.
Er legte seinen Kopf an die Scheibe, fühlte weder ihre Glätte, noch ihre Kühle, sah auf die erleuchtete Stadt in ihrem Festtagsgewand. Er erinnerte sich, dass heute ein Anlass zum Feiern bestand, auch wenn er wenig Lust verspürte, sich in das trunken-fröhliche Menschengewirr zu stürzen.
Die Schublade am Schreibtisch ließ sich widerstandslos öffnen. In ihr lagen Kappen und Mützen aus Stoff und Leder. Pelzbesetzt, bestickt mit kunstvollen Ornamenten, buntgemustert oder ausgewaschen und farblos.
Nach einem Augenblick langte Videm nach einer Wollkappe. Kinderhände hatten sie gestrickt. Der Kappe fehlten Maschen, dafür leuchtete sie in allen Regenbogenfarben und eine Bommel krönte sie. Er besaß sie seit Jahren. Sie löste sich auf, sodass er sie nur noch zu besonderen Anlässen aufsetzte. Er erinnerte sich an den Kloß in seinem Hals, als Sphita sie ihm stolz überreicht hatte.
Vor der Tür merkte er schnell, dass ihm nach menschlicher Gesellschaft nicht der Sinn stand. Genauso wenig wollte er sich selbst überlassen schwermütigen Gedanken nachhängen. Unentschlossen irrte er durch das hell erleuchtete Haus, aus dessen weit offenstehenden Türen Gelächter und trunkener Gesang schollen. Wenn er an den Türen vorbei wanderte, sah er sich im Tanz wiegende Bedienstete und ihre Familien. Lehrmeister und ihre Freunde prosteten den Gästen zu, die die Rückkehr des Inquisitors erwarteten. Manche winkten und luden ihn mit Handbewegungen ein, andere riefen ihm frohe Botschaften für das kommende Jahr hinterher.
Seine Schritte führten ihn in den linken Gebäudeflügel. Auch hier hingen bunte Lampions und Papierschlangen. Getrocknete Blumenblüten schmückten den Boden. Es duftete nach Weihrauch und Gebratenem.
Die Tür zu Ardannas großzügiger Dienstbotenwohnung stand nicht sperrangelweit offen. Er verharrte vor der Schwelle, unschlüssig, ob er klopfen, die Tür aufstoßen oder weiter gehen sollte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als die Tür aufsprang und Sphita in einem weißroten Kleid lachend in den Flur wirbelte. Sie war außer Atem. Ihre zu Zöpfen geflochtenen Haare hatten sich aus den Spangen gelöst, schwebten um ihren Kopf wie Daunenfedern. Zwischen ihren von Naschwerk leuchtend rot gefärbten Lippen blitzten große Zähne hervor. Er gab ihr Lächeln zurück, doch Sphita spürte sofort, wie unecht es war. Spontan streckte sie ihre Hand aus und berührte ihn sacht am Ellenbogen. „Kommst du herein?“
Videm zögerte. In diesem Moment steckte Ardanna ihren Schopf durch die Tür, musterte den späten Besucher und lächelte liebevoll wie ihre Tochter. Nicht zum ersten Mal fiel Videm die Ähnlichkeit auf. Das dunkle Haar - bei Ardanna in einen Kranz gesteckt - die veilchenblauen Augen, die flink umher sprangen, die Grübchen in den Wangen, die gesunde Gesichtsfarbe. Beide waren geradlinig, unkompliziert, unverwüstlich guter Laune und lebenslustig.
„Wie schön, dich zu sehen“, begrüßte ihn Ardanna. Sie öffnete die Tür einen Spalt weiter und winkte ihn in die schmucke Wohnung.
Die Freude in ihren Gesichtern zog ihn hinein.
Zu seiner Enttäuschung hatte sich ein gutes Dutzend Menschen in Ardannas Räumen versammelt. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Er fing sich schnell, reichte den Anwesenden reihum die Hand, seinen Namen murmelnd. Man begrüßte ihn höflich, versicherte ihm, dass es ein Vergnügen sei, ihn wiederzusehen oder kennenzulernen. Danach wandten alle sich ihren unterbrochenen Unterhaltungen zu.
Zwei korpulente Frauen, den Zügen nach Schwestern Ardannas, baten die Kleine, ihren Tanz fortzusetzen. Sphita lehnte mit liebenswerten Ausflüchten ab. Ihr schien es wichtiger, Videm eine angenehme Gastgeberin zu sein. Sie brachte ihm verdünnten Obstwein und eine Waffel und versuchte ihr Bestes, den schweigsamen Sohn des Hausherrn in ein Gespräch zu verwickeln.
Videm empfand bald Mitleid mit ihr. Er war sich selbst darüber im Klaren, welch schrecklichen Gast er abgab, obwohl er sich nach Kräften bemühte, an den passenden Stellen zu lächeln oder bei ihren Klatschgeschichten Interesse zu heucheln.
„Der Mann dort hinten mit den lockigen Haaren, siehst du ihn? Das ist mein Onkel Hergart, der Bruder meines Vaters. Ich erinnere mich kaum an meinen Vater, aber ich stelle mir vor, dass er so aussah. Mit ein paar grauen Haaren und mehr Falten“, plapperte Sphita unverdrossen.
Ihre Worte hallten durch Videms Geist, während die Erinnerungsstürme einsetzten. Er presste einen Handrücken gegen die Stirn, um die Bilder der Vergangenheit zurückzudrängen. Doch wie vermochte man sie aufzuhalten? Die Empfindungen, die Gedanken, die sich hinter pochenden Schläfen auftürmten wie Gewitterwolken? Einer Lufttrübung gleich trugen sie das Bildnis einer Frau heran.
Videm hatte es aufgegeben, das Bildnis berühren zu wollen. Sie blieb unerreichbar, jetzt und für alle Zeit. Er hatte sich damit abgefunden. Traurigkeit nistete in seinem Herzen. Meist schlief sie, doch bisweilen erwachte sie. Manchmal war sie sanft und lethargisch; ein wildes, beißendes Tier an anderen Tagen. Die Gefühle überrollten ihn nicht mehr stündlich, Wochen lagen zwischen den Ausbrüchen. Doch sie kamen so sicher wie Ebbe und Flut.
Abwesend massierte er sich die Nasenwurzel. Sphitas Worte zogen vorbei. Lauthülsen ohne Bedeutung. Ihr Gesicht war ihm zugewandt; er sah sie lächeln und den Mund bewegen. Seine Sinne indes waren auf sein Inneres gerichtet, horchten in die Vergangenheit, fühlten alten Schmerz.
„Denkst du an den Unfall?“, hörte er Sphitas Stimmchen.
Unfall.
Wie hohl das Wort klang. Nichtssagend. Beiläufig. So oft gebraucht, dass es abgenutzt wirkte. Es beschrieb nicht annähernd, was passiert war. Was immer noch passierte. Wieder und wieder, in alle Ewigkeit.
Fahrig schob er das Mädchen beiseite und flüchtete, einen Abschiedsgruß murmelnd, auf den Korridor.
Während er die beleuchteten Gänge entlang lief, kämpfte er gegen den Aufruhr von Gefühlen an. Die letzten Meter rannte er, sodass er außer Atem an seiner Tür anlangte. Sobald er die Klinke berührte, wusste er, dass er es in den Privaträumen nicht aushalten würde. Er machte auf dem Absatz kehrt, stürmte den Gang zurück zur Mitteltreppe und hastete nach oben, zwei Stufen auf einmal nehmend.
Die gepolsterte Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters war unverschlossen. Videm stieß den schweren Drücker hinunter und schlüpfte in den Raum, der durch den sanften Schein der Laternenfeuer beleuchtet wurde.
Innen lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Tür und sog den Duft des Vaters ein. Ein Aroma von Tabakqualm, Tinte, Pergament, geöltem Holz, Kerzenrauch und eingefettetem Leder.
Seufzend ließ sich Videm in den imposanten Sessel sinken. In ihm war er dem Vater am nächsten, denn hier brachte er lange Stunden zu, wenn er auf dem Hauptanwesen weilte. Der Sessel war mit dem Geruch Cledent Baratens gesättigt. Er verströmte Trost und Macht gleichermaßen.
Videm legte die Arme auf die Lehnen, den Kopf an das Rückenpolster und die Beine auf den Schreibtisch, in den eine lederne Schreibunterlage eingefasst war. Um ihn knackten die mannshohen Schränke. Hin und wieder hörte er die Würmer, die sich durch das Nussbaumholz fraßen, ungeachtet der Pflege, die Videms Vater Möbeln und Gebälk angedeihen ließ. Samtene Vorhänge hingen zu beiden Seiten der Fenster hinunter, hinter denen er Menschen feiern hörte.
Er schloss die Augen. Erinnerungen strömten in ihn.
Seine Mutter erschien. Sie trug ein weißes, fließendes Gewand, das im Einklang mit ihren Körperbewegungen und Haaren wogte. Sie winkte ihm aus der Ferne träge zu. Als bereitete es Mühe, den Arm zu heben. Ihr Gesicht war verschwommen. Er konnte keine Regung ausmachen.
Möglicherweise lächelte sie. Hoffentlich lächelte sie. Womöglich waren ihre Züge aber auch so ausdruckslos wie nach ihrem Tod. Unverzüglich wischte er das Bild von ihrem entseelten Körper aus dem Bilderreigen der Erinnerungen. Zu spät. Wasser drang ein. Wasser, in dem sie versank, langsam und unaufhaltsam.
Er streckte die Arme aus, um sie vor den Fluten zu bewahren, zog sie an sich. Endlich sah er ihr Antlitz. Es schwebte über ihm, nur wenige Zoll entfernt. Ihre hellbraunen Augen kontrastierten stark mit der kalkigen Haut und den hellen Haaren. Er lächelte sie an und sie lächelte zurück. Behagliche Wärme dehnte sich in seiner Brust aus.
Dann gewahrte er den Blutstrahl, der aus ihrem Mundwinkel sickerte und ihre Lippen färbte. Ein obszönes Rot in einem Gesicht, das einen wächsernen Schimmer annahm. Er schrak empor. Blaue Äderchen erschienen auf ihrer Haut, breiteten sich aus wie Risse auf einer zerbrechenden Vase. Schnitte öffneten sich auf ihrer Stirn, klafften auseinander, legten rohes Fleisch frei. In ihre Wangen strömte Wasser und schwemmte diese auf. Ihre Augäpfel füllten sich mit Blut, bis sie zerplatzten.
Würgender Ekel überkam ihn. Trotz alledem wollte er sie nicht aufgeben, klammerte sich an sie.
Sie entglitt ihm. Ihr Körper wurde substanzlos, verlor seine Konturen. Ihre Bauchdecke wölbte sich, die Organe verflüssigten. Ihre Knochen weichten auf. Ihre Existenz zerrann.
Dann war sie weg.
Mit entfesselt hämmerndem Herzen lag Videm im Sessel seines Vaters, den Geschmack von Tränen, Blut und Galle auf der Zunge. Trotz allem erleichtert. Wenigstens hatte er nicht vom Sturz geträumt. Davon, wie sein Kopf zerbrochen war. Wie leer sein Leben fortan verlaufen war.
Erst im Morgengrauen überwältigte ihn gnädiger Schlaf. Ohne es zu merken, rollte er sich im Sessel zusammen. So fand ihn Ardanna.
Durch die angelehnte Tür beobachtete sie, wie er die Beine aus dem Bett schwang, sich entkleidete, den Kopf in die Waschschüssel tauchte, den Oberkörper bespritzte.
Er kam ihr verändert vor. Das Gesicht wirkte entspannter, die Schultern gestrafft, die Wirbelsäule gestreckt. Er pfiff leise, während er mit dem Finger Zahnpaste anrührte; summte beim Reinigen der Zähne. Er schien ausgeruht, obwohl er spätnachts aufgebracht und über Urdat Vei schimpfend vom Hauptgebäude zurückgekehrt war.
Im Ankleidezimmer griff er nach einer rotbraunen Ausgehuniform mit goldenen Streifen und glänzenden Knopfreihen. In der eng anliegenden Kleidung wirkte er statthafter als im Studiergewand.
„Sila“, sagte er, ohne sich umzuwenden.
Sofort stand sie neben ihm, einen Knicks andeutend. Er nestelte weiterhin am Kragen, zupfte den steifen Uniformstoff zurecht. „Was gibt es Neues?“
„Die Dran’a empfängt heute Gesandte aus Staleph und Prant. Es findet ein Festessen mit anschließendem Turnier statt, abends ein Bankett. Eure Anwesenheit wird überall erwartet. Die erfreuliche Nachricht für Euch dürfte sein, dass Euer Stiefvater den Ereignissen nicht beiwohnen wird.“
Eine gewagte Äußerung, die nicht in falsche Ohren gelangen durfte.
„Vei nimmt nicht an einem Turnier teil? Was um alles in der Welt könnte ihn von einem Waffengang abhalten?“
„Er begleitet den Gefangenentransport. Im Anschluss will er in Syrth und Manold nach dem Rechten schauen.“
„Was hat er mit den Grenzposten zu tun?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. Wer war sie, Veis Motive zu hinterfragen? Jedermann kannte seine Machtgier. Der Sohn eines niederen Hofadligen hatte sich mit gnadenlosem Kalkül an die Spitze des Reiches, an die Seite der Dran’a, gekämpft. Hinter seinem Rücken munkelte man von Bestechung, Erpressung, Drohungen, Todesaufträgen. Niemand sprach den Verdacht laut aus, niemals fand sich ein Beweis. Ohnehin stellte sich kein Mensch, der an seinem Leben hing, dem Mann in den Weg. Selbst die Kaiserin, ungerührt von Staatskrisen und persönlichen Tragödien, schien bisweilen von seinen Eisaugen verunsichert.
„Er begleitet die Gefangenen? In die Boragha? Heute?“
„So geht das Wort.“
„Das ist nicht richtig“, runzelte Ylaiy die Stirn. „Der nächste Transport ist erst im neuen Jahr fällig. Womit begründet Vei den verfrühten Aufbruch?“
Erneut zuckte sie die Schultern. „Mit dem Wintereinbruch? Problemen an den Grenzen? Anstehenden Feierlichkeiten? Braucht Urdat Vei eine Begründung?“
Ihre blauen Augen versenkten sich in seine bernsteinfarbenen. Er gab keine Antwort, doch seine Gesichtszüge verrieten, dass seine Gedanken rasten. „Ich muss zu den Kerkern. Sofort.“
„Was soll das heißen?“, fauchte Ylaiy die Wache an, die es einiges an Willenskraft kostete, nicht vor dem erregten Thronfolger zurückzuweichen.
„Herr, die Gefangenen verließen den Hof vor über einer Stunde. Ihr kommt zu spät.“
„Wer hat das befohlen?“
„Urdat Vei, Herr.“
„Urdat Vei war hier unten und hat den Abtransport befohlen? Am frühen Morgen?“
„Ja, Herr.“
Was geht hier vor?
Vei war der Oberbefehlshaber aller Truppen, kein Inquisitor. Er leitete die Appelle der Palastwache, besuchte Turniere, Bankette, Empfänge. Er repräsentierte, reiste zwischen Garnisonen und seinen privaten Gütern hin und her. Nun war er im Abstand von Stunden zweimal in die Tiefen der Kerker hinabgestiegen.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Polternd eilte Ylaiy die Wendeltreppe empor, stürzte zurück ins Morgenlicht. Auf dem Hof musste er sich zunächst orientieren, bevor er in Richtung Haupttor lief.
Er schob sich durch eine Gruppe von Soldaten, wich einem wiehernden Pferd aus, scheuchte eine Katze aus dem Weg, umrundete eine Einheit exerzierender Wachen. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Die enge Uniformhose kniff in seinem Schritt. Ich sollte mehr Leibesübungen absolvieren, schalt er sich, als seine Seite zu stechen anfing.
Die beiden Wachtposten an den gewaltigen Hebeln versteiften, als sie den Prinzen auf sich zustürmen sahen.
„Öffnen“, befahl Ylaiy. „Sofort!“
Nachdem sie einen kurzen Blick miteinander gewechselt hatten, hängten die Posten sich in die Winden und zogen das Tor knarrend in die Höhe. Ungeduldig hämmerte Ylaiy an das Mauerwerk.
Vor dem Tor wimmelte es von Menschen. Unter den wachsamen Augen der Palasthüter standen oder saßen sie im Schatten eines Mäuerchens, das den parkähnlichen Vorhof halbmondförmig umlief. Händler, Boten, Zulieferer, Antragsteller. Abseits und misstrauisch beäugt, lagerten die Männer und Frauen, die beim Hofgericht vorsprachen. Niemand vermochte zu sagen, ob es sich um Ankläger oder Angeklagte handelte. Oft stand das erst nach den Rechtssprüchen der Inquisitoren fest. Sie entschieden, wer durch das Haupttor wieder hinaus ging und wer zur Befragung in die Kerker geschickt wurde. Entsprechend angespannt waren die Mienen dieser Leute.
Am Ende des Vorhofes begann die Prachtstraße, die die Hauptstadt der Länge nach durchschnitt. An ihren Rändern sah man Menschen hin und her eilen. Auf der Allee selbst herrschte bis auf wenige Kutschen und vereinzelte Reiter kein Verkehr. Von Vei und dem Gefangenentransport war nichts mehr zu sehen.
„Die Audienzen für den Vormittag sind abgeschlossen, Herr“, raunte eine der Wachen Ylaiy zu. „Laut Protokoll öffnen wir erst wieder nach dem Mittagsmahl.“
„Laut Protokoll“, wiederholte Ylaiy abschätzig.
„Ich meine ja nur“, antwortete der Posten respektvoll, „dass Ihr bereits Aufmerksamkeit erweckt, Herr. Eure Sicherheit ist in Gefahr. Die Müßiggänger haben Euch bemerkt.“ Mit einer Kopfbewegung wies er auf eine Gruppe von Menschen, die sich am Ende der Vorhofmauer versammelt hatte.
„Wer sind die Leute?“
„Wir nennen sie Geier. Sie kampieren täglich hier. Neugier treibt sie hierher. Der Sinn ihres Lebens besteht darin, einen Blick auf die Hohen Häuser zu erhaschen.“
„Weshalb?“, fragte Ylaiy erstaunt.
„Klatsch. Hoftratsch. Gerüchte. Sie tragen sie in die Stadt, die Schenken, die Marktstuben. Seht Ihr, wie sie tuscheln? Sie haben Euch erkannt, Herr. Noch bevor die Sonne im Zenit steht, wird halb Yruish wissen, dass Ihr den Palast verlassen habt. Allein und außerhalb der vorgeschriebenen Zeiten.“ In die Stimme des Mannes mischte sich ein tadelnder Unterton.
„Oh, sie haben viel mehr zu berichten“, erwiderte Ylaiy gereizt. „Von einem außerplanmäßigen Gefangenentransport. Befehligt von Urdat Vei höchstpersönlich. Ein Prinz, der sich nicht an die Öffnungszeiten hält, fällt da kaum ins Gewicht.“
Die Wachen wechselten einen unbehaglichen Blick.
Ylaiy ignorierte sie und die tuschelnden Menschen um ihn herum. Seine Augen blieben auf die Straße gerichtet.
Was sollte er tun? Ein Pferd satteln lassen? Und dann? Die Gefangenenkolonne reiste auf wendigen Kastenwagen, war bereits kilometerweit entfernt. Sollte er hinterher preschen? Den Transport aufhalten? Urdat Vei befehlen, anzuhalten? Mit welcher Begründung? Was würde seine Mutter dazu sagen? Der Hof? Wie würde Vei reagieren?
Ylaiy zauderte. Was ging ihn das Ganze an? Er hatte tausende andere Verpflichtungen. Andererseits: Etwas stimmte nicht mit den beiden nächtlichen Eindringlingen, mit Veis überstürzter und übertriebener Reaktion.
Ruckartig wandte er sich um, ließ die verdutzten Wachen stehen und strebte mit eiligen Schritten davon.
Erst in der Mitte des Gewölbes blieb er unschlüssig stehen. Wo sollte er anfangen zu suchen? Die Bibliothek war ein Hort unerschöpflichen Wissens, ein Refugium des geschriebenen Wortes. Nahezu alles, was im Inselreich in Jahrhunderten seinen Weg auf Pergament, Papier, Tonplatten oder Wachstafeln gefunden hatte, verbarg sich hinter den Mauern des Kellergewölbes. Man konnte alles erforschen, nachlesen, studieren – wenn man wusste, wo man suchen musste. Die in Buchstaben, Runen und Bildzeichen gefassten Schätze befanden sich in einem Irrgarten unter der Palastanlage, geschützt vor Sonne, Witterung und Feuer. Natürlich gab es andere Feinde: Feuchtigkeit, Kälte, Nagetiere, die schweißigen Hände der Lesenden, Kerzenwachs, verschüttete Tinte.
Ein Heer Bediensteter war eigens für die Pflege der Bücher abgestellt worden. Es versah seine Aufgabe mit Hingabe; allen voran Frier Bland, ein Prant, dessen Alter niemand kannte. Als Junggeselle führte er ein klösterliches Leben; unbeeindruckt von höfischem Pomp und Sittenlehren. Die Aufsicht über die Folianten erforderte die Unterwerfung unter das Reglement der Staatsspitze, aber Blands hohes Alter und seine Verdienste hatten ihm einige Freiheiten beschert.
Vor vielen Jahrzehnten hatte Frier Bland ein schweres Erbe angetreten. Vor ihm hatten eifrige Vorsteher mit dem Sammeln, Kategorisieren und Katalogisieren der Schriftflut begonnen. Der Bibliothekar hatte das im Laufe der Jahrzehnte undurchschaubar gewordene System übernommen, es mit Neuerungen vereinfacht, sonst jedoch in seiner grundlegenden Ordnung belassen. Einer Ordnung, die nur er verstand.
Der Dran‘o erinnerte sich an die ungezählten Begebenheiten, bei denen er verzagt vor den Bücherreihen gestanden und ein bestimmtes Werk gesucht hatte. Mittlerweile durchschaute er die Anordnung der Standardausgaben in den vorderen Räumen. Sobald er allerdings eine seltene Ausgabe suchte, die in den hinteren Räumen lagerte, musste er Frier Bland zu Hilfe rufen.
Ylaiy beschloss, mit dem Einfachsten anzufangen.
In einem der viereckigen Haupträume wurde er schnell fündig. Die Geschichte Gaias. Band 3: Die sechs Inseln. Mit dem Finger fuhr er über das Inhaltsverzeichnis, schlug die entsprechende Seite auf und begann zu lesen.
Berlen ist die westlichste Insel unseres Reiches, gleichzeitig die heißeste und trockenste. Sie ist nahezu vollständig von Sandwüsten bedeckt. Zum Reichtum des Staates trägt die Insel kaum bei. Lediglich das Gebiet um die Oasen Flud und Puard auf der sogenannten Ostspitze liefert das begehrte Salz, das aus dem ausgetrockneten See Churdancha gewonnen wird.
Halb vertrocknete Oasen. Kaum Vegetation. Hunger, der die Menschen dahinraffte. Hitze. Kälte in der Nacht. Die Sprache und ihre Mundarten, die wenigen Orte, die auf der Karte verzeichnet waren. Ein Land der Leere. Ödland, Sandmeere ohne einen Tropfen Wasser.
Ein Bild blitzte auf. Der Junge, der sich die Tränen von der Hand leckte, gierig nach Flüssigkeit und Salz.
Ylaiy las über die Tiere der Insel, auf jedes Wort konzentriert. Die klare Sprache des Pranter Verfassers entzückte ihn. Er berichtete von skurrilen Tieren wie Sandfischen. Von Gazellen, Iltissen, Wölfen, Kamelen. Von Spinnen, Skorpionen, Echsen, Schlangen. Gekreuch und Gefleuch, das in der Hauptstadt ausgerottet war. Auf Berlen wurden sie verehrt, all die giftigen Kreaturen, verehrt, gejagt, gegessen.
Manche Information war ihm entfallen. Beim Lesen kehrte vieles an die Oberfläche zurück. Informationen, die er einreihte in Gedankenketten, die alte Fakten ersetzten oder ergänzten, manches in neue Zusammenhänge rückte.
Während draußen die Sonne über den Himmel wanderte, verstrich im künstlichen Licht der Kerzen die Zeit unbemerkt. Erst als ihm vor Hunger schwindlig wurde, gab Ylaiy auf.
Kein Wort von Vogelmenschen. Oder Flügelwesen. Oder Bur-an-gnea.
Wie immer, wenn er aus den unterirdischen Gewölben ins Tageslicht trat, kniff er die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, stand Sila an seiner Seite. Der Prinz griff sich vor Schreck an sein Herz. „Du bist wie ein Schatten.“
„Eure Mutter lässt nach Euch suchen. Ihr versäumt das Festmahl.“
Stöhnend fuhr er sich durch das glatte Haar. „Warum bist du nicht eher gekommen?“
„Ich war in der Stadt, Besorgungen machen. Ich nahm an, Ihr würdet Euch an das Mahl erinnern, von dem ich Euch heute Morgen erzählte.“
Er wollte etwas Scharfes erwidern, ließ sich von ihrem verletzten Blick jedoch besänftigen. „Du solltest vorsichtiger mit deinen Entgegnungen sein. Es ziemt sich nicht, einem Adligen etwas vorzuwerfen“, warnte er leise, aber nicht unfreundlich.
Sie wandte die Augen ab und nickte stumm. Dann steuerte sie auf den hinteren Hof zu.
Der Mittagsempfang war so gut wie vorüber, als er die Große Halle betrat. Seine Galauniform zierten Blessen, Troddeln, Orden, Streifen und Schulterstücke. An seiner Seite baumelte ein Degen. Die Stiefel waren auf Hochglanz gewienert. Unter seiner Achsel klemmte ein gefiederter Hut.
Herausgeputzt wie ein Festbaum.
Ylaiy streckte sich, drückte den Rücken durch, kniff das Gesäß zusammen. Schon nach wenigen Sekunden spürte er, wie seine Muskeln in der ungewohnten Haltung verkrampften. Seine Handflächen waren feucht. In seinen Ohren summte es. Undeutlich vernahm er die Ankündigung seiner Person, die sich wegen der vielen Namen und Titel geschmacklos in die Länge zog. Während er in der geöffneten Saaltür verharrte, richteten sich seine Augen auf die aufrechte Gestalt auf dem Thron.
Die Kaiserin wirkte vollendet in ihrer Rolle als Gastgeberin und Herrscherin des Inselreiches. Ihr Blick quer durch den Saal zu ihm war kurz, aber er hatte die Wirkung eines Dolchstoßes.
Ylaiys Herz holperte. Seine Augen schweiften zu den leeren Stühlen an ihrer Seite. Die Dran’a saß allein. Den zahlreichen Gästen war diese Tatsache nicht entgangen. Ylaive y’le Yrvois regierte das Land mit eiserner Hand. Ylaiy wusste, dass sie die Stärke eines Mannes besaß, im gleichen Maße, wie sie über Verstand und Kalkül verfügte. Hinwiederum stand fest, dass eine Frau als unvollkommen galt, wenn sie keinen männlichen Begleiter an ihrer Seite hatte.
Er hatte sie bloßgestellt.
Der Gang über die hallenden Steinfliesen war der übliche Spießrutenlauf. Er musste den Kopf nicht wenden, um das Getuschel und Geraune hinter vorgehaltenen Händen und Fächern wahrzunehmen. Er ahnte, was sie sich zuflüsterten. Dass er nichts vom Stolz und von der Härte seiner Mutter besaß. Nichts von dem liebenswerten Charme seines abenteuerlustigen Vaters. Es gab nicht wenige, die insgeheim aufstöhnten, wenn sie an ihn als den nächsten Herrscher dachten.
Seine Verunsicherung wuchs mit jedem Schritt.
Formvollendet verbeugte er sich vor den stalephschen Gesandten. Ihm fiel auf, dass sie ähnliche Gewänder trugen wie der Alte, der nun als Hochverräter auf dem Weg nach Kaadaa’boragha war, was einem Todesurteil gleich kam.
Die Legaten und der Prinz murmelten Begrüßungsformeln. Anschließend versicherten sie sich gestenreich gegenseitigen Respekt, verbeugten sich wiederholt unter den strengen Augen der Anwesenden, die jede Nuance des Rituals bewerteten, die geringste Abweichung in Tonfall, Wortwahl und Bewegung kritisierten.
Nachdem Ylaiy sich neben seiner Mutter niedergelassen hatte, wandte sich alle Aufmerksamkeit der Kaiserin zu, die ihrem Sohn ein falsches Lächeln schenkte. Jetzt begannen die trockenen Verhandlungsgespräche. Geschenke wurden ausgetauscht, Neuigkeiten berichtet, kaiserliche Verordnungen weitergegeben. Ylaiy versuchte, sich an den genauen Grund für die Anwesenheit der Gesandten zu erinnern, gab aber bald auf.
Unauffällig musterte er das Halbprofil Ylaives, die seit über zwei Stunden auf dem Thron verharrte. Aufmerksam nahm sie an den Gesprächen teil, lauschte allen Ausführungen, schaltete sich ein, fragte nach, besprach sich bisweilen mit ihren Beratern. In jeder Sekunde war sie Herrin der Lage.
Aus der Nähe sah er die Fältchen um ihren Mund. Die gut kaschierten Ringe unter den Augen. Sie war nicht mehr blutjung gewesen, als sie ihn bekommen hatte, älter als sein Vater. Ihm war gesagt worden, dass es vor ihm ein Geschwisterkind gegeben hatte, eine Tochter, die im Kindbett verstorben war. Manchmal dachte er, wie sehr er ihren Tod bedauerte. Es hätte sein Leben vereinfacht, wäre sie an seiner Stelle in den Fußspuren der Kaiserin gefolgt.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel lenkte ihn ab. Die rechte Hand der Dran’a zitterte. Ein leichtes Flattern der Finger. Kaum zu bemerken. Er sah sie irritiert nach unten schauen, so kurz, dass keiner der Anwesenden es bemerkte.
Rasch wandte Ylaiy den Blick ab und ließ ihn über den Saal gleiten. Zweifellos war er jedem dieser Menschen vorgestellt worden, doch er erinnerte sich an nur wenige Namen. Meistens an die der Frauen, die ihm wegen ihrer Schönheit imponierten.
Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft. Beiläufig registrierte er, wie hinter den Butzglasfenstern die Sonne ihren Zenit überschritt.
Bur-an-gnea. Flügelwesen. Wüste. Felsen.
Das Rascheln von Kleidersäumen und das Klirren der Degen weckten ihn. Eifrig erhob er sich, um seiner Mutter den Arm zu bieten. Ihre rechte Hand lag ruhig auf dem Uniformstoff. Erleichtert geleitete er sie aus dem Saal, vorbei an in der Verbeugung erstarrten Untertanen.
Draußen warf sie ihm einen erzürnten Blick zu und sagte mit klirrender Stimme: „Heute hast du dem Reich geschadet.“
„Ich war nur ein wenig zu spät.“
„Wie konntest du so werden? So schwach?“, murmelte sie und stieg die Treppen zu ihren Gemächern hinauf, umringt von einer Schar Kammerzofen.
Das Turnier fand er überraschend kurzweilig. Es war ein unbedeutender Wettkampf, in dem sich heranwachsende Ritter und Knappen maßen. Sie trugen stumpfe Waffen und ritten Zweitpferde. Dennoch unterhielten sich die Höflinge prächtig. Das frühwinterliche Wetter war mild. Musiker füllten die Pausen mit Gesängen und Vorträgen. Bedienstete versorgten die Anwesenden mit verdünntem Wein und Gebäck, Stadtmädchen boten auf entfernteren Lichtungen Liebesdienste an.
In einer Pause suchte Ylaiy eines der abseits gelegenen Abortzelte auf und entdeckte Frier Bland auf den Rängen.
„Unterhaltet Ihr Euch gut?“, ließ er sich neben dem Bibliothekar nieder.
„Und Ihr?“, bellte der Alte.
„Ich finde es recht ersprießlich.“
„Sinnloser Zeitvertreib!“
„Sicher. Doch es macht mein Herz leichter und hebt meine Laune. Das muss doch dann und wann erlaubt sein.“
„Das Leben hat nichts mit Leichtigkeit zu tun. Ihr solltet das wissen.“
Ylaiy ignorierte den Vorwurf. „Habt Ihr von den Eindringlingen vernommen?“
Der Bibliothekar sah Ylaiy fragend an.
„Ein alter Mann und ein Junge aus der Wüste. In der Nacht sind sie in den Palast eingedrungen, wurden erst im Hauptgebäude gefasst. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Der Palast wird immerhin bewacht.“
„Für zwei Menschen ist es einfacher, hinein zu gelangen als für eine Armee. Man wartet, bis ein Trupp durch das Haupttor reitet. Ihr wisst, dass immer Knappen und Bedienstete neben dem Verband herlaufen, die Pferde versorgen, beim Reinigen helfen und so weiter. Sie werden sich unter sie gemischt haben. Warum waren sie hier?“
„Sie behaupten, dass zwei Kinder entführt wurden. Es war alles sehr durcheinander.“
„Entführte Kinder“, sagte der Bibliothekar nach einer Weile. „Das ist tragisch, aber nichts, weswegen der Hof eingeschaltet wird.“
Ylaiy sah sich um, bevor er weitersprach. Plötzlich hatte er ein ungutes Gefühl, in der Öffentlichkeit über die Vorkommnisse zu sprechen. Er zog den Alten am Ärmel zu sich heran und senkte die Stimme. „Es ist alles so seltsam. Die beiden erschienen gestern ohne Audienz. Kamen gleich zum hinteren Tor. Die Wachen hielten sie für verrückt, Vei auch. Der Junge sah fremdartig aus, wild. Erzählte von Vogelmenschen. Von Blut und einem Felsen. Wirres Zeug. Aber es lässt mich nicht los. Ich habe alles über Berlen gelesen, was ich finden konnte, aber nirgends stand etwas über Bur-an-gnea oder einen blutigen Felsen.“
Ylaiy seufzte enttäuscht. Dann registrierte er, dass der Alte regungslos und schweigend neben ihm hockte, die wimpernlosen Augen auf den Boden gerichtet. „Bland? Habe ich Euch erschreckt?“
Der Alte kaute er mit den verbliebenen Zahnstummeln auf dem Inneren seiner Wange, einen krummen Zeigefinger an den Nasenflügel gelegt.
„Bland?“, hakte der Prinz nach.
Plötzlich erschien der Alte von Unruhe erfüllt. Raschelnd erhob er sich, beugte sich zu seinem Schüler. „Kommt heute Abend in die Bibliothek.“
„Ich kann unmöglich das Bankett früher verlassen. Meine Mutter ließe sie mich lynchen.“
„Lasst Euch etwas einfallen. Ihr seid doch der Schlaukopf am Hofe.“
Mit diesen Worten hastete der Alte davon, fast ohne eine Spur seines üblichen Hinkens.
Wer nach Kaadaa kommt, stirbt. Entweder verrottet er im Gefängnis oder erfriert in den Bergen.
Akim erinnerte sich deutlich an Gradhs Worte. Das Gefühl von Angst und Trauer wurde so überwältigend, dass er den Kopf in seine Hände legte.
Der Schmied musterte ihn besorgt, doch er schwieg. Die vor Ermüdung und Kälte schlecht gelaunten Berittenen, die den Transport seit der Hauptstadt begleiteten, unterbanden Gespräche sofort. Dabei gingen sie nicht zimperlich mit den Verurteilten um.
Verloren blickte der Wüstenjunge auf die vorbeigleitende Landschaft. Turmhohe Berge ragten seit Stunden zu beiden Seiten der Straße aus dem Dunst. Hatte er die Gipfel anfangs faszinierend gefunden, so deprimierte ihn der Anblick mittlerweile. Graues Gestein, nur selten unterbrochen vom schmutzigen Grün verdorrter Bergwiesen oder kümmerlichen Flechten. Bergrücken reihte sich an Felskamm, eine ununterbrochene Kette schneebedeckter, scharfkantiger Erhebungen. Er fühlte sich jetzt schon eingeschlossen.
Bei dem Gedanken an Mauern und Wände ohne Fenster verkrampften sich Akims Eingeweide. Sein Mund wurde trocken. Lieber dachte er zurück an den Damm, der sie über das Meer geführt hatte. Das Gefühl, in einem roh zusammengezimmerten Wagen wenige Ellen über dem Wasser zu schaukeln, hatte ihn gleichermaßen begeistert wie verängstigt. Es war nur ein zehnmannbreiter, mit Sand und Geröll aufgeschippter Wall gewesen, der ihn vor dem Wasser bewahrt hatte. Trotzdem hatte er sich auf dem Wellenbrecher wohler gefühlt als auf der Insel, die sie vor Stunden erreicht hatten. Seither holperten sie über die mit runden Steinen gepflasterte Straße. Seither schwirrten ihm auch Gradhs Worte im Kopf herum.
Das Wetter war ungemütlich. Akim trug mehr am Leib als zu Beginn der Reise, aber ausreichend gegen die Kälte geschützt fühlte er sich nicht. Der Wind pfiff durch alle Kleiderschichten. Jonoy hatte sich eng an ihn geschoben, hielt einen Teil des Windes ab, aber er konnte das Zittern nicht verhindern.
Unterdrücktes Gemurmel riss den Jungen aus den Gedanken. In den Gesichtern der anderen Gefangenen zeigte sich Angst. Akim reckte sich und folgte den Blicken der Männer und Frauen. Zur Rechten sah er steile Gebirgswände. Zur Linken schälten sich die Umrisse eines haushohen Zauns aus dem Bodennebel. Dahinter erahnte man die Konturen unzähliger Gebäude. Einige ragten über die Umzäunung. Viereckig, schmucklos, mit flachen, farblosen, schadhaften Dächern. Falls diese Gebilde die Zellen beherbergten, in denen sie fortan leben sollten, dann standen ihnen feuchtkalte Zeiten bevor.
Sie fuhren endlos lange an den Palisaden entlang. Die Straße wurde so schmal, dass die Eskorte sich vor und hinter die Käfigwagen gruppierte. Akim fühlte sich eingezwängt zwischen Zaun und Felsen. Er fror. Kaum ein Sonnenstrahl erreichte hier jemals den Boden.
Er bekam eine Vorstellung davon, in welchen Dimensionen das Reichsgefängnis geplant und errichtet worden war. Ihm wurde flau im Magen. Lückenlos reihte sich Pfahl an Pfahl. Ohne Spalten, ohne Risse, ohne eine Unebenheit. Uraltes Holz, schwarz von der Witterung. Hier hatten Generationen Gefangener meisterhafte Arbeit geleistet, sich selbst für alle Zeit von der Außenwelt abgeschnitten.
„Man sagt, dass kein Mensch es je geschafft hat, Kaadaas Mauern zu bezwingen“, raunte Jonoy, nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein Reiter in der Nähe war. „Wäre ich nicht in dieser vermaledeiten Situation, würde ich die Palisade ein Wunderwerk der Baukunst nennen.“
„Umschließt sie das gesamte Gefängnis?“
„Darauf kannst du einen lassen“, zischte ein kräftiger Mann auf der Bank gegenüber. Er spuckte braunen Speichel in die Mitte des Wagens. Akim verstand nicht, was der Mann gesagt hatte und betrachtete den Fleck. Einen Wimpernschlag lang lag Begehrlichkeit in seinen Augen. Der Mitgefangene sah ihn misstrauisch an, drückte sich an die Wagenwand und zog die Oberlippe hoch. Schwarze Zahnstummel wurden sichtbar.
„Das Gefängnis ist besser gesichert als jede Festung“, bestätigte Jonoy. „Hier ist es ein Holzzaun, doch ebenso soll es hohe Steinmauern geben, je nachdem, wann der Abschnitt errichtet wurde.“
„Ruhe da vorn“, krakeelte ein Berittener.
Jonoy duckte sich. Akim tat es ihm nach, schielte in das Gesicht des Reisegefährten. Der zuversichtliche Ausdruck in den Runzeln des Alten war Bangnis und Trübsal gewichen.
Hoffnungslosigkeit überschwemmte Akim.
„Wie sollen wir hier jemals wegkommen?“, hauchte er. Sorge um Kian, Angst und Heimweh schwirrten um ihn wie ein Schwarm Hornissen.
Die Pranke des Schmieds drückte behutsam seine Schulter. „Uns fällt etwas ein.“
Bevor er antworten konnte, informierte sie ein Ausruf, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.
Akim betrachtete das Tor aus massivem Gebirgsholz, das man mit Eisenbeschlägen verstärkt hatte. Die Flügel schwangen nach innen auf, um Ausbrüche zu erschweren.
Rumpelnd kam der Wagen zum Stehen. Auf den Wachtürmen erschienen Männer, die in ihren staubgrauen Uniformen an die kaiserlichen Fußtruppen erinnerten. Sie trugen Kurzschwerter und eine keulenartig verdickte Lanze, die etwa so lang war wie Akims Speer, den ihm die Wachen am Kaiserhof abgenommen hatten. Jonoys Stock schienen sie nicht als Gefahr zu betrachten, denn der Alte hatte ihn zwischen die Knie gestellt, hielt sich daran fest.
„Ein Urdat“, murmelte Jonoy, der den Bewegungen des Jungen gefolgt war.
Akim warf einen verstohlenen Blick nach hinten. Von dort näherte sich der Mann mit dem eisgrauen Haar und den kalten Augen, der den Transport leitete. Mittlerweile wusste Akim, dass es sich bei dem in einer schmucklosen Uniform steckenden Mann um den Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee handelte.
„Vei persönlich hat die Waffe entwickelt. Ihm zu Ehren gab man ihr den Namen. Man kann sie ausgezeichnet im Nahkampf einsetzen, entweder mit dem zugespitzten Schaft voran oder als Keule.“
„Die Wärter halten Angreifer damit auf über Armlänge von sich“, erkannte Akim.
„Einige beherrschen sie so gut, dass sie sie um sich schleudern. Niemand gelangt dann ohne Verletzungen in ihren Radius.“
„Schweigt!“, herrschte sie ein rotgesichtiger Wärter an. „Wagt es nicht, noch einmal zu reden, bevor man es euch befohlen hat!“
„Gibt es Probleme?“
Akim zog den Kopf weiter zwischen die Schultern, als er die näselnde Stimme des Oberbefehlshabers hörte, die ihm Schauer über den Rücken jagte.
„Nur die beiden, Herr“, gab der angesprochene Wärter zurück. „Sie wurden bereits verwarnt.“
„Ah.“
Akim starrte auf die abgeschliffenen Bohlen. Mit Ohren und Nase verfolgte er, wie Veis Pferd neben ihm zum Stehen kam, Luft durch die Nüstern ausschnaubte und tänzelte. Er vernahm, wie Veis Hände die Zügel fester packten, wie Stiefelsohlen über den Pferdeleib schabten. Er hörte, wie der Gemahl der Kaiserin sich auf dem Tier nach vorn beugte. Gleich darauf fühlte er behandschuhte Finger unter seinem Kinn und schmeckte Angst.
Langsam hob er den Kopf. In Veis Eisaugen glitzerte es tückisch. Verzweifelt schluckte Akim gegen die Finger an, die sich um seinen Hals schraubten. Sie raubten ihm die Luft, obwohl der Befehlshaber nur leicht zudrückte, wie um zu signalisieren, wie wenig nötig war, einem Leben ein Ende zu bereiten.
Der Junge verstand und überließ sich der Gnade Veis. Sein Körper erschlaffte, sank auf der Bank zusammen, während sein Blick den von Urdat Vei nicht verließ.
Das hagere Gesicht des Oberkommandierenden war unnatürlich glatt. Es nahm sich wie eine jugendliche Maske aus unter dem kurz geschorenen Silberhaar. Ein Antlitz, das schauderhaft unbeteiligt wirkte, auch als Vei mit der Hand ausholte.
Der Schlag warf Akim beinahe vom Wagen.
Im Chor mit den anderen Verurteilten japste Jonoy nach Luft. Ohne nachzudenken, griff er nach Akims Hemd.
„Lass ihn“, kam die flüsternde Stimme des Oberbefehlshabers ihm zuvor.
Für einen wahnwitzigen Augenblick überlegte der Schmied, sich dem Befehl zu widersetzen, doch ein Blick in die sich verengenden Augen erstickte den Gedanken im Keim. Aus den Augenwinkeln sah er zudem die Wärter ihre Hände auf die Schwertknäufe legen. So ließ er den Jungen los, der sich die schmerzende Wange rieb.
„Vei?“, erscholl eine Stimme. Sie klang fest und ohne eine Spur von Unterwürfigkeit.
Der Oberbefehlshaber drehte sich nicht um. Er blieb im Sattel sitzen, bis der Besitzer der Stimme sich genähert hatte.
„Baraten.“ Der Name hörte sich hart zwischen den dünnen Lippen des Kaisergemahls an. Fast grausam.
„Lasst uns die Angelegenheit nicht länger hinauszögern als unbedingt nötig.“
Der Sprecher war ein stämmiger, unscheinbarer Mann mittlerer Größe. In der Hafenstadt Wyickam, der Namenspatin des Dammes, war er mit kleinem Gefolge zu ihnen gestoßen und seither am Ende des Konvois geritten. Er trug Reisekleidung, unauffällig und schlicht, doch von außergewöhnlicher Qualität und nach Jonoys Ermessen unbezahlbar.
„Wollt Ihr mir Befehle erteilen, Cledent?“
„Nein“, erwiderte der Mann, dem zur Körpergröße des Oberbefehlshabers ein gutes Stück fehlte. „Doch ich friere und die Dunkelheit senkt sich herab. Ich hatte nicht vor, die Letzte Nacht im Gefängnis zu verbringen. Ich bin mir sicher, dass auch Ihr andere Pläne hattet.“
Seiner Stimme war keine Respektlosigkeit zu entnehmen. Er sprach klar, ohne Anzeichen eines Akzentes oder Dialektes. Yr schien seine Muttersprache zu sein, was ihn der Hauptinsel oder Prant zuwies. Da ihm der hohe Wuchs der Elboin fehlte, tippte Jonoy auf die Schwesterinsel.
Urdat Vei sah sein Gegenüber nachdenklich an. Der Mann mit den dünnen Haaren und Wangen, die Pockennarben durchgerbten wie einen Sameler Ziegenkäse, wich dem Blick nicht aus.
Schließlich nickte Vei und hob die behandschuhte Hand, um den Wärtern auf den Türmen ein Zeichen zu geben. Die Flügel des Tores schwangen zur Seite.
Drinnen wandelte der gepflasterte Weg sich zu einer Straße aus Steinplatten, die in die Mitte eines sechseckigen Platzes führte, um den sich eine Gruppe Gefängniswärter aufgebaut hatte.
Die Ankunft der neuen Sträflinge schien sich herumgesprochen zu haben. Von überall her strömten Männer und Frauen heran und säumten die Zufahrtswege. Akim begriff, dass sie kamen, um ihn und die anderen zu begutachten. Wie ein geprügelter Hund senkte er den Kopf.
Am Ende der Straße angekommen, musterte Vei die Versammlung mit kaum verhüllter Verachtung. „Den Rest überlasse ich Euch, Baraten. Ihr habt richtig vermutet: Ich habe Pläne.“ Der Kaiseringemahl entblößte ein schadloses Raubtiergebiss, riss das Pferd herum und spie einem Unterbefehlshaber Anweisungen zu. Ohne einen Abschiedsgruß ritt er davon. Die Hufe hallten laut auf den Steinplatten.
Cledent Baraten sagte kein Wort. Ausdruckslos winkte er einen seiner Begleiter heran, der ihm ein sorgsam verschnürtes Paket hinhielt. Unbeeindruckt von den vielen Menschen löste Baraten die Lederbänder und entnahm dem Bündel ein Tuch aus schillernder Seide, das er sich mit einem geschickten Schwung über die Schultern warf und mit einer silbernen Nadel vor dem Hals verschloss. Anschließend ließ er sich weitere Bündel bringen, aus denen er eine Reihe metallener Gegenstände hervorsuchte.
Akim beobachtete die seltsame Zeremonie mit düsteren Vorahnungen. Ein Blick auf Jonoy verstärkte sie, denn der Schmied war blass geworden und hielt den Atem an.
Baraten drehte ihnen den Rücken zu. Akim sah eine farbenprächtige Zeichnung, die kunstvoll in das Gewebe des blutroten, knöchellangen Tuches eingearbeitet worden war. Der Stoff bauschte sich bei jeder Bewegung auf, sodass das Bild wie lebendig wirkte. Er erkannte Tiere: einen Adler, der eine Schlange in den Fängen hielt, und einen Löwen, der sich vor dem Raubvogel auf die Hintertatzen erhoben hatte.
„Das Wappen der Kaiserin, vereint mit dem Emblem der Inquisition“, raunte Jonoy.
Als Baraten sich wieder in ihre Richtung drehte, hatte er eine Kappe bis zu den Ohren über den Kopf gestülpt. Sie verbarg sein Haar, ließ das Gesicht scharfkantiger wirken, betonte die stechenden Augen und die gekrümmte Nase. Die Arme hatte er ausgebreitet und der Umhang fiel von seinen Schultern wie die Flügel eines riesigen Vogels.
Akim stieß einen erschrockenen Schrei aus und wich zurück. „Bur-an-gnea!“
Augenblicklich versetzte ihm ein Gefängniswärter einen Faustschlag. Akim taumelte zur Seite und brachte damit seinen Sitznachbarn ins Wanken. Auf dem Wagen brach Unruhe aus. Sofort sprangen Aufseher heran und schwangen ihre Urdats.
Jonoy bekam einen schlecht gezielten Schlag ab. Dennoch wölkte Schwärze sich um ihn. „Hört auf“, ächzte er mit blutender Lippe. „Das ist ein Missverständnis.“ Die halblauten Worte brachten ihm weitere Hiebe ein, bis eine knappe Anweisung Baratens die Wärter stoppte.
Von einer Sekunde zur nächsten kehrte Stille ein.
Der Inquisitor hatte die Position nicht verändert. Mit ausgebreiteten Armen stand er vor den Insassen. Ihn umringten Bewacher und Soldaten, die jede Bewegung argwöhnisch beäugten, Urdats und Schwerter schlagbereit. Sie schienen einen Aufstand zu befürchten, doch Baraten besänftigte die Gefangenen mit schierer Präsenz. Von seiner gedrungenen Gestalt schien unterschwellig Gefahr auszugehen.
Mittlerweile war Dunkelheit über das Gefängnis hereingebrochen. Fackeln und Feuerpfannen wurden rund um den Platz entzündet und tauchten diesen in ein diffuses Licht. Die Menschen verschmolzen zu einer wogenden Masse. Sie summte wie ein aufgebrachter Bienenschwarm.
Endlich öffnete Baraten den Mund. „Wisset“, drang seine Stimme bis an die Ohren der hintersten Zuhörer, „dass ihr alle“, wandte er sich an die Neuankömmlinge, „Verbrechen begangen habt, die gesühnt werden müssen. Eure Taten sind abscheulich und mit ihnen habt ihr euer Recht verwirkt, als freie Menschen im Dran‘bara zu leben.
Zwei unter euch haben sich einer Ruchlosigkeit schuldig gemacht, die mit dem Tod entgolten wird: des Hochverrats an unserer Majestät, der Kaiserin.“
Ein Raunen lief durch die Menge.
Akim gefror das Blut in den Adern, als Baratens durchdringende Augen sich auf ihn und Jonoy legten.
„Was hat er gesagt?“, flüsterte er angsterfüllt.
„Wir sterben.“ Die Stimme des Alten knarrte wie die Angeln des Eingangstores.
„Was? Wieso? Wir haben nichts getan. Wir wollten nur mit der Kaiserin sprechen. Sie muss wissen, was geschehen ist. Sie muss uns helfen“, sprudelte es aus Akim hervor. Sein Körper fühlte sich taub an. Das hier war falsch. Entsetzlich falsch.
Unbeeindruckt von seinen Qualen sprach Baraten weiter. „Hiermit verurteile ich dich, Akim Parati, und dich, Jonoy Zac-Sta, zum Tode. Die Strafe wird heute Abend verhängt.“
Während Akim, eines klaren Gedankens unfähig, neben dem fassungslosen Schmied auf dem Wagen hockte, entledigte sich der Inquisitor der zeremoniellen Kleidung und Gegenstände. Dann ritt er die Hauptstraße hinunter auf das Tor zu, das ihn in die Freiheit führte.
Der Weg war länger und umständlicher, aber sicherer. Kaum jemand wusste um ihn. Wer ihn benutzte, wollte unbemerkt bleiben. Wie ihre Mutter, die alle Schlupfwinkel und Schleichpfade der Insel zu kennen schien. Eins der wenigen Dinge, die Adiv ihr zugutehielt, war, dass sie sie als Kind mitgenommen hatte, wenn sie ihre Besorgungen und Botengänge tätigte. Die geheimen Pfade hatte sie nie vergessen.
Der Weg war auch anstrengender. Bereits nach der Hälfte keuchte sie. Manche Abschnitte waren steil und glitschig. Nicht selten kroch sie zwei Schritte nach vorn und rutschte einen wieder zurück. Sie hangelte sich an Wurzelsträngen entlang, robbte über die brüchigen Dächer der Holzverschläge. Sie stemmte sich an Wasserrohren empor, durchquerte verschlungene Kanäle, drückte sich um vorspringende Ecken und Kanten, vermied die Wanderpfade der Rattenkolonien.
Wie ein Faustschlag traf sie die Kälte der Abendluft, als sie das Gitter eines der längst vergessenen unterirdischen Verliese öffnete und über den Rand spähte. Der Südwesthof lag verlassen in der aufziehenden Dunkelheit. Keine Menschenseele war zu sehen. Mühsam zog Adiv sich nach oben und rutschte aus dem Loch. Sorgfältig schloss sie die Luke wieder und huschte zu einer der dunklen Maueröffnungen.
Aufmerksam beobachtete sie die Umgebung, überlegte, welche Richtung sie einschlagen musste. Sie war seit Jahren nicht mehr hier gewesen, aber die Gebäude wirkten unverändert. Verschiedene Stadien des Verfalls. Bröckeliger Sandstein in diesem Winkel des Gefängniskolosses, der sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitete.
Klamme Kälte zauberte Gänsehaut auf ihre Arme. Kein Zweifel, der Winter kam. Und wie jedes Jahr kam er als unerwünschter Gast, den man am liebsten gleich wieder loswerden wollte. Sie erinnerte sich, dass Arlen bereits vor Tagen verkündet hatte, dass es schneien würde. Er schien derlei Dinge vor allen anderen zu wissen. Aan scherzte manchmal, dass er die Gabe der Voraussicht besäße. Die Wolken, die in der Ferne aufzogen und die Gebirgsspitzen verhüllten, gaben ihm jedenfalls recht.
Stimmengewirr und klirrende Geräusche vom Haupthof lenkten Adiv von ihren Gedanken ab. Neugier und Vorsicht kämpften in ihr. Wie so oft gewann ihr Vorwitz die Oberhand. Sie beschloss, einen Blick zu riskieren.
Ihre Mutter besaß die Fähigkeit, wie eine Maus von einem Punkt zum anderen zu flitzen. Adiv versuchte, wie sie zu denken. Vorausschauend. Geräuschlos. Unauffällig. Lediglich das Rascheln ihres Kleidersaums und ihrer Stoffschuhe war zu hören, als sie im Schatten der Mauern um den Hof schlich, durch die Überreste einer zerfallenen Wand schlüpfte und in ein verlassenes Haus eindrang. Dessen Wände waren so löchrig, dass der Wind hindurch pfiff.
Immer auf der Hut vor Löchern im Fußboden, durchquerte sie das Erdgeschoss. Auf der anderen Seite des Hauses machte sie Halt, überprüfte die Maueröffnungen, die in der Boragha Fenster ersetzten. Keine Stofffetzen davor, keine Bretter, nicht einmal Papier. Hier lebte tatsächlich niemand.
Sie raffte ihr Kittelkleid, stieg durch ein niedriges Fenster wieder nach draußen. Der Untergrund war unberührt und körnig, erschwerte das Laufen, pikste durch die dünnen Sohlen ihrer Schuhe.
Drei Kreuzungen weiter erreichte sie die Grenze des Haupthofes, der größten Freifläche im Gefängnis. Die Planer waren methodisch zu Werke gegangen. Der Platz war, bis auf den Zentimeter genau vermessen, ein exaktes Sechseck. Sein Untergrund bestand aus schweren Steinplatten. Von allen sechs Ecken aus verliefen zinnoberrote Linien, die sich in der Mitte zu einem Kreis vereinten. Am Rande des Hofes standen graue Gebäudeblöcke.
Jeder Neuankömmling lernte zuerst diesen Platz kennen. Hier wurden die Gefangenen abgeladen, verhört, nach verdächtigen Gegenständen durchsucht, verspottet, geschlagen. Manchmal auch unmittelbar nach der Ankunft getötet oder verstümmelt. Diebe verloren ihre Hände, Schläger wurden ausgepeitscht, Vergewaltiger getreten, Mörder gebrandmarkt. Einige überlebten die Tortur nicht. Andere bemühten sich, nicht zu ihren Frauen und Kindern zu schauen, die gleich mit verurteilt worden waren. Die Abgebrühten ließen alles gleichgültig über sich ergehen, lachten die Wärter aus oder verhöhnten sie. Wenn die Bewacher übler Laune waren oder die Transportsoldaten eine beschwerliche Reise hinter sich hatten, schnitten sie willkürlich Gliedmaßen ab oder Augen heraus.
Adiv war nicht erstaunt über die Menschenmenge, die sich auf dem Haupthof eingefunden hatte. Ein Ereignis wie die Ankunft frischer Insassen ließen sich viele nicht entgehen. Besonders abscheuliche Szenen, die sich dabei abspielten, wurden ins gemeinschaftliche Gedächtnis aufgesaugt. Noch Jahre später trug man sie begeistert vor. Adiv wusste, dass ihre Mutter regelmäßig der Ankunft beiwohnte, wenngleich sie zu Hause keinen Ton darüber verlor. An diesen Tagen war ihr Gesicht noch verkniffener als sonst.
Die Tochter hatte keinerlei Interesse an derlei Veranstaltungen, aber zwei Umstände ließen sie in ihrem Versteck verharren.
Erstens realisierte sie, dass es ungefährlicher und schneller war, sich durch das Gedränge bis zur Südseite zu schieben. Von dort konnte sie den Hauptkanal zur Großen Kloake nehmen, um zu Aans Wohnung zu gelangen. Der zweite Umstand präsentierte sich ihr in Gestalt eines markanten männlichen Gesichtes.
Chries, formten ihre Lippen lautlos.
Natürlich nahm er sie nicht wahr. In den Häuserschatten am Rand der Menschenmenge war sie unsichtbar. Außerdem waren seine Augen auf die zerlumpten Gestalten gerichtet, die soeben, unter Einsatz von Urdats und Breitschwertern, von den Karren gezerrt wurden.
Adiv beobachtete den unerfahrenen Wärter. Er stand regungslos. Nur die Hände, die er unauffällig an den Hosenbeinen abwischte, verrieten seine Anspannung.
Plötzlich stöhnte die Menge. Adivs Blick schwenkte zu einem kleinwüchsigen Mann mit einem Bart, dessen verfilzte Enden bis auf die Brust reichten. Er hielt einen bastumwickelten Stock, auf den er sich beim Abstieg hatte stützen wollen. Einer der Kerle aus der Eskorte musste gegen den Stab gestoßen haben, denn gerade landete der Alte krachend auf der Erde.
Die Menge hielt die Luft an, als ein Wärter aus der Reihe ausbrach, um dem Soldaten zu Hilfe zu kommen. Roh stieß er dem Gestürzten mit seinem Knüttel in die Seite, bellte ihn an, auf die Füße zu kommen. Der Soldat stand grienend daneben. Adiv sah, wie Chries die Hände zu Fäusten ballte. Einige Frauen in dem Gemenge schrien auf, doch die Mehrzahl der Anwesenden verharrte in gespanntem Schweigen.
Tu es nicht, flehte sie Chries in Gedanken an. Der junge Offizier schien ihre stummen Bitten zu hören. Er bewegte sich nicht. Nur die Fäuste zuckten und der Adamsapfel hüpfte.
Unterdessen piesackte der Wärter weiterhin den alten Mann, der sich schwerfällig auf die Seite rollte, das Bein steif von sich gestreckt. Sie sah kein Blut, aber das Stöhnen verriet den Schmerz.
Jählings sprang vom Wagen ein Junge herab. Er war entsetzlich dürr, sah verängstigt und verfroren aus. Abschätzend betrachtete Adiv das Wenige, das er am Leibe trug: Hosen, die oberhalb der Knie endeten, ein viel zu großes Leinenhemd, einen Umhang mit Kapuze, ausgetretenes Schuhwerk. Letzteres so lose, dass es mit Bändern um Füße und Waden geschnürt war.
Er wird den Winter hier nicht überleben.
Sie schürzte die Lippen.
Der Alte genauso wenig.
Der schmächtige Junge schlängelte sich um den brüllenden Wärter und den grinsenden Soldaten herum und griff nach der Hand des Bärtigen, noch bevor jemand reagieren konnte.
Die Menge johlte. Es war unklar, wen sie anfeuerte. Adiv interessierte es nicht. Als der Wärter begann, auf den Jungen einzuprügeln, nutzte sie die günstige Gelegenheit. Sie schob sich durch den aufgebrachten Pulk und verschwand ungesehen in einem Abflussrohr.
Sie folgte dem Rohr, in dem sie beinahe aufrecht gehen konnte, in die Schwärze. Der Gestank, der aus der Grube am anderen Ende strömte, ließ sie um ein Haar die Besinnung verlieren.
Auf den letzten Metern vor der Kloake hielt sie die Luft an, kletterte vorsichtig aus dem Rohr und um den Rand der Grube herum. Wer in sie hinein fiel, kam nie wieder heraus. Schmatzend schwappte die schwärzlich schillernde Brühe aus Fäkalien, Kadavern, Urin und Abfällen an die Einfassung. Unfassbarer Gestank quoll aus der Tiefe.
Adiv schloss die Augen. Blind tastete sie sich am Rand entlang, fand schwitzend und würgend zu dem Nebengang, der nach Westen verlief. Hier wurde der unmenschliche Mief erträglicher.
Vorfreude überfiel sie. Abgesehen von den kurzen Begegnungen in der Gefängnisküche hatte sie Aan seit Tagen nicht gesehen. Sie brannte darauf, der Freundin von Chries zu erzählen.
Der Geruch verwirrte sie zuerst.
Gerade dem stinkenden Atem der Kloake entkommen, kitzelte der Duft nach süßem Wein Adiv in der Nase.
Hat sie ohne mich angefangen?
Danach kam die Tür in Sichtweite und in Adiv wuchsen schlagartig Beklemmung und Sorge. Aans Tür stand sperrangelweit offen. Niemand, kein Mann, keine Frau, kein Kind, kein Kleinkind, kein vergesslicher Alter, kein Mensch in Eile – niemand ließ in Kaadaa’boragha die Tür offen.
Dann sah sie, dass die Tür schief in den Angeln hing, zersplittert von kräftigen Fußtritten, und ihre Schritte verzögerten sich. Sie wickelte Kleid und Umhang enger um sich, duckte sich, hielt den Atem an. Unsicher sah sie sich nach Hilfe um. Unvermittelt wurde ihr bewusst, dass sie in einem menschenleeren Nebengang stand. Allein. Abends. In der Letzten Nacht. Alle angrenzenden Verschläge dicht verschlossen. Ihre Bewohner oben bei der Ankunft.
Irgendwo gluckerte Wasser.
Nach dem Geruch und der Tür war es die Stille, die Adiv in höchste Alarmbereitschaft versetzte.
Wo ist Arlen?
Aans Tür stand auf, aber die Stimme ihres Sohnes drang nicht heraus, weder aufgeregt, noch ängstlich, noch panisch. Etwas stimmte nicht.
Lauf weg, kreischte es in Adivs Kopf.
Die Sorge um ihre Freunde trieb sie zum Eingang. Sie pirschte sich an die Türschwelle und holte tief Luft. Unzählige Schreckensszenarien rauschten durch ihren Geist. Harmlos im Vergleich zu dem, was sie sah, als sie um die Ecke lugte.
Blut. Überall Blut. An den Wänden. Auf der Bettstatt. Dem Fußboden. Dem Geschirr. Ein umgekippter Tisch. Kupfergestank. Fäkaliengestank. Eine Frau auf dem Boden. Zerfetzte Haut. Zerrissene Kleidung. Aans offener Mund. Ihr Gesicht, so rot. Gehirnfetzen in ihrem Haar. Tropfende Gedärme. Ein Armstumpf. Ein Auge.
Ein Auge?
Es war bis zur Schwelle gerollt. Aans Auge, dunkelblau und sanft sonst, nun blutig und herausgefetzt.
Adivs Beine gaben nach. Ihr Körper neigte sich zur Erde. Ihr Verstand verweigerte den Dienst. Sie taumelte gegen den Türpfosten, klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende. Ein Schluchzen entstieg ihrer Kehle. Wellen der Übelkeit brandeten nach oben, Erbrochenes brannte in ihrem Hals.
Dann sah sie, wie sich etwas bewegte, sich nach ihr umdrehte.
Er stand im hinteren Teil des Zimmers, im Halbdunkel, wortlos. Ein Gesicht wie ein Kampfhund. Die heiseren Laute, die aus seiner Kehle drangen, klangen mehr tierisch als menschlich. Er streckte die Hände nach ihr aus. Blutverschmiert wie seine Ärmel.
Adiv drehte sich um und floh.
Später vermochte sie nicht mehr zu sagen, wie sie es zurück zum Südwesthof geschafft hatte. Sie erinnerte sich an einen Rausch verschwommener Eindrücke. Eine gespenstische Abfolge heller und dunkler Abschnitte. Tanzende Lichter, verworrene Geräusche, hallende Stiefel. Der stoßende Atem ihres Verfolgers. Ihr eigenes gehetztes Luftholen, vermischt mit unkontrollierbaren Schluchzern.
Sie kam wieder zu sich, als eine Hand aus dem Dunkel schoss und sie gewaltsam nach hinten riss. Stolpernd fiel sie mit dem Angreifer zu Boden.
Hastig wollte sie sich wegrollen, doch die andere Person hatte sich blitzschnell auf sie gesetzt und drückte die Hand auf ihren Mund, sodass ihr allmählich die Luft ausging.
„Wirst du wohl endlich still sein?“, zischte der Angreifer.
„Mutter?“, murmelte Adiv erstickt.
Die Hand um ihren Mund verschwand. Nach Atem ringend sah Adiv ihre Mutter an, die auf ihr hockte, einen Finger warnend an die Lippen gelegt. Adiv bemühte sich, das heftige Atmen zu unterdrücken.
Sacht glitt ihre Mutter von ihr herunter. Mit sparsamen Gesten bedeutete sie ihr, zu folgen. Verwundert kroch Adiv hinter ihr her.
Am Rand des Südwesthofes horchten sie nach allen Seiten. Dunkelheit umhüllte sie. Der Wind blies stärker als vorhin. Erst jetzt bemerkte Adiv, dass Atemwolken aus ihrem Mund strömten. Vom Haupthof her konnten die Frauen noch immer Stimmen hören, doch die Menge schien sich aufzulösen. Die Sträflinge waren in die flachen Steingebäude gebracht worden. Sie würden die erste Nacht hinter Gittern verbringen.
Ängstlich lauschte Adiv nach Stiefeltritten, nach dem polternden Gang des Mörders. Bei dem Gedanken an Jorgen wurde ihr erneut übel, doch sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Jetzt galt es, ihr eigenes Leben zu retten.
Ihre Mutter presste das Ohr an den Boden, horchte und tastete nach Vibrationen. Erleichtert lehnte sie sich zurück. „Wir schleichen uns hinüber zu dem unbewohnten Haus, das du vorhin durchquert hast. Es besitzt ein zweites Stockwerk, in das man nur über eine zerstörte Treppe gelangt. Wir ziehen uns am Geländer hinauf.“
Im Haus wäre Adiv am liebsten auf den mit Schutt und Geröll übersäten Boden gesunken, so müde war sie plötzlich. Stattdessen erhielt sie einen Stoß in ihre Seite.
„Bleib in Bewegung“, herrschte ihre Mutter sie an. Sorge umwölkte ihre Stirn, doch um ihren Mund stand Entschlossenheit.
Adiv starrte die Balustrade an. „Warum steigen wir nicht einfach die Stufen hinauf?“
„Fußspuren“, erwiderte ihre Mutter, bevor sie sich auf das wacklige Geländer schwang.
Adiv hievte sich nach ihr auf das Geländer und begann den Aufstieg. Es war mühsamer, als es bei ihrer Mutter aussah, die bereits den größten Teil der Strecke geschafft hatte, obwohl sie nur einen Arm zur Hilfe nahm. Gegen sie kam Adiv sich unbeholfen und kraftlos vor.
Ihre Arme und Schultern zitterten, sodass ihre Mutter sie auf den letzten Metern zog. Wie ein Sack rutschte sie schließlich vom Geländer auf den Boden. Sterne tanzten vor ihren Augen.
„Weiter“, befahl ihre Mutter.
Adiv stöhnte und schüttelte den Kopf.
„Ein kleines Stück noch.“
„Das hast du früher auch immer gesagt. Du hast gelogen.“
Einen Moment lang sahen sich beide in die Augen. Adivs Mutter lächelte, weich und zärtlich, und Adiv sah die Mutter ihrer frühesten Erinnerungen aufblitzen. „Komm schon“, raffte sie sich auf, klopfte den Staub von ihrem Kittel und wagte sich auf den Gang.
„Jorgen war bereits ein ganzes Stück hinter dir, als ich dich fand. Zum Glück ist seine körperliche Verfassung so schlecht, sonst wäre es mir kaum gelungen, über Umwege an ihm vorbei zu kommen. An einer Stelle war ich nur Armlängen neben ihm im Schatten, doch er schnaufte und trampelte so laut, dass er mich nicht hörte. Sein Gesicht war puterrot. Der Alkohol und das fette Essen werden ihn umbringen, wenn ihn nicht vorher ein Gefangener aus dem Weg räumt. Mir sind alle Mittel recht, solange das Schwein vom Angesicht der Erde verschwindet.“
Adiv warf ihr einen Seitenblick zu. „Du kennst ihn?“
„Jeder kennt ihn. Du wirst kaum eine Frau hier finden, die er nicht missbraucht, geschlagen oder gedemütigt hat. Vor Jahren schlug er einen Jungen fast zu Tode, weil der bei einem Botengang irrtümlich in seine kleine Privatveranstaltung platzte. Die Frau, mit der er damals zugange war, schwört bis heute, dass der Junge kein Körperteil aufwies, das nicht von Faustschlägen, Fußtritten, Stichen und Schnitten gezeichnet war. Sie nannte ihn ‚Schlächter’. Der Name machte die Runde, blieb hängen.“
Adiv schluckte hart. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie dem Schlächter an diesem Tag zweimal gegenübergestanden hatte. Beide Begegnungen hatte sie überlebt. Bis jetzt.
Der hinterste Raum auf dem Gang entpuppte sich als Verschlag. Eine Vorratskammer, vom Treppenende kaum auszumachen.
Adivs Mutter schob die Tür mit dem linken Zeigefinger auf. „Jorgen ist zu dumm, um auf Dinge wie Staub zu achten“, sagte sie leise. „Aber möglicherweise ist er nicht allein. Gefahr macht viele Menschen blind, aber manche macht sie auch hellsichtig. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“
Die Kammer war vollgestopft mit willkürlich hingestellten Schränken, Regalen, Kisten, Stiegen und Brettern. In den Gestellen und herausgezogenen Schubladen stapelten sich verschlissene Säcke, zerschlagenes Geschirr, ausgemusterte Uniformen, teilweise zu Moder pulverisiert.
„Was ist das hier?“, flüsterte Adiv.
„Ein vergessener Ort. Hier gibt es nichts mehr zu holen.“
„Ist er sicher?“
„Nicht hier unten. Aber sieh dich um. Sieh genau hin.“
Adiv stutzte. Sie musterte die Wände des Raumes, die Möbel, den Boden. Dann stieß sie einen Laut der Verblüffung aus. In der Decke verbarg sich ein Viereck.
„Eine Luke“, hauchte sie. „Wie kommen wir hoch?“
„Wir klettern.“
Erneut betrachtete Adiv die Möbel. Bei genauerem Hinsehen kam ihr die Anordnung nicht mehr so willkürlich vor. „Sie sind Stufen.“
„Wenn man den Weg sieht, ist der Aufstieg leicht.“
„Es gibt einen Weg?“
„Verborgen zwischen Schränken und Regalen. Getarnt durch weitere Möbel. Siehst du ihn? Er beginnt hinter der Tür mit einer Kartoffelstiege.“
Adiv musterte die wilde Ansammlung der Gegenstände. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht.
Ihre Mutter grinste. „Na los.“
„Wie willst du…“, setzte Adiv an, verstummte jedoch, als ihre Mutter auf die Stiege sprang und an ein halb umgekipptes Regal herantrat. Mit dem linken Arm packte sie den oberen Rand. Den rechten Armstumpf schlang sie um eine Seitenverstrebung und zog sich auf den nächsten Absatz.
Keuchend und immer wieder pausierend arbeiteten die Frauen sich auf das unscheinbare Viereck zu. Sie kamen nur stückweise voran. Vor jeder Bewegung prüften sie genau, wohin sie Hände und Füße setzen konnten, damit die abenteuerliche Konstruktion nicht zusammenstürzte und der Lärm sie womöglich verriet. Das Holz der Möbel war abgenutzt, stellenweise morsch, Scharniere und andere Metallteile verrostet und verbogen. Bisweilen schwankte ein Regal. Schubladen drohten herauszubrechen.
In der Dachkammer fielen sie schnaufend zu Boden. Dann beugte Adiv sich nach vorn und verschloss die Luke. „Alle Spuren beseitigt“, sagte sie.
„Ein aufmerksamer Mensch wird stets Spuren finden. Nichtsdestotrotz solltest du vorerst in Sicherheit sein.“
Die Kammer war niedrig und fensterlos. Noch war sie aufgeheizt von den milden Temperaturen der vergangenen Tage, aber lange würde es nicht dauern, bis der Frost durch das löcherige Dach eindrang.
Aller Mut verließ Adiv. Sie sank an der Wand zu Boden. Was sollte sie tun? Ein Mörder war ihr auf den Fersen und aus dem Gefängnis gab es keinen Weg nach draußen.
Es raschelte, als ihre Mutter sich neben sie hockte. „Was ist passiert, Kind? Was hast du gesehen?“
Adiv schüttelte den Kopf, verbarg ihn in ihren Armen.
„Dann erzähle ich dir, was ich weiß, denn die Zeit drängt. Ich habe gerade die Große Kloake umrundet. Stehe am Anfang des Ganges. Auf einmal schießt meine Tochter an mir vorbei, kreidebleich und blind vor Angst. Sie ist so schnell, dass ich keine Möglichkeit habe, sie auf mich aufmerksam zu machen. In dem Moment, in dem ich hinter ihr her will, höre ich Männerschritte. Ich weiche zurück in den Schatten, mache mich unsichtbar. Und ich sehe den Schlächter der Boragha. Er folgt meiner Tochter.“
Adivs Herz raste, ein Knoten bildete sich in ihrem Hals. Ihre Mutter blickte sie unentwegt an. „Etwas Schreckliches ist passiert, nicht wahr?“
Adiv schloss die Augen und riss sie gleich darauf wieder auf, weil die blutigen Bilder unter ihren Lidern lauerten. Sie konnte nicht sprechen. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Ist etwas mit Aan geschehen?“ Die Zärtlichkeit in der Stimme ließ Adiv aufschluchzen.
Lange weinte sie, unfähig, die schrecklichen Eindrücke in Worte zu fassen. Ihre Mutter streichelte ihren Kopf, bis der Tränenfluss versiegte, das Schluchzen abebbte. Erst dann begann sie zu erzählen, zögernd, wirr und abgerissen, mit langen Pausen, zitternder Stimme und frischen Tränen.
Ihre Mutter hatte den Rücken an die Wand gelehnt, Adivs Kopf auf ihren Beinen. Sie streichelte das Haar ihrer Tochter, dieses schöne, dichte Haar, von dem sie sich niemals hatte trennen wollen, obwohl es sie viel zu begehrenswert machte. Strich über die Locken, ließ die Finger über Adivs Nacken kreisen, dachte nach.
Ihre Tochter war verstummt, erschöpft bis auf die Knochen, doch bevor sie einschlief, musste sie ihr die Frage stellen. Die eine Frage, vor deren Antwort sie sich fürchtete. „Wo war Arlen?“
„Er war nicht da.“
„Wo war er dann? Unterwegs?“
Adiv schüttelte müde den Kopf. „Aan hätte ihm niemals erlaubt, am Abend draußen zu sein. Schon gar nicht heute. Er … er ist doch erst sechs.“
Sie brach ab. Nichts machte Sinn. Aans Tod, Jorgen, Arlens Verschwinden.
„Jorgen ist in ihr Heim eingedrungen. Wahrscheinlich ist er ihr von irgendwoher gefolgt“, dachte ihre Mutter laut. „Er hätte sie in jedem dunklen Winkel erwischen können. Jederzeit. Warum in ihrer Unterkunft? Wo die Nachbarn ihn sehen konnten? Wo ein Kind im Weg ist?“
„Es ist Letzte Nacht. Gefangenenankunft. Er rechnete damit, dass die Leute oben sind. Sich betrinken. Möglicherweise hat er Arlen weggescheucht. Oder Aan überredete ihn, den Jungen zu verschonen“, schlug Adiv verzweifelt vor.
Die Brust ihrer Mutter hob und senkte sich, bevor sie antwortete. „Ich glaube, dass das Schlimmste passiert ist, Adiv. Arlen war ein Zeuge. Ich glaube, Jorgen hat ihn verschwinden lassen.“
„Nein!“ Adiv sprang auf. „Wie kannst du das sagen?“
„So, wie du Aan beschreibst … das ist keine Vergewaltigung. Das ist blanke Mordlust! Unbeschreiblich grausam.“ Aufatmend hielt Adivs Mutter inne. „Ich denke, Jorgen war nicht allein. Ich denke, es waren mehrere Männer, betrunken, erregt, aggressiv, unberechenbar. Männer, die in der Gruppe ihre Hemmungen verlieren. Ich denke, die anderen haben Arlen weggebracht, damit er nie gefunden wird. Jorgen war dabei, die Wohnung zu säubern, als du auftauchtest.“
„Nein.“
„Ich denke, dass du in großer Gefahr bist“, fuhr ihre Mutter fort, und Adiv hasste, hasste den unbarmherzigen Klang ihrer Stimme. „Ich denke, sie sind bereits auf der Suche. Sie werden unser Heim finden und dann Gnade uns Kaa. Du musst verschwinden, dich verstecken, fliehen.“
„Und dann? Wo soll ich hin? Was soll ich machen?“
„Heute Nacht und morgen bleibst du hier. Ruhst dich aus, versuchst zu schlafen. Geh unter keinen Umständen nach draußen. Jorgen kennt uns nicht, aber er wird herausfinden, wer wir sind, wo wir wohnen. In Kürze durchkämmen er und seine Kumpane ihre Archive, befragen Menschen, suchen. Irgendeiner wird reden, freiwillig oder nicht. Wir sind alle in Gefahr.“
„Oh, Kaa.“ Adiv schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Du bleibst hier“, wiederholte ihre Mutter. „Ich kehre morgen Abend zurück, zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit. Ich werde wie eine Eule schreien. Drei Mal. Draußen auf dem Hof. Und nun schlaf, Kind. Versuche es.“
Zärtlich strich die Linke ihrer Mutter ein letztes Mal über Adivs Haar, berührte sacht die Wange, strich eine Träne fort.
Als sie Anstalten machte, durch die Luke zu steigen, hielt Adiv sie am Ärmel fest. „Du bist mir gefolgt. Als ich zu Aan ging. Du bist mir gefolgt.“
Ihre Mutter zögerte nur kurz. „Natürlich.“
„Lasst Euch etwas einfallen“, äffte Ylaiy Frier Bland nach, während er in Richtung Hauptsaal lief.
Der Saal erstrahlte im Licht hunderter Kerzen. Kamine verströmten duftende Wärme. Emsige Diener hatten den Raum mit Bannern und frischen Nadelzweigen dekoriert. Überall prunkten festlich gedeckte Tafeln, deren Länge und Breite sich am Stand der an ihnen Sitzenden bemaßen.
An der Tür ließ Ylaiy ein verkürztes Begrüßungsritual über sich ergehen. Er schritt an den Kopf der kaiserlichen Tafel, wartete mit gesenktem Haupt, bis seine Mutter in einem blassblauen Kleid an seine Seite trat. Er half ihr mit dem schweren Stuhl und winkte die Vorkoster herbei. Erst nachdem sie von Wein, Wasser, Brot und Suppe probiert hatten, nahm er am anderen Ende der Tafel seinen Platz ein.
Während des Essens neigte der Prinz aufmerksam den Kopf seinen Nachbarinnen zu, lächelte an den passenden Stellen, kümmerte sich um das Wohl der Gäste. In seinem Inneren jedoch tobte es. Er dachte an Bland und seine geheimnisvolle Einladung, malte sich aus, wie der Alte unruhig in den Gewölben der Bibliothek auf und ab lief. Vielleicht war er in Gefahr, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Möglicherweise sie beide. Hatten der Greis und der Wüstenjunge mit ihrer Geschichte etwas aufgerührt, von dem niemand wissen durfte? Waren sie deshalb so rasch ausgeschaltet worden?
Fieberhaft überlegte er, wie er sich davon stehlen konnte. Festessen dauerten bis weit in die Nacht. Sein spontanster Einfall war, Unwohlsein vorzutäuschen. Doch Bauchkrämpfe und Übelkeit in der Öffentlichkeit standen einem Thronfolger schlecht zu Gesicht. Vermutlich würde man die Vorkoster einkerkern lassen und eine Untersuchung einleiten. Damen würden allein bei dem Gedanken an Gift in Ohnmacht fallen.
Ihm musste etwas anderes einfallen.
Sila brachte ihn auf die Idee. Sie war eines der Mädchen, die beim Abräumen halfen, Schalen mit warmem Wasser brachten, Kissen zurecht klopften, Damen auf die Aborte geleiteten. Zufällig trafen sich ihre Blicke über mehrere Tischreihen entfernt. In dieser Sekunde fiel Ylaiys Entscheidung. Er zwinkerte sie an. Unbemerkt von den anderen. Sie runzelte die Stirn, wandte den Blick ab, schaute kurz darauf wieder zu ihm. Er zwinkerte erneut, heftiger diesmal. Sie schüttelte sacht den Kopf, während sie Wasser aus einer Kanne nachgoss. Als sie das nächste Mal zu ihm sah, hatte er die Hand mit dem Tischtuch an sein Gesicht gelegt, wie um den Mund abzuwischen, doch sein Zeigefinger stand etwas ab und … winkte. Silas Stirn hob sich, aber sie nickte und schob sich an den Tischreihen entlang in seine Richtung.
„Prinz, ist Euch nicht wohl?“ Die dralle Brünette an Ylaiys linker Seite sah ihn fragend an.
„Oh. Dank für Eure Aufmerksamkeit und Sorge, werte Freundin, doch mir geht es gut. Eine Wimper hatte sich in mein Auge verirrt. Verzeiht mein Verhalten.“
Ylaiys Entgegnung war tadellos und wurde lächelnd akzeptiert. Ihm war schlecht vor Aufregung. Ein letztes Mal hob er das Tischtuch an seine Augen, um die vermeintliche Wimper auch wirklich zu entfernen.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sich Sila unauffällig auf ihn zu bewegte. Immer wieder wurde sie von Gästen mit Bitten aufgehalten, denen sie, ohne aus ihrer Dienstrolle zu fallen, freundlich nachkam. Als sie in Hörweite kam, winkte er sie mit dem Tischtuch heran. „Reiche mir Wasser.“
Sila gehorchte. Sie beugte sich an seinem Gesicht vorbei nach vorn und goss warmes Wasser in seine Platzschüssel. Die Gäste zu seinen Seiten sahen taktvoll in die andere Richtung, als Ylaiy das Tuch benetzte und ans Gesicht führte. Sila zeigte keinerlei Reaktion, weder als er ihr etwas zuflüsterte noch als sie ihm Schüssel und Tuch abnahm und sich zurückzog.
Der Dran’o entschuldigte sich erneut und setzte die Gespräche fort.
Minuten später erschien Sila wieder im Saal. Im Eingangsbereich stolperte sie, fiel gegen eine andere Bedienstete, schrie erschrocken auf und ließ die Kanne fallen, die scheppernd zerbarst. Mehrere Gäste in der Nähe sprangen auf, Diener eilten zu Hilfe, Türwachen wurden lebendig.
An den Tischen kehrte Stille ein. Alle Augen richteten sich auf die Zofe, die ihre Hände schluchzend vor das Gesicht riss.
Pflichtbewusst eilte Ylaiy zu seiner Mutter, die starr auf ihrem Stuhl saß und die Dienstfrauen taxierte. „Mit Eurer Erlaubnis kümmere ich mich darum“, bot er an.
Die Kaiserin nickte. „Kein Aufsehen“, raunte sie ihm zu, bevor sie ein Lächeln aufsetzte und sich den Ehrengästen zuwandte. „Ein unbedeutender Zwischenfall. Schmeckt Euch der Wein?“
Ylaiy stolzierte durch den Saal, signalisierte den Türwachen, die Frauen hinauszubringen. Er schickte die Diener wieder an ihre Arbeit und befahl, die Spuren des Unfalls unverzüglich zu beseitigen. Noch während er sprach, horchte er freudig auf seine Stimme, die klar und ohne jedes Zögern knappe Anordnungen formulierte, denen sofort nachgekommen wurde.
„Geht zurück auf eure Posten. Ich kümmere mich um die Bestrafung dieser beiden“, wandte er sich an die Wachposten.
Er drängte eine schluchzende Sila und eine vor Angst stumme Frau auf den Hof, zog sie in Richtung des Gewölbezugangs.
„Bist du verletzt?“, beugte er sich zu Sila.
„Ein aufgeschlagenes Knie, weiter nichts.“ Silas Stimme war ruhig, das Schluchzen verschwunden. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und musterte ihn gespannt.
„Und du?“, fragte er die andere Frau.
„Nein, Herr.“
„Du kannst gehen. Du hast nichts zu befürchten. Sila hatte die Schuld.“
Die Ältere knickste und verschwand.
Ein Lächeln spielte um Ylaiys Mundwinkel. „Das war brillant.“
„Danke.“
„Ist deine Mitspielerin eine Freundin?“
„Eine Bekannte aus der Stadt, die zufällig heute Abend aushilft. Jetzt ist sie natürlich um ihr Verdienst gebracht.“
Ylaiys Mundwinkel hoben sich noch mehr. Er zog Sila tiefer in den Schatten, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, und schob ihr ein Filzsäckchen in die Hand. „Hier. Das sollte Entschädigung genug sein.“
„Ich danke Euch.“
Beide schauten sich einen Augenblick stumm an. „Ich kann dich leider noch nicht gehen lassen“, sagte Ylaiy schließlich.
„Die Bestrafung“, nickte sie. „Falls wir beobachtet werden, was ich vermute. Was habt Ihr vor?“
Statt einer Antwort stieß er sie gegen die Gewölbetür, drückte gleichzeitig die Klinke nach unten, sodass die Tür krachend aufsprang und Sila taumelte. Sie schrie vor Schreck auf und stöhnte, als er sie an den Haaren in den Eingang zog.
Drinnen schloss er die Tür und horchte ins Dunkel. „Verzeih“, flüsterte er. „Aber so sah es wirklicher aus. Du musst keine Angst vor mir haben.“
Sie rieb sich die schmerzende Kopfhaut. „Das sagt sich leicht. Was macht Ihr eigentlich? Warum die seltsame Bitte mit dem Tumult?“
„Ich muss jemanden treffen und brauchte einen Vorwand, die Feier zu verlassen.“
„Dann beeilt Ihr Euch besser. Wenn Ihr zu lange wegbleibt, wird man nach Euch suchen.“
„Mit deiner Hilfe habe ich Zeit geschunden. Sie werden glauben, ich bestrafe dich hier unten. Stelle wer weiß was mit dir an.“
Sila schoss ihm einen langen Blick zu.
„Komm. Vor der Bibliothek stehen auch Wachen. Ich werde dich in Blands Studierstube ziehen. Er wollte mich hier sehen.“
„Ihr trefft Euch mit Bland?“
„Überrascht dich das?“
„Um diese Zeit? Ja. Ich dachte…“
„An eine Frau? Dazu bedürfte es weniger Umständlichkeiten“, zog er sie mit sich in das Innere der Gewölbe. „Du musst dich wirklich nicht sorgen. Ich werde dir nicht wehtun. Aber“, hielt er kurz inne und musterte sie eindringlich, „nichts von dem, was hier unten gesagt wird, darf nach oben gelangen.“
„Ihr tut doch nichts Verbotenes?“
„Das weiß ich nicht“, gab Ylaiy zu. „Es sollte mehr eine Warnung sein. Zu unser aller Sicherheit. Also, zu niemandem ein Wort.“
„Ich bin keine Klatschbase“, gab sie beleidigt zurück.
„Dann ist es ja gut. Und nun sollten wir weiter unsere Rollen spielen.“
„Bland?“
Ylaiys Stimme hallte von den Mauern des Kellergewölbes wider. Die sich zum Schein sträubende Sila mit sich zerrend, wanderte er suchend durch die hinteren Räume.
„Meister, wo seid Ihr?“
Sila bemerkte, wie Besorgnis sich in die Worte schlich. Ihr war unbehaglich zumute. In den vorderen Räumen hatte er sie mit gespielter Begierde an den Soldaten vorbei gestoßen. Die Fauststöße in Rücken und Hüften schmerzten, auch wenn sie vorgetäuscht waren. Einmal stolperte sie sogar, sodass Ylaiy sie am Kragen auffangen musste. Sie wusste, dass sie beide glaubhaft wirken mussten, doch das ging einzig zu ihren Lasten.
„Verzeih“, hatte er gemurmelt, sobald sie in die tieferen Gefilde des unheimlichen Kellers gelangt und die Wachen verschwunden waren. Sie hatte ihn keiner Antwort gewürdigt.
„Meister Bland?“
Mit dem Fuß stieß Ylaiy die angelehnte Tür zur Studierstube des Bibliothekars auf. Aufgrund seiner Vorliebe für Abgeschiedenheit galt Bland am Hof als Sonderling. Niemals wäre Sila in den Sinn gekommen, ihre Privatstube in der ewigen Nacht der hintersten Winkel des unübersehbaren Kellergewölbes zu beziehen. Hier war das Reich der Ratten, Asseln und Schaben, aber nicht das der Menschen.
Frier Bland stand an einem Tisch aus Birnenholz, der die gesamte Rückwand seines Studierzimmers umfriedete. Vor der Schwärze des Zimmers hob der in ein graubraunes Hemd gekleidete Greis sich kaum ab. Ylaiy und Sila erschraken gleichermaßen, als die gebückte Gestalt sich umwandte.
„Eure Zofe begleitet Euch? Hattet Ihr Angst, bei Nacht hier hinunter zu steigen?“, fragte der Bibliothekar ohne ein Anzeichen von Humor.
„Ich bin der Schlaukopf, der sich etwas ausdenken sollte.“
„Ihr kommt spät. Mit einer unerwünschten Zuhörerin.“
„Jetzt bin ich hier und ich vertraue ihr. Was wolltet Ihr mir mitteilen? Doch zuvor: Wo sind die Wachen? Wie habt Ihr sie dazu gebracht, zu gehen?“
„Die Wachen wissen, dass ich hin und wieder Experimente durchführe. Ich erzählte, dass giftige Gase austreten könnten, legte nahe, sich in die Quartiere zurückzuziehen. Vei ist abwesend, ein Festgelage im Gange; günstige Voraussetzungen für eine außerplanmäßige Pause. Gegen Mitternacht werden sie allerdings zurück sein.“
Ylaiy sah den alten Fuchs anerkennend an.
„Schließt die Tür“, sagte dieser. „Du“, wandte er sich an Sila, „bleibst hier vorn. Prinz, folgt mir nach hinten.“
Sila schoss dem Kahlkopf einen wütenden Blick hinterher. An der Schwelle wandte der Bibliothekar sich um, begegnete dem trotzigen Gesicht der Dienstmagd. Unter den drohenden Blicken erlosch Silas Neugier.
In der behaglichen Stube drückte Bland seinen Schützling in einen Sessel und zog einen Packen Pergamente aus einem der vielen Regale.
„Heute Nachmittag habt Ihr etwas angetippt in meinem Kopf“, begann er ohne Einleitung. „Eine Saite zum Klingen gebracht. Irgendwo, irgendwann, hatte ich einmal etwas aufgeschnappt. Also habe ich den Tag mit Nachdenken verbracht. Mit Nachforschungen in den alten Schriften. Um mich zu erinnern. Zu vergewissern.“
„An was habt Ihr Euch erinnert?“
„Vor einer Ewigkeit besuchte ich Berlen. Kam von einer Garnison auf Staleph, die nur einen Katzensprung von Berlens östlichstem Zipfel entfernt liegt, getrennt von einer flachen Meerenge.“
Ylaiy klappte vor seinem geistigen Auge eine Landkarte aus, sah den Umriss des lang gestreckten Staleph und des kleineren Berlen vor sich. ‚Schlangeninseln‘ hatte er sie als Kind genannt. Die Wüsteninsel das Reptilienkind, das von der Mutterschlange Staleph davon glitt. Beide Inseln wiesen im Westen eine Verdickung auf, die wie Schlangenköpfe aussahen. In der Tat berührte das Schwanzende Berlens beinahe Staleph.
„Ich kann nicht behaupten, Berlen bereist zu haben. Es ist unglaublich, wie das Klima sich innerhalb weniger Kilometer verändert. Staleph ist schon heiß dort oben im Nordwesten, zu heiß für meinen Geschmack. Als wir durch die Furt hinüber wateten, behielt ich meine Kleidung an, denn sie trocknete im Handumdrehen auf dem Leibe. Doch Berlen… Die Hitze dort ist anders. Grausam. Wir sind nur einige Meilen ins Innere vorgedrungen, bis zu einer Handelsstation. Ein Ort, der mir wie ein Paradies vorkam, selbst nach nur wenigen Stunden Fußmarsch am Wüstenrand entlang. Die eigentliche Wüste sah ich nur aus der Entfernung. Ich hatte gedacht, sie sei eben, aber ich sah riesige Berge. Sie wirkten unscharf, wie ein Traum. Das war die Hitze, die sie verschleierte. Unsere Führer erzählten uns, dass die Gebirge aus Sand bestünden, nur aus Sand. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie etwas Unbeständiges, Fließendes wie Sand solche Gebilde erschuf. Sie veränderten sich, ständig. Der Gedanke verursachte mir Schwindel. Nichts, woran man sich festhalten kann, alles in Bewegung. Sie ist tückisch, die Wüste. Ich war froh, als ich sie verließ, kehrte nie dorthin zurück.“
„Und was habt Ihr dort erfahren?“
„Bur-an-gnea. Dieses Wort. Ich weiß wieder, dass ich es auf Berlen hörte, damals, auf dieser Reise. Es war nachts, wir lagerten in der Nähe der Oase. Man sollte meinen, es wäre totenstill in der Wüste, schließlich gibt es kaum Leben dort und der Sand verschluckt die Geräusche. Aber es war nicht still, Ylaiy, die Wüste lebt. Vor allem nachts. Ich war jung, fast noch ein Knabe. Und ich lag dort in der Nacht, mir war kalt – in der Wüste, ist das zu glauben? – ich war erschöpft, doch ich kam nicht zur Ruhe. Der Sand flüsterte, als spräche er zu mir. Die Palmen raschelten, Tiere huschten durch den Sand. Ich hörte, wie unsere Führer sich unterhielten in einem Dialekt, den ich kaum verstand. Sie lachten, scherzten, und das beruhigte mich ein wenig. Dann plötzlich fiel dieses Wort, nur dieses eine, und mit einem Mal war Stille. Die Führer verstummten und die Natur auch. Mein Verstand sagte mir, dass das unmöglich sei, aber mein Herz bebte vor Furcht. Ich weiß, ihr Elboin gebt nicht viel auf das Innere, für euch zählt nur der Kopf. Auch ich bin ein Verstandesmensch, doch ich schwöre Euch, ich hörte dieses Wort und wollte davon laufen, weit weg aus dieser verfluchten Sandhölle.“
Ylaiy saß stocksteif auf dem Sessel, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt.
„Ich habe die Begebenheit verharmlost, mich selbst verspottet. Mit der Zeit verdünnte sie, löste sich auf, verschwand. Bis Ihr das Wort nanntet. Und ich muss gestehen: Es ist genauso angsteinflößend wie damals.“
Ylaiy dachte an den gestrigen Tag zurück, an das ungute Gefühl, das ihn beim Hören des Wortes überfallen hatte. Er verscheuchte die Erinnerung und räusperte sich. „Ihr habt nachgeforscht, sagtet Ihr?“
„Damals schon. Am nächsten Morgen fasste ich mir ein Herz und sprach einen der Führer an. Erst wich er mir aus, ebenso wie die anderen. Ich blieb hartnäckig, bis sie zögerlich begannen, zu reden. Von geflügelten Wesen. Absonderliche Fabeln, die so märchenhaft klangen, dass ich enttäuscht war. Die Welt ist voll von Märchen, Sagen, Liedern. Ich maß den Vogelwesen Berlens genauso viel Bedeutung bei wie Blutsaugern, Schlangengöttern oder Drachenkämpfen.“
„Ihr glaubt nicht daran?“
„Tut Ihr es?“
Ylaiy zuckte die Schultern. „Einige Wesen mögen tatsächlich existieren. Als abnorme Exemplare einer Gattung, als Launen der Natur. Es mag sie hier und heute nicht mehr geben, aber die Geschichten treten so verbreitet auf. Sie unterscheiden sich in Einzelheiten, je nachdem, wo und wann sie entstanden sind. Und doch ähneln sie sich so sehr, dass ich nicht an einen Zufall glaube.“
„Ich hingegen denke, dass es Ammenmärchen sind, die Eltern ihren Kindern erzählen. Schlicht und einfach, weil ich nie ein solches Wesen sah, und niemanden kenne, der ihre Existenz bezeugen kann.“
„Aber da sind die Begebenheiten auf Berlen“, gab Ylaiy zu bedenken. „Menschen, die beim bloßen Klang des Wortes verstummen. Ein Junge, der behauptet, sie gesehen zu haben.“
„Ja“, nickte der Alte nachdenklich, „und es fällt mir schwer, das alles mit meiner Anschauung in Einklang zu bringen. Vielleicht seid Ihr derjenige, der das Rätsel löst.“
„Wie denn?“
„Ich sage Euch, was ich herausgefunden habe. Auch wenn ich nicht an Fantasiegestalten glaube, heißt das nicht, dass ich nicht weiter darüber gelesen habe.“
„Natürlich nicht.“ Ylaiys Mundwinkel verzogen sich nach oben. Selbst Frier Bland entblößte seine Zahnstummel.
„Ihr verändert Euch“, sagte er zu Ylaiys Überraschung, schien die Worte jedoch sofort zu bereuen, denn er räusperte sich und fuhr in seinen Ausführungen fort. „Wahrscheinlich entstand der Mythos von den Flügelwesen in den Anfängen der Geschichte. Als das Inselreich sich zu formen begann.
Damals tobte der Kampf um die Vorherrschaft an vielen verschiedenen Orten. Gaia beherbergte eine ungeheure Anzahl Stämme, Unterstämme, Großfamilien. Jahrhundertelang bekriegten sie sich, schlossen Bündnisse, verrieten sich gegenseitig, gingen neue Allianzen ein. Mal erlangte der eine Clan die Vormacht über ein Gebiet, mal der andere. Ständig änderte sich das Gleichgewicht der Kräfte.
Die B’shua waren ein unbedeutendes Geblüt, eine Unterfamilie der Sta. Sie lebten im südlichen Staleph, galten als kriegerisch. Sie waren nur ein gutes Hundert, unbewandert in Feldarbeit, Viehzucht, Handwerk oder Kunst. Stattdessen jagten sie, räuberten, schmiedeten furchtbare Waffen, die sie mit eiserner Entschlossenheit beherrschen lernten. Es war absehbar, dass diese Kriegerkaste irgendwann in den Kriegstaumel hineingeriet.
Der Anführer der B’shua war ein finsterer Geselle namens Sten W’iles. Die Bücher beschreiben ihn als einen Mann mit kolossalem Körperumfang und immensen Kräften. Ein Krieger von der Größe eines Baumes, mit einer vom Kriegshandwerk gehärteten und durch einen Brand zerstörten Haut, die wie geschwärzte Rinde aussah. Schwarze Haare flogen wild um seinen Kopf, die Haarspitzen beschwert mit Knöchelchen der von ihm getöteten Feinde. Narben bedeckten das Gesicht. Natürlich wissen wir nicht, wie er tatsächlich aussah; Ihr wisst so gut wie ich, dass die Bücher zur Übertreibung neigen.
Sten W’iles verbündete sich mit einem entfernten Verwandten, einem Elboin aus der Sippe der Yrvois. Eurer Familie. Ich habe versucht, herauszufinden, worum es bei dem Bündnis ging, wie die Art ihrer Verwandtschaft beschaffen war. Die Schriften geben bestenfalls Hinweise, die viel Raum für Spekulationen lassen. Sicher waren sie nicht blutsverwandt. Ich denke mir, dass eine Schwester oder Base Stens als Sklavin oder Dienstmagd an den Hof der Yrvois gelangte und das Interesse des Elboin weckte. Möglicherweise war er gezwungen sie zu ehelichen. Womöglich tat er es aus freiem Willen, das ist nicht mehr nachvollziehbar.“
Bei den letzten Worten sah Ylaiy zu Boden. Bland war viel zu sehr in der eigenen Erzählung gefangen, als dass er das Unbehagen seines Schützlings wahrnahm.
„Was ich Euch nun berichte, steht nicht in den Büchern, die jedermann zugänglich sind. Es darf nicht an andere Ohren gelangen. Ihr müsst es für Euch behalten. Wenn es bekannt wird, könnte es weitreichende Auswirkungen haben.“
Ylaiy wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und so hob er die Hand zu einem stummen Schwur. Der Bibliothekar wandte den Blick ab und ließ ihn über die Mauer gleiten, hinter der Sila wartete.
„Ich vertraue ihr“, wiederholte Ylaiy.
„Das solltet Ihr nicht.“
„Ich habe sie gewarnt. Sie wird nicht lauschen.“
„Ihr seid zu gutgläubig. Werdet erwachsen, Prinz!“
„Sprecht weiter“, wedelte Ylaiy die Besorgnis des Alten beiseite. „Um Sila kümmere ich mich, sollte es erforderlich werden.“
„Sila, hmm? Ist sie Ranas Tochter?“
„Ja.“
„Eure Amme“, schüttelte Bland den kahlen Kopf. „Sorgte seinerzeit für Aufsehen, indem sie die Kaiserin alarmierte, weil sie einen Anschlag auf Euch vermutete.“
„Das ist alles längst verjährt. Weiter, Bland. Was geschah mit Sten W’iles?“
„Der Elboin, dessen Name nicht bekannt ist, verriet Sten. Er und Sten hatten den Sieg in mehreren Scharmützeln davongetragen und Sten forderte seinen Anteil an der Beute. Der Elboin tötete ihn eigenhändig im Gefecht. Seine Vasallen metzelten die anderen B’shua nieder. Sie mordeten sogar die Frauen und Kinder, die im Kriegstross mitzogen. Nur einer Handvoll B’shua gelang eine überstürzte Flucht, doch sie konnten nicht in ihre Heimat fliehen und ihre Stammesbrüder warnen. Vorsorglich hatten die Elboin den Rückweg abgeschnitten. Niemand erfuhr von dem Hinterhalt. Alle Welt glaubte, die B’shua wären in einem ehrenhaften Kampf gefallen. Doch Ihr kennt die Elboin. Alles müssen sie niederschreiben und für die Ewigkeit festhalten. Narren!“
„Ihr hättet die Niederschriften vernichten können.“
Der Alte wich zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen. „Das geschriebene Wort ist heilig. Ich bin der Bewahrer dieser Schätze, ausersehen, sie zu pflegen, zu sammeln, zu schützen. Ich treffe keine Auswahl. Ich fälle kein Urteil. Der Gedanke allein ist undenkbar.“
Schwer atmend blitzte er Ylaiy an, bis dieser die Augen senkte.
„In den Aufzeichnungen wird angedeutet, dass die B’shua, die auf Staleph geblieben waren, in den folgenden Monaten auf geradezu unheimliche Art ihr Leben ließen. Sie starben auf der Jagd, bei räuberischen Überfällen, ertranken oder stürzten in Bergschluchten. Das Geblüt wurde vernichtet, geriet in Vergessenheit wie so viele andere Stämme.“
„Was geschah mit den Überlebenden der Schlacht? Sie konnten die Kunde vom Verrat verbreiten.“
„Hier wird der Bericht endgültig zur Sage. In den geheimen Büchern steht, dass sie Hals über Kopf davon jagten, verfolgt von den Elboin, die in großer Überzahl waren. Sie flüchteten gen Osten. Man sah sie zuletzt an den Gestaden des Eismeeres.“
„So sind sie ertrunken?“
„Man sagt, niemandem sei es je gelungen, das Eismeer zu überqueren. Anscheinend haben sie es jedoch nach Drahórsul geschafft.“
„Ich dachte, sie sei eine Legende“, warf Ylaiy überrascht ein.
„Mehrere Völker Kâneggs berichten von einer Landmasse im Norden. Fischer wollen sie gesehen haben. Ich bin im Besitz eines Reiseberichts aus der Nähe Fadals.“
„Fedaj“, übersetzte Ylaiy.
„Die Fedaj-i haben die Geschichten der Fischer in ihren Legendenschatz übernommen. Wahrscheinlich wurden sie im Laufe der Jahrhunderte hoffnungslos verfälscht. Ich habe weitere Niederschriften ausgegraben, die Drahórsul erwähnen. Allesamt nebulös, vage, widersprüchlich. Dennoch weist vieles darauf hin, dass die Insel existiert. Ob die B’shua es wahrhaftig geschafft haben, das Eismeer zu überqueren, weiß ich nicht. Es gibt Verfasser, die behaupten, sie wären auf die Insel gelangt und hätten sich mit den ansässigen Bewohnern vermischt. Niemand nimmt sie ernst. In der Literatur sind sie unbeachtet. Kuriose Fußnoten. Querverweise.“
„Das hieße, dass die Insel bereits vor den B’shua bewohnt war.“
„Das stimmt. Aber Vermerken wie diesen solltet Ihr mit Skepsis begegnen.“
„Und die Flügelwesen?“, hakte Ylaiy nach. „Wie passen sie in das alles?“
Bland wies auf das Bündel vergilbten Pergaments. „Das Dokument eines unbekannten Verfassers. Eine Art Lexikon. Aufzeichnungen zu Drahórsul. Seht selbst.“
Er rollte die Blätter aus, fixierte die Ränder mit flachen Steinen, die ihm als Briefbeschwerer dienten.
Ylaiy beugte sich über den Tisch. Winzige Buchstabenreihen tanzten über die dünne Schafshaut. Sie glichen nicht den kunstvoll gestalteten Texten, die Ylaiy gewohnt war. Hier handelte es sich um Notizen, hingekritzelte Worte, ohne jede Sorgfalt über die Seiten verstreut. Daneben Skizzen, Zeichnungen, Richtungspfeile, Symbole.
„Habt Ihr es entziffert?“
„Nicht viel. Sieht aus wie Kommentare zur Beschaffenheit und Lage der Insel. In den Marginalien auch zu Geschichte und Bevölkerung.“
„In welcher Sprache? Yr?“
„Ja. Veraltet und etwas ungelenk, aber lesbar.“
„Das datiert es in die jüngere Vergangenheit.“
Frier Bland machte eine zustimmende Handbewegung.
„Und die Zeichnungen?“
„Ich halte sie für die einzigen Landkarten, die es von Drahórsul gibt.“
„Aber…“
„Alles weist darauf hin, dass die Insel existiert.“
Ylaiy atmete flach. Während er nachdachte, flogen seine Augen über das Pergament. Plötzlich hieb er mit dem Zeigefinger auf ein Wort, das in fremdartigen Buchstaben gemalt war. „Bur-an-gnea.“
In dieser Sekunde wurden sie von einem Pochen an der Tür unterbrochen. Hastig raffte Ylaiy die Pergamente zusammen und stopfte sie in die Uniformbluse.
„Meister Bland. Ich glaube, Eure Wachen kehren zurück“, hörten sie Silas drängende Stimme.
„Schnell“, flüsterte Bland.
Ylaiy war bereits an der Tür. „Bleibt hier.“
Er riss die Tür auf, zog die überrumpelte Zofe mit sich nach draußen, drückte sie in eine Nische in der gegenüberliegenden Wand. Dann presste er ihre Arme gegen das Mauerwerk und stellte sich vor sie. Sila wehrte sich instinktiv. Das machte die Sache für die eben um die Ecke biegenden Wachen glaubwürdig. Zwar griffen sie nach ihren Waffen, hielten jedoch ein, als sie den Thronfolger erkannten. Der ließ Sila heftig atmend los und versetzte ihr eine Ohrfeige.
„Wir sind noch nicht fertig“, keuchte er. „Verschwinde!“
Sila hielt sich die Wange, auf der die Hand des Prinzen sich deutlich abzeichnete. Sie sah Ylaiy verletzt an, kniff die Lippen zusammen und machte sich aus dem Staub.
Verzeih mir.
„Was ist?“, blaffte er die Wachen an. Einer der Vorteile seines Standes war, dass er kaum jemandem Rechenschaft schuldete. „Warum seid ihr nicht auf euren Posten? Ich werde das Versäumnis Urdat Vei melden müssen.“
Die Wachen stammelten eine Entschuldigung, die sich mit der Version Frier Blands deckte. Ylaiy nickte gelangweilt, stutzte dann. „Ihr seid zu früh zurück. Ich war zwar … beschäftigt, aber ich bin mir sicher, dass es noch nicht Mitternacht ist. Was ist der Anlass?“
Die Wachtposten sahen sich an. „Es gab einen Zwischenfall.“
„Noch einen?“, runzelte Ylaiy die Stirn. „Das scheint allmählich zur Gewohnheit zu werden.“
„Boten aus Fedaj sind eingetroffen. Von der kaiserlichen Schwester.“
Ylaiy spürte, wie eine Welle der Angst auf ihn zurollte. „Welche Nachrichten bringen sie?“
„Herr, das wissen wir nicht. Wir hielten es für ratsamer, auf unsere Posten zurückzukehren, sobald wir der Boten ansichtig wurden.“
Zum ersten Mal in seinem Leben sah Ylaiy seine Mutter in der Öffentlichkeit nach Fassung ringen.
Der Ballsaal war in Aufruhr, das Wachpersonal in Alarmbereitschaft. Lakaien liefen im Saal herum, flackerten von Gast zu Gast. Männer waren aufgesprungen, Damen klapperten aufgeregt mit ihren Fächern. Dass Ylaiy mit verrutschter Galauniform durch die Flügeltüren stürzte, fiel in dem Durcheinander niemandem auf.
Er betastete die Pergamente, zog den Anzug gerade und eilte an die Seite seiner Mutter.
Die Kaiserin bemühte sich, die Situation zügig unter Kontrolle zu bringen. Sie besänftigte die Gäste, schickte die Bediensteten in die Ecken zurück, wo sie zu Einrichtungsgegenständen erstarrten, gab den Wachen Entwarnung und behielt die erschöpften Reiter im Auge, die auf dem Boden knieten und nach ihren Tieren rochen.
Sie schoss Ylaiy einen langen Blick zu, schien aber erleichtert, ihn wohlbehalten zu sehen. Sofort wies er die Wachen an, die Boten über einen versteckten Ausgang aus dem Saal zu schaffen.
Nachdem sie verschwunden waren, breitete die Kaiserin die Arme aus und wartete, bis Stille im Saal einkehrte. Der Tumult hatte nur wenige Minuten gedauert.
„Damen und Herren. Ich entschuldige mich für die ungestüme Art“ – an dieser Stelle brandete Gelächter auf – „mit der unser Fest gestört wurde. Ich versichere Ihnen, dass wir uns unverzüglich um die Angelegenheit kümmern werden. Wir können bereits sagen, dass von keiner Stelle Gefahr droht. Genießen Sie unsere Köstlichkeiten. Ich bin sicher, die Aufregung hat uns allen neuen Appetit beschert.“ Hier blinzelte sie schelmisch, was ihr erneut wohlwollendes Gelächter einbrachte. „Unsere Dienerschaft steht ganz zu Ihrer Verfügung. Bitte lassen Sie sich durch unsere kurze Abwesenheit nicht den Appetit verderben.“
Sie verließ den Saal durch dieselbe Tür wie die Boten. Ylaiy verharrte noch einen Augenblick vor der Gesellschaft. Er versuchte ein gewinnendes Lächeln wie seine Mutter, doch die Aufmerksamkeit der Anwesenden hatte sich schon den Speisen zugewandt. Angeregtes Flüstern setzte ein.
Mehr Würze in den Tischgesprächen.
Er betrat den Raum, den Ylaive y’le Yrvois und Urdat Vei für Gespräche mit ihren Räten nutzten oder wenn sie bei einer Runde Pajut oder einer Kopfmassage entspannten. Steif und mit den Helmen auf den Knien saßen die Boten auf Holzstühlen. Beide hatten einen Becher Wasser hinunter gestürzt, auf Essen jedoch verzichtet. Sie schienen kaum in der Lage, ihre Hände und Füße still zu halten.
Die Dran’a schritt zu dem eichenen Lehnstuhl am Fenster, ließ sich auf der Kante nieder und musterte die beiden Männer. „Sprecht“, forderte sie leise auf. „Was ist so bedeutend, dass ihr ein Fest stürmen musstet? So schwerwiegend, dass ihr Verhaftung und Tod in Kauf nahmt, um eure Nachricht zu überbringen?“
„Verzeiht, Herrin“, begann der Ältere, ein dünner Mann mit der gelben Botenschärpe um Schultern und Bauch. „Unser Benehmen war in der Tat schändlich und muss gerügt werden. Doch wir bringen Kunde von größter Wichtigkeit.“ Seine Stimme klang eindringlich und heiser vor Durst. Er musste lange geritten sein.
„Vorhin erwähntest du meinen Neffen“, lenkte die Kaiserin das Gespräch weiter.
„Er ist verschwunden, Herrin. Lest selbst, was Eure Schwester Euch schreibt.“ Unsicher übergab er einen Brief an Ylaiy, der ihn an seine Mutter weiterreichte.
Sie faltete das mehrfach gesiegelte Papier auseinander und studierte den Inhalt. Als sie aufblickte, standen Runzeln auf ihrer Stirn. „Er verschwand? Mitten am Tage aus einer der am besten bewachten Garnisonen des gesamten Reiches? Niemand hat ihn bislang finden können? Keine Spur von ihm? Wie ist das möglich?“ Ihre Stimme klang verärgert.
Die Boten bissen sich auf die Lippen. Ylaiy beugte sich vor, um selbst einen Blick auf den Brief zu erhaschen.
„Selbstverständlich gab es sofort Untersuchungen, Hoheit. Als Euer Neffe nicht zur gewohnten Stunde zurückkehrte, ließ unsere Herrin Soldatentrupps in und rund um Fedaj ausschwärmen. Sie brauchten Stunden, bis sie in einem Waldstück die … anderen fanden.“
Hier blickte der ältere Bote sichtlich bewegt zu Boden. Der jüngere Mann räusperte sich. „Mit den anderen meint er die Leibwachen des jungen Herrn, Majestät.“
„Wie viele gab es?“
„Sechs, Hoheit. Bestens ausgebildete Soldaten, die ihn stets begleiteten und zu seinen Vertrauten zählten. Sie sind ... tot, Hoheit. Alle sechs. Zumindest glaubt man, dass es sich bei den Verstorbenen um die Leibschützer handelt.“
Ylaiys Mutter wurde blass. „Wie das?“
„Man sagt, sie sahen schrecklich aus, Herrin. So zugerichtet, dass kein Knochen heil geblieben war.“
Sie schloss die Augen, als sie die nächste Frage stellte. „Seine Gebeine waren nicht unter den anderen?“
„Nein.“
Sie beugte sich vor. „Ist das sicher?“
„Im Wald lagen sechs menschliche Leichname und sieben tote Pferde. Euer Neffe fehlte.“
Die Kaiserin erhob sich von ihrem Stuhl und trat zum Kamin, abwesend auf das züngelnde Feuer starrend. Ihre Hand hatte sie an die Schläfe gehoben. Mit zitternden Fingern strich sie sich über die Stirn.
„Gab es eine Forderung?“, fragte Ylaiy, nachdem eine längere Pause verstrichen war. „Lösegeld? Ein Pfand? Eine politische Zusage?“
„Nein, Herr, nicht seit wir Fedaj verließen.“
„Und das war vor etwa zweieinhalb Wochen?“
„Ja, Herr. Wir wissen nicht, ob in der Zwischenzeit Forderungen gestellt wurden.“
„Ein weiterer Kurier würde so lang brauchen wie ihr?“
Die Boten sahen sich nachdenklich an, bevor der Dünne antwortete. „Eher länger. Bedenkt, dass es seither zu ersten Schneefällen auf Kânegg und Staleph gekommen ist. Selbst, wenn die Botschaft von Stützpunkt zu Stützpunkt weitergegeben wird, die Tiere dadurch stets ausgeruht sind, müsst Ihr mit zweieinhalb bis drei Wochen rechnen.“
„Dann können wir entweder warten, bis noch ein Kurier auftaucht, oder wir gehen der Sache gleich nach“, sagte Ylaiy zu seiner Mutter.
„So oder so. Ihr beiden rastet. Begebt euch in die Küche. Das Gesinde soll euch mit Speis und Trank versorgen. In den westlichen Ställen könnt ihr mit euren Tieren Quartier beziehen. Erwartet weitere Anweisungen am Morgen.“
Dankend verließen die Boten den Raum.
Die Kaiserin und ihr Sohn schwiegen.
„Was habt Ihr vor?“, fragte Ylaiy schließlich. „Ihr werdet der Sache doch nachgehen lassen?“
„Natürlich!“, kam die scharfe Antwort. „Der kaiserliche Neffe wurde entführt. Der Dritte der Thronfolge. Meine Schwester bittet um Hilfe. Yvain ist nicht nur ein Politikum, er gehört auch zur Familie!“
Wobei fraglich ist, was an erster Stelle steht.
„Werdet Ihr nach Fedaj reisen?“
Die Kaiserin dachte nach, schüttelte den Kopf. „Der Thron wäre verwaist, jetzt, wo mein Gemahl nicht am Hofe weilt. Er wird zwar bald zurückerwartet, aber die Angelegenheit duldet keinerlei Aufschub.“
„Werdet Ihr Baraten entsenden?“
„Das scheint die beste Lösung. Wegen des Gefangenentransportes ließ ich gestern Nacht Boten zu ihm nach Pellant ausschicken. Baratens Befehl lautet, unterwegs zu Vei zu stoßen und ihn in die Boragha zu begleiten. Ich werde ihm frische Pferde und neue Dikta nach Perth senden. Das gibt ihm Zeit, seine Residenz aufzusuchen und sich anschließend bei mir alle Instruktionen zu holen. Er soll die Leute in Fedaj befragen. Alle, die Yvain am Tag seines Verschwindens gesehen haben. Wenn jemand ein Geheimnis ausgraben kann, dann er. Ihm wird eine Kompanie zur Verfügung gestellt.“ Jetzt, da sie ihren Plan gefasst hatte, war das Zittern verschwunden. Mit einem Handwedeln beendete sie das Gespräch.
Ylaiy zögerte. „Darf ich Euch noch eine Frage stellen?“
Ungeduld flackerte in ihren Augen auf. „Wohlan.“
„Der alte Mann und der Junge …“
„Die Hochverräter? Was ist mit ihnen?“, fragte sie unwirsch.
„Ich kam nicht dazu, Euch ausführlich zu berichten, was sie herführte.“
„Aber Urdat. Angeblich wurden Kinder entführt und zu einem Felsen gebracht.“
„Zwei Kinder, denen dasselbe zustieß! Und nun ist Euer Neffe verschwunden. Gibt Euch das nicht zu denken?“
„Der kaiserliche Neffe und zwei Kinder von irgendwelchen abseits gelegenen Flecken?“, erwiderte sie barsch. „Was sollten sie miteinander gemein haben? Zumal wir das wirre Gestammel eines halb verhungerten Knaben und eines scheinbar senilen Greises nicht ernst nehmen können. Ihr Gerede von dem Felsen. Verrücktheiten. Geflügelte Wesen? Ich bitte dich.“
Ihr Kleid raffend, schickte sie sich an, den Raum zu verlassen. Ylaiy trat ihr in den Weg, instinktiv, ohne zu überlegen. „Bitte, Mutter! Ich gebe zu, die Geschichte klingt abstrus und ich verstehe, wenn …“
„Meine Entscheidung ist getroffen“, fiel sie ihm ins Wort.
„Hört mich an! Nur dieses eine Mal! Bitte!“
Sie stockte. Diese Beharrlichkeit war ungewohnt. Entschlossenheit stand in seiner Miene. Erstmalig lenkte sie ein. „Sprich. Aber fasse dich kurz. Ich muss mich um einen Saal voller Gäste kümmern.“
„Ich danke Euch.“ Er sammelte sich einige Sekunden. „Die Geschichte klingt auch für mich fantastisch, doch ich habe die beiden gesehen. Der Junge ist den langen Weg von Berlen gereist, um Euch um Hilfe zu ersuchen. Der Mann mag alt sein, doch ich hatte nicht den Eindruck, mit einem Narren zu sprechen. Ist es nicht unsere Pflicht, Untertanen zu helfen?“
„Sie sind in die kaiserliche Burg eingedrungen!“
„Was nur zeigt, wie verzweifelt sie waren!“
„Unsinn. Hast du eine Ahnung, wie viele Verrückte sich vor den Palasttoren einfinden, um mich zu sprechen?“
„Und doch ist Yvain verschwunden. Zeitgleich mit zwei anderen Kindern. Kommt Euch das nicht ein wenig zu zufällig vor?“
Sie sah ihren Sohn lange an, straffte schließlich die Schultern. „Fein. Du magst deine Fehler haben, aber an deinem Verstand lässt sich nicht zweifeln. Ich vertraue deinem Urteil. Du bekommst Gelegenheit, dich zu beweisen. Du wirst Baraten begleiten.“
„Nach Fedaj?“, stieß er aus.
„War es nicht das, was du wolltest?“
„Nein. Ja. Nun, ich weiß nicht“, stammelte Ylaiy, plötzlich aller gelehrten Worte entkleidet.
„Wolltest du der Sache von deinem Schreibtisch aus nachgehen? In der Bequemlichkeit deiner Gemächer?“ Ihre Augen zwangen seinen Blick zu Boden. Sie schnaubte. „Wenn du dich einer Aufgabe annimmst, dann richtig. Ich gebe dir die Gelegenheit. Baraten wird die Führung haben, du wirst seine rechte Hand. Findet Yvain. Geht allem nach, was der Aufklärung dieses Verbrechens dient. Gibt es einen Zusammenhang zu den Berichten der Eindringlinge, dann deckt ihn auf. Du hast zwei Tage, um dich vorzubereiten, bevor ihr nach Fedaj aufbrecht. Das ist mein Geburtstagsgeschenk an dich.“
Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen. Ylaiy sah ihr verstört nach. Seine Hand krampfte sich um das Bündel an seiner Brust.
Spät in der Nacht betrat er seine Gemächer. Sila schwebte mit einer Weinkaraffe heran. Abwesend streckte er ihr einen Becher entgegen.
„Habt Ihr es genossen?“
Er schrak auf und sah sie an. Ihre Wange war geschwollen. „Oh! Nein! Nein. Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun sollen. Verzeih.“
„Ihr seid der Thronfolger. Ihr könnt tun, was Ihr wollt“, entgegnete sie mit erstickter Stimme.
„Nicht immer“, seufzte er. „Ich muss nach Fedaj.“
„Geht es um Euren Vetter?“
„Das weißt du schon? Offiziell darf ich dazu nichts sagen. Morgen beginnen die Vorbereitungen. In zwei Tagen reisen wir ab.“
„In der Frühe werde ich alles veranlassen. Wie lange werden wir weg sein?“
„Rechne mit zwei Monaten. Mindestens.“
„Das ist eine lange Zeit.“
Ylaiy stellte den Becher ab und ergriff Silas Hand. „Bitte deine Mutter mitzukommen.“
„Das ist großherzig von Euch.“
„Eine kleine Entschädigung. Und nicht ganz uneigennützig. Mir ist wohler ums Herz, wenn Ihr beide mich begleitet.“
Die Nacht war ein Martyrium. Endlose Stunden schlafloser Folter wechselten sich ab mit Phasen, in denen Adiv in unruhigen Halbschlaf sank, aus dem sie immer wieder aufschreckte. Eindrücke verfolgten sie. Aans Wohnung, dunkle Kanäle, das finstere Gesicht Jorgens. Aans zerschmetterter Körper, das Auge vor der Schwelle, der blutige Armstumpf. Chries’ Hände, die sich zu Fäusten ballten, Jorgen, der sie in der Kommandantur an die Wand drückte.
Im Morgengrauen verschwammen die Bilder zu einem endlosen Reigen der Gewalt. Sie sah Aan in der Kommandantur, umringt von Jorgen und seinen Spießgesellen. Sah den Kommandanten, der sich schweigend umdrehte und Aan in der Mitte der Männer zurückließ. Hörte Aans Hilferufe, die von kräftigen Fäusten erdrückt wurden.
Plötzlich war sie selbst auf dem Haupthof, inmitten einer jubelnden Menge. Ein Körper platschte von einem Gefangenenwagen herunter. Ihr Körper. Soldaten und Wärter stürmten auf sie zu. Panik ergriff sie. Sie sah sich um, entdeckte den Mann mit dem Stock auf dem Wagen über ihr. Sein Bart wehte um sein Gesicht. Neben ihm hockte der Junge und blickte sie aus traurigen Kohleaugen an. Als die Männer sie erreichten und sie in einem Wirbel aus Schlägen und Tritten versank, hörte sie ein Kinderlachen inmitten der tosenden Menge.
Arlen.
Sie suchte ihn, hörte sein Lachen, das Lied, das er so oft sang. Sie wollte ihn warnen, ihn retten, öffnete den Mund, doch alles, was heraus kam, war Blut, unendlich viel Blut. Chries‘ Kiefer mahlten. Mutter streckte den Arm nach ihr aus. Vater richtete ein Buch wie einen Schutzschild gegen sie.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Ihr Herz raste, kalter Schweiß bedeckte Stirn und Rücken. Ein Schrei steckte in ihrer Kehle.
Steif erhob sie sich. Ihre Glieder gehorchten nicht richtig. Ihr Kopf prallte gegen die niedrige Decke. Sie fluchte, rieb sich die pochende Stelle. Wenigstens lenkte der Schmerz sie von ihren Träumen und Gedanken ab.
Graues Licht sickerte durch die Löcher im Dach, sodass sie die wenigen Konturen in ihrem Versteck erkennen konnte. Eine beschädigte Strickleiter. Bretter und Stangen, ein Haufen alte Kleidung an der hinteren Wand. Ein dreibeiniger Hocker lag umgekippt daneben.
Sie bückte sich nach einer der Holzstangen und benutzte sie, um sich durch den Kleiderhaufen zu wühlen. Jahrzehntealter Staub stieg auf und brachte sie zum Niesen. Tote Motten rieselten zu Boden und einige der Fetzen zerfielen in ihrer Hand.
Unter den Kleidern lag ein länglicher Gegenstand. Ein Kerzenständer. Er wog schwer in ihrer Hand. Vorsichtig rieb sie mit dem Ärmel darüber.
„Silber“, sagte sie erstaunt. Dann brach sie in ein Kichern aus. Hier hockte sie, die furchtbarste Nacht ihres Lebens hinter sich, eine womöglich noch schlimmere Zukunft vor sich, aber mit einem Schatz in der Hand. Silber war draußen viel wert. In der Boragha konnte man es gegen einen Gefallen oder ein Privileg eintauschen.
Hier oben war der Leuchter ohne Kerze nutzlos. Sie warf ihn beiseite und machte sich daran, den Raum abzuschreiten.
Ein Viereck. Fünfeinhalb Schritte auf der längeren Seite, drei auf der kürzeren. Keine versteckten Nischen, keine dunklen Ecken. Sie richtete den Blick auf das Dach, steckte ihren Zeigefinger durch eines der Löchlein, drehte ihn ein paar Mal hin und her. Nach etwas mehr als einer Stunde hatte sie eine Öffnung von der Größe einer Männerfaust geformt, durch die sie den milchig-grauen Himmel sehen konnte. Die Sonne versteckte sich hinter einem Dunstschleier, typisch für die Winter auf Kaadaa. So war es schwer, die Tageszeit abzuschätzen.
Der Dunst verschluckte viel von den Geräuschen. Konzentriert lauschte Adiv auf die Töne, die ihr Leben seit der Geburt bestimmten. Sie vernahm ein gleichmäßiges Klatschen. Exerzierübungen.
Das hieß, es musste später Vormittag sein. Ob man sie bei der Arbeit vermisste? Der Küchenmeister würde zuerst bemerken, dass Aan fehlte. Bald würde ihm auch auffallen, dass niemand das Essen für Chries holte. Würde er nachforschen? Menschen verschwanden bisweilen, vor allem Frauen, vor allem nach der Letzten Nacht. Würden die Wärter es mitbekommen, wenn sie ihren Dienst nicht antrat? Der Kommandant? Chries? Waren sie schon auf der Suche nach ihr? Was hatte Jorgen erzählt? Was nicht?
Die Gedanken ließen sie frösteln.
Wie viele Aufseher gab es in der Boragha? Hunderte? Wie konnten so viele Männer sie nicht finden? Sie würden unter jeden Stein schauen, jeden Kanal absuchen, jede Höhle und jeden Verschlag durchforsten. Selbst, wenn man alle Verstecke kannte und sie regelmäßig wechselte, konnte man den Aufpassern nicht für alle Ewigkeit entgehen.
Ihr Mut sank. Eiskalte Angst strömte durch ihre Adern. Sie zog die Beine an ihren Körper, umklammerte ihre Knie. Was sollte sie tun? Wohin sollte sie fliehen?
Der zarte Ton einer Glocke ließ sie aufhorchen. Das Mittagbrot für die frisch Inhaftierten. Die Schelle läutete nur in der Woche nach der Ankunft. Sobald sie ihre Zellenstrafe abgesessen und überlebt hatten, würden sie in die Freistrafe entlassen werden. Ein seltsames Wort, wenn man bedachte, dass niemand auf Kaadaa frei war. Die Säulengebirge rund um die Boragha und die künstlich errichtete Wehrmauer, die sich an allen Ufern der Insel entlang zog, waren Gitter ganz anderer Art. Man blieb gefangen. Viele waren sogar der Meinung, dass die zweite Gefangenschaft die härtere war. Kein Wärter sorgte mehr für Essen und Unterkunft, schützte vor Mitgefangenen und dem Wetter, so dürftig dieser Schutz auch war. Verließ man die Zelle, war man auf sich gestellt.
Adiv stellte sich vor, wie die Zellenwärter die Mahlzeiten an die neuen Sträflinge verteilten. Wurmstichiges Brot. Dünne Suppe. Schales Wasser.
Ihr Magen knurrte.
Um sich abzulenken, begann sie zu summen. Kinderlieder, die ihre Mutter früher gesungen hatte. Manchmal zusammen mit ihrem Vater. Sie sah sich und ihre winzige Schwester in ihrem Zuhause. Kerzenlicht zauberte Schatten an die Wände. Die Formeln und Zeichnungen ihres Vaters verschwammen und tauchten wieder auf. Die Stimmen ihrer Eltern. Dunkel und rauchig, oft streitend, doch immer wieder versöhnlich, mitunter auch lachend.
Die Schwester wurde nicht größer und verschwand, so wie die nächste. Ein kleiner Junge erlebte die erste Nacht nicht. Die Stimmen ihrer Eltern wurden immer leiser.
Ihre Geschwister hatten keine Namen gehabt. Es war leichter, ein namenloses Kind zu vergessen und schwerer, es zu lieben. Arlen hatte einen Namen bekommen, gleich nach der Geburt. Die Frauen, die ihr halfen, den Jungen zur Welt zu bringen, waren entsetzt.
„Das wird sie unglücklich machen“, hatte Adivs Mutter geschimpft, während sie mit ihrer halbwüchsigen Tochter durch die Gänge geeilt war. Adiv war noch überwältigt von der Geburt gewesen, von dem Stöhnen und Schreien, dem Geruch nach Blut und Exkrementen. Sie hatte nicht gestritten.
Der Tag verging quälend langsam. In immerwährenden Kreisen lief sie die Wände ab, machte wacklige Kniebeuge, hielt die Zunge unter das Loch, als am Nachmittag Regen einsetzte, verrichtete ihre Notdurft in der entferntesten Ecke, zählte die Krähenschreie, sprach mit sich selbst, stellte sich Fragen und noch mehr Fragen, bis sie glaubte, ihr Kopf würde platzen. Sie trauerte und weinte. Als der Himmel sich schwarz färbte, ihre Umgebung unsichtbar wurde, lehnte sie sich an die Wand. Über dem Warten nickte sie ein.
Den ersten Eulenschrei überhörte sie, so sehr war sie von ihrem Traum gefangen. Beim zweiten schreckte sie hoch. Beim dritten Schrei rappelte sie sich auf und öffnete die Luke einen Spaltbreit.
Obwohl darauf vorbereitet, zuckte sie zusammen, als ihre Mutter ins Zimmer unter ihr floss. Adiv gab keinen Laut von sich, bis sie die ältere Frau flüstern hörte: „Komm herunter.“
Achtsam ließ Adiv sich durch die Luke gleiten, angelte mit dem Fuß nach einem festen Stand. Bevor sie den Deckel schloss, griff sie kurz entschlossen nach dem Kerzenleuchter, kletterte umständlich sie nach unten, froh über die Bewegung.
„Nimm.“ Ihre Mutter warf ihr einen ledernen Beutel zu, den man mit einer Schnur zuziehen konnte. Adiv stopfte den Leuchter in den Beutel und warf ihn sich über die Schultern.
„Komm. Wir müssen uns beeilen.“
Wie Diebe schlichen sie in die Nacht.
„Sie waren schnell. Viel zu schnell.“
„Was meinst du?“, fragte Adiv und stolperte, als ihre Mutter jählings einen Haken schlug, um nach rechts in einen Kanal zu laufen.
Die nächsten Meter rannte sie geduckt, um ihr Gesicht vor herabhängendem Wurzelwerk zu schützen, sprang über flache Steine, die über einen Wasserlauf führten. Über und unter ihnen plätscherte es. Der Lederbeutel auf ihrem Rücken begann schwer zu werden. Schweiß strömte über ihren Körper. Stumpfsinnig lief sie hinter ihrer Mutter her, vertraute darauf, dass sie irgendwo ankamen, wo es sicher war.
Plötzlich verbreiterte sich der Korridor zu einer fast kreisrunden Höhle, in die von oben natürliches Licht fiel. Eine Wasserfläche warf es zurück auf die Wände ringsum.
Adiv stoppte, als ihre Mutter abrupt stehen blieb und sich umwandte. Im Halbdunkel der Grotte nahm Adiv den veränderten Ausdruck in ihrem Gesicht wahr. Eine schlimme Ahnung beschlich sie.
„Sie haben uns gefunden.“
„Was…“
„Er ist tot, Adiv.“ Die Worte hallten von den feuchten Wänden wider.
„Was?“, war alles, was Adiv herausbrachte.
Das Gesicht ihrer Mutter leuchtete kalkweiß. Es stand so viel Schmerz darin, dass er für Adiv kaum zu ertragen war. Sie legte die Hand auf ihren Mund. „Oh Kaa.“
Unsicher ging sie auf ihre Mutter zu. Diese wich zurück, drehte sich fort. „Komm. Es ist nur noch ein kurzes Stück.“
An einer der Felswälle führte ein verborgener Pfad nach oben zu einer Art Empore, die um den Höhlenraum lief. Sie balancierten auf dem Balkon entlang, der sich an einer Stelle in die Wand hinein grub. In der Nische sank Adivs Mutter zu Boden. Adiv ließ sich neben ihr nieder. In gramvollem Schweigen saßen sie nebeneinander.
„Es tut mir so leid“, flüsterte Adiv erstickt.
„Was denn?“, erwiderte ihre Mutter mit matter Stimme. „Dass du hier geboren wurdest? Dass du überlebtest? Dass man deine Freundin und ihren Sohn niedermetzelte? Dass die Wärter deinen …“
„Hör auf!“, fuhr Adiv ihre Mutter an. „Du weißt, was ich meine. Wenn ich nicht gewesen wäre, dann …“
„Wirst du das wohl nie wieder sagen!“, donnerte ihre Mutter plötzlich los. Adiv verschluckte sich vor Schreck an ihrem eigenen Speichel und hustete. „Du hast den Tod deines Vaters nicht zu verantworten. Nie wieder wirst du diesen Gedanken denken, hast du mich verstanden?“
Schwer atmend senkte die Mutter ihr Haupt. Adiv betrachtete das strähnige Haar am Hinterkopf. Eine Woge der Zärtlichkeit erfasste sie.
„Er wusste nicht, dass sie kamen, starb schnell und ohne Schmerzen. Sie haben ihn nicht gefoltert. Niemals hätte ich vermutet, dass sie uns derartig rasch finden würden. Sie haben nur ein paar Stunden gebraucht. Ich habe sie unterschätzt“, hob die Mutter den Kopf. „Nachdem ich dich gestern verlassen hatte, schlich ich los, um Kleidung und Werkzeug zu holen“, wies sie auf den Lederbeutel.
„Wo hast du das alles her?“
„Verstecke. Schlupflöcher. Danach kehrte ich nach Hause zurück und fand ... ihn. Jorgen muss sofort reagiert haben. Mit Sicherheit hat er dich gekannt. Woher, Adiv?“
„Er hat mich gesehen, als ich in der Kommandantur gewischt habe.“
Gestern erst.
„Er muss sogleich Nachforschungen angestellt haben.“
„Aber die Wärter wissen nicht, wo wir wohnen. Die untere Stadt ist ein Irrgarten. Sie kennen sich dort nicht aus.“
„Die Aufpasser wissen alles. Sie schreiben alles auf. Pergament ist geduldig. Ich hätte nur nicht gedacht, dass sie so rasch an die Informationen kommen. Das Gefängnis mag ein Reich im Reich sein, die untere Welt wiederum eines innerhalb der Boragha, aber die Könige sind die Wärter. Die Alten Familien kontrollieren die Unterwelt, aber darüber gibt es das Oben. Die Bewacher. Sie beobachten, sie notieren, sie foltern für Informationen, sie töten.“
„Also gibt es die Majestes doch.“
„Das wusstest du doch immer. Doch die Wärter sind die Herren. Unterschätze niemals die Wärter.“
„Wenn alle Gefangenen sich gleichzeitig gegen sie auflehnten…“
„Ein Haufen Verbrecher? Vergiss nicht, dass die meisten zu Recht hier sind. Mörder, Räuber, Brandschätzer, Vergewaltiger, Betrüger. Das sind keine ehrenhaften Menschen. Sie denken ausschließlich an ihren eigenen Vorteil. Die Aufseher hingegen sind organisiert, bewaffnet, kampferfahren. Sie kennen das Gelände, innen und außen. Innerhalb Stunden würde K’yr Truppen senden. Ein Aufstand lohnt sich nicht. Ein paar Wärterleben gegen einige hunderte, möglicherweise tausende von uns.“
„Und nun? Wie geht es weiter?“, fragte Adiv verzagt. „Ich weiß nicht einmal, wo wir sind.“
„Kennst du den Felsen hinter dem Wachraum im Osthof? Er sieht aus wie eine Amphore, ist auch im Sommer schneebedeckt.“
„Ja.“
„In ihm sind wir, in seinem südlichen Ausläufer. Nah am Meer. Hörst du die Wellen? Allerdings kommt man nicht zum Wasser. In diesem Höhlensystem enden alle Pfade an Mauern. Wenn du den Weg zurückgehst, den wir gekommen sind, erreichst du …“
„Den Ostkanal. Von ihm aus führt ein verrottetes Abflussrohr zur alten Krankenstation und den Totengruben“, vervollständigte Adiv aus dem Gedächtnis.
„Dein Ortssinn ist bemerkenswert. Mein Erbe an dich“, lächelte ihre Mutter anerkennend.
„Seit ich ein Kind bin, habe ich das Gefühl, du bist unterwegs und kundschaftest die Insel aus.“
„Das habe ich“, entgegnete ihre Mutter zu ihrer Überraschung offen. „Ich bin die Insel abgelaufen, immer wieder. Manchmal verändern sich die Wege. Man kann nie ganz sicher sein.“
„Warum?“
„Ich wollte fliehen, was sonst?“
Ungläubig lachte Adiv auf. „Niemand ist je von hier geflohen. Es gibt eine Wehrmauer rund um die Insel. Sie ist so hoch wie zehn Männer!“
„Genau genommen ist es ein Palisadenzaun. Zweieinhalb Männer hoch, glatt, ohne Werkzeuge nicht zu erklimmen. Aus uraltem Holz. So hart, dass man es nicht anzünden kann. Das Klima hier sorgt dafür, dass es niemals austrocknet. Jeder Pfahl ist oben angespitzt. Es gibt Schwachstellen, die mit Stein ausgebessert wurden. Diese werden besonders gut bewacht.“
Mit offenem Mund starrte Adiv ihre Mutter an.
„Der Zaun verläuft teilweise im Gebirge. Dort, wo er unterbrochen ist, bilden Felsen ein natürliches Hindernis. Sie sind scharfkantig, oftmals hundert Meter hohe Basaltsäulen. Aussichtslos, über sie klettern zu wollen.“
„Also ist es wahr? Der Zaun ist unüberwindlich?“
„Ja. Ich bin jeden Meter abgelaufen, den ich erreichen konnte. Die Türme sind immer besetzt, daneben gibt es Patrouillen auf den begehbaren Zaunabschnitten. Ich musste sehr vorsichtig sein, mich mit Ästen und Blättern bedecken, über Waldböden kriechen. Ich habe mir die Glieder an Felsen aufgerissen. Kein Ausweg. Nichts. Darüber bin ich fast verzweifelt.“
„Wo sollen wir dann hin?“, fragte Adiv mutlos.
„Ich bleibe hier. Du fliehst.“
„Was? Wie?“, sprang Adiv auf.
Ihre Mutter blieb sitzen, beide Arme um den Leib geschlungen. „Zuerst ziehst du dich um“, befahl sie.
Adiv bückte sich nach dem Lederbeutel. Ihre Mutter rutschte ein Stück rückwärts, lehnte sich an die Wand. „Die Sachen werden zu kurz sein, aber das ist nicht so wichtig.“
Prüfend hielt Adiv die Kleidung vor ihre Augen, bewunderte das weiche Leder. Schnell schlüpfte sie in die Hose. Sie lag eng an, reichte ihr bis zu den Waden. Am Bund war sie mit Lederkordeln verschnürbar.
„Sie hat mehrere Taschen, offene und versteckte. Die Hose ist alt und getragen, doch ich habe sie sorgfältig gepflegt.“
„Sie fühlt sich an wie eine zweite Haut.“
„So soll es sein. Sie hält Wärme, Wasser und Kälte gleichermaßen aus, bremst Pfeilspitzen und Messerschneiden ab, wird dich vor Verletzungen schützen. Achte darauf, sie regelmäßig einzufetten. Ziehe den Rest an!“
Rasch tauschte Adiv das verwaschene Kleid gegen ein anschmiegsames Lederwams. Die Ärmel endeten weit oberhalb der Handgelenke. Auch das Wams wies eine Reihe von Taschen, Schlaufen und versteckten Futteralen auf. Ein breiter Gürtel sorgte dafür, dass es fest auf ihren Hüften saß. Der Umhang bestand ebenfalls aus Leder. Auf die Stiefel warf Adiv einen skeptischen Blick, bevor sie hineinstieg. Sie waren bequem und warm, obwohl die Sohle nur leicht verstärkt worden war. Probehalber wackelte sie mit den Zehen, erleichtert, dass sie sie ohne Widerstand bewegen konnte.
Ihre Mutter, flach atmend auf ihren Armstumpf gestützt, blickte zu ihr herauf. Zärtlichkeit, Stolz und Wehmut standen in ihren Augen, als sie ihre Tochter betrachtete, die in der ungewohnten Kluft wie ein anderer Mensch wirkte. „Du siehst aus wie eine echte Diebin.“
Adiv lachte auf. „Ich hatte eher gehofft wie eine Kriegerin. Diese Kleidung gibt mir das Gefühl, ich könnte einen Mann niederstrecken, wenn ich es nur wollte.“
„Das lässt du besser bleiben. Diese Sachen sind zum Klettern und Schleichen gemacht. Das Leder ist robust, aber einem Schwerthieb oder Schildschlag hält es nicht stand.“ Ihre Stimme wurde sanfter. „Du bist keine Kriegerin, Adiv. Das liegt nicht in deinem Blut. Weder dein Vater noch ich sind dafür gemacht, Leuten mit Waffen entgegenzutreten. Wir benutzen unseren Verstand. Fingerfertigkeit. Schläue. Das ist dein Erbe. Erinnere dich.“
Die Stimme ihrer Mutter klang beschwörend. Ihre Augen schauten tief in ihre Seele.
Erinnern. Woran?
Sie kippte den Lederbeutel aus. Verschiedene Dinge fielen zu Boden. Werkzeuge. Haken in unterschiedlichen Größen. Ein Schlüsselbund, Metallstifte, Holzpflöcke, Feuerstein und Zunder, ein Säckchen, Pergamentrollen, Döschen, eine Feder, ausgerissene Buchseiten, Münzen, ein ovales Gebilde, Lederschnüre, ein Messer.
„Diebeswerkzeug“, murmelte sie. „Schreibutensilien. Ich kann nicht schreiben. Und stehlen habe ich auch nie gelernt.“
Ihre Mutter lächelte nur rätselhaft, die Augen zu Schlitzen verengt.
„Kräuter“, fuhr Adiv fort, nachdem sie den Inhalt des Säckchens inspiziert und heftig geniest hatte. Danach biss sie auf eine der Münzen, die unter ihren Zähnen nachgab. „Gold?“
„Gehe achtsam mit ihnen um. Menschen sind gierig.“
Das ovale Gebilde hielt sie nur fragend hoch.
„Ein Brennglas. Man muss es in die Sonne halten.“
Adiv reckte das Glas höher in die Luft. Dann rutschte sie an den Rand der Empore und beugte sich nach vorn, um das von oben einfallende Licht einzufangen. Spielerisch lenkte sie es ins Gesicht der Mutter.
Vor Schreck fiel ihr das Glas fast aus der Hand. Das Antlitz ihrer Mutter war aschgrau. Aus ihrem Mundwinkel rann ein Blutfaden. Mit einem Satz war Adiv bei ihr. Sie erschrak zu Tode, als sie die blutverschmierte Brust sah.
„Nicht jetzt“, sagte ihre Mutter undeutlich mit schmerzverzerrter Miene. „Jetzt ist keine Zeit für Angst. Wir müssen handeln.“
„Aber das Blut“, stammelte Adiv.
„Nur eine Fleischwunde. Jorgen wartete in der Wohnung auf mich, aber er hat mich nicht richtig erwischt. Ich bin weggerannt, als wäre der Leibhaftige hinter mir her. Habe mich ein paar Stunden in einem Hohlraum im Regenwasserbecken versteckt. Ich brauche nur ein wenig Ruhe und Verbandszeug.“
„Mein Kleid“, angelte Adiv panisch nach ihrem Kittel, doch ihre Mutter hielt sie am Arm zurück. Ihr Griff war kraftvoll, was Adiv mehr beruhigte als die Versicherungen, es ginge ihr gut.
„Gleich. Zuerst gibt es noch viel zu erzählen. Du musst gut zuhören. Die Menschen reden in diesen Mauern, sie fantasieren und sie hoffen. Die Verzweiflung schafft einen Wunsch. Dieser wird zu einem Gerücht, zu einem geflüsterten Versprechen. Gerüchte reisen schnell und sie lassen sich nicht aufhalten. Als ich damals hier ankam, hatte ich nur einen Wunsch: Ich wollte, ich musste wieder hinaus. Ich schlich herum, erkundete die Insel, jeden Winkel, jedes Erdloch. Suchte nach einem Ausweg, jahrelang.“
Die Mutter schnappte nach Luft und rutschte in eine bequemere Lage. „Irgendwann vernahm ich den Namen zum ersten Mal. K’yr. Ich hörte mich um, forschte nach, reimte mir nach Wochen die ganze Geschichte zusammen. Im Ostzipfel der Insel hatte es einen gewaltigen Steinbruch gegeben, der einen Teil der Mauer zerstörte. Natürlich begannen sie sofort damit, den Schaden zu beheben. Die Patrouillen wurden verdoppelt. Der Zaun wurde erneuert. Bald war er stabiler als vorher.
K’yr ist seither ein Außenposten der Miliz. Dort leben Wärter und Kaisersoldaten gleichermaßen, eine Garnison mit dutzenden Männern. Sie liegt 2000 Meter über dem Meer auf einem Felsplateau, so flach wie ein Teller. Der Felsen darunter ist über hunderte Höhenmeter nackt und von oben vollständig einsehbar. Nur ein schmaler Grat führt nach oben. Nachts erleuchten Fackeln das Gelände. In den Wäldern am Fuß des Felsens gibt es Kontrollpunkte und Wachtürme. Niemand gelangt ungesehen nach K’yr.“
„Hört sich nach dem am besten befestigten Ort der Insel an.“
„Genau das dachte ich auch. Und ich fragte mich, warum.“
„Warum was?“, gab Adiv verwirrt zurück.
„Warum wird K’yr so stark bewacht? Der Schaden wurde beinahe über Nacht behoben, wozu also all die Sicherheitsmaßnahmen? Zusätzliche Männer, neue Wachtürme, zusätzliche Streifgänge, Fackeln in der Nacht. Nirgends sonst werden Fackeln entzündet, denn niemand wäre verrückt genug, bei Dunkelheit durch die Hochwälder zu streifen. Dort oben gibt es Spalten, Schluchten, Abhänge. Jede Wurzel wird zur Todesfalle. Selbst wer es über den Zaun und das Gebirge schafft, steht am Rand einer Insel, die von hohen Klippen umsäumt ist. Darunter das Meer, tückisch, voller gefährlicher Strömungen, Riffe und Haie, die in den Untiefen lauern.“
„Hast du die Antwort gefunden?“
Ihre Mutter verzog das Gesicht und presste die Hand auf ihren Bauch. Besorgt beobachtete Adiv, wie hellrotes Blut über die Finger lief.
„Der Archipel.“
Adiv runzelte fragend die Stirn.
„Ein kurzes Stück südöstlich von K’yr gibt es eine Landzunge, die einen Kilometer ins Meer hineinragt. Der äußerste Zipfel Stalephs und die Südküste Kâneggs liegen östlich von dort. Zwischen der Zunge und den beiden Inseln liegen mehrere winzige Eilande, aufgefädelt wie an einer Perlenkette. Man müsste lediglich bis zur ersten Insel schwimmen. Die Eilande sind bewachsen, man findet Nahrung und Wasser, Holz für ein Floß. Deshalb ist K’yr so gut bewacht, dein Vater und ich sind uns sicher. Die Landzunge unter K’yr ist die Schwachstelle der Insel. Ich glaube, dass die Wärter dies bei den Ausbesserungsarbeiten bemerkt haben.“
„Vater wusste von deinem Plan?“
„Sicher“, ächzte Adivs Mutter mit einem wehmütigen Glimmen im wachsbleichen Gesicht. „Er hat gelesen, alles, was er bekommen konnte … Über das Kaiserreich, die Inseln, die Meere. Hat berechnet, Vermutungen aufgestellt, mich gezielt zu bestimmten Punkten geschickt.“
„Ich habe nichts davon geahnt“, flüsterte Adiv.
„Hättest du es gewusst, hätte es uns alle gefährdet. Ein falsches Wort zu anderen, Aan, Arlen, irgendwem, hätte uns in Gefahr bringen können. Dein Vater sagte, ich solle dich nicht mehr mitnehmen. Er hatte recht.“
Erinnere dich.
Die Botengänge. So viele Besorgungen, überall hin. Sie schüttelte den Kopf. Die Erinnerungen schmerzten. „Was ist mit den Haien und den Strömungen?“
„Die Strecken sind kurz. Es gibt Sandbänke. Riffe, die aus dem Meer ragen und Schutz vor Attacken bieten. Es ist riskant, es ist lebensgefährlich, doch es ist die einzige Möglichkeit.“
„Aber du sagtest, K’yr überblickt alles. Und wie kommt man auf die Landzunge?“
„Die Wärter haben alles neu aufgebaut. Doch“, senkte die Mutter ihre Stimme zu einem Flüstern, „sie haben nicht unter der Erde nachgesehen. Die Steinlawine hat nicht nur zerstört, sie hat auch erschaffen.“
Manchmal verändern sich die Wege.
„Sie hat einen neuen Weg geformt?“
Die Augen ihrer Mutter leuchteten im Halbdunkel. „Einen Durchgang. Ein Loch in einem der unzähligen Höhlengänge. Die Landzunge ist mit Höhlen durchlöchert wie ein madiges Stück Käse. Ein Labyrinth, kaum zu durchschauen. Ohne Ausweg, damals. Ich war ja da gewesen, lange vor dem Steinbruch. Bin durch die Gänge geirrt. Kein Weg nach draußen. Aber das Loch hat alles verändert. Dein Vater hatte eine Karte gemacht, aber sie ging verloren, als die Wärter unser Heim verwüsteten.“
Adiv zuckte bei dem Gedanken zusammen.
„Ich kenne den Weg unter K’yr entlang, Adiv. Du musst durch den Felsen, nicht über ihn.“
Wieder kein ‚wir’. Adiv war verzweifelt. Das Antlitz ihrer Mutter hatte sich marmorn verfärbt, der Körper zitterte.
Die Mutter ergriff Adivs Hand. Das Mädchen fühlte klebriges Blut und ungesunde Hitze. „Dein Vater und ich waren bereit. Alles, was wir noch brauchten, war ein Mechanismus für seine Beine. Und ein Boot. Dein Vater war als Handwerker genauso unbegabt wie als Erfinder, doch wir hätten es geschafft. Irgendwie.“
Die Mutter schloss die Augen, und für einen schrecklichen Moment dachte Adiv, es wäre vorbei. Doch dann öffneten sich die Augen wieder. „Ich weiß nicht, ob ich noch genug Kraft habe, aber wir müssen es versuchen. Gib mir Pergament und Federkiel. Ich werde den Weg aufzeichnen. Möglicherweise verlässt mich mein Gedächtnis, aber es gibt den Weg, es gibt ihn. Hör nicht auf zu suchen, hörst du?“
Adiv nickte, griff nach dem Messer und robbte an die Grottenwand. Prüfend musterte sie den Felsen. An einer Stelle hielt sie inne. Mit dem Messer kratzte sie Späne eines dunkleren Gesteins ab, die sie mit der Hand auffing. Dann langte sie nach einem Stein, der eine Vertiefung aufwies, in der sie die Späne sammeln konnte. Anschließend zerriss sie ihren Kittel in längliche Fetzen.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte sie, kam auf die Füße und eilte hinunter zu dem Höhlensee. Sie tauchte die Stofffetzen hinein und sprenkelte einige Tropfen auf die Splitter. Zufrieden beobachtete sie, wie sich eine saphirblaue Flüssigkeit bildete, schürzte die Lippen und sprang den Weg wieder hinauf.
Sofort versenkte die Mutter den Kiel in die Tinte und begann, mit krakeligen Strichen eine Karte zu zeichnen. Adiv schlang die nassen Kleiderfetzen um den Kopf der fiebernden Frau, lauschte auf die unregelmäßige Atmung. Ihre Miene wurde von Minute zu Minute besorgter.
Nach dem letzten Strich brach ihre Mutter zusammen. Adiv beugte sich über sie. Tränen tropften aus ihren Augen.
„Nicht schlecht für ein Mädchen, das kaum lesen und schreiben kann“, flüsterte ihre Mutter kaum hörbar.
Erinnere dich.
Tinte herstellen. Wo hatte sie das gelernt? Wann? Wann hatte sie es vergessen? Dann ein Gedankenblitz aus weiter Ferne. Ihr Vater, schreibend an der Wand stehend.
Es gibt eine einfache Art, Tinte herzustellen. Korylterz und Wasser. Gibt es praktisch überall.
„Keine Zeit für Trauer, Adiv. Verbrauche deine Kraft nicht für Dinge, die nicht mehr zu ändern sind. Baue dir ein Leben auf. In Freiheit. Koste sie, sie schmeckt wunderbar. Nimm dies an dich“, hielt ihre Mutter ihr einen glänzenden Gegenstand hin. „Es ist eine Erinnerung an uns. Ein Talisman. Möge er dir Glück bringen. Vergiss uns nicht. Erinnere dich, aber sieh nicht zurück. Und nun flieh! Flieh!“
Tränenblind stopfte Adiv die verfärbte Münze in ihren Umhang, suchte ihre Habseligkeiten zusammen, schulterte den Lederbeutel, breitete den Kittel über der sterbenden Frau aus, küsste sie auf die Stirn. Mit der Zeichnung in der Hand machte sie sich auf den Weg. Das Lächeln ihrer Mutter begleitete sie.
Sie rief seinen Namen.
Ihre schemenhafte Gestalt schwankte, wuchs in die Höhe, schmolz Richtung Boden. Ihr Gesicht war so makellos, dass sein Anblick Unbehagen hervorrief. Eine Haut ohne jede Unregelmäßigkeit, ohne die Fältchen, die Lächeln und Sonne schufen. Die Lippen zwei blutleere Bögen, die sich kaum von ihrem Antlitz abhoben. Sie riefen seinen Namen, wieder und wieder.
Die beiden Silben krochen unter die Haut, hakten sich im Kopf fest, lockten ihn zu ihr. Er sträubte sich. Unter der Sanftheit ihrer Stimme verbarg sich Unheil. Dennoch: Ein Teil von ihm sehnte sich danach, aufzugeben. Der Schmerz würde aufhören, wenn er zu ihr ginge.
Wie er sie vermisste.
Sie schwoll zu beängstigender Größe an. Seine Hoden zogen sich zusammen. Er rollte sich zu einer Kugel, legte die Arme über den Kopf.
Nun begann das geisterhafte Abbild seiner Mutter von innen zu strahlen. Auf ihrer Brust bildete sich ein wasserblaues Netz winziger Linien und Risse, das in Windeseile ihren gesamten Körper erfasste. Das Geflecht blitzte und zuckte, als liefen Feuerpunkte durch die Fäden. Ihr Nabel platzte auf, doch statt auf Gedärme, Blut und Muskeln blickte er in ein bodenloses Loch aus weißem Licht.
Wie ein Kind, das sich vor Gespenstern fürchtet, lugte er zwischen den Fingern hervor, entsetzt und fasziniert gleichermaßen. Sein Mund stand offen, doch er schrie nicht. Stattdessen hörte er ihr Rufen, das in ein Kreischen überging.
Viiiideeeem!
Die erste Silbe des Namens nagte an seinem Verstand. War sie anfangs sanft an ihn herangeglitten, so gellte sie nun unerträglich laut.
Viiiideeem!
Ihr Körper brannte. Sie ragte über ihm auf, eingehüllt in schwefelgelbe Flammen mit hellblauen Spitzen. Er meinte, vor Kälte zu verglühen.
Videm.
Jetzt horchte er auf, unsicher, sich verhört zu haben, lauschte in das Inferno aus blendendem Licht und betäubendem Kreischen.
Videm.
Ein Flüstern, kaum auszumachen. Sein Name, wieder und wieder, diesmal leise, abgehackt. Er konzentrierte sich auf die Stimme, die leise Stimme, die Stimme, die sich hinter dem Lärm verbarg.
Das beißend kalte Licht verlor an Intensität und schwand.
Die leise Stimme. Ruhig und klar wie ein Bergsee, glatt und kühl wie eine Glasscheibe. Eine angenehme Stimme, die Hoffnung verhieß und Sicherheit. Der Ort auf der Welt, zu dem er flüchten konnte.
Er überließ sich ihr.
Die Gestalt seiner Mutter schrumpfte. Das Loch in ihrem Leib stülpte sich nach außen, verschluckte das Licht. Risse und Linien lösten sich mit einem Knistern auf. Seine Mutter zerfloss in hellen Nebel.
An ihrer Stelle erschienen andere Silhouetten. Sie schwebten heran wie Staubflusen, verschwanden in quirlenden Spiralen. Nur ein Schemen blieb. Er rief seinen Namen.
Etwas Schwarzes stob aus der Leere heran und wischte über die Gestalt, wie ein harmloser Schatten an einem Sonnentag manchmal über einen glitt. Doch als der Schatten vorüber war, schwankte die Gestalt und fiel. Hellrotes Blut pumpte aus ihr, flutete auf ihn zu. Die Gestalt lag auf der Seite und lief aus, bis sie alle Farbe und Substanz verlor, mit der Umgebung verschmolz.
Videm wollte auf den Schemen zulaufen, merkte aber, dass seine Beine ihn nicht von der Stelle brachten.
Videm.
Einmal noch erklang sein Name, dann wurde es still.
Videm fror ein. Erst jetzt erkannte er die Stimme.
„Vater“, krächzte er.
Cledent Baraten sah ihn aus gebrochenen Augen an.
Bodenlose Angst hüllte ihn ein. Erst nach einem Augenblick erkannte er die vertrauten Umrisse der Möbel und Wände. Sein Raum, sein Bett. Dem Himmel sei dank. Er war erwacht.
Er ächzte wie ein betagter Mann, als er an den Albtraum dachte, der qualvoller gewesen war als die früheren.
Weitaus schlimmer.
Seine Hände zitterten, als er sie ans Gesicht führte. Die klebrige Substanz auf den Fingern bestätigte ihm, was er geahnt hatte. Nasenbluten.
Schwerfällig wälzte er sich vom Lager hoch. Dröhnender Kopfschmerz überfiel ihn, zwang ihn zurück in die Kissen. Seine Finger fanden die Schläfen und massierten sie, doch sie verschafften kaum Linderung.
Erneut stand er auf, langsam und mit geschlossenen Augen. Mit ausgestreckten Armen tastete er sich in das Nebengemach, in welchem eine tönerne Schüssel in die Wand eingelassen war. Hinter dem Mauerwerk verlief ein System dünner Rohre, über das Wasser aus dem Brunnen im Innenhof in alle Räume des Hauses geleitet wurde.
Videm schob ein steinernes Plättchen nach oben. Aus dem Röhrchen in der Wand plätscherte ein Wasserstrahl. Er benetzte Hände und Stirn, rieb das Blut ab, betrachtete sich in der versilberten Fläche über der Waschschüssel. Er sah furchtbar aus. Bleich und übernächtigt. Mit Blutschlieren unter der Nase und auf der rechten Schläfe. Selbst den unbändigen Kopfschmerz sah man ihm an.
Er war versucht, auf den Silberspiegel einzuschlagen, fand jedoch keine Kraft. Stattdessen hielt er den Kopf unter den Strahl in der Hoffnung, den Schmerz für einen weiteren Tag zu vertreiben.
„Videm!“
Er zuckte zusammen, den Traum noch lebhaft in Erinnerung, wiewohl es mittlerweile Mittag war. Erst als Sphitas rotwangiges Gesicht hinter der niedrigen Mauer auftauchte, beruhigte er sich.
„Was ist passiert? Du warst nicht beim Morgenmahl. Ich habe mir Sorgen gemacht. “
Er war sogar zum Abwinken zu müde. „Ich war nicht hungrig.“
„Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?“ Die Sorge hinter ihren Worten berührte und verschreckte ihn gleichermaßen.
„Kopfschmerz. Ich bin nach draußen gegangen, weil ich dachte, die frische Luft hilft. Es geht schon wieder.“
Sie nickte und wickelte ihren Schal enger um Kopf und Schultern. „Dein Vater ist endlich zurück. In Debenhoor erreichten ihn Boten der Kaiserin, die ihn in einer dringenden Angelegenheit an den Hof ruft. Er ist beinahe ohne Unterbrechung geritten.“
„Seit wann ist er zurück?“
„Seit etwa einer Stunde. Er ließ sogleich meine Mutter rufen, um alles Weitere zu arrangieren.“
Er runzelte die Stirn. „Alles Weitere?“
Das Mädchen senkte den Kopf. „Er wird uns gleich wieder verlassen.“
„Er ist doch eben erst angekommen. Was kann von so großer Tragweite sein?“
„Er ist nun mal der Leitende Inquisitor. Unmittelbar der Kaiserin unterstellt. Ihr Befehl darf nicht infrage gestellt werden. Das weißt du doch.“
„Dennoch“, grummelte Videm, ohne seine Enttäuschung zu verbergen. „Eine Rast wird ihm wohl gestattet sein.“
Das Mädchen kam näher an ihn heran und blickte ihm in die Augen. „Irgendetwas ist geschehen, Videm, ich sah es in seinem Gesicht. Etwas Ungewöhnliches“, flüsterte sie eindringlich. „Dein Vater war sehr in sich gekehrt. Er ritt unbehelligt bis vor das Tor, ohne Eskorte und Begrüßungstamtam. Er würdigte uns kaum eines Blickes, rief Mutter zu sich, wies sie an, zu packen. Er hat sie nicht einmal begrüßt, geschweige denn angelächelt.“ Sphita fasste ihren Freund am Arm. „Er warf ihr die Zügel zu, kannst du das glauben?“ In ihren Augen stand Empörung.
„Hmm. Begleite mich doch zu seinen Räumen, dann werde ich umgehend mit ihm sprechen.“
„Er will dich sowieso sehen.“
Vor der Tür zögerte er einen Augenblick, betrachtete das polierte, mit Ornamenten verzierte Holz. Bilder seines Traumes schwebten vor seinem inneren Auge, überschattet von einem diffusen Gefühl der Bedrohung. Bevor die Gedanken ihn überwältigen konnten, straffte er sich und klopfte.
„Endlich“, begrüßte ihn sein Vater mit einer Mischung aus Freude, Erleichterung und Ungeduld.
„Verzeiht. Ich hatte Euch nicht kommen sehen.“
Cledent Baraten zog seinen Sohn in eine liebevolle Umarmung. „Wie ist es dir ergangen?“
„Gut“, erwiderte Videm steif. „Wirklich“, setzte er hinzu, als er zweifelnde Augen auf sich gerichtet sah. „Macht Euch keine Sorgen. Ich habe Euch vermisst, das ist alles.“
„Mir ging es ebenso“, seufzte Baraten. „Manchmal sind die Anforderungen meines Berufes hoch. Das viele Reisen, die Trennungen. Aber das ist nun einmal der Preis, den man zahlt. Und nun bin ich ja wieder hier.“
„Ich hörte, nur für kurze Zeit.“
„Die Kaiserin verlangt in einer Angelegenheit nach mir, die keinerlei Aufschub duldet.“
„Dann brecht Ihr morgen bereits wieder auf?“
„Heute noch. Ich dachte an ein gemeinsames Mahl und ein Bad. Dann muss ich euch schon wieder verlassen.“
„Wohin?“
„Zum Kaiserhof. Erst einmal.“
„Weshalb?“
„Ahh. Du weißt, dass ich über meine Aufträge nicht sprechen darf.“
„Und doch weiß ich immer, wohin Euch Euer Auftrag führt.“
Der Inquisitor sah seinen Sohn lange schweigend an. Videm spürte, wie das Pochen hinter den Schläfen zu einem Dröhnen wurde. Schwarze Schleier tanzten an den Rändern seines Sichtfeldes. Irgendetwas lag in der Luft. Die bedrohliche Ahnung verstärkte sich.
„Geht es dir wirklich gut? Du scheinst nicht ganz bei dir zu sein. Ist es die Narbe?“
„Nein“, wehrte Videm ab. „Es ist nichts. Nur Kopfschmerz. Ich habe nicht gut geschlafen.“
„Ein schlimmer Traum?“
„Ja“, gab Videm zu. „Er war … absonderlich.“
„Er beschäftigt dich?“
„Wird das ein Verhör?“
Cledent Baraten lachte auf und hieb seinem Sohn auf die Schulter. „Verzeih. Es ist schwer, diese Unsitte abzulegen. Doch es sollte kein Verhör werden. Ich bin einfach nur besorgt über das Wohlergehen meines einzigen Kindes.“
Aus einem Impuls heraus griff Videm nach der Hand seines Vaters, als suche er Halt.
Die ungewohnte Gefühlsbekundung beunruhigte den Inquisitor. „Was ist los?“, fragte er leise.
Videm öffnete den Mund, zögerte, schloss ihn wieder.
Der Inquisitor sah, wie sein Sohn mit sich kämpfte, sich in seinen Panzer zurückzog. Seit dem Unfall war er verschlossen wie eine Muschel.
„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest.“
„Kann ich mitkommen?“
„Wohin?“
„Wohin auch immer Euch Eure nächste Aufgabe führt.“
„Ausgeschlossen.“
Videm zuckte zurück. Er hatte ein Nein erwartet, aber kein so rigoroses.
„Du weißt, dass meine Aufträge nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Und dieser hier ist noch … verzwickter.“
„Weshalb?“
„Videm…“
„Ich bin erwachsen, Vater. Ihr wollt, dass ich mich in der Welt bewähre, schickt mich auf Schulen und lasst mich bei den besten Waffenmeistern trainieren. Gleichzeitig bindet Ihr mich an dies Haus. Wie lange noch?“
Cledent musterte seinen Sohn mit undurchdringlicher Miene. Einmal mehr erriet Videm, warum er bereits in jungen Jahren in eine der mächtigsten Positionen aufgestiegen war. Baraten besaß einen messerscharfen Verstand, durchdachte Argumente gründlich, hinterfragte jedwede Behauptung und ließ sich nie in die eigenen Karten sehen.
„Nun gut“, erwiderte er nach längerem Nachsinnen. „Du hast wie ein Mann zu mir gesprochen, also antworte ich dir wie einem Mann. Du magst denken, erwachsen zu sein, aber du bist es noch nicht.“
„Ich bin kein Kind mehr.“
„Nein. Das nicht. Wenn ich dich anschaue, sehe ich einen Heranwachsenden, der auf der Suche ist. Nach sich selbst und seiner Aufgabe in der Welt. Das ist nicht schlimm, ganz im Gegenteil. Kluge Menschen suchen lange und wägen ab, bis sie sich entscheiden. Du bist noch nicht so weit.“
„Hier zu warten wird mich nicht weiter bringen.“
„Du beendest zumindest deine Ausbildung.“
„Ich hasse meine Ausbildung.“ Bislang hatte Videm ruhig gesprochen, aber nun überwältigten ihn die Gefühle. „Ich langweile mich. Wofür ist all das Training von Nutzen, wenn es nie Anwendung findet? Das Studium der Bücher ist nichts für mich, das wissen wir beide. Ihr mögt es Großvater gegenüber nicht zugeben, aber in Eurem Inneren wisst Ihr, dass ich nicht bin wie Ihr. Ich bin nicht schlau, mein Verstand taugt nicht viel…“
„Das ist nicht wahr“, unterbrach Baraten. „Das sind nur die Folgen des Unfalls!“
„Wer wüsste besser als ich, wie viel Mühe es mir bereitet, mich auf die Bücher zu konzentrieren! Die Sätze zu behalten, zu verstehen! Es ermüdet mich, Vater. Über alle Maßen. Ihr wisst es doch, Ihr seht es doch: wie oft ich stolpere, vergesse, den Faden verliere. Der Unfall hat vieles zerstört da oben“, wies er auf die Narbe, „aber er ist nicht verantwortlich für alles. Ich bin kein Mensch des Denkens. Es strengt mich an. Es erschöpft mich. Das hat es immer. Nehmt mich mit, ich bitte Euch. Es wird eine Abwechslung sein, die mir guttun wird. Hier vergehe ich, so gern ich die Leute um mich habe.“
„Nicht bei diesem Auftrag.“
„Warum nicht?“
Trotz trat in Videms Augen. Cledent beobachtete ihn und fühlte sonderbaren Stolz in sich aufsteigen. Er hatte Videm gesagt, er wäre noch kein Mann, doch gleichzeitig sah er ihn vor sich. Auf Schulterhöhe, mit Muskeln bepackt, diesen unnachgiebigen Ausdruck im Gesicht. Nein, ganz sicher war sein Sohn kein Kind mehr.
„Weil er gefährlich sein könnte.“
„So habt Ihr ebenfalls Befürchtungen? Wovor?“
Auf Cledents Stirn erschienen Falten. „Woher stammt dein plötzliches Interesse? Warum dieser Auftrag? Ist etwas durchgesickert? Weißt du mehr, als du mich glauben machst?“
Videm betrachtete die Wolken, die vor dem Fenster vorbeizogen. Sie bewegten sich schnell, veränderten sich mit jedem Windstoß.
Der Winter ist da.
„Videm“, drängte der Inquisitor.
„Ich weiß nichts über den Auftrag, doch ich ahne Gefahr.“
Cledents Brauen schoben sich zusammen.
„Wahrscheinlich werdet Ihr mich für verrückt halten.“ Videm sog geräuschvoll Luft ein. „Die Träume der letzten Nacht waren fürchterlich. Schrecklicher als alle Albträume davor. Ich sah Mutter. Das ist nicht neu, aber diesmal kamen auch andere Menschen vor. Und ich sah Euch. Ihr starbt. Deshalb muss ich Euch begleiten. Ich muss Euch beschützen, Vater. Weil Euch Gefahr droht.“
Der Inquisitor hörte Zittern in Videms Stimme. Er trat an die Wand, den Blick auf das Gemälde gerichtet. Es zeigte seine verstorbene Frau, eine blonde Schönheit in edler, spitzenbesetzter Kleidung aus dunkelrotem Brokat. Vor Jahren war Videm ihr Ebenbild gewesen.
„Ein Traum?“, fragte er. „Du willst mich begleiten wegen eines Traums?“
„Verrückt, ich weiß, aber sie jagen mir eine Heidenangst ein. Ich habe das Gefühl, mich ihr stellen zu müssen. Dieser Angst. Sonst werde ich wahnsinnig.“
„Ich vertraue Fakten und Beweisen, meinen Sinnen und meinem Verstand, aber Träumen? Das ist … ich fühle mich nicht wohl dabei.“
„Was habt Ihr zu verlieren? Wenn Ihr gesund und munter zurückkehrt, lachen wir über das Ganze und begraben es als Ausgeburt meines geschädigten Geistes.“
„Ich mag es nicht, wenn du so über dich redest. Geschädigter Geist, wenig Verstand, all das. Du stellst dein Licht unter den Scheffel.“
„Ich bin nur ehrlich.“
„Nein!“ Cledents Faust hieb durch die Luft. „Du bist nicht dumm! Sieh, was du aus dir gemacht hast. Vielleicht musst du dich mehr anstrengen als andere. Manchmal muss man dem Schicksal trotzen.“
„Dann nehmt mich mit. In meinem Traum ist es Euer Schicksal, bei diesem Auftrag getötet zu werden. Ich werde ihm trotzen.“
Baratens scharfkantiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Zumindest verstehst du es, mir meine Argumente zu stehlen. So sei es denn. Weise Ardanna und Sphita an, auch für dich zu packen. Wir werden Winterkleidung benötigen.“
„Wohin reisen wir?“
„Zur Feste Fedaj. Kein Wort davon zu anderen! Alles Weitere berichte ich dir auf dem Weg nach Yruish. Ich hoffe, die Kaiserin ist einverstanden, dass du zu meiner Gefolgschaft gehörst. Beziehungsweise der Prinz.“
„Der Prinz?“
„Die Kaiserin hat ihn mit dieser Aufgabe betraut. Wahrscheinlich eine Art Bewährungsprobe.“
„Man erzählt sich, er wäre ein Büchermensch, unerfahren in praktischen Angelegenheiten.“
„Lass uns nicht vorschnell urteilen. Er ist ein kluger Kopf. Das könnte uns mehr von Nutzen sein als ein weiterer Kämpfer. Die haben wir genug. Ihre Hoheit gibt uns ein Dutzend Soldaten mit.“
„Wann brechen wir auf?“
„In drei Stunden. Dann haben wir Zeit, alles zu besprechen, bevor wir uns morgen in aller Frühe mit dem kaiserlichen Tross auf den Weg machen.“
Videm nickte. In seinen Augen leuchtete Tatkraft; ein Ausdruck, den Cledent seit vielen Jahren nicht mehr an ihm wahrgenommen hatte.
„Du wirst dich von Sphita und Ardanna verabschieden müssen. Das wird nicht leicht.“
„Es ist ja kein Abschied für immer.“
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, trat Baraten vor das Gemälde. Lange betrachtete er seine Frau, bis sich die Textur des Bildes in einzelne Punkte und Striche auflöste.
„Sabyn“, murmelte er, „ich hoffe, ich tue das Richtige.“
Unruhiges Flackern drang durch die bizarren Felsformationen zu ihrer Linken. Sofort ging sie in Lauerstellung. Gebückt schlich sie zu den Stalaktiten, lugte mit trockenem Mund durch die Steinkegel.
Vor dem Eingang standen Menschen im Halbkreis um eine Gruppe Wärter, deren Aufgabe darin bestand, die Häftlinge von zwei mannsgroßen Holzbottichen fernzuhalten.
Neugierig huschte sie weiter, bis sie eine bessere Sicht auf die Menschenansammlung hatte.
Beim Anblick der Bottiche stockte ihr Atem. In ihnen steckten Gefangene bis zum Hals im Wasser, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Sie erkannte den weißhaarigen Mann wieder, den der Soldat vom Wagen gestoßen hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Die Augen beider Verurteilter waren geschlossen. Regungslos trieben sie im Wasser, umschwärmt von Fliegen. Der Fackelschein verzerrte die Gesichter. Sie erinnerten an das vom Tod gezeichnete Antlitz ihrer Mutter. Gefühle siedeten in ihr. Mit aller Macht kämpfte sie gegen sie an, konzentrierte sich auf das Geschehen vor ihr.
Offenbar waren der Mann und der Junge, der ihm geholfen hatte, in den Bottichen ertränkt und zur Abschreckung hier ausgestellt worden. Sie schürzte die Lippen. Gestorben gleich am ersten Tag. Ein solch frühes Ableben hatte sie nicht vorausgesehen.
Sie beachtete die Leichname nicht weiter, sondern suchte fieberhaft den Platz vor der Höhle ab. Bis auf die Menschenmenge um die Tröge war er wenig bevölkert. Jorgen entdeckte sie nirgends. Sicherheitshalber ließ sie ihre Augen nochmals über die Wärter streifen. Der Schlächter stand nicht unter ihnen.
Lautlos zog sie die Pergamentkarte aus ihrem Ärmel und studierte sie im schwachen Schein der Fackeln. Soweit sie erkennen konnte, musste sie aus diesem Höhlenbereich heraus, einen Bogen über den Hof schlagen und in einen anderen Höhleneingang hinein. Von dort aus begann der Weg durch das Labyrinth. Adiv stellte sich vor, wie ein Riese den Berg der Länge nach aufschnitt. Bestimmt sah er wie ein Schwamm aus mit all den Pfaden, Kammern, Löchern und Höhlen. Der Irrgarten durch den Käselaib würde sie hoffentlich an den Strand führen.
Über das Meer und seine Gefahren, K’yr und seine wachsamen Männer verbot sie sich jegliches Grübeln. Jorgen saß wie ein tödlicher Schatten in ihrem Nacken. Frei atmen würde sie erst im Wasser wieder können. Bei dem Gedanken musste sie beinahe grinsen.
Doch zuvor würde sie auf eine Gelegenheit warten müssen, an den Wärtern vorbei auf den Hof zu kommen.
Sie betrachtete das schwarze Wolkenband, versuchte einzuschätzen, wie lange sie mit ihrer Mutter unterwegs gewesen war. Sie überschlug die Zeit in der Grotte, den Weg, den sie hinterher allein zurückgelegt hatte - alles in allem mehrere Stunden. Viel Zeit bis zum Morgengrauen blieb ihr vermutlich nicht mehr, aber im Moment war es das Klügste zu warten. Irgendwann würden die Gefangenen in ihre Unterkünfte zurückkehren, die Aufseher abgelöst werden. Unter Umständen ergab sich dann eine Gelegenheit. Bis dahin würde sie in der Höhle ausharren müssen.
Ein Donnerschlag weckte sie. Gleichzeitig mit dem Blitz, der krachend in der Nähe einschlug, stand sie auf den Füßen. Ihr Herz hämmerte.
Dummes Kind, schimpfte sie sich und sah sich um. Keine Menschenseele, zum Glück. Sie holte mehrfach tief Luft, um den Schreck niederzukämpfen, dann schlich sie zurück zum Höhleneingang.
Draußen peitschte ein Unwetter über den Platz, verwandelte ihn in einen aufgewühlten See. Wasserbäche stürzten aus den Wolken. Gewitter im Winter gab es ausgesprochen selten. Adiv erinnerte sich an die Erzählungen ihres Vaters und lächelte.
Es geht die Legende, dass, wann immer ein Unrecht geschieht, Kaa es rächt. Mit Unwettern, Blitz und Donnern, Beben und Sturzbächen. Zweifellos Aberglaube, aber man weiß nie.
Vielleicht war Kaa ausnahmsweise auf ihrer Seite.
Die Aufseher, die die Bottiche bewachten, standen unschlüssig im strömenden Regen. Sie brüllten sich über das Tosen hinweg Worte zu. Offenbar stritten sie, was mit den Leichen in den Kübeln zu geschehen hatte. Ihre Formation geriet vollends in Auflösung, als weitere Wärter vorbei rannten. Sie sprinteten in die Richtung, aus welcher der Blitzschlag gekommen war und aus der Rauch aufstieg.
Die Bottichbewacher schlossen sich ihnen an. Nur zwei blieben fluchend und mit finsteren Gesichtern zurück. Einer der beiden stieß wütend mit dem Stiefel an den Holztrog, in dem der Junge schwamm. Wasser schwappte über den Rand, überschwemmte den Kopf des Leichnams. Dann liefen sie den anderen hinterher, blieben jedoch nach einigen Schritten stehen. Offensichtlich schienen sie unentschlossen, wie weit sie sich von den Trögen entfernen durften.
Hinter dem Vorhang aus Wasser, welches sich allmählich in Schneeregen wandelte, konnte Adiv die beiden Männer kaum mehr ausmachen.
Jetzt.
Mit dem Rücken zur Wand schlich sie aus der Höhle. Als sie die Bottiche passierte, fiel ihr Blick eher zufällig auf das Gesicht des Jungen. Seine Augen standen offen.
„Bei Kaa, was …“, sprang die Diebestochter erschrocken zurück.
Er flüsterte Wörter in einer fremden Sprache, wegen des Wettertobens kaum zu hören.
Sie verstand sie dennoch.
Hilf uns.
Sie kaute auf ihrer Lippe. Blickte in die Richtung, in die die Wärter verschwunden waren, setzte zu einem Lauf an, zögerte. Erkannte, dass der alte Mann ebenfalls die Augen geöffnet hatte und mit den Beinen zu strampeln begann. Sah zu dem Jungen, in die großen, dunklen, traurigen Augen.
Sie fluchte in den Regen hinein, verfluchte die Situation, die beiden Verurteilten. Sich selbst. Die Schließer. Doch noch während sie die ganze Welt verwünschte, nestelten ihre Finger bereits das Messer heraus.
Die Fesseln hatte sie schnell durchtrennt. Der Junge zog sich mühsam aus dem Wasser, behindert von der nassen Kleidung. Er strauchelte, stemmte sich wieder hoch. Adiv schnitt den alten Mann los und half ihm aus dem Bottich. Er stützte sich schwer auf sie. Sein Bart klebte auf ihrem Unterarm. Sie kam ins Stolpern, als er um ein Haar vornüber fiel, doch der Junge war zur Stelle, packte den Alten um den Leib. Er schrie etwas in seiner Sprache, fuchtelte mit den Armen. Sie begriff, dass er zurück in die Höhle wollte.
Heftig schüttelte sie den Kopf. „Nein“, schrie sie gegen Sturm und Regen an. „Dort suchen sie uns zuerst. Wir müssen über den Hof. Unter den Berg. Hier sitzen wir in der Falle.“
Die Augen des Jungen waren aufmerksam auf sie gerichtet, doch er schien sie nicht zu verstehen, schüttelte immer wieder den Kopf, schnatternd vor Kälte. Der Alte hatte die Augen geschlossen, atmete mühsam. Adiv gestikulierte weiter, wiederholte, drängte, insistierte.
Plötzlich hob der Bursche den Kopf und lauschte. Seine Hand schoss warnend in die Höhe, im nächsten Moment duckte er sich und verschwand in der Regenwand.
Perplex schlingerte sie herum und sah die beiden Wärter zwei Armlängen vor sich. Sie schienen genauso überrumpelt wie sie selbst. Voller Angst stieß sie das Messer nach vorne, fühlte, wie die Klinge in etwas Weiches fuhr. Der Getroffene schrie auf und zuckte zurück, sodass ihr das Messer aus der Hand geschleudert wurde. Gleich darauf explodierte die Faust des Mannes unter ihrem Auge. Sie prallte an die Wand, verlor das Gleichgewicht, wankte zur Seite. Das rettete ihr das Leben, denn als der Arm des Bewachers erneut vorschnellte, traf die Faust den Felsen anstelle ihres Gesichts. Selbst im Tosen des Regens gellte das Geschrei ohrenbetäubend. Der Wärter tanzte von einem Bein auf das andere, seine zerschmetterte Hand haltend. Aus der Stichwunde an seinem Hals sickerte Blut.
Als sie die Wunde sah, begriff Adiv mit schneidender Klarheit, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Wenn die Aufseher sie überwältigten, war sie tot. Und so trat sie mit verzweifelter Wut gegen die Genitalien ihres Gegners. Aufstöhnend sackte er auf den nassen Boden. Jetzt erkannte sie ihn. Hoffger. Sein Name war Hoffger.
Indes holte der zweite Wärter mit dem Schwert aus.
Du bist keine Kriegerin.
Niemals fand sie die Wahrheit härter als in dem Augenblick, in dem ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Schlagartig schwand die Wut. Die Angst kehrte zurück, ließ sie die Augen aufreißen, zu Stein erstarren.
Dann torkelte der Gefängniswärter zur Seite und der Schwertstreich verfehlte sie. Auf dem Rücken des Mannes klebte der Junge, klammerte sich an ihn, rang mit ihm. Seine Aussichten standen schlecht, denn nachdem der Überraschungsmoment vorüber war, schüttelte der Bewacher ihn von sich wie ein lästiges Insekt. Der Knabe fiel auf die Knie, rollte sich ab, wich nach hinten aus. Der Schließer setzte ihm nach, stach mit dem Schwert nach ihm, doch wie eine Schlange schnellte der Junge in alle Richtungen.
Panisch zuckten Adivs Augen hin und her, erblickten das Schwert, das an Hoffgers Hosengurt baumelte. Er wälzte sich durch die Pfützen, die gesunde Hand um sein Gemächt gekrallt, jammernd und böse Verwünschungen ausstoßend. Geistesgegenwärtig stob Adiv zu ihm, bekam den Schwertgriff zu fassen. Die Waffe war so schwer, dass sie sie beinahe wieder fallen gelassen hätte.
Fluchend streckte Hoffger die Arme nach ihr aus. Sie torkelte und fiel hin, schrie auf, hielt das Schwert umklammert. Blindlings trat sie nach ihm, erwischte die verletzte Hand, den Bauch, das Kinn. Schließlich ließ er aufheulend von ihr ab. Adiv raffte das Schwert an sich. Ungelenk packte sie es mit beiden Händen und donnerte es wie eine Keule an Hoffgers Schädel.
Ohne einen weiteren Laut brach der Mann zusammen.
„Lass ihn in Ruhe!“
Ihr hysterischer Ausruf galt dem zweiten Wärter, der weiterhin dem Jungen nachsetzte. Er blieb geduckt stehen, wandte sich nach ihr um, maß sie. Seine Mundwinkel verzogen sich.
Unbeeindruckt kam er näher. Adiv schluckte und packte den mit Metalldraht umwickelten Griff fester, zwang sich, nicht zurückzuweichen, entschlossen auszusehen. Wie eine Lanze reckte sie ihm das Schwert entgegen, doch geschwind duckte er sich unter der Waffe durch, hebelte sie nach oben, rammte seinen Kopf in ihre Schulter. Die Diebestochter schrie gellend auf, stolperte rückwärts und ließ das Schwert fallen. In der nächsten Sekunde hatte der Wärter sie um ihre eigene Achse gedreht, legte ihr einen Arm um den Hals, presste ihre Kehle zusammen.
Rote Sterne zerbarsten vor ihren Augen. Ihre Beine sackten weg. Schwer hing sie in den Armen ihres Widersachers, von panischer Angst erfüllt, ohnmächtig zu werden. Ihre Arme ruderten, schlugen nach dem Mann, griffen nach seinen Handgelenken.
Plötzlich spürte sie etwas Hartes in ihrem Kreuz.
Ihre Finger fuhren nach hinten, quetschten sich zwischen Hosensaum und Uniformstoff, nestelten an der Schnur, die den Lederbeutel auch unten zusammenhielt.
Sie musste die Kordel nicht einmal ganz lösen. Der Kerzenständer glitt wie von selbst in ihre Hand.
Der Wärter verstärkte den Griff um ihren Hals. Schwarze Flecken erschienen an den Rändern ihres Gesichtsfeldes, zogen sich schnell zusammen. Halb besinnungslos schwang sie den Silberleuchter an die Schläfe ihres Gegners.
Der Schlag traf schlecht, warf den Mann nicht um. Immerhin lockerte sich sein Griff so weit, dass Adiv sich aus der schmerzvollen Umarmung winden konnte. Sie schleppte sich aus seiner Reichweite und griff sich an ihre Kehle, die loderte wie Feuer.
Auch der Aufseher wankte. Er berührte seine Schläfe, blinzelte auf das Blut an den Fingern. Mit einem Mal sprang der Junge aus dem Schneeregenschleier heraus, zog den Stahl aus dem Gurt des Wärters und verschwand wieder im Wettertoben. Schneller als ein Gedanke.
Adiv hechtete zu ihrem Schwert, das in die Nähe der Felswand geschlittert war, nahm es an sich und rannte auf den entwaffneten Wärter zu.
Der alte Mann trat ihr in den Weg. Wortlos entwand er ihr die Waffe, schob sie beiseite.
Und dann ging alles blitzschnell.
Wie ein Geist tauchte der Junge, bewaffnet mit dem erbeuteten Schwert, erneut aus dem Regen auf. Der Wärter knurrte und ging in Abwehrhaltung. Den Alten, der sich von hinten näherte, sah er zu spät. Die Klinge, in einem gewaltigen Hieb von unten nach oben geführt, teilte seine Brust.
Adiv ging mit ihm zu Boden, als ihre Beine nachgaben. Zitternd kniete sie in Wasser, das bereits gefror, während der Alte das Schwert aus dem Leichnam zog und zu Hoffger hinkte.
„Ist er tot?“ Adivs Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
„Schau weg“, krächzte er.
Sie drehte den Kopf zur Seite, schielte auf den Boden, erkannte einzelne Gegenstände. Ein Leseglas.
Das gehört mir.
Augenblicke später erschien der Greis vor ihr, in seiner Pranke den Leuchter, den er ihr hinhielt.
Adiv sah in sein ausgelaugtes Gesicht. „Sein Name war Hoffger. Der andere hieß ... Ondras, glaube ich.“ Ihre Stimme klang brüchig. „Ja. Ondras. Der, den wir… Oh Kaa, was haben wir getan? Was machen wir nur?“ Ihre Hand legte sich auf ihren Mund.
Der Junge trat neben sie, blass und schlotternd, Ondras‘ Schwert unter die Achsel geklemmt.
„Wir müssen weg“, entschied der Alte. „So schnell es geht. Jetzt gleich. Wir nehmen die Waffen mit. Und die Kleidung.“ Er wiederholte seine Anweisungen in der Sprache des Jungen.
Adiv war bis auf die Knochen erschöpft, aber sie war froh, dass der Alte das Kommando übernommen hatte. Sie sammelte ihre Habseligkeiten auf und verschnürte den Rucksack. Ihre neu gewonnenen Gefährten zerrten indes Ondras‘ Uniformhose von seinen Beinen. Die zerfetzte Jacke war unbrauchbar.
Adiv schluckte, als sie den Leichnam sah. Der Tod hatte Ondras‘ Züge entstellt. Zum Glück hatte der Schauer das Blut fortgespült. Dennoch schloss sie die Augen.
Bei Hoffger drehte sich ihr der Magen um, aber sie schaffte es, den Männern zu helfen, ihn zur Seite zu drehen, damit sie die Arme aus der Jacke ziehen konnten. Sie arbeiteten hastig und voller Furcht, entdeckt zu werden. Gnädigerweise fiel der Schneeregen noch immer so dicht, dass man kaum die eigene Hand vor Augen sah.
Sie zogen gerade die Hosen von Hoffgers Beinen, als der Junge sich aufrichtete und kehlige Worte artikulierte.
„Das Feuer ist beinahe gelöscht. Die Wärter werden bald zurückkehren“, übersetzte der Greis.
„Woher weiß er das?“
„Nachher“, wich der Alte einer Antwort aus. „Jetzt müssen wir die Leichen verstecken. Schnell.“
Der Einfall kam aus dem Nirgendwo. „Zu den Bottichen“, befahl Adiv. „In sie. Mit etwas Glück gewinnen wir genug Zeit für einen Vorsprung.“
Der Ruf stoppte Adiv mitten im Lauf. Unwillig sah sie zurück.
Der alte Mann hatte sich schwer atmend nach vorn gebeugt, die Handflächen auf die Knie gestützt. Der Junge immer an seiner Seite, unermüdlich in Sorge, die Hand auf dem Rücken des Alten.
Es hat keinen Sinn.
Mutlos musterte sie die Umgebung, die sich in der letzten Stunde nur unwesentlich verändert hatte. Gelbe Lehmwände, unterbrochen von steinernen Strukturen. Schmale Gänge mit niedrigen Decken, die immer wieder an unüberwindbaren Hindernissen endeten. Der Gedanke, dass ein Berg auf dem löchrigen Fundament ruhte, erfüllte Adiv mit einer Furcht, die sie bisweilen anfiel wie ein Tier. Es war beengend und stickig, gar nicht wie in der Höhle, in der ihre Mutter lag.
Ob sie schon starr ist?
Sie lenkte sich ab, betastete den wunden Hals und die Schwellung unter dem Auge. Die körperlichen Schmerzen waren leichter zu ertragen.
Sie wirbelte herum, als sie den Atem des Jungen in ihrem Nacken spürte. Beruhigend streckte er die Hände aus. Seine Handflächen waren heller als der Rest seines Körpers.
Scheu sah er sie an. „Rast.“
„Keine Zeit. Wenn die Wärter uns erwischen, sterben wir.“
„Ruhe. Bitte.“
Sein Ausdruck blieb freundlich, auch als Adiv erneut den Kopf schüttelte und auf ihn einredete. Nach mehreren fruchtlosen Überzeugungsversuchen gab sie auf.
Sturkopf.
Sie seufzte und nickte. Seine Augen leuchteten auf. Er eilte zurück zu dem Alten und half ihm, sich auf den Boden zu setzen.
„Plagegeist“, murmelte Adiv.
Nicht zum ersten Mal dachte sie daran, die beiden zurückzulassen. Sie behinderten sie, brachten ihren Plan durcheinander, ruinierten ihre Zukunft. „Ich muss verrückt sein“, schlug sie mit der flachen Hand gegen die Lehmwand.
Ihre Begleiter sahen hoch, musterten sie. Der Junge setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und Adiv fühlte sich elend.
Mit rotem Kopf schlenderte sie zurück und ließ sich neben ihnen nieder. Der Alte war in sich zusammengesunken, doch seine Stimme klang überraschend kräftig. „Wohin gehen wir?“
Er benutzte die Reichssprache. Yr wurde in der Boragha oft gesprochen, da die Häftlinge aus allen Teilen des Reiches kamen. Adiv mochte Yr nicht. Es war die Zunge der Wärter und des Systems, das sie kontrollierte.
Ihr Vater stammte aus Yruish. Ihre Mutter war auf Staleph geboren, doch als Waise bald zu ihren Verwandten nach Vurtoish nahe der Hauptstadt gekommen. Von dort aus war die Familie als fahrendes Volk durch das Land gewandert. Als das Dekret umherziehende Künstler mit dem Diebesvolk auf eine Stufe stellte, war sie auf Yruish, unweit der Wassergrenze zu Prant, sesshaft geworden. Hier nahm sie den singenden Dialekt des ländlichen Yruishs an, der viele Gemeinsamkeiten mit der Kunstsprache Yr aufwies und den sie auch zu Hause benutzten. Adiv sprach Yr gut, wenngleich sie die Worte als fremd empfand.
„Ich suche einen Ausgang aus dieser Höhle. Durch ihn gelangt man zum Strand unter K’yr. Dann will ich über das Meer fliehen.“
Ihre Begleiter erstarrten, was Adiv bewies, dass der Junge sie verstanden hatte.
„Man sagt uns, es gibt nur Weg in Insel hinein, nicht hinaus“, radebrechte er.
Adiv dachte über ihre nächsten Worte nach. „So wird es erzählt. Doch ich bin im Besitz einer Karte, welche den Fluchtweg zeigt.“
„Eine Karte?“, fragte der alte Mann ungläubig. „Ist sie verlässlich?“
„Ich hoffe es“, erwiderte Adiv wahrheitsgetreu.
„Woher stammt sie? Wer hat sie gezeichnet?“, bohrte der Alte weiter. Er hatte sich aufgesetzt und starrte sie an.
„Eine Person, die ich sehr gut kenne.“ Kannte. „Ihr müsst mir vertrauen.“
Die Augen des Alten verengten sich. „Vertrauen ist ein wertvolles Gut. Man gibt es nicht so einfach her.“
„Wie Ihr wollt. Ich zwinge Euch nicht, mir zu folgen.“ Abrupt erhob sie sich und schulterte ihren Rucksack.
„Bleiben.“ Eine Hand zog sie sacht am Ärmel ihres zu kurzen Wamses.
Die Augen des Jungen blickten bittend. Sie sah fremdartige Orte in ihnen; Orte, die geheimnisvoll und magisch schienen. Etwas in diesen Kohleaugen fesselte sie. Es waren die Augen eines Jungen, dessen Kindheit ausgelöscht worden war. So viel Schmerz. So viel Traurigkeit.
„Weshalb?“, raspelte sie mit belegter Stimme.
„Hilfe brauchen“, antwortete er ohne Verlegenheit.
„Wobei?“
„Wir müssen fliehen von hier“, erwiderte er, nachdem er nach den passenden Sprachbrocken gesucht hatte. „Sonst wir sind tot.“
„Warum? Wieso seid ihr hier?“
Der Alte übernahm die Antwort. „Wir wurden des Hochverrats angeklagt“, sagte er.
„Was habt Ihr getan? Die Kaiserin getötet?“
Der Alte lächelte grimmig. „Denkst du, dass die Wärter inzwischen bemerkt haben, dass es sich bei den Bottichleichen nicht um uns handelt? Möglicherweise haben sie die durchgeschnittenen Riemen gefunden und längst zwei und zwei zusammengezählt.“
„Diese Riemen?“, hielt Adiv die zerrissenen Fesseln hoch.
„Umsichtig“, lobte er. „Dann sollten wir ein Weilchen verschnaufen können. Schließlich sind wir wie Sandhasen um Ecken und Kurven gesprungen und sollten einen guten Vorsprung haben. Vorläufig findet uns hier kein Mensch.“
„Wir können nicht pausieren. Wir haben zwei Wärter getötet! Und ich…“, setzte sie an, verstummte aber.
„Und du bist auf der Flucht“, sagte der Alte leise. „Warum?“
„Reicht Eingesperrtsein nicht?“, schleuderte Adiv zurück.
Die Männer schauten sie stumm an. Sie presste die Lippen zusammen, zögerte. „Ich habe etwas gesehen. Etwas… Schlimmes.“
Die Wände verschwammen vor ihren Augen. Sie war sich nicht sicher, ob das an ihrer Erschöpfung, der Enge oder den Tränen lag. Vielleicht an allem.
„Dann sollten wir wohl weitergehen“, seufzte der Alte.
Mithilfe des Jungen rappelte er sich auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. Eine tröstende Geste. „Du hast uns schon einmal gerettet. Wir vertrauen dir.“
Sie ist wahrhaft majestätisch.
Verstohlen musterte Ylaiy seine Mutter, die aufrecht und mit undurchdringlicher Miene an der anderen Kopfseite der Tafel saß, zierliches Silberbesteck in den Händen. Der größte Reiz ihrer Erscheinung bestand in der strengen Eleganz, die sie von den prunkvoll gekleideten Regenten und Beamten, den stattlichen Diplomaten und Botschaftern unterschied. Sie strahlte eine Würde aus, die keinen Tand benötigte.
Neid stach in Ylaiys Brust. Daneben glühten Anerkennung und Stolz. Und Abneigung, denn Macht ging nur selten mit wahrer Menschlichkeit Hand in Hand.
Ylaiy dachte an ihre Schwester in Fedaj. Die Drana’sora war lebenslustig und herzlich. Ein Mensch, dem man sich anvertraute, der Berührungen und Empfindungen nicht scheute. Neben ihrer farbenfrohen Erscheinung wirkte die Kaiserin wie eine alte Jungfer.
Bei dem Gedanken an den Sturm, den die Kaiserinschwester vor vielen Jahren im Palast entfacht hatte, musste er ein Schmunzeln unterdrücken. Doch letzten Endes hatte sie nachgegeben, sich so weit entfernt wie möglich vom Hof niedergelassen. Der stählerne Willen seiner Mutter brach selbst Granit. Kein Wunder, dass die ungleichen Schwestern sich entfremdet hatten.
Morgen.
Wie ein Schwarm Schmetterlinge flatterte die Aufregung durch seine Gedärme. Schnell trank er einige Schlucke verdünnten Weins gegen die Trockenheit in seinem Mund.
„Du isst nicht.“ Ihre grauen Augen blickten gebieterisch.
„Ich habe gegessen“, protestierte er lahm.
„So? Mich dünkt, dein Teller hat sich nicht wesentlich geleert.“
„Ich habe keinen rechten Appetit“, räumte er verdrossen ein und schob den Teller mit einer Hand von sich.
„Ich verstehe“, nickte sie, tupfte sich die Lippen ab und gab den Dienern ein Zeichen, abzuräumen.
„Was versteht Ihr?“, stieß er hervor.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Strich. Er wich ihrem missbilligenden Blick aus, indem er begann, mit dem Zeigefinger Muster auf das blütenweiße Tischtuch zu zeichnen.
Die Kaiserin wartete, bis die Diener den Raum verlassen hatten. Sie hatte alle Empfänge und Einladungen wegen dringender Regierungsgeschäfte abgesagt, das Abendmahl in ihre privaten Räume verlegt. Ylaiy genoss das seltene Privileg, mit seiner Mutter allein zu speisen.
„Noch ist Zeit, den Auftrag zurückzuweisen.“
Er stellte das Glas, das er soeben zum Mund hatte führen wollen, laut zurück auf den Tisch. „Wollt Ihr, dass ich ihn ablehne?“
„Das habe ich mit keiner Silbe erwähnt.“
„Es klang aber danach.“
„Du missinterpretierst. Was ich sagte, war, dass du jetzt noch zurücktreten kannst, wenn du das Gefühl hast, die Obliegenheit übersteigt deine Kräfte.“
„Das tut sie nicht! Ich bin nur ein wenig aufgeregt, das ist alles. Es ist eine lange Reise. Wir müssen ein Verbrechen aufklären. Da gibt es viel zu bedenken.“
„Baraten ist ein erfahrener, vernünftiger Mann; ein Mann des Wortes und der Tat. Halte dich an ihn. Du musst keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen. Und was das Verbrechen betrifft: Es könnte sonst etwas passiert sein, auch etwas vollkommen Nichtiges.“
Sechs verstümmelte Leibwachen.
„Zum Beispiel?“ Ärger schwelte in seiner Kehle.
„Nun, er mag sich verlaufen haben“, zuckte sie mit den Achseln. „Vielleicht liegt er auch irgendwo verletzt. Vielleicht ist er davon gelaufen. Wer weiß schon, was in einem Kind vor sich geht?“
Ihr sicher nicht.
Er behielt den Gedanken für sich. Seine Mutter schien ihn zu erraten. Um ihre Lippen spielte ein gekränktes Lächeln, welches sie mit einem Schluck Wein hinfort spülte. „Du hältst mich für eine harte Frau. Eine schlechte Mutter.“
Er zauderte, sein Glas nachdenklich schwenkend.
„Früher hättest du sofort verneint. Du hast dich verändert. Nicht äußerlich“, glitt ihr Blick über sein übernächtigtes Gesicht und den vornübergebeugten Körper, „aber vom Wesen her. Etwas ist anders an dir. Schwelt in dir. Was ist es? Abneigung? Aufbegehren?“
Ylaiy dachte über ihre Worte nach, maß sie über die Tafel hinweg. Er fand den Abstand zwischen ihnen, den das Hofprotokoll vorschrieb, lächerlich.
Protest? Ja, vielleicht.
„Wenn man einem Reich vorsteht, ändern sich die Prioritäten“, beugte sie sich jäh vor. „Ich mag eine schlechte Mutter sein, aber ich bin weder blind noch dumm. Ich weiß, dass du mehr im Kopf hast als die meisten Menschen. Leider bist du ein Stubenhocker, ein Büchernarr. Darüber vernachlässigst du alle anderen Pflichten, die von einem Herrscher erwartet werden. Tatkraft. Durchsetzungsvermögen. Die Fähigkeit, Befehle zu erteilen. Abzuwägen zwischen persönlichen Bedürfnissen und dem Vorteil für die Menge, auch wenn das Opfer bedeutet.“
„Wieso erzählt Ihr mir das alles? Ein zusätzliches Geburtstagsgeschenk?“
Ihre Tonlage wanderte eine halbe Oktave tiefer. „Weil das die Gelegenheit sein könnte, dich vor allen zu beweisen. Das Volk respektiert dich nicht. Du bist geachtet als Gelehrter und Geistesmensch. Darüber hinaus belächelt man dich. Diese Reise könnte deinem Ansehen zu Gute kommen. Sie könnte deinem Ruf allerdings schaden, wenn du dich blamierst.“
„Ich weiß das alles. Und ich werde gehen.“ Seine Schultern bebten vor unterdrückter Anspannung.
Seine Mutter lehnte sich in ihrem hohen Stuhl zurück. „Gut.“
„Darf ich Euch eine Frage stellen?“
„Wohlan.“
„Wo ist Euer Gemahl?“
„Nach Kaadaa hatte er noch einiges zu erledigen.“
„Was?“
„Verpflichtungen.“
„Welcher Art? Und wo?“
„Das ist wohl kaum deine Angelegenheit. Urdat Vei braucht sich nicht zu rechtfertigen.“
„Vor Euch schon. Nicht vor seiner Gemahlin, aber doch vor seiner Kaiserin. Wo steckt er? Warum führt er diesen Auftrag nicht aus? Sind es Regierungsgeschäfte, die ihn fernhalten, oder solche privater Natur?“
„Genug!“
Ylaiy beobachtete, wie ihr Mundtuch vor ihr auf den Tisch segelte, weggeworfen in einem Anflug von Gereiztheit. Um seine Lippen spielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln.
Urdat Veis Liebschaften waren ein offenes Geheimnis. Ylaiy empfand wenig Mitleid mit seiner Mutter. Sie hatte gewusst, wen sie sich an ihre Seite wählte, sowohl im Thronsaal als auch im Ehebett. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sie ihre außerehelichen Freuden genauso pflegte wie ihr Gemahl. Was sie stören musste, war die arrogante Unverfrorenheit, mit der er fremde Lager teilte, während sie diesen Teil ihres Lebens sorgfältig abschottete.
„Dein Verhalten ist unangemessen. Es gibt Dinge, die gehen dich nichts an.“ Noch eine halbe Oktave tiefer. Einschüchternd.
Ylaiy nippte vom Wein. Ließ sich Zeit mit einer Antwort. „Ich entschuldige mich“, sagte er schließlich.
Ein herbeieilender Diener rettete die unangenehme Situation, indem er Cledent Baraten und Sohn ankündigte.
Sofort hatte die Kaiserin sich unter Kontrolle. Sie richtete sich auf, barg das Mundtuch auf ihrem Schoß, strich sich über den Kleiderkragen. Ihr Gesicht gefror zur geschäftsmäßigen Miene. „Führe sie herein. Lass zwei weitere Gedecke auftragen.“
Ylaiy erhob sich, als der Inquisitor sich forschen Schrittes näherte, sich erst vor der Kaiserin, dann vor ihm verneigte. Der Sohn, ein hellblonder Jüngling von der Statur eines Ringers, folgte schüchtern. Er schien unsicher, die dunkelbraune Samtkappe abzusetzen. Gleich darauf sah Ylaiy, weshalb. Der Kopf war entsetzlich verunstaltet.
Die Ankömmlinge nahmen dankend Platz und sprachen Speis und Trank zu. Beide aßen maßvoll, während Ylaiy und die Kaiserin die Gäste mit trivialem Geplauder unterhielten.
Schließlich schob Baraten den Teller von sich, der augenblicklich von einem der unsichtbaren Diener in die Küche gebracht wurde. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Hoheit. Das Mahl war wie gewohnt ausgezeichnet, leicht und bekömmlich, wie es sich zu so später Stunde geziemt.“ Baraten besaß die beneidenswerte Fähigkeit, Sätze ohne Füllwörter oder Unterbrechungen zu formulieren. „Ihr erinnert Euch an meinen Sohn Videm? Der Prinz mutmaßlich nicht, obwohl unsere Söhne sich vor vielen Jahren bereits einmal begegnet sind. Ich weiß den Anlass nicht mehr. An Eurem Hochzeitstag, Hoheit? Im Yi-al?“
„Das wird es gewesen sein.“
„Mein Sohn war damals eben vier.“
„Ich erinnere mich“, sagte Ylaiy und sah Videm an.
An einen niedlichen, blonden Knaben.
Videms Augen verdunkelten sich. Offenbar dachte er Ähnliches.
„Ihr wollt ihn mitnehmen“, stellte die Kaiserin fest.
„Wenn Ihr es gestattet, Hoheit. Videm bat, mich begleiten zu dürfen. Ihn drängt es, Heim und Herd einzutauschen gegen Abenteuer und fremde Lande. Er wurde von den angesehensten Lehrmeistern ausgebildet, ist zäh und ausdauernd. Das möchte er unter Beweis stellen, bevor er sich im nächsten Jahr bei den kaiserlichen Truppen bewirbt.“
„Er möchte Offizier werden?“
„Das ist sein Wunsch. Keine Sorge, Hoheit. Auch für seine intellektuelle Ausbildung wurde gesorgt. Er gehört zu Levents besten Schülern.“
Die Kaiserin musterte Vater und Sohn mit unergründlicher Miene. Ylaiy ahnte ihre Gedanken. Cledent Baratens Karriere galt als sagenhaft. Er hatte als blutjunger Mann eine Familie gegründet, war kurz darauf zum Inquisitor benannt worden, dem jüngsten in der Geschichte der Yrvois-Dynastie. Innerhalb weniger Monate brachte er es zum Zweiten Inquisitor, einige Jahre später zum Leitenden. Der Sohn wirkte schüchtern und gehemmt. Seine Augen waren auf das Tischtuch gesenkt oder wanderten verstohlen zwischen ihm und seiner Mutter hin und her. Er hatte nichts von der schneidenden Eleganz seines Vaters.
„Habt Ihr ihn eingeweiht?“
„Natürlich nicht.“
„Ihr wisst, dass mein Sohn Euch ebenfalls begleitet. Werden zwei Schüler Euch nicht zu viel?“
Cledent deutete ein Lächeln an. „Gewiss nicht, Hoheit. Es wird mir eine doppelte Freude sein.“
Glatt wie ein Fisch.
Ylaiy fragte sich, ob es jemanden auf der Welt gab, der Baraten jemals einen Wunsch abgeschlagen hatte.
„Wohlan“, stimmte die Kaiserin zu. „Ihr reist mit kleiner Eskorte, denn Ihr müsst schnell vorankommen. Das Leben meines Neffen könnte in Gefahr sein.“
Ylaiy sah, wie Videms Kopf sich ruckartig hob, und übernahm die Erklärung. „Mein Vetter Yvain lebt mit seiner Mutter in der Feste Fedaj. Vor drei Wochen verschwand er während eines Ausritts. Seine Bewacher kamen dabei zu Tode. Auf grässliche Art und Weise.“
„Der Auftrag ist nicht ungefährlich“, fuhr Baraten fort. „Wir haben es mit Männern zu tun, die vor nichts zurückschrecken. Deshalb war ich so unentschlossen, dich mitzunehmen. Offen gestanden bin ich es noch.“
„Ich werde vorsichtig sein.“ Videm sprach leise, doch ohne zu zögern.
Cledent hob die Augenbrauen. Dann verschränkte er die Finger. „Es gibt noch einen Grund, warum die Angelegenheit keinen Aufschub duldet“, sagte er, diesmal mit Blick auf die Kaiserin.
„Nämlich?“
„Vergeltung. Soldaten sind bei dem Überfall gemetzelt worden. Ihre Kameraden werden nach Schuldigen suchen. Und auf Kânegg ist man schnell mit Anschuldigungen.“
Die Kaiserin legte nachdenklich einen Finger auf ihre Lippen. „Die Sumpflinge.“
„Ich befürchte, die Soldaten werden sie verdächtigen.“
„Ich werde unverzüglich entsprechende Befehle erlassen. Unsere schnellsten Reiter werden sie nach Kânegg bringen. Ich hoffe, sie kommen nicht zu spät. Bedauerlich, dass ich nicht selbst daran dachte.“
„Woran?“, wollte Ylaiy wissen.
Seine Mutter ignorierte ihn. „Ihr werdet in der fünften Morgenstunde geweckt. Die Boten sind bereits unterwegs, um meine Schwester von Eurer Ankunft zu unterrichten. Ich habe ein Zimmer im Ostflügel herrichten lassen. Mein Sohn wird sich um alles Weitere kümmern. Ich werde die Boten instruieren. Und nun wünsche ich eine ruhige Nacht.“
Die Kaiserin und ihre Gäste erhoben sich, doch Ylaiy blieb gedankenverloren am Tisch sitzen. Seine Finger spielten mit dem Weinglas.
„Ylaiy!“, tadelte seine Mutter.
Er sprang an ihre Seite. „Verzeiht. Ich würde gern noch ein Wort mit dem Leitenden Inquisitor sprechen. Natürlich nur, wenn Ihr einverstanden seid“, verneigte er sich vor Baraten.
Die Kaiserin schien überrascht, fragte aber nicht nach. „Halte unsere Gäste nicht zu lang von ihrer Nachtruhe ab.“ Sie bedachte alle Anwesenden mit einem Blick, in dem Ylaiy Müdigkeit erkannte, und verließ den Raum.
„Ich möchte Eure Geduld keinesfalls überstrapazieren“, komplimentierte Ylaiy die Gäste zu einer Gruppe bequemer Sessel. „Aber Ihr geltet als Mann von scharfem Verstand. Ich möchte Euren Rat einholen.“
Das Weinglas in der linken Hand, ließ er sich nieder. Baraten sank in den Sessel zu seiner Rechten, Videm setzte sich auf die Kante des Sitzmöbels ihm gegenüber.
„In welcher Angelegenheit?“
„In einer, von der ich glaube, dass sie mit meinem Vetter in Verbindung steht. Vor zwei Tagen sprachen ein Mann und ein Junge vor. Sie erzählten eine unglaubliche Geschichte von Flügelwesen, die Kinder geraubt hätten.“
Ylaiy hielt inne, wartete auf Baratens Reaktion. Der Inquisitor starrte ihn schweigend an, eine Augenbraue hochgezogen.
„Bevor ich dazu kam, sie eingehender zu befragen, wurden sie des Hofes verwiesen, obwohl sie um Hilfe flehten.“
„Sie wurde ihnen verwehrt?“
„Mein Stiefvater schickte sie weg. Ich wusste nicht recht, was ich von der Geschichte halten sollte. Den beiden schien es bitterer Ernst zu sein. So ernst, dass sie am Abend in den Palast eindrangen. Sie wollten eine Audienz erzwingen.“
„Ein schweres Vergehen.“
„Waghalsig und sehr dumm. Doch es beweist, dass sie alle Bedenken über Bord warfen, um zur Dran’a zu gelangen.“
„Ein verzweifelter Hilferuf.“
„Leider kam ich zu spät. Vei hatte die Angelegenheit bereits erledigt.“
Baraten überhörte die Bitterkeit. „Er ließ sie verhaften?“
„An Ort und Stelle. Bereits am nächsten Morgen, kurz nach Tagesbeginn, befanden sie sich auf dem Weg in die Boragha. Ohne Verfahren, ohne Anklage. Das ist doch merkwürdig.“
„Nicht, wenn bereits ein Transport zusammengestellt worden war. Dann war es sinnvoll, die beiden mitzunehmen, anstatt sie im Kerker auf den nächsten warten zu lassen. Ein Verfahren erübrigt sich nämlich, wenn das Leben der Kaiserin in Gefahr ist.“
„Aber das war es doch nicht! Wir reden von einem Knaben und von einem Greis, der einen Stock brauchte!“
„Assassinen gibt es in vielen Verkleidungen. Der Tatbestand des Hochverrats war erfüllt. Euer Stiefvater hat nicht unrecht gehandelt, Prinz.“
„Aber Ihr habt den Transport nicht begleitet. Also war er nicht geplant. Vei hat ihn in aller Eile auf die Beine stellen lassen!“
Baraten lächelte. „Es scheint, als wolltet Ihr Eurem Stiefvater unbedingt etwas Ungebührliches unterstellen. Ich habe den Transport begleitet. Ich stieß in Wyickam dazu.“
„Ist das üblich?“
„Es kommt vor. Manchmal überschneiden sich meine Pflichten.“
Ylaiy schwieg, enttäuscht und verunsichert.
Baraten wechselte einen Blick mit seinem Sohn, beugte sich vor und fragte: „Glaubt Ihr allen Ernstes, Euer Vetter ist von diesen Flügelwesen geraubt worden?“
„Immerhin sind sie alle verschwunden. Drei Kinder. Da kommt man doch nicht umhin, einen Zusammenhang zu vermuten.“
Baraten ließ sich wieder in den Sessel sinken, legte die Fingerkuppen aneinander. „Ich habe die beiden Fremden gesehen. Woher kamen sie?“
„Der Junge von Berlen. Der Alte von Staleph. Nördlicher Landesteil, der Mundart nach.“
„Das sind riesige Entfernungen.“
„Geflügelte Wesen gehen nicht zu Fuß.“
„Vergebt mir, Prinz, aber das scheint reichlich abstrus.“
Ylaiy kniff die Lippen zusammen. „Zugegeben. Doch müsst Ihr nicht allen Fakten nachgehen, um die Wahrheit herauszufinden?“
„Den Fakten, gewiss. Nicht jeder Märchengeschichte.“
„Ich denke, er hat recht, Vater. Ihr müsst der Sache auf den Grund gehen.“
Videms Einwurf kam überraschend. Der Halbwüchsige hockte steif auf dem Sessel. Ylaiy hatte den Eindruck, als sei er vor seiner eigenen Bemerkung zusammengezuckt.
Baraten sah erst seinen Sohn, dann den Prinzen an. „Was schlagt Ihr vor?“
„Einen Umweg. Über die Boragha.“
„Um den Greis und den Wüstenjungen zu befragen?“
„Mhm.“
„Seid Ihr ihren Erzählungen in der Zwischenzeit nachgegangen?“
„Wie kommt Ihr darauf?“, fragte Ylaiy vorsichtig.
„Nun, Ihr seid belesen. Der Palast beherbergt den größten Schriftschatz des Landes. Der Bibliothekar, berühmt für sein Gedächtnis und den Umfang seines Wissens, ist Euer Mentor. Gewiss wart Ihr nicht untätig in den letzten Tagen.“
Etwas geschah mit Baraten, während er sprach. Seine Pupillen zogen sich zusammen, bis sie den Durchmesser einer Messerspitze erreichten, färbten sich lichtgrau. Ylaiy fühlte sich von ihnen durchbohrt. Die Umgebung verschwamm. Nur noch Baratens silberner Blick existierte.
Deshalb gilt er als der beste Befrager.
„Ja“, stieß Ylaiy hervor. „Ich habe nachgeforscht.“
„Was habt Ihr gefunden?“ Die Stimme. Knirschend und gefühllos. Wie die Zugwinden an den Streckbänken.
„Legenden und Ammenmärchen. Bland erzählte von einer Eisinsel im Norden, hinter Fedaj. Erstaunlich, nicht? Fedaj. Wo Yvain verschwand. Es gibt Hinweise auf geflügelte Ungeheuer auf der Insel. Ich frage mich, ob das alles ein Zufall ist.“
Ylaiy musste sich außerordentlich konzentrieren, um nicht alle Geheimnisse zu verraten. Zum Glück nahm er aus dem Augenwinkel wahr, dass Videm unruhig auf der Sesselkante herumrutschte. Das half ihm, Baraten zu trotzen.
„Das ist alles?“
„Ja. Mythen. Uralte Geschichten. Aber die Kinder sind der Schlüssel zu einem Mysterium. Ich fühle es.“ Ylaiy keuchte. Baraten hatte sich keinen Fingerbreit bewegt, doch der Prinz fühlte sich wie unter der Folter.
„Gut.“ Mit diesem einen Wort löste sich die Fessel. Der Druck auf Ylaiys Brustkorb schwand.
Ylaiy griff sich an sein Herz und sah mit geweiteten Augen auf den Inquisitor, dann auf Videm, der seinen Vater bestürzt betrachtete. „Wie habt Ihr das gemacht? Das mit Euren Augen und Eurer Stimme?“
„Verhörtechnik“, winkte Baraten ab.
„Das war wie … Zauberei.“
„Prinz“, lächelte Baraten, „es gibt keine Zauberei, auch wenn Ihr sie im Augenblick überall zu sehen scheint. Ihr solltet weniger Zeit über den Büchern verbringen.“
Ylaiy warf ihm einen düsteren Blick zu. „Also gestattet Ihr den Umweg?“, presste er hervor.
„Das ist nicht vonnöten.“
„Weshalb nicht?“
„Weil ich die beiden unmittelbar nach der Ankunft zum Tode verurteilte. Was auch immer sie wussten oder zu wissen glaubten, starb mit ihnen in der Boragha.“
Der nächste Morgen empfing sie mit Dunkelheit und Kälte. Ylaiy fühlte sich antriebslos. Der kurze, traumlose Schlaf, der ihm vergönnt gewesen war, hatte ihn erschöpft.
Sila hingegen, die seit Stunden emsig hin und her eilte, während sie hunderte Dinge gleichzeitig erledigte, sah ausgeruht aus. Ihre Wangen leuchteten vor Anstrengung und Winterkälte. Er glotzte ihr hinterher, kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Auch Baraten, der mit seinen Pferden an Ylaiys Seite trat, wirkte erfrischt. Offenbar hatte ihm das nächtliche Gespräch nicht den Schlaf verleidet. Ylaiy grüßte ihn mit unverständlichen Worten. Er verabscheute Frühaufsteher.
Videm kam aus dem Halbdunkel des Gebäudes über den mit Fackeln erleuchteten Hof geschlendert. Er nickte seinem Vater und Ylaiy zu und gesellte sich zu ihnen, schweigend das geschäftige Treiben beobachtend. Violette Ringe lagen unter seinen Augen.
Wenigstens einer, der genauso schlecht schläft wie ich.
Sila und Rana liefen an ihnen vorbei zur Kutsche. Sie überprüften das Innere der Karosserie, verzurrten letzte Habseligkeiten auf den Lastpferden. Mit gutmütigem Gelächter halfen die Soldaten den beiden Frauen schließlich auf den Kutschbock. Sie geizten nicht mit hämischen Bemerkungen, als Rana Peitsche und Zügel ergriff. Ylaiys ehemalige Amme schenkte den Soldaten keine Beachtung, doch ihre Tochter quittierte die teils zotigen Äußerungen mit kecken Widerworten.
Ylaiy wandte sich an Baraten. „Fahrt Ihr in der Kutsche mit oder bevorzugt Ihr…“
Der Ausdruck auf Baratens Gesicht ließ ihn mitten im Satz verstummen. Der Inquisitor starrte auf Rana, bevor er zu seinem Wallach stiefelte, ohne Ylaiys Frage zu beachten.
Videm und Ylaiy tauschten verblüffte Blicke. Videm fing sich zuerst, folgte seinem Vater, sprang mit einem Satz auf sein Pferd.
Kopfschüttelnd kletterte Ylaiy in die Kutsche. Gleich darauf setzte der kleine Zug sich in Bewegung. Am Palasttor wartete die Kaiserin. Ylaiy winkte ihr durch das Fensterchen zu. Danach schloss er seufzend die Augen. Die harte Kutschbank war alles andere als behaglich, aber er konnte die Beine ausstrecken, den Rücken anlehnen und in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Als die Kutsche die Palastallee hinab rollte, hatte er bereits dösend den Kopf in den Nacken gelegt.
Er hat Rana angesehen, als wäre sie ein Geist.
Adiv hatte die Hoffnung aufgegeben. Stundenlang irrten sie jetzt schon durch Höhlenkammern. Längst hatte sie die Karte in ihren Ärmel gesteckt. Ihre Mutter musste an der Schwelle des Todes einiges durcheinandergebracht haben.
Mittlerweile dampfte die feuchte Kleidung. Ihre Haare waren zu widerspenstigen Locken getrocknet, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. In ihrem Inneren nagte die Furcht, hier unten herumzuirren, bis sie alle vor Entkräftung starben.
Akim hatte eine Uniformjacke übergeworfen. Mit gesenktem Kopf schleppte er beide Breitschwerter. Ihre Spitzen hinterließen Linien auf dem lockeren Boden.
Plötzlich blieb er stehen. „Spuren“, sagte er matt.
Adiv beugte sich über zwei kaum sichtbare, halbrunde Vertiefungen im Lehm. Nie im Leben hätte sie die gesehen, hätte Akim nicht auf sie hingewiesen. Sie musterte die Spuren und entdeckte ein Loch auf Kniehöhe.
„Das hätte ich niemals gefunden“, murmelte sie.
Akim klatschte sich auf die Knie. Er machte vor, wie die Person, die die Abdrücke verursacht hatte, vor dem Loch gehockt hatte. Adiv schaute Jonoy entgeistert an, bevor sie den Kopf in das Erdloch steckte. „Ein Gang. Sehr eng. Wir werden robben müssen.“
Es war, als ob sie sich in einem Geburtskanal nach draußen presste. Bald sah sie nichts mehr, musste sich auf ihre Hände, ihre Nase und ihre Ohren verlassen. Eine beängstigende Empfindung. Sie fühlte klebrigen Lehm, roch Jahrtausende alte Ablagerungen längst verschwundener Pflanzen, hörte Jonoy hinter sich schnaufen, ihren eigenen stoßweisen Atem, das Klirren der Schwerter. Wieder dachte sie an die tonnenschweren Felsmassen, kämpfte mit der Panik, die in ihr kreischte.
Den ersten Streifen Tageslicht hielt sie zunächst für eine Täuschung, doch der Streifen verbreiterte sich, bis sich eine Öffnung abzeichnete.
Kurz darauf purzelte sie auf grobkörnigen Sand. Sie stieß einen Freudenschrei aus, der ihr ärgerliche Blicke Jonoys einbrachte, der sich nach ihr auf den Rücken rollte und den Mund aufriss.
Die Sonne stand käsig an einem wolkenverhangenen Himmel, aus dem dünner, kalter Nieselregen niederging. Trotzdem saugte sie die unvergleichlich reine Gebirgsluft ein, die sich mit dem Salz des Meeres vermischte. Schwerelos trieb sie in dem Duft, lauschte dem Schlagen der Wellen. Für einen Augenblick vergaß sie die Zeit.
Akim, der umgehend damit begonnen hatte, den Strand zu erkunden, unterbrach die Ruhe. „Fährten“, rief er. „Ein Mann.“
Mit einem Satz stand Adiv auf den Beinen. Auch Jonoy wirkte sofort alarmiert, ließ seine Augen über den Strand schweifen. „Das Unwetter ist höchstens drei Stunden her. Es wütete auch hier. Schaut euch die Sturmschäden an.“
Adiv musterte die weit verstreuten Baumteile, die der Sturm über die Klippen gefegt hatte, und das viele Treibholz. „Der Sand ist noch feucht“, murmelte sie.
„Jemand war hier. Nach dem Wolkenbruch“, bestätigte Jonoy. „Vor Kurzem erst.“
Adiv überlegte fieberhaft. Sie hatte angenommen, dass die Spuren vor dem Loch von ihrer Mutter stammten. Hatte sie erwähnt, wann sie in der Höhle gewesen war? War sie zum Strand gekrochen?
Sie war bereits tot, als das Gewitter tobte.
„Wohin führen die Spuren?“, unterbrach Jonoy ihre Gedanken.
Akim wies nach Norden, wo ein Felsen ins Meer ragte und ihnen die Sicht versperrte.
„Wir müssen uns verstecken“, rief Adiv.
„Aussichtslos“, sagte Jonoy. „Er wird unsere Abdrücke genauso entdecken, wie wir seine.“
„Ja, aber… Wir müssen uns in Sicherheit bringen.“
„An einem Strand? Wohin willst du denn fliehen?“
„Ins Wasser. Gleich hier“, würgte der Junge hervor.
„Könnt ihr schwimmen?“
Akim senkte die Augen. Adiv schüttelte den Kopf.
„Was sah dein Fluchtplan denn weiter vor?“, wandte Jonoy sich an die Diebestochter.
„Es soll eine Landspitze geben, die weit ins Meer ragt. Vermutlich hinter dem Felsen da. Vor der Zunge soll die See nicht tief sein. Vor allem bei Niedrigwasser.“
„Du wolltest laufen? Über den Meeresgrund? Das ist … verrückt. Wann kommt die Ebbe? Wie weit zieht das Wasser sich zurück? Wann kehrt die Flut zurück? Überrascht sie uns da draußen? Warst du überhaupt schon jemals am Meer?“
Der Alte sah sie aufgebracht an.
In Adiv erwachte der Zorn. „Verrückt? Immerhin habe ich euch hier herausgebracht. Ohne mich würdet ihr in den Bottichen verrotten!“
Mit den Tränen ringend hielt sie inne.
Jonoy betrachtete erst sie, dann Akim, der sie beide unsicher musterte. „Du hast recht“, lenkte er ein. „Ich sollte mich dankbarer zeigen, weil du uns gerettet hast. Aber es gibt so viel, was du nicht bedacht hast. Das war leichtsinnig. Töricht.“
„Oh ja? Das nächste Mal, wenn ich Hals über Kopf fliehe, werde ich vorher einen Plan zeichnen“, schleuderte sie ihm entgegen, bevor sie zum Ufer stürzte.
„Hals über Kopf“, wiederholte Jonoy nachdenklich. „Irgendwann musst du uns deine Geschichte erzählen.“
Adiv musterte das Meer und den grauen Himmel, nahm tiefe Atemzüge, bis sie sich beruhigt hatte. „Akim hat recht“, sagte sie dann. „Wir müssen hier weg, bevor der Mann zurückkommt. Lasst uns Holz sammeln.“
„Wir haben keine Zeit für ein Floß“, entgegnete Jonoy.
„Schwimmbündel. Für jeden von uns. Hier gibt es jede Menge Holz. Das haben wir flugs gesammelt.“
„Womit willst du sie festmachen? Mit Algen?“
„Damit“, zog sie die zerschnittenen Fesseln hervor. „Und die Äste haben dünne Zweige.“
„Und mit ein bisschen Glück hängen am Treibholz noch alte Fischernetze“, sagte Jonoy, sich in Bewegung setzend. Plötzlich klang er eifrig. „Um Ideen bist du jedenfalls nicht verlegen.“
Adiv musste zugeben, dass sie gut zusammen arbeiteten.
Akim und sie sammelten das Holz; lange, dicke Äste, die sie zu Jonoy schleppten, der am Boden kauerte und die Holzstücke geschickt zusammenknotete. Dazwischen beobachtete er angespannt das Meer und die Klippen.
Auch Adiv fühlte sich unbehaglich. Wurden sie beschattet? War bereits eine Abordnung von K’yr auf dem Weg zu ihnen? Sie bezweifelte, dass man sie vom Felsmassiv aus sehen konnte, zumal in dem dunstigen Wetter. Andererseits hatte sie von Fernsichtrohren und anderen Teufeleien gehört.
Die Ungewissheit wuchs mit jeder Minute. Wenn der Himmel aufriss, würde die Sicht sich klären. Die Gefahr, entdeckt zu werden, erhöhte sich mit jedem Moment, den sie länger am Strand verbrachten. Erst im Wasser, verborgen zwischen Wellentälern, waren sie sicher vor Verfolgern.
Vor Jorgen.
Ohne ein Wort darüber zu verlieren, arbeiteten sie noch flinker. Nach etwas über einer Stunde hatten sie aus Trieben, Treibholz, Schnüren und Seegras drei notdürftige Schwimmhilfen geschnürt, die sie sich unter den Oberkörper schieben konnten.
Jonoy legte sein Bündel zuerst auf die Wellen und lehnte sich vorsichtig darauf. Prustend stieß er die Luft aus, als das kalte Wasser über ihn schwappte. Probehalber paddelte er mit Armen und Beinen.
„So wird es gehen“, rief er seinen jungen Gefährten zu. „Die Bündel sind stabil genug, um uns zu tragen. Reich mir die Schwerter, Akim!“
Der Junge watete zu ihm. Der Alte platzierte die Waffen auf dem Schwimmpack und schob beide Arme darüber. Dann wandte er sich an Adiv. „Wohin soll es gehen?“
„Nach Kânegg. Über die vorgelagerten Inseln.“
„Warum nicht hinüber nach Staleph? Im Süden gibt es Felder und Wiesen, Bauernhöfe und Walddörfer. Auf Kânegg erwarten dich Sümpfe, Stechmücken und anderes Ungeziefer.“
„In Staleph gibt es Felder und Wiesen, Bauernhöfe und Walddörfer.“
Er sah sie verständnislos an.
„Menschen, alter Mann. Zu viele. Außerdem kommen Gefangenentransporte und Militärabordnungen aus Staleph. Das lässt mich vermuten, dass es dort Straßen gibt. Und Straßen bedeuten mehr Leute.“
Jonoy hob die Augenbrauen. „Wir können von Glück reden, wenn das Meer uns überhaupt irgendwo anspült. Die Dinger lassen sich nur schwer navigieren. Aber wir müssen es versuchen. Bleibt in Bewegung, sonst frisst euch der Frost. Folgt mir!“ Damit drehte er sich um und paddelte los.
Akim hielt das Bündel mit ausgestreckten Armen. Sein Gesicht war von Furcht verzerrt. Zögerlich watete er tiefer ins Wasser, vor Kälte schnatternd, den Blick fest auf den Alten gerichtet.
Mit einem Mal verließ Adiv der Mut. Die wogende Wasserfläche, die sich endlos vor ihr erstreckte und niemals still stand, bereitete ihr Unbehagen. In der Ferne, vom Nieselregen eingehüllt, sah sie verschwommene Schatten. Waren das schon die Eilande, von denen ihre Mutter berichtet hatte?
Mit steifen Beinen stakste sie ins Wasser.
„Bei Kaa“, zischte sie, als das eisige Nass ihre Hosenbeine tränkte und ihre Stiefel sich augenblicklich vollsogen. Unsicher schob sie das Schwimmbündel hin und her, bis sie glaubte, dass es die richtige Lage hatte. Gerade, als sie genug Mut geschöpft hatte, sich darauf sinken zu lassen, hörte sie knirschende Schritte hinter sich.
Noch bevor sie sich aus ihrer schwankenden Position umdrehen konnte, fühlte sie sich aus dem Wasser gehoben. Entsetzt schrie sie auf. Ihre Arme umklammerten die Hand, die sich in ihr Haar gekrallt hatte, während eine zweite sich schmerzhaft in ihre Hüfte presste.
„Akim!“, gelang ihr ein erneuter Schrei, bevor der Angreifer ihr den Mund zuhielt.
Zu ihrem Glück wandte der Junge sich um. Bestürzung malte sich auf seinem Gesicht. Er brüllte Jonoy einige Worte zu. Umständlich machten sie kehrt, steuerten aufs Ufer zu.
Der Griff des Unbekannten lockerte sich nicht. Grob schleuderte er Adiv herum, sodass sie im Wasser stolperte. Eine Schmerzenswelle schwappte über sie, als er sie wie ein Stück Treibholz den Strand hinauf warf.
Mit einem Satz thronte er auf ihren Beinen, drehte sie auf den Rücken, riss ihre Arme über ihren Kopf, packte ihre Handgelenke.
Sie saß in der Falle. Sein Gewicht drückte ihr das Blut in den Beinen ab. Grobkörniger Sand presste sich in ihre Haut. Sie wehrte sich, so gut sie es vermochte, spuckte, biss, kratzte, bis eine Ohrfeige sie außer Gefecht setzte.
Stöhnend riss sie die Augen auf und erstarrte. „Chries.“
Er stutzte. Stierte sie an. „Du bist das Putzmädchen?“ Eine Mischung aus Frage und Feststellung.
Trotz ihrer misslichen Lage breitete sich ein warmes Kribbeln in ihrem Bauch aus. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie sie aussehen musste mit der wirren, nassen Mähne und der Schwellung unter dem Auge.
Chries wirkte nicht weniger überrascht als sie, aber er reagierte auf der Stelle, als er ihre Begleiter im Rücken spürte. In einem Atemzug riss er sie hoch, wirbelte sie herum, zog sein Schwert und presste es an ihre Kehle.
„Zurück!“, rief er, Adiv als Deckung nutzend. „Zurück oder sie stirbt.“
Sein entschlossener Ausdruck verriet, dass er es ernst meinte. Akim und Jonoy blieben sofort stehen.
„Was geht hier vor? Was tut ihr hier? Wer bist du?“
„Mein Name ist Adiv. B...Benelees. Ich – wir – wollen … weg von hier.“
„Weg von hier?“, echote er.
„Ja, ich, meine Mutter, sie, sie ist tot, und mein, mein Vater, er auch. Ich, es ist etwas passiert. Meine Freundin, sie, sie …“ Adiv beendete ihr unbeholfenes Gestammel, weil sie merkte, dass sie nicht mehr weiter reden konnte, ohne in Tränen auszubrechen. Sie schluckte so hart, dass die Klinge auf ihrer Kehle tanzte.
„Was ist mit den Hochverrätern?“
„Sie schwammen in den Bottichen. Ich habe sie befreit.“
Bei der Erinnerung verzog sich das Gesicht des Alten. „Unser einziges Vergehen bestand darin, die Kaiserin um Hilfe zu bitten. Dafür beschmierte man unsere Gesichter mit Milch und Honig und steckte uns in Tröge. Das soll die Fliegen anlocken. Sie kommen, legen ihre Eier in die Augenhöhlen und Nasenlöcher. Die Brut schlüpft und frisst einen von innen auf. Man verwest bei lebendigem Leib.“
„Oh Kaa“, erwiderte Adiv angewidert.
Chries gab ein Geräusch des Ekels von sich. Zu ihrer Verwunderung nahm er das Schwert von ihrer Kehle und entließ sie aus seiner Umklammerung. Er blieb jedoch angespannt und bereit, sofort wieder zuzupacken.
Adiv vermisste seinen Körper. Sie drehte sich ein Stück, sodass sie den Wärter von der Seite anschauen konnte. „Bitte, lasst uns gehen“, sagte sie flehend.
„Wie denkst du dir das? Ihr seid Gefangene, Straftäter, Verbrecher. Ich muss euch zurückbringen.“
„Ich bin keine Verbrecherin. Meine Mutter, ja. Sie hat lange genug gebüßt. Und die beiden? Bringt sie zurück, und sie werden umgebracht. Das wisst Ihr so gut wie ich.“
„Niemand wird einfach so umgebracht“, erwiderte er. „Wir sind Aufseher, keine Gesetzesbrecher.“
Adiv schnaubte. „Das glaubt Ihr doch selbst nicht! Ich lebe seit meiner Geburt hier und kenne die Boragha. Noch einige Zeit hier drin, Chries, und Ihr werdet genau wie die.“
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Insassen schnappen solche Dinge auf.“
„Das Putzmädchen. Du siehst so anders aus. Du hast einen Weg nach draußen gefunden. Wie? Wer bist du?“
„Ich komme viel herum. Als Kinder haben wir Verstecken gespielt.“ Sie hoffte, das würde als Erklärung reichen. „Woher wisst Ihr von diesem Weg?“
„Ich arbeite in der Kartenkammer.“
Adiv sah ihn vor sich. Am Tisch sitzend, über Pergamente gebeugt, studierend, so vertieft, dass er sie kaum bemerkte, sich zum Essen wenig Zeit nahm. Sie hatte die Karten nie wirklich wahrgenommen, ihre Aufmerksamkeit hatte Chries gegolten. Sie rief sich ihre flüchtigen Eindrücke in Erinnerung. Vor ihrem geistigen Auge materialisierten sich Umrisse, Zeichnungen, unleserliche Beschriftungen, schwarze und rote Striche.
Unterschätze niemals die Wärter.
„Wer weiß noch von diesem Weg?“
Er zuckte mit den Schultern. „Wir vier. Wahrscheinlich. Ich kann lesen und schreiben, deshalb haben sie mich in die Kartenkammer geschickt, um die alten Wege zu überprüfen und nachzuforschen, ob es neue gibt. Ich…“ Abrupt brach er ab, als sei ihm soeben bewusst geworden, dass er zu viel ausplauderte.
„Wart Ihr vorn an der Felsspitze?“, wollte Jonoy wissen.
Überrumpelt von der Frage nickte Chries.
„So war niemand mit Euch?“
Chries’ Augen verengten sich. Die Unsicherheit wich Ärger. „Willst du mich aushorchen? Herausfinden, ob ich allein bin?“
„Das habt Ihr bereits zugegeben. Mehr oder weniger.“
Chries versteifte. „Legt die Schwerter ab!“
Diesmal richtete er die Klinge auf Akim. Erschreckt ließ der Junge die Waffe fallen.
„Ihr auch!“
Jonoy zögerte, bevor er das Schwert niederlegte.
Der Wärter fummelte mit einer Hand in seinen Taschen, zog mehrere Lederschnüre heraus, die er dem Alten zuwarf.
„Fesselt seine Hände hinter dem Rücken. Seht zu, dass Ihr es ordentlich macht!“
„Warum wolltet Ihr ihm helfen?“
Chries fuhr zu Adiv herum. „Wovon redest du?“
„Von dem Abend der Ankunft. Ich habe Euch gesehen. Ihr wolltet ihm zu Hilfe kommen. Es tat weh, einen alten Mann so behandelt zu sehen, nicht wahr? Vom Wagen gestoßen, ausgelacht. Ihr seid gut erzogen, höflich, selbst zu Gefangenen. Ihr sprecht ihn ehrerbietig an. Bewacher sind nicht nobel, niemand ist nobel hier. Ihr seid anders.“
Mit jedem Wort war Adiv näher an den Wärter getreten, der sie entgeistert anstarrte. Sie wusste, dass sie viel riskierte, doch die Zeit lief ihnen davon. Noch während sie sprach, griff sie ansatzlos nach seinem Schwert und rang es ihm aus der Hand. Im selben Augenblick rafften Jonoy und Akim ihre Schwerter wieder an sich. Zu dritt umzingelten sie den jungen Mann. Chries leistete wenig Widerstand, viel zu wenig für einen ausgebildeten Soldaten.
Mit der Schwertspitze zielte sie auf Chries’ Kinn. „Ihr seid noch unverdorben. Lasst uns einfach gehen. Wenn Ihr versucht, uns aufzuhalten, wehren wir uns. Ich werde nicht zurückgehen. Eher sterbe ich hier. Oder Ihr. Lasst uns gehen.“
„Das darf ich nicht.“
„Aber Ihr könnt. Lauft zurück und berichtet. Denkt Euch etwas aus. Wir haben keine Zeit mehr. K’yr hat uns vielleicht gesehen und sendet bereits Truppen aus.“
Die Minuten zogen sich in die Länge. Schließlich senkte Chries den Kopf. Sein ganzer Körper schien in sich zusammenzufallen.
„Danke“, flüsterte Adiv. „Und verzeiht mir.“
Sein Kopf ruckte nach hinten, doch Adivs Klinge hieb bereits über sein Kinn. Blut schoss aus der Wunde. Chries’ schrie auf, mehr aus Ungläubigkeit und Überraschung, denn aus Schmerz. Er betastete den Schnitt, bedachte Adiv mit einem Blick, in dem Furcht und Enttäuschung standen.
„Es tut mir leid, Chries.“ Reue simmerte in ihren Augen, als sie noch einmal zustieß. Diesmal krümmte er sich und umklammerte seinen Oberarm.
Jonoys Schwertknauf traf ihn kurz darauf am Hinterkopf. „Nun lasst Euch endlich fallen“, schnaufte der Alte, als Chries wankte. „Bevor wir Euch ernsthaft verletzen.“
„Was?“
„K’yr. Es muss überzeugend aussehen.“
Ohne ein weiteres Wort ließ Chries sich zu Boden fallen.
Die Flüchtlinge erfasste fieberhafte Geschäftigkeit. Sie packten Schwerter und Bündel und sprangen ins Wasser. Adiv sah zu Chries zurück, der reglos im Sand lag und sich die blutende Wunde hielt. Sie verspürte das heftige Verlangen, ihn zu küssen.
„Verzeiht mir“, rief sie. Dann war die Ebbe da und schwemmte sie aufs Meer.
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Kapitel: | 14 | |
Sätze: | 4.023 | |
Wörter: | 44.836 | |
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