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Eisinsel (Teil 6): Unterwelt

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22.01.22 20:42
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Der Pfad, so breit, dass drei Mann nebeneinander laufen konnten, schlängelte sich in die Tiefe, mitten hinein in das feurige Herz der Insel. Ylaiy hatte das Gefühl, in die Unterwelt hinab zu steigen, zu dem Ort der Verdammnis, den Adivs Kaa denen als ewige Strafe auferlegte, die gegen seine Gebote verstießen.
Sie gingen und gingen und es wurde so warm, dass Ylaiy an seinem Halstuch zerrte. Auch die anderen rissen ihre Kopfbedeckungen und Gesichtstücher herunter, entledigten sich der Handschuhe. Adiv und Jonoy sahen aus, als erstickten sie an ihren Zungen. Ihre Gesichter glänzten und ihre Augen schimmerten matt.
Völlig unbeteiligt lief Videm zwischen ihnen. Er hatte den eigenartigen Gang wieder angenommen, den er am Anfang der Reise, in einem Dran’bara, das so entfernt war wie eine trübe Erinnerung nach einem Gyothrausch, so oft gezeigt hatte: leicht taumelnd, auf Zehenspitzen balancierend. Er schien zu frieren. Anders konnte sich Ylaiy das krampfartige Zusammenziehen von Kopf und Schultern nicht erklären, obwohl Videm das Eisbärenfell um den Körper geschlungen hatte. Zweifellos war er schwer angeschlagen. Doch er jammerte nicht, schleppte verbissen den verbeulten Schild, der ihm das Leben gerettet hatte, ließ alle paar Meter die Schultern kreisen.
„Eine Tür“, vernahm Ylaiy plötzlich Akims Stimme, die rostig klang. Wie ein lange nicht gefettetes Scharnier.
Die Hände der Kriegerin fuhren an ihre Hüften. Gillok zog den krummen Dolch mit der schwarzen Klinge, die nun an vielen Stellen metallisch glänzte. Ylaiy bezweifelte, dass die Giftspuren auf ihr noch Schaden anrichteten.
Die Tür schälte sich aus der Dunkelheit, grau, bedrohlich, eng. Wuchtig und unzerstörbar. Eiserne Beschläge liefen um das steinerne Rechteck, gegen das selbst Axtschläge nichts ausrichten würden.
„Ich nehme nicht an, dass jemand Knallpulver dabei hat?“, erkundigte sich Ylaiy, nachdem er die Oberfläche nach einem Mechanismus abgesucht hatte, mit dem der Durchgang sich öffnen ließ.
„Was ist das?“, fragte Adiv.
„Ein Gemisch aus verschiedenen Ingredienzen. Wenn man es anzündet, entfaltet es eine gewaltige Kraft, die Widerstände sprengt.“
„Ich besitze Pulver, das Menschen blendet und betäubt. Doch es ist längst durchnässt und zerstört keine Pforten dieser Stärke“, erwiderte die Kriegerin.
„Lasst mich mal sehen“, verlangte Adiv.
Ylaiy trat beiseite. Er beobachtete die Diebestochter, die mit den bandagierten Handflächen über den Stein fuhr. Sie bückte sich, suchte nach einer Öffnung, richtete sich wieder auf, tastete mit ausgestreckten Armen die Ränder ab.
„Links befindet sich ein Ring dicht an der Wand“, sagte sie, nachdem sie sich Fingerbreit für Fingerbreit über die Tür gearbeitet hatte. „An der Rückseite wird ein Riegel angebracht sein, der in den Ring fällt. Simpel. Von einem Zauberer hätte ich mehr erwartet.“
„Ein Dilettant“, stimmte Ylaiy sarkastisch zu. „Alles, was er kann, ist die Erde zu öffnen und in ihr zu verschwinden.“
„Ihr mit Euren Fremdwörtern. Jedenfalls gibt es diese Türen zuhauf in der Boragha. Meine Mutter hebelte sie auf.“
„Und zufällig hast du die Haken deiner Mutter dabei“, leuchtete Ylaiys Gesicht auf.
„Hmm.“ Geschickt klemmte Adiv einen Haken in den schmalen Spalt an der linken Seite.
„Vorsicht“, warnte die Sumpfjägerin. „Wir wissen nicht, welche Überraschungen der Blaukopf noch bereithält.“
„Für die Überraschungen seid Ihr zuständig“, knirschte Adiv, die ihre Schulter unter den Haken geschoben hatte und eine Kniebeuge machte.
Die Kriegerin warf Gillok einen vergewissernden Blick zu. Der Sumpfmann hob den Dolch.
„Lasst mich vorgehen“, sagte Videm mit matter, aber entschlossener Stimme. „Ich habe den Schild als Schutz. Adiv muss nur rechtzeitig zur Seite springen.“
„Falls sie das Ding jemals aufbekommt“, keuchte die Diebestochter mit hochrotem Gesicht. „Bei meiner Mutter sah das so einfach aus. Und sie hatte nur einen Arm.“
Jonoy kam ihr zu Hilfe. Zu zweit gelang es ihnen, den Riegel nach oben zu schieben.
Für einen Steinklotz dieser Stärke sprang die Tür unerwartet leicht auf, gab den Blick frei auf einen Tunnel. Ob Menschenhände oder die Natur ihn in den Felsen geschlagen hatte, ließ sich nicht feststellen. So oder so verursachte er Beklemmung.
Videm tastete sich den Weg entlang, der enger zu werden schien und ihre Schritte verschluckte.
„Vorsicht“, warnte Syriakin erneut.
Die Warnung war unnötig. Videm schickte seine Augen bereits in alle Richtungen, schluckte sichtlich, als er auf die Erd- und Gesteinsschichten über sich starrte.
Ylaiy kämpfte gegen das nagende Gefühl von Bedrohung an, das die Wirbelsäule hinauf kribbelte. Unwillkürlich sah er zu Akim. Dessen Finger hatte sich, Einhalt gebietend, erhoben.
Die Kriegerin zog Videm sofort am Ärmel zurück und zückte die Messer.
„Was ist das?“, murmelte Gillok neben ihr.
Darauf hatte niemand eine Antwort. Alle spähten angestrengt den Stollen hinunter, wo die Luft in Bewegung geriet. Etwas drängte auf sie zu.
Ylaiy kniff die Augen zusammen. Ein Gebilde. Amorph. Eine Masse. Er konnte nicht erkennen, woraus sie bestand, doch sie füllte rasch den Boden des Tunnels aus. Angstschauer pulsten durch seine Adern.
„Spinnen!“ Ein Schrei, zu einem Kreischen gedehnt.
Ylaiys Kopf zuckte in Adivs Richtung. Dann fiel ihm ein, dass sie unter der Erde aufgewachsen war, wo Spinnen zu Nachbarn wurden. Er hatte gesehen, wie Akim die Tiere mit Haut, Haaren, allen Beinen und Augen aß, was selbst den abgebrühten Verstand der Sumpffrau zu übersteigen schien. Videm war einfach kein Mensch, der vor Gliederfüßern Panik empfand; Gillok und Syriakin molken größere Exemplare, hielten sie zum Schutz vor Insekten im Haus. Erstaunt schielte er zu dem vor Ekel und Abscheu verzerrten Gesicht des Schmieds.
Handtellergroßes Getier quoll und quetschte sich aus den Tiefen des Tunnels. Eine gespensterhafte Armee, die wispernd und rasselnd auf sie zumarschierte. Ylaiys Herzschlag beschleunigte sich, denn in der langen Sekunde, bevor der Sturm losbrach, wurde ihm bewusst, dass Messer, Dolche, Schwerter, Speer und Stab das Spinnenheer nicht aufhalten würden.
Die Kriegerin stach bereits auf die ersten Tierleiber ein. Sie erwischte die eine oder andere Spinne, spießte weitere auf, zerschnitt größere in zwei Hälften. Aber es war, als schwänge sie die Messer gegen den Ozean. An ihren Klingen vorbei, um die Spitzen herum, an den Schneiden entlang, teilte sich das Spinnenmeer, strömte unaufhaltsam auf sie zu.
Neben ihr hieb Gillok auf die haarigen Biester ein, die wie die Wesen aussahen, die er in den Gräben draußen im Meer gesehen hatte. Wesen aus einer lichtlosen Welt, ohne Augen, ausgestattet mit langen Fühlern und Tentakeln, von innen heraus leuchtend. Sie huschten um die Beine, zwickten und bissen. Er hackte auf sie ein, sprang, stampfte, wirbelte. Gallertartige Masse bildete sich unter den Stiefelsohlen. Das Geräusch der platzenden Körperchen ließ ihn würgen.
Verletzte Spinnen sonderten eine zähe, stinkende Flüssigkeit ab, die ihre Leiber verklumpte. Zappelnde Tiere blieben an Ylaiys Schwert haften, was ihn zwang, es ständig zu schütteln. Dann rutschten sie, Zischlaute ausstoßend, von der Schneide gegen die Wände und seine Mitstreiter.
„So schaffen wir sie nicht“, keuchte er, Tiere von Nacken und Hinterkopf wischend. „Mit den Klingen brauchen wir ewig.“
„Sie beißen“, gab Gillok zurück. „Ich weiß nicht, ob und wie giftig sie sind. Mehrere Bisse richten vielleicht ernsten Schaden an.“
„Oder sie fressen uns bei lebendigem Leib.“ Ylaiy hieb eins der weißen Tierchen aus der Armbeuge.
Videm hatte schweigend zugehört. „Geht beiseite.“
Er hob den Schild, warf ihn auf den Boden, sprang darauf, brachte ihn zum Schaukeln. Binnen Sekunden klebten etwa dreißig zerquetschte Tiere an der Schildwölbung. „Wonach stinken sie?“, rief er, angewidert die besudelte Oberfläche betrachtend.
„Blut. Klebstoff. Gift vielleicht. Möglicherweise alles zusammen. Fahrt fort mit dem Schild, wenn Eure Kräfte es zulassen.“ Die Kriegerin steckte ihre Messer weg. Sie stob in das Meer wogender, rasselnder Leiber hinein, trampelte die Spinnen nieder.
Gillok, Akim und Jonoy folgten ihrem Beispiel. Adiv und Ylaiy zerhackten überlebende Biester, wischten und wedelten Ausreißer von sich und den Gefährten.
Die Überreste toter Tiere wuchsen unter den Sohlen. Sie begannen, in dem Schleim auszugleiten. Immer wieder sprang Videm auf den schaukelnden Schild, glitt auf den Kadavern entlang wie auf Kufen über einen gefrorenen See. Dennoch dauerte es endlos, bis der Zustrom an blinden Eisspinnen versiegte.
„Uff“, rutschte Ylaiy schließlich an der Wand hinunter in die Hocke.
Er betrachtete die Überbleibsel des Gemetzels. Vor ihm lag ein schmieriger Aasteppich. Einige Spinnen zappelten noch. Ihre mahlenden Kiefer erzeugten das enervierende Rasselgeräusch.
„Es stinkt nach Pisse“, stieß Adiv aus, das Gesicht im Ärmel vergrabend. „Nach Scheiße und Kotze. Es stinkt wie die Große Kloake. Ich fühle mich mehr und mehr wie zu Hause.“
„Du hast Fäulnis vergessen“, warf die Kriegerin ein. Auch sie atmete mittlerweile durch den Mund, um den Würgreflex zu unterdrücken.
Adiv stöhnte vor Ekel.
Ylaiy presste die Hand vor die Nase. „Wir sollten machen, dass wir weiterkommen“, sagte er. „Hier halte ich es keinen Moment länger aus.“
Vorsichtig stiegen sie über den Leichenteppich in die Schwärze des Tunnels. Der Schild war von Kadavern verkrustet, die Beschläge von Sekreten grün angelaufen. Videm ließ ihn schweren Herzens zurück.

Der Tunnel fraß sich durch den Felsen wie eine Made durch eine Leiche. Er führte nach unten, immer nach unten.
Überraschend tauchte eine weitere Tür auf. Vielleicht hatte Akim sie nicht gesehen, vielleicht hatten seine Fledermaussinne ihn diesmal im Stich gelassen. Vielleicht war er zu müde oder zu sehr in Gedanken versponnen, um eine Warnung auszusprechen. Videm kümmerte es nicht. Er hatte andere Sorgen. Seine Schulter und der verdrehte Arm schmerzten, als liefe ein weißglühender Metalldraht durch Knochen und Gelenke.
Sie hatte ihm gesagt, dass es wehtun würde, aber das war ein schamloses Herunterspielen der Tatsachen gewesen. Hatte behauptet, es sei nur eine ausgerenkte Schulter, doch sie hatte ihm nicht gesagt, dass es sich anfühlen würde, als sei sie herausgerissen und in heißes Öl getaucht worden. Sie hatte erklärt, es würde ihm bald besser gehen. Ha! Er war so beweglich wie ein rostiger Splint.
Der anhaltende Schmerz machte ihn wütend. Auf alles. Auf jeden. Auf sich selbst. Am meisten auf sie. Ihre Anführerin, die unbeirrt vor der Gruppe lief, Gillok dicht hinter ihr, nun, da der Gang nicht mehr breit genug war für zwei Menschen. Sie schritt so forsch aus, als wäre sie begierig, diesen Tag erleben zu dürfen, hatte die Kapuze zurückgeschlagen, Mantel und Jacken an den oberen Knöpfen geöffnet. Ihr einziges Zugeständnis an die Hitze. An ihrer Stirn klebte ein Blutfaden, der vermutlich von dem Sturz auf Jonoy herrührte, oder von einem der Kämpfe. Da sie ihn nicht zu bemerken schien, sah ihn auch niemand sonst.
Er holperte weiter, in düstere Gedanken verstrickt, merkte zu spät, dass die anderen stehen geblieben waren. Sein Gesicht verfärbte sich violett, als er mit der verdrehten Schulter gegen Ylaiys Rücken stieß und eine Stichflamme durch seine rechte Seite loderte. Er unterdrückte einen Schrei, konnte aber nicht verhindern, dass ein Stöhnen sich zwischen den Lippen hervor stahl.
Die Kriegerin musterte ihn, fing Gilloks Blick ein, bevor ihre Augen zu ihm zurückkehrten. Nicht zum ersten Mal bemerkte er, dass sie bei aller Griesgrämigkeit besorgt schauen konnte. Er drängte das warme Gefühl in seinem Inneren zurück, beschloss, sie weiter zu hassen. Zumindest im Augenblick, zumindest so lange, wie die Qualen an seinem Verstand nagten. Er brauchte jemanden, den er stumm anbrüllen konnte.
Sie schien das alles in seinem Gesicht zu lesen, denn sie wandte sich wortlos ab, räumte den Weg für Adiv. Er beobachtete, wie die Diebestochter über diese Pforte fuhr, wie sie über die andere gefahren war, erhaschte einen Blick auf ihre bandagierten Handflächen. Dunkle Blutlinien verliefen quer darüber.
„Halte ein“, rief Ylaiy unversehens. Adiv zuckte zurück, als hätte sie heißes Eisen angefasst.
Gillok runzelte die Stirn. „Was?“
„Es ist die falsche Tür.“ Ylaiys Hände wühlten sich umständlich in den Brustbeutel, kramten die Pergamentrollen heraus. Videm erkannte sie wieder, sah das Gewirr aus schwarzen Zacken und Kreisen, blauen Linien und roten Strichen.
Die Festung.
Mühsam entzifferte er die Buchstaben, weil der Name ihm entfallen war.
O’shu’o-gh.
Seine Poren zogen sich zusammen, als er realisierte, dass sie angekommen waren. Sie waren hier. In O’shu’o-gh. Am Eingang. Oder bereits darin.
Prüfend sah er nach hinten, wo der Tunnel nach wenigen Metern von der Düsternis verschluckt wurde. Er hatte sich einen Palast vorgestellt. Wie in Yruish. Groß, hell, glänzend, prächtig. Weiße Mauern. Goldene Brüstungen. Hohe Türme, bewehrte Zinnen. Flatternde Fahnen. In seiner Erinnerung wurde Yruish zum Märchenschloss. Dieser unterirdische Schlauch hier machte dagegen nicht viel her. Erde, Stein, Dreck. Hitze, Enge. Vor allem Enge. Und Dunkelheit.
„Schaut“, deutete Ylaiys Zeigefinger auf das Pergament.
Er war schmutzig, der Finger. Spinnenurin klebte daran, Erde, Blut. Der Nagel war abgebrochen, wies Dreckränder auf. Keine Tintenflecken mehr, keine polierten Nägel. Der Thronfolger stank wie sie alle. Nach Blut und Schweiß, nach den Ausscheidungen der widerlichen Krabbeltiere, nach Erschöpfung, ungewaschenen Kleidern, Ruß und Qualm, nach Hunger und zu wenig Schlaf. Nach Verzweiflung.
Videm musterte die Gefährten, die ihre Köpfe über das Pergament gebeugt hatten. Er sah ungeschnittene Haare, fettig, struppig, strähnig. Schuppig von den vielen Tagen unter Kapuzen, Mützen, Tüchern. Sah schweißglänzende Gesichter mit den bräunlich-gelben Spuren der letzten Erfrierungen, borstige Bärte bei den Männern, aufgerissene Mundwinkel bei den Frauen. Verschorfte Geschwüre. Aufgekratzte Haut. Und nicht nur Syriakins Züge waren erhärtet. Er sah ähnliche Linien in den Gesichtern der anderen. Sah den harten Glanz in Ylaiys Karamellaugen, die ersten Anzeichen von Verächtlichkeit um Adivs Lippen, erkalteten Schrecken auf Akims Stirn.
Er fragte sich, wie er selbst aussah.
„Wenn ich richtig liege, dann ist das der Tunnel, den wir gegangen sind. Hier, der lange blaue Strich. Die Tür, vor der wir stehen, ist eingezeichnet.“
„Lasst sie uns aufbrechen“, schlug Jonoy vor.
„Nein, nein, nein. Schaut euch den Irrgarten an. Die großen, schwarzen Flächen, die alles Mögliche bedeuten könnten. Brunnen, Löcher, Seen, was weiß ich.“
„Das Gelände links davon sieht nicht viel besser aus“, brummte die Kriegerin.
„Ja, aber die blaue Linie führt dort entlang, nicht rechts durch diese Tür hier. Und da wir nicht durch einen Fluss waten, bedeutet blau wohl nicht Wasser, sondern bezeichnet den Weg, den man beschreiten muss.“
„Vermutet Ihr“, gab Syriakin zurück.
„Vermute ich“, räumte der Prinz ein. „Eine Sicherheit gibt es nicht.“
Sie dachte nach, schien alle Möglichkeiten abzuwägen, doch genauso gut hätte sie eine Münze werfen können. „Was sagen deine Sinne?“, wandte sie sich an Akim.
„Meine Augen sehen Dunkelheit. Meine Nase steckt voller Spinnenschleim. Meine Ohren hören, wie der Felsen arbeitet, wie er vom Feuer ausgehöhlt, neu erschaffen wird. Sie hören außerdem ein Gurgeln und Rauschen, das ich für das Meer halte.“
„Du glaubst, wir haben die Küste erreicht?“
„Wir sind ihr zumindest nahe. Es sei denn, es gibt ein anderes Gewässer unter der Erde.“
„Was sagen deine Instinkte?“, wandte sich Gillok an die Kriegerin.
„Sind im Spinnenmeer ertrunken“, grummelte Syriakin mit ungewohnter Offenheit. „Und deine?“
„Den Gang weiter. Ylaiys Erklärung klang einleuchtend.“
Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie nickte. „Dein sechster Sinn ist so gut wie meiner.“ Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als hinter der Tür ein Poltern einsetzte, das alle zusammenfahren und zu den Waffen greifen ließ.
Syriakin schob die anderen mit ausgebreiteten Armen an die gegenüberliegende Wand und sah sich nach Akim um.
„Metallöl“, flüsterte dieser.
„Morrhim?“
Er nickte. Die Kriegerin zog zwei dünne Halme aus ihren Taschen, die Videm an die Kanülen erinnerte, die Ardanna benutzte, um Kranken schlechtes Blut aus den Venen zu saugen. Hohl und spitz zulaufend. Syriakin spähte in die Halme und pustete vorsichtig hinein. Winzige Wölkchen von der Farbe grünen Rotzes stiegen aus den Enden der Röhrchen auf und verströmten einen süßlichen Duft.
„Yulout“, flüsterte Gillok beinahe andächtig.
„Ein Gift, das schlagartig lähmt“, hauchte Adiv Ylaiy zu.
„Was? Woher…?“
„Meine Mutter kannte das auch. Eine Mischung aus dem Gift von Seeschlangen, Hadotis, und einer Quallenart, Brut, die für zwei Wochen im Jahr nur vor der Ostküste Kâneggs auftaucht. Meine Mutter sagte, es sei unmöglich, das Zeug in die Finger zu bekommen, koste ein Vermögen. Sie sprach davon mit Ehrfurcht.“
Indes war die Kriegerin an die eine Seite der Tür getreten und drückte sich dort an die Wand. Erneut sah sie Akim fragend an. Der hob stumm zwei Finger. Daraufhin winkte sie Gillok auf dieselbe wortlose Art zu sich.
Gleich darauf sprang die Pforte von innen auf.
Es war der kürzeste Kampf seit Beginn der Reise. Sobald die hässlichen Köpfe erschienen, bohrten Syriakin und Gillok die Nadeln in die Halsschlagadern. Die beiden Morrhim brachen tot zusammen, noch bevor sie die Kanülen wieder herausgezogen hatten.
Sie ließen sie liegen, nachdem sie die Tür zugedrückt hatten, und eilten weiter, den Stollen hinunter nach O’shu’o-gh.
„Warum erledigt Ihr nicht alle mit dem Zeug?“, hastete Adiv hinter der Kriegerin her, Videm dicht auf ihren Füßen.
„Du hast es selbst gesagt. Es ist so schwer zu beschaffen, dass ich nur eine winzige Menge davon besitze. Besaß. Außerdem würde es bei den nächsten Morrhim nicht mehr funktionieren. Sie lernen voneinander.“
„Aber die hier unten konnten nicht sehen, was da oben los war.“
Syriakin zuckte mit den Schultern. „Auf dieser Insel scheint vieles möglich. Die Morrhim scheinen wie ein Organismus zu arbeiten, den man körperlich teilen kann, der jedoch geistig weiter zusammen gehört.“
„Sie lesen die Gedanken ihrer Kameraden? Ich bitte Euch!“
„Hier scheint vieles möglich.“
„Jedenfalls“, keuchte Adiv, bemüht, mit der Kriegerin Schritt zu halten, „sah es sehr geschmeidig aus, wie Ihr die Kerle erledigt habt. Beinahe galant.“
Die Kriegerin machte auf dem Hacken halt. „Es gibt kein galantes Töten. Es bleibt ein schmutziges Geschäft.“
„Warum tust du es dann so oft?“
Videm begriff, dass die Frage keine zufällige gewesen war. Adiv hatte eine Falle gestellt und die Sumpffrau war hineingetappt.
Zu seinem grenzenlosen Schrecken zog Syriakin mit einer einzigen schnellen Bewegung ihr Messer aus der Tasche und schleuderte es vor Adivs Stiefelspitzen in den Boden. „Weil es manchmal eben sein muss.“
Die Männer waren hinter ihnen stehen geblieben, starr und atemlos.
„Syra“, beschwichtigte Gillok, doch sie ignorierte ihn und redete weiter auf Adiv ein. „Es gibt schlimme Dinge auf der Welt. Menschen ohne Gewissen. Ohne Skrupel. Nach meiner Erfahrung sind es gar nicht so wenige.“ Ihre Augen glichen Kieseln. „Ich habe genug erlebt, um mich nicht mehr um mein Gewissen zu scheren.“
„Das haben andere auch“, hielt Adiv dagegen.
„Sagt dein Kaa, du sollst das Schlechte hinnehmen? Alles? Den Schmerz hinunterschlucken? Immer und immer mehr davon? Wie viel? Bis man daran erstickt?“
„Syra.“ Gilloks Stimme klang mahnend und tadelnd zugleich. „Sie ist fast noch ein Kind.“
„Das war ich auch. Das wird sie nicht schützen.“
„Hör auf.“
Syriakins Kopf ruckte in seine Richtung. Ihre Augen verfingen sich, rangen miteinander. Gilloks Blick wurde flehend und die Wut verschwand von ihrem Antlitz, als hätte jemand sie weggewischt. Mit einem Achselzucken bückte sie sich nach dem Messer.
Ihre Stimme klang müde, als sie weiter sprach. „Mein Gewissen wird mir nicht helfen, meine Tochter zu retten, dein Gott wird mir nicht helfen, genauso wenig meine Angst. Mein Hass schon. Frag mich nie wieder. Wir alle sind, wie wir sind.“ Damit schob sie sich an Gillok vorbei.
Adiv sah aus, als hätte Syriakin ihr ins Gesicht gespuckt. Abwesend hob sie den Arm und fuhr sich über die Wangen. Gillok ergriff sie sacht an den Schultern, zog sie mit sich.
„Lass. Ich bin kein Kind mehr.“
„Nein“, erwiderte er. „Aber du bist noch nicht annähernd erwachsen genug, um Syra zu begreifen. Dafür fehlen auch mir noch einige Jahre.“ Er lachte bitter auf. „Ich bin nicht mal sicher, ob sie sich selbst immer versteht.“

Wie viele Stunden sie zurückgelegt hatten, wusste er nicht mehr. Sein Magen grummelte und er überlegte, wie lange ihre letzte Mahlzeit zurücklag. Er meinte, dass es das Bärenfleisch gewesen war, aber er hätte nicht darauf gewettet.
Sie hatten eine weitere Tür passiert, die ebenfalls zu ihrer Rechten in den Felsen geschlagen worden war. Wie aus der davor war ein Morrhim herausgestürmt. Syriakin schien das erwartet zu haben, denn sie stellte einfach ihr Bein vor die Schwelle. Der Soldat stolperte darüber, Gilloks Stoß in seinen Rücken besorgte den Rest. Der Diener des Blaukopfes taumelte gegen die gegenüberliegende Wand und ließ das Langschwert fallen, das Videm mit links ergriff und ihm ungelenk ins Genick stieß.
Nicht nur Adiv fragte sich, was Menschen wie Videm oder Syriakin dabei empfanden. Auch Ylaiy verstörte ihre Bereitschaft, zu töten, wenngleich er sich eingestand, dass er erleichtert war, dass sie ihm diese Aufgabe abnahmen.
Er dachte an Urdat Vei und die kaiserlichen Truppen, an seine Tante, die versprochen hatte, die Flotte hinterherzuschicken. Würden sie die Insel finden? Denselben Strand ansteuern? Denselben Weg gehen? Rechtzeitig ankommen? Waren sie überhaupt losgesegelt? War Vei, war seiner Mutter die Angelegenheit wichtig genug? Während ein Krieg ausgebrochen war auf Kânegg? Diplomatische Verstrickungen in Staleph ausgefochten werden mussten, die Beziehungen zu Kaadaa sichergestellt? Was waren vier Kinder wert, wenn es zur gleichen Zeit hunderte andere Dinge zu regeln galt?
Nicht viel, gestand er sich ein. Noch weniger, wäre der Kaiserneffe nicht zufällig eins der Opfer.
Also kämpften sie. Töteten. Was sollten sie sonst tun?
Die nächste Pforte unterschied sich von den schmucklosen Steintüren. Ein Tor erwartete sie. Mit zwei Flügeln, die so eng in den Tunnel eingepasst waren, dass kein Finger mehr zwischen sie und die Wände passte. So genau gearbeitet, dass selbst zwischen Tür und Boden kein Platz mehr war, nicht einmal für das Ledertuch, das Adiv auf die Erde legte und gegen den metallbeschlagenen Rand schob.
„Aussichtslos“, sagte sie und rappelte sich hoch.
Die Kriegerin glitt neben ihr zu Boden und stocherte mit ihrem Messer an dem Portal herum. Adiv verdrehte die Augen, als Syriakin sich mit frustrierter Miene erhob.
„Was nun?“, fragte Videm, dessen Stimme erfrischter klang. Allerdings hielt er sich immer noch die verzerrte Schulter.
„Heilt sie?“, erkundigte Ylaiy sich.
„Nicht so schnell, wie ich wünschte. Doch Gillok gab mir vorhin ein Kraut. Das wirkt betäubend.“
„Ach?“ Überrascht sah Ylaiy den Sumpfmann an.
„Schmerzstillend“, erklärte dieser. „Syra und ich zögerten, es ihm zu geben, weil es das Bewusstsein trüben kann, aber angesichts der Schmerzen schien das das geringere Übel.“
„Was nun?“, wiederholte Videm.
„Das ist auf jeden Fall die Tür“, behauptete Ylaiy. „Der Eingang zum Herz der Festung.“
„Sie hat keinen Riegel, den wir aufstemmen können“, sagte Jonoy stirnrunzelnd.
„Warten wir doch einfach, bis die Morrhim sie für uns öffnen“, entgegnete Adiv. „Wie vorhin.“
„Etwas sagt mir, dass dahinter mehr als ein oder zwei von ihnen lauern“, wandte Syriakin ein.
„Warum?“
„Andere Tür. Prachtvoll.“
„Ich höre nichts“, meinte Akim. „Nur Wasser und Feuer. Aber ich spüre etwas.“ Er streckte die Arme aus. Auf den Mantelärmeln tanzten winzige, bläuliche Flammen, kleiner als die Halbmonde auf seinen Fingernägeln.
Die Arme der anderen ruckten im gleichen Augenblick nach vorn. Die Flämmchen flirrten auch auf ihnen.
„Sie scheinen an mir zu ziehen. Und gleichzeitig zu stoßen. Es kribbelt ganz leicht“, sprach Ylaiy aus, was alle empfanden.
Die Kriegerin bückte sich und zog erneut ihr Messer. Mit einem Blick auf Adiv legte sie es auf den Boden, ließ es los. Es zuckte, bis es sich von der Stelle löste und auf die Tür zu rutschte.
Davanas!“, brachte Gillok heraus.
Pava-d’y-gorh“, bestätigte seine Stammesschwester.
„Magnetismus? Meint Ihr wirklich?“ Der Prinz schritt zum Tor, besah sich das Messer.
„Erklärung“, seufzte Adiv.
„Anziehung und Abstoßung“, erläuterte Gillok. „Die Alten Völker glauben, dass Ringe um die Inseln laufen, eine Art unsichtbares Kraftfeld schaffen. An bestimmten Punkten laufen sie zusammen. Kraft - Energie - bündelt sich dort. Bei den Zauberern gelten sie als magisch. Als heilig.“
„Euer Volk hat Zauberer?“, stieß Adiv hervor.
„Wie jedes Volk“, gab die Sumpfjägerin zurück. „Denk an Chada. An deinen Vater.“
„Mein Vater war nur ein verrückter alter Mann.“
„Verrückt oder weise. Die Grenzen sind fließend.“
Gillok wiegte den Kopf. „Viele von uns denken, dass es sich bei Zauberern einfach um ungewöhnlich kluge und aufgeschlossene Menschen handelt. Menschen, die genau beobachten. Die sich in ihre Umwelt einpassen, versuchen, sie zu verstehen, sich auf sie einzulassen.“
„Wie die Kinder“, murmelte Adiv.
„Ja. Jedenfalls gibt es bei uns den alten Glauben, dass einige Zauberer besondere Fähigkeiten haben, zum Beispiel die, Magnetlinien zu spüren. Angeblich können sie ihnen folgen, um die magischen Punkte zu erreichen.“
„Um dort was zu tun?“
„Man munkelt von Hexerei. Dunkler Magie. Ich kenne, ehrlich gesagt, niemanden, der einen solchen Punkt jemals gespürt hätte oder jemanden kannte, der das vermochte. Es ist ein Glauben, weiter nichts.“
„Aber nun denkt Ihr, wir stehen auf einem der magischen Punkte?“
„Ich glaube, die ganze Insel ist der Punkt.“
„Der Obelisk markiert ihn“, sagte Videm langsam. „Hinter diesem Tor. Dort, wo die Kraft am stärksten ist. Wo alle Macht sich aufbaut.“ Sein ungleichmäßiges Gesicht hatte etwas Entrücktes, Abgewandtes, so als spräche er nach innen. „Wo die Kinder sind. Finden wir den Obelisken, finden wir die Kinder. Ich bin sicher.“
„Aus dir spricht die Medizin“, murmelte Ylaiy.
„Ich bin sicher“, wiederholte Videm. „Alles hier fühlt sich richtig an.“
„Dann sollten wir zusehen, dass wir die Tür aufbekommen“, entgegnete Jonoy.
„Erinnere dich“, schlug Adiv sich vor den Kopf.
Während die anderen sich fragend ansahen, riss sie ihren Beutel vom Rücken und kippte ihn aus. Klappernd fiel der Inhalt auf die bröselige Erde. Ihre Hände schwebten über die einzelnen Gegenstände, griffen schließlich zu den seltsamen Schlüsseln und dem Greifwerkzeug. „Das Tor hat keinen Riegel. Doch schaut her“, nuschelte sie, die Pinzette zwischen die Lippen geklemmt, ungeschickt mit dem Schlüsselbund hantierend. „Seht ihr das Löchlein hier?“
„Ein Schlüsselloch“, meinte Ylaiy unbeeindruckt.
„Genau“, ächzte Adiv und kroch auf Knien zur Tür. Wenn sie die Hände ausstreckte, tanzten bläuliche Funken auf ihren Fingerspitzen. „Zu jedem Loch gibt es einen passenden Schlüssel. Hier kommen die Diebe ins Spiel. Meine Mutter sagte stets, kein Schlüssel sei einzigartig. Es gäbe immer welche, die auch in andere Schlösser passen. Die meisten ruckeln und wackeln sowieso und mit ein wenig Geschick und dem richtigen Werkzeug kriegt man alle Türen auf.“
„Das sieht nicht besonders geschickt aus“, wandte Syriakin ein.
„Ha! Ich war vier oder fünf, als sie mich zum letzten Mal mitnahm, um mir zu zeigen, wie man eine verschlossene Tür öffnet. Meine Hände sind zerschnitten. Zittern. Blitze schießen aus meinen Fingern, ich habe Hunger und Durst und muss seit Stunden pinkeln. Es ist zu dunkel, um die eigene Hand vor Augen zu sehen. Nebenbei versuche ich, nicht vor Angst die Nerven zu verlieren. Also entschuldige bitte, dass ich ein wenig ungelenk wirke.“ Adiv schoss der Sumpffrau einen wütenden Blick zu.
„Wir schließen unsere Türen nicht ab“, sagte Gillok.
„Tatsächlich?“, entgegnete Ylaiy erstaunt. „Aber dann kann ja jeder herein.“
„Warum auch nicht?“
„Wir besitzen nicht einmal Türen“, warf Akim ein. „Wir hängen einen Vorhang aus Tuch oder geflochtenem Stroh vor, mehr braucht es nicht.“
„In der Boragha gibt es überall Türen“, erläuterte Adiv. Sie fummelte mit einem Schlüssel, der offenbar die richtige Größe und Breite hatte, und der Pinzette im Schloss herum, spürte nach Widerständen und der Art des Mechanismus, bohrte, schob, hob und drehte, bis ein Knirschen alle zusammenzucken ließ.


Diesmal waren sie zu sechst. Und falls Syriakin recht hatte und sie sich mental miteinander verständigten, sodass sie auf gleiche Angriffe blitzschnell reagieren konnten, gingen ihnen langsam die Ideen aus. Seinen Gedanken schienen die Gefährten zu teilen, denn er sah dieselbe Mischung aus Entsetzen und panischem Nachdenken hinter ihren Stirnen.
Wie immer war die Kriegerin die Gelassenste, doch auch ihre Augen wanderten im Kreis, musterten Boden, Decke, Wände, die Körper aller Anwesenden, um die blaue Flämmchen zuckten. Die Zeitspanne zwischen dem Entschluss, den sie beim Eintreten fasste, und dem Befehl, den sie so harsch bellte, dass alle ohne nachzudenken gehorchten, war kürzer als ein Fingerschnippen.
„Hebt eure Waffen! Lasst sie los!“
Zwei Messer, ein Dolch und vier Schwerter standen einen irrwitzigen Augenblick vor ihnen in der Luft, richteten ihre Spitzen nach vorn aus und schossen wie von einer riesigen Armbrust gespannt auf die Morrhim zu. Syriakins Messer prallte auf den Schild eines Soldaten, blieb daran kleben, das andere aber suchte sich seinen Weg in die weiche Stelle zwischen Schlüsselbein und Hals, die von der Rüstung nicht bedeckt wurde.
Einer weniger.
Gilloks Krummdolch eignete sich nicht als Wurfgeschoss. Er schlingerte auf den Gegner zu, klatschte mit der Breitseite an den Metallbauch des Soldaten. Auch das Schwert war schwer und schwunglos, indes einmal in Fahrt gekommen, erreichte es eine beachtliche Wucht. Es fuhr mitten in das Gesicht des Morrhim, drückte den Helm in Nase und Wangen und schickte seinen Träger benommen zu Boden.
Adivs Schwert zerschmetterte den Arm des dritten Morrhim, fügte eine Wunde zu, die weithin spritzte. Adiv zuckte vor den Blutstropfen und Knochensplittern zurück, stieß einen spitzen Schrei aus, doch ihre Hände hielten bereits den massiven Schlüsselbund und die Pinzette in die Höhe, schleuderten sie hinterher. Wie ein Dorn bohrte sich die Pinzette in den offenen Mund des Soldaten, blieb in der Innenseite des Halses stecken. Fieberhaft grapschte die unversehrte Hand des Morrhim nach dem Eisendorn in seinem Rachen. Als sie ihn gefunden hatte, traf der Schlüsselring auf die Knöchel. Das Röcheln war leise, beinahe unhörbar, erstickte in dem Blutbach, der die Luftröhre hinunterlief.
Zwei weniger.
Ylaiy hatte erschreckt das Schwert vor die Nase gerissen und losgelassen. Er war überrascht, dass es sich tatsächlich an den Energiebahnen ausrichtete. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er die elegante Flugbahn des Geschosses. Als die Waffe kurz oberhalb des Haaransatzes gegen den Helm prallte und der Morrhim zwei Schritte nach hinten taumelte, hätte er beinahe geklatscht. Dass der Morrhim sich schnell wieder fing und mit gesenktem Kopf auf ihn zu stapfte, realisierte er erst wertvolle Sekunden später. Glücklicherweise bohrte sich Akims steinerne Speerspitze in den Kehlkopf.
Drei weniger.
Videms Schwert erwies sich als zuverlässig und das, obwohl er es mit links gehalten hatte. Es sauste los, beschleunigte, fiel leicht, beschleunigte stärker, hieb in das Soldatenauge und tötete auf der Stelle. Das Visier des Getroffenen war nicht hochgeklappt gewesen wie die der anderen. Manchmal lohnte es sich nicht, der Außenseiter zu sein.
Noch zwei. Einer davon angeschlagen.
Videm drehte sich zur Kriegerin. Wie er vermutet hatte, hielt sie den Bogen in der Hand, ließ den Pfeil von der Sehne springen. Der Soldat, der mit eingedelltem Helm von den Füßen gerissen worden war, hatte es fast wieder auf die Beine geschafft. Als der Pfeil sich in seine Kehle bohrte, gab er einen Ton von sich, das erste Wort, das sie überhaupt von den Kämpfern vernahmen. „Aha.“ Damit kippte er um.
Fünf weniger.
Sieben gegen einen. Nicht besonders ehrenhaft.
Videm bewegte den Kopf, spürte den Kragen, der am Hals scheuerte, seit Gillok die Knöpfe geöffnet und Kleiderschichten beiseitegeschoben hatte. Er hatte sie nach der Prozedur wieder geordnet, doch seither schabte der Stoff auf der Haut. Videms helle Augen richteten sich auf den Morrhim, der seinen gefallenen Kameraden keinen Blick schenkte, stattdessen auf sie zu stiefelte, das Schwert in der Hand, als wäre es ein Spielzeug, den Schild an der Seite.
Der Prant überlegte. Nicht fieberhaft oder angestrengt, sondern mit wachem, klarem Verstand. So musste sich die Kriegerin während eines Kampfes fühlen. Überlegen, auf die eigene Stärke und Geschicklichkeit vertrauend.
Sie konnten nur wenig zurückweichen, bevor der Gang sich verengte und sie zu Zweierreihen zwang. Was hätte das auch für einen Sinn? Hinter dem Tor erstreckten sich meilenweite Schläuche, Tunnel, Stollen. Angreifen war die bessere Lösung, doch auf frontale Attacken war der Krieger vorbereitet. Zweifellos würden sie ihn überwältigen, doch wie viele Leben riskierten sie? Zumal ihre Klingen in den Toten steckten oder an ihnen klebten. Die Kriegerin besaß ihr verstecktes Arsenal an giftigen und spitzen Spielereien, aber wer wusste schon, wie viel davon übrig war, was noch taugte?
Sein Blick zuckte zu Jonoy, zu dem Stab. Wortlos streckte er den Arm aus, winkte mit den Fingern. Der verdutzte Schmied händigte ihm die Waffe aus. Videm wog sie in den Händen. Stabil. Sie würde nicht splittern.
„Rechts“, brüllte er und rannte los, ohne auf die anderen zu warten. Die Kriegerin schien verwirrt, doch ihr Kämpferverstand würde rasch hinter seinen Plan kommen.
Der Morrhim stellte sich ihm in den Weg, breitbeinig und mit gesenktem Eisenschädel. Er erkannte die stumpfen Augen hinter den Sehschlitzen, das entgeisterte Glitzern, als er nach rechts auswich, den Stab in den Boden rammte, die Hände um den Schaft legte und absprang. Der Morrhim konterte augenblicklich, packte den Stab und ließ gleichzeitig den Schild fallen, aber Videm wirbelte um den Stab herum an dem Krieger vorbei, landete in dessen Rücken.
Dann war Syriakin heran, die Giftnadeln in den Händen. Der Morrhim hatte bereits Videm nachgesetzt, doch sein Gehirn reagierte im Handumdrehen auf die von vorn kommende Gefahr. Geschwind neigte der metallbepackte Klotz den Oberkörper seitwärts zurück, sodass die Nadeln wirkungslos über den Panzer schabten.
Syriakin ließ sich fallen, gerade rechtzeitig, um der vorschnellenden Stirn zu entgehen. Die Hand des Kämpfers ließ den Stecken los und schloss sich wie eine Eisenklammer um ihren Bizeps.
Videm griff nach dem fallenden Stab, schmetterte ihn mit aller Wucht auf die Ellenbogenbeuge des Morrhim, der mit einem dumpfen Brummen seine Faust öffnete. Sofort tauchte die Kriegerin an Videms Seite, hieb noch im Liegen mit beiden Stiefelabsätzen gegen die Kniekehlen ihres Peinigers. Während sie zurückrutschte, blieb Videm stehen, wartete, dass der Soldat auf die Knie fiel. Der erste Stabhieb zwängte den Helm herunter, der zweite zerschmetterte den Hinterkopf.
Keiner mehr.
Dann kam der Schwindel. Das letzte, was er spürte, waren Gilloks Arme, die ihn auffingen.


Grüne Augen tanzten vor seinen, schoben sich zu einem zusammen, drifteten auseinander, wurden wässerig, nahmen schließlich Gestalt an.
Mit einem Ruck setzte er sich auf.
„Langsam“, beruhigte ihn der Sumpfmann.
„Wo sind die anderen?“
„Durchsuchen die Höhle. Grotte, Gewölbe, wie auch immer man das hier nennen mag.“ Gillok wich zur Seite und beschrieb mit den Armen einen großen Halbkreis.
„Ihr habt Feuer gemacht?“
„Wir haben Fackeln entdeckt. Wenigstens können wir nun die Architektur dieser unterirdischen Schönheit bewundern.“
„Na ja.“ Videm rieb sich die pochenden Schläfen.
„Ihr müsst zugeben, dass sie sich Mühe gegeben haben. Fackelkörbe an den Wänden. So etwas wie ein Mosaik auf dem Boden. Die Zeichnungen aus Ruß und Knochenstaub sind recht hübsch“, knurrte Gillok.
Videm legte sich die Hand auf die Stirn. „Was ist passiert?“
„Ihr wart ohnmächtig. Ich habe Schulter und Arm jetzt doch verbunden. Nehmt noch mehr von der Medizin.“
„Eure Freundin sagte, ich würde die Schmerzen aushalten können. Es tut mir leid.“
„Das werdet Ihr“, tätschelte Gillok sein Bein. „Das Mittel ist stark. Allerdings werdet Ihr mit links weiterkämpfen müssen.“

Jonoy musste nicht auf die Karte sehen, um sich an das Rechteck mit den sanften Rundungen zu erinnern, das am Ende des Ganges lag. In der Realität entpuppte es sich als eine ausgedehnte Höhle mit einer Decke, die sich wie ein schwarzes, durchlöchertes Bettlaken über sie spannte. An vielen Stellen sickerte weißes Licht hindurch, das Punkte auf die Wände streute. Er betrachtete die Lichtflecke, wunderte sich, woher sie kamen. War ein neuer Tag angebrochen? Schimmerte Sonnenlicht durch meterdicke Eisschichten bis hierher herunter?
An den Wänden entlang waren natürliche Vorsprünge zu Ringen ausgeklopft worden, in denen Fackeln aus Holz und getrockneten Knochen steckten. Das Holz musste Treibholz sein, oder es gab irgendwo versteckte Bäume. Die Knochen stammten wahrscheinlich von Walen oder Bären, doch er meinte, unter ihnen auch menschliche zu erkennen. Sein Verdacht erhärtete sich, als er Gilloks angeekelte Miene sah.
Vereinzelte Rußornamente und Aschezeichnungen zierten die nackten Felswände. Im Gestein konnte man gelbe Schwefelablagerungen ausmachen, pechschwarze Steinchen und rotbraun glänzende Schiefer. Wasser rann die Wände hinunter und über den Weg. Das beständige Tröpfeln ließ ihn an seine volle Blase denken.
Wenigstens empfand er die Luft als angenehmer. Sie war feuchter und kälter, roch nach Moos, mineralischen Ablagerungen und Salz.
In der Mitte der Höhle ruhte ein See, umrundet von dem Gang, auf dem sie gekommen waren. Der See wurde von dem Eiswasser genährt, das durch uralte Erdschichten sickerte und hier unten aufgefangen wurde. Ein Süßwassersee, so dunkel und glatt, dass der Schmied ihn zuerst für eine riesige Steinplatte gehalten hatte.
„Haltet euch von ihm fern“, empfahl Gillok. „Ich weiß nicht, wie viele Überraschungen ich noch verkrafte.“
Der Gang verlief jetzt in Biegungen. Links von ihnen gabelte er sich. Ein Seitenarm führte mitten in den Felsen. Jonoy trat an den Eingang und spähte hinein. „Er scheint leer“, rief er. „Sieht nach einem verlassenen Stollen aus.“
„Ist er für uns von Bedeutung?“, fragte Gillok.
„Augenblick“, sagte Ylaiy, in die Brusttasche greifend.
Adiv schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen auf dem Hauptweg bleiben und etwa zur Hälfte um den See laufen.“
Die anderen sahen sie verblüfft an.
„Dein Orientierungssinn ist wirklich gut.“ Ylaiy zog die Hand aus seinem Mantel.
„Bei den Spiralen, die wir gegangen sind, ist er ganz schön durcheinandergeraten.“
„Woher kennst du dann den Weg?“
„Syriakin meinte, es wäre schlau, wenn zwei sich die Karte einprägten.“
„Und?“
„Ich habe sie auswendig gelernt.“
„Wann?“ Er blinzelte heftig.
„Damals. Als Ihr sie ausgebreitet hattet.“
„Aber das dauerte nur Minuten.“
Adiv wechselte einen Blick mit Jonoy, bevor sie dem Prinzen auf den Arm klopfte. „Lasst gut sein, Hoheit. Mein Kopf ist auf Wege ausgelegt. Bei Zahlen und Buchstaben fängt er an zu rauchen. Das dürft Ihr weiterhin für Euch in Anspruch nehmen. – Und nun entschuldigt mich, ich habe ein dringendes Geschäft zu erledigen. Das Wasser an den Wänden…“
„Nicht allein“, hielt die Kriegerin sie zurück.
„Du verstehst nicht. Ich…“
„Seit Stunden, ich weiß. Aber du gehst nicht allein.“
Syriakin verschwand in dem Seitenarm, bevor Adiv weiter protestieren konnte. Missmutig starrte sie ihr hinterher.
„Geh ihr nach“, riet Gillok. „Sie wird nicht hinsehen.“
„Vielleicht nutzen auch die Männer die günstige Gelegenheit“, schlug Jonoy vor. „Wir sind seit Stunden unterwegs. Ich bin sicher, Adiv ist nicht die Einzige.“
„Ihr bleibt im Hauptgang“, befahl die junge Frau, raffte ihren Mantel um sich und lief der Kriegerin nach, die im Tunnelanfang auf sie wartete.
„Beeil dich“, sagte sie zu Adiv. „Indessen werde ich weiter vorn schauen, ob Gefahr droht.“


In Jonoys langem Leben hatte es mehrere peinliche Momente gegeben. Ein Stelldichein als Halbwüchsiger, das auf einem Ameisenhügel endete. Ein gehörnter Ehemann, der ihm fluchend nachsetzte. Ein Stückchen Glut, das ihm in den Hemdkragen gesprungen war und ihn hüpfend durch die Schmiede und anschließend über den Dorfplatz trieb. Ein lauter Rülpser während eines Familienmahls. Bis heute dachte er nicht gern an sie zurück, schämte sich für jeden einzelnen.
Mit offener Hose von einem Flattern aufgeschreckt zu werden und ungeachtet seiner Blöße herumzuschnellen, stellte jeden peinlichen Augenblick in den Schatten. Allen Schmiedefeuern sei Dank, dass er wenigstens sein Geschäft beendet hatte. Dass er die Hose schließen und nach dem Stab greifen konnte, bevor die Decke sich auf ihn senkte.


Befreit hatte Adiv sich aufgerichtet. Nun stand sie unentschlossen in der Mitte des engen Seitenarms. Die Kriegerin war außer Sichtweite, vermutlich um die Biegung verschwunden. Sollte sie ihr nachlaufen? Auf sie warten? Zu den Männern zurückkehren? Grübelnd rollte sie ihre Unterlippe zwischen den Zähnen, bis zwei Schreie ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen.
„Bur-an-gnea!“, hörte sie Ylaiys sich überschlagende Stimme aus der Höhle.
„Morrhim!“, erscholl Syriakins dunklere Tonart aus der anderen Richtung.
Bei Kaa!
Ihre leere Blase verkrampfte sich schmerzhaft. Panik schwebte heran; ein eisiger Windhauch, der ihre Muskeln mit Kälte überzog, ihren Willen lähmte.
Denk nach, befahl sie sich.
Fünf Männer. Eine Frau.
Ihre Beine setzten sich in Bewegung.
Der Boden wechselte die Beschaffenheit. Holprige Steinplatten lösten krümelige Erde ab, mit mehr als fingerbreiten Spalten dazwischen, aus denen Moos und dünnes Gras spross. Sie strauchelte über die Kanten, als sie bergauf durch den Arm sprintete.
Sie entdeckte den Morrhim, als sie schnaufend um die Biegung schoss. Seine Rüstung glänzte in der Düsternis. Er war allein.


Jonoy starrte in die Höhe. Das Wesen wirkte noch riesiger als das erste. Es hatte die Schwingen entrollt, schwebte lautlos von der Decke herab. Die Flügel verdeckten das Licht, das durch die Löcher sickerte. Jonoy gelang es nicht, die Beine zu bewegen. Angst tränkte Körper und Geist.
Das Biest war hässlich wie die Nacht. Allein die Größe war atemberaubend, ebenso die gespenstische Geräuschlosigkeit, mit der es sank. Wie ein Mensch, der die Arme ausgebreitet hatte. Nur, dass diese Arme in überlange Finger ausliefen, an deren Enden sich Haut aufspannte, die bis unter die Hüften reichte.
Als der Bur-an-gnea bemerkte, dass er entdeckt worden war, stieß er ein Fauchen aus. Es erfüllte die Luft, hallte von den Steinwänden wider, erhob sich wie eine gewaltige Glocke über dem See. Winzige Wellen kräuselten sich auf dessen Oberfläche, liefen wie auf einer Töpferscheibe kreisförmig nach außen.
Sterbliche! Ihr habt meinen Bruder getötet!
Jonoy war sich sicher, dass der gekrümmte Schnabel sich nicht bewegt hatte. Dennoch hörte er die Worte in seinem Schädel. Deutlich. Klar. Überlagert nur von dem Fauchen, das unerträglich laut war, selbst für seine von Hammer und Amboss geschädigten Trommelfelle. So laut, dass er die Mundwinkel nach oben zog. So laut, dass Akim die Hände vor die Ohren riss und sich zu Boden warf, hohe, wimmernde Töne von sich gebend. So laut, dass Gillok die Beine fest in die Erde stemmte und Ylaiy gegen die Felswand taumelte. So laut, dass Videm aussah, als platze sein Kopf wie eine überreife Frucht.
„Ihr habt seinen Bruder zuerst genommen!“, brüllte er dem Untier entgegen. Sein Arm wies auf den Jungen, der sich auf dem Boden wand.
Er gehört zu uns!
Gillok torkelte neben Ylaiy an die Wand. Videms Hand krampfte sich um eine Fackelhalterung.
„Er gehört zu seiner Familie! Ihr hattet kein Recht!“, hieb Jonoy mit dem Stab auf die Erde.
Plötzlich war alle Furcht verflogen. In ihm loderte nur noch der Zorn. Er hatte es satt, Angst zu haben und zu kämpfen, er war es leid, bösen Geschöpfen nachzujagen und von wirren Träumen geplagt zu werden. Er war alt und wollte nach Hause. Er war erschöpft und verlangte nach Ruhe. Er war erbost über das Unrecht dieser Welt.
Er gehört uns! Uns ganz allein!
Das Fauchen nahm an den Ecken einen grauenhaft kreischenden Ton an, der ihm die Tränen in die Augen trieb und Akim zerfetzte Schreie ausstoßen ließ.
„Warum? Wer seid ihr?“
Drahóóóór!
Über Akims Finger lief Blut. Sein Gesicht nahm die Farbe von Asche an.
Die letzten Überlebenden. Das auserwählte Volk.
„Auserwählt? Das behaupten alle Spinner!“
Hüte deine Zunge, Sterblicher!
„Auch ihr seid vergänglich. Und Eure Krieger sind dumm wie Holzpuppen!“
Morrhim. Arbeitervolk. B’shua. Sie sind nicht die Herren. Die Drahór sind es.
„Jonoyyy“, heulte Ylaiy. Das Fauchen zerrte seine Gesichtshaut nach hinten, ließ Nase und Wangen spitz hervortreten.
Der Schmied blieb unbeirrt. „Zwei Völker also. Herren und Diener. Was seid ihr? Die Bur-an-gnea? Sklaven der Zauberer?“
Auserwählte. Auserwählt, ihn zu retten!
„Wen? Euern Anführer? Wer ist das? Wer ist der Mann, der sich für gottgesandt hält? Oder gar für einen Gott? Den dennoch niemand kennt?“
Norogdún. Der Letztgeborene. Der Herr, der Herr. Der Meister. Er wird gerettet werden. Die Kinder retten ihn. Sie sind seine Zukunft. Sie gehören uns.
Die Flügel begannen zu schlagen, sacht zunächst, dann heftiger und schneller. Der See verwandelte sich in einen Kessel brodelnden Wassers. Wellen schwappten an den Rand, über den Weg. Der Wind, den der Vogel entfachte, brachte die Fackeln zum Flackern, sein Fauchen ließ die Männer im Halbkreis torkeln wie Betrunkene. Akim zuckte in Krämpfen, trat um sich, die Arme um sein Haupt geschlungen. Zum ersten Mal in seinem Leben pries Jonoy sein nachlassendes Hörvermögen. In seinem Kopf schwamm alles, aber sein Verstand war klar. „Sie gehören zu ihren Familien. Nicht zu größenwahnsinnigen Räubern und Mördern.“
Woher die Kraft und Bestimmtheit in seiner Stimme kam, wusste er nicht. Seine Knie puckerten, die verrutschte Hüfte pochte, der Schädel hämmerte, doch der Zorn hielt ihn aufrecht.
Dann hol sie dir, Sterblicher.
„Selber sterblich“, sagte er. „Denk an deinen Bruder.“
Der Bur-an-gnea schoss auf ihn zu, mit den Schwingen den kochenden See berührend. Eine Wasserwand stob auf. Jonoy wich nicht zurück. Er hob den Stab und schloss die Augen. Tropfen sprühten in sein Gesicht. Sie rochen nach Mineralien und kühlten seine erhitzten Wangen.
Er leckte sich die Lippen und grinste. „Mehr hast du nicht zu bieten? Dein Bruder war besser.“ Mit diesen Worten hieb er den Stab auf einen Flügel.


Die Diebestochter kam so schnell zum Stehen, dass sie nach vorn stolperte und der Länge nach über die Stufen schlug. Keuchend sog sie die Luft ein, als die Steinplatten über ihre Knie schürften, doch der erwartete Schmerz blieb aus. Sie rappelte sich hoch, tastete über ihre Hose. Das pelzgefütterte Beinkleid, ein Geschenk der Drana’sora, war zerfetzt. Darunter trug sie eine zweite Hose. Das weiche Leder fühlte sich aufgeraut an, aber es war nicht zerrissen. „Danke, Mutter“, murmelte sie.
Die Erleichterung wich frischer Panik, als sie den Morrhim auf sich zuschreiten sah. Seine metallbeschlagenen Stiefel schlugen hart auf die Steinstufen.
„Syra?“, piepste sie mit vor Angst geschwollener Kehle.
„Hinter dir.“
Adiv zwang sich, nicht herumzufahren. „Was hast du vor?“, flüsterte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
„Etwas Neues.“ Syriakin stand so nah, dass ihr Atem Adivs Nacken kitzelte.
„Was?“
„Weglaufen.“ Damit griff sie nach Adivs Arm, wirbelte sie herum, gab ihr einen Stoß und schubste sie zurück in den Seitenarm. „Davanas! Zu den anderen!“
Adiv hetzte los wie von Dämonen gejagt. Dicht an ihr klebte die Kriegerin, die ihr Tempo drosselte, um nicht über sie zu straucheln. Adiv flog über die unebenen Platten, rannte und rannte, schneller noch als über die Ebene. Schneller als in den Stollen der Boragha, in denen sie vor Jorgen geflohen war. Allerdings war Jorgen nur ein Mensch gewesen.
„Ich war bereits am Ende des Ganges“, berichtete die Sumpffrau. Adivs Antwort war ein keuchendes Grunzen. Ihr war schleierhaft, woher Syriakin noch die Luft zum Reden nahm. „Lief dicht an der Wand entlang. Dann bist du an mir vorbeigerannt. Ich habe versucht, dich am Ärmel zurückzuhalten, aber du hast mich nicht bemerkt.“
„Schullige“, stieß Adiv mit dem nächsten Atemzug aus.
„Schneller. Er holt auf.“
„Kannich.“
„Du kannst.“
Adiv fühlte breiigen Speichel im Mund. Ihre eigenen Schritte dröhnten hinter ihren Schläfen, vermischten sich mit ihrem hämmernden Herzschlag.
Die Sumpffrau lief mit langen Schritten hinter ihr, schob sie bisweilen mit der Hand an. Ständig drehte sie sich nach dem Verfolger um, der unbeirrbar einen Fuß vor den anderen setzte. Fast schien es, als atme er nicht einmal. Er sah aus wie ein eisenbeschlagenes Möbelstück und bewegte sich mit der Anmut eines Sumpfleguans, doch er war schnell.
„Adiv.“
Die Antwort war ein gegurgeltes Stöhnen.
„Ich tue das ungern.“
Syriakins Stoß warf sie vorwärts, sodass ihr Oberkörper ihre Beine überholte. Einen furchtbaren Augenblick lang verharrte sie in der Luft. Genug Zeit, um zu begreifen, dass sie mitten aus dem Spurt heraus nach vorn, auf ihre wunden Handflächen, hinschlagen würde. Instinktiv streckte sie die Arme aus, betete, dass die Hosen ihrer Mutter einem weiteren Sturz gewachsen sein würden. In derselben Sekunde fühlte sie, wie ihr Kinn auf der Erde aufprallte, Handflächen, Unterarme und Knie über den Boden schleiften.
Erde. Kaa sei Dank.
Sie zog den Kopf zwischen die Arme, als Syriakin über sie hinweg fegte, hielt den Atem an, als der Morrhim gleich darauf über sie donnerte. Die Metallstiefel stiebten ihr Krümel in Mund und Augen und hieben in ihre Seiten.
Mühsam hob sie den Kopf, spuckte Erde aus, hoffte, dass es keine feuchte war, belächelte sich dann selbst. An ihrem Urin starb sie nicht.
Die Kriegerin war nur wenige Schritte weiter gerannt. Jetzt sprang sie aus vollem Lauf schräg gegen die Wand und lief, allen Gesetzen der Schwerkraft trotzend, an ihr entlang an dem Morrhim vorbei. Mit der Schulter voran warf sie sich in den Rücken des überrumpelten Soldaten, schob, schubste und stieß ihn durch den Eingang des Seitenarmes zurück in die Höhle.


Silber.
Jonoy sprang beiseite, noch bevor das Gesehene eine Bedeutung ergab. Dann materialisierte sich eine Gestalt aus dem Dunkel und er erkannte einen Morrhim, der in die Höhle taumelte.
Er wich zurück, vor dem Morrhim genauso wie vor dem Bur-an-gnea, dessen Flügel von dem Stockschlag keinen Schaden genommen hatte. Immerhin war es ihm gelungen, das Tier ein winziges Stück aus der Bahn zu stoßen. Gereizt fauchte es, was Akim zu neuen Schreien veranlasste.
Ylaiy wurde von dem Getöse herumgerissen, stolperte dem Morrhim hinterher. Der versuchte, dem Flügelwesen auszuweichen, das mit hoher Geschwindigkeit auf Jonoy zusegelte, während das Fauchen zu einem Kreischen anstieg.
Das Flügeltier schlug mit den Schwingen, rückwärts diesmal, doch die eigene Trägheit überrumpelte es. Ungebremst rauschte es dem Morrhim entgegen, der mit erhobenem Schild und gerecktem Schwert durch die Grotte torkelte, durch Syriakins Stöße in unberechenbare Bahnen gezwungen.
Der Prinz, ertaubt aus dem Gleichgewicht gebracht, schwankte gegen den Morrhim und stürzte zu Boden, Sekundenbruchteile, bevor die beiden Monstren zusammenprallten. Das Langschwert des B’shua fuhr bis zum Heft in den Unterleib des Vogels. Dessen Klauen trafen auf den Schild, schleiften den Morrhim bis zum Rand des Sees, von wo aus er ins Wasser trudelte. Er sank wie ein Stein.
Das Kreischen wurde unbeschreiblich. Akim rollte wimmernd durch die Blutlachen unter seinem Kopf. Ylaiy lag ebenfalls auf der Erde, atmete schwer, kämpfte gegen das Stechen in Ohren und Eingeweiden an. Keuchend war Gillok an der Wand in die Knie gegangen. Ein totenblasser Videm lehnte neben ihm, hielt sich an der Fackel fest, als wäre sie eine Rettungsleine. Syriakin, die den Männern zu Hilfe eilen wollte, wurde von dem infernalischen Lärm umgerissen, als hätte ihr jemand einen Stock zwischen die Beine geworfen.
Jonoy war der Einzige, der das Kreischen verstand.
Derletztederletztederletzte.
Er behielt den Vogel im Auge, schleppte sich zu Gillok und Videm, bückte sich nach seinem weggeschleuderten Stab und riss die Fackel aus Videms Hand. Dann näherte er sich dem Biest, das durch den Raum tobte, das Schwert im Unterleib, eine Kralle gesplittert.
Derletztederletztederletzte. Der Letzte seiner Art.
Je näher Jonoy dem Tier kam, desto lauter wurde das Gebrüll in seinem Kopf. Die Bestie bemerkte ihn, wandte ihm den unansehnlichen Schädel zu und begann, mit dem Schnabel Hiebe auszuteilen.


Benommen lag Ylaiy am Boden, realisierte nur bruchstückhaft, dass er sich in Gefahr befand. Mühsam brachte er sich in eine knieende Position.
„Hilf mir“, drangen die Worte des Schmieds wie zähes Harz in sein Bewusstsein. Er kippte zur Seite, schwang die Klinge. Ohne Kraft, ohne Ziel. Schwenkte sie hin und her, versuchte halbherzige Ausfälle nach vorn. Ein Streicheln, mehr nicht. Falls er überhaupt traf.
Der erste Brocken hatte die Größe einer Faust, landete am Bauch des Bur-an-gnea. Ein zweiter folgte, schwerer, scharfkantiger. Traf höher, immer noch nicht hart, immer noch ungefährlich. Der dritte war klein, wenig mehr als ein Kiesel. Er traf das Tier über dem Schwertknauf.
Verärgert fauchend glotzte der Vogel zur Seite. Dort, am Eingang des Seitenarmes, kauerte Adiv, halb im Dunkel verborgen. Auf ihrem Arm stapelten sich Geröllstücke, Felsbrocken und Mineralienklumpen.
Schlagartig setzte Ylaiys Verstand ein. „Adiv! Der Schwefel. Er brennt!“
Adiv hielt mit dem Werfen inne, blickte auf den gelben Brocken auf ihrem Arm. Ein verbissener Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Sie ließ die anderen Steine fallen, wog den Schwefelklumpen kurz in der Hand. Hob den Arm weit hinter den Kopf, nahm Maß und warf. Der Klumpen schoss heran, traf auf den Metallknauf des Schwertes und zerbrach in mehrere Stücke. Leuchtendgelber Staub rieselte auf Ylaiys Haupt. Ächzend wand er sich auf dem Boden rückwärts, beobachtete, wie das Pulver sich auf dem Vogelleib verteilte.
„Jonoy“, hustete er. „Steckt es in Brand!“
Neiiiiiiiiiiin, kreischte das Tier, als Jonoy herum schwang und die brennende Fackel schleuderte. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde sie im Flug erlöschen, doch dann entzündeten die Feuerspitzen das gelbe Sediment.
Es gab ein gewaltiges Zischen, als der Bur-an-gnea in Feuer aufging. Blaue Stichflammen zuckten auf, mischten sich mit den Energieblitzen.
Der Vogel entließ noch einen einzigen, langen Schrei, holte mit den Flügeln zu einem letzten Schlag aus. Die Schwinge erfasste Jonoy und Ylaiy, warf sie meterweit in den Gang hinein. Hastig kamen sie auf die Beine, flohen vor dem Untier, das, nun selbst wie eine Fackel flackernd, hinter ihnen her flatterte, dieweil es auseinanderfiel.
Stinkender Rauch stieg von ihm auf, Löcher erschienen auf seinem Leib. Das Schwert löste sich und klapperte zu Boden, als die Haut zu Schleim zerfloss. Knochen wurden sichtbar, knackten, als das Feuer ihnen das Mark entzog, die kleineren verdampfte, die größeren verbog. Körperfett entzündete sich und schmolz.
Die Schuppen leisteten länger Widerstand, ebenso die verhornten Teile: Schnabel, Krallen, Flügelenden. Doch auch sie wurden zu Asche und Wachs, bis schließlich die Überreste des letzten Bur-an-gnea in sich zusammenfielen.

Sie flüchteten viele Meter, an zwei im Gestein verborgenen Türen und einem Seitenarm vorbei, um den See herum, der wieder unbeweglich da lag.
Als wäre nichts geschehen, dachte Ylaiy.
Er erschrak, als sich links von ihnen ein dumpfes Geheul erhob, tief und sonor, bis in die Fingerspitzen fühlbar.
Es schien direkt aus dem Felsen zu kommen. Staub rieselte von der Decke. Jonoy wich nach hinten, zog Ylaiy mit sich, als kleinere Steine auf sie prasselten. Kroch mit ihm unter einen Vorsprung, als dicke Brocken herunter krachten. Tastete sich in den winzigen, kurvenreichen Gang hinein, als sich mannshohe Trümmer neben ihnen in den Boden bohrten. Wagte einen Blick zurück auf den Hauptgang, nachdem das Heulen und Poltern verstummt war.
„Versperrt“, sagte er dumpf.
„Was?“
„Der Hauptgang. Versperrt. Der Vogel liegt zerquetscht unter dem Schuttberg. Immerhin die Sorge sind wir los.“
„Kommen wir durch? Zu den anderen?“
„Bezweifle ich. Da stapeln sich riesige Brocken.“
Ylaiy schloss die Augen. „Etwas ist erwacht.“
„Wir haben sie hingerichtet“, murmelte Jonoy. „Den letzten Morrhim. Vielleicht auch den letzten Bur-an-gnea.“
„Bei irgendjemandem haben wir uns unbeliebt gemacht.“
„Beim Norogdún. Dem Herrscher. Dem Blaukopf. Er ist es, der sein Maul aufreißt. Dem Geheul nach zu urteilen, schnaubt er vor Wut.“
„Was nun?“
„Wir gehen weiter“, entschied der Schmied nach kurzem Schweigen.
„Was ist mit den anderen?“
„Die Aufgabe muss erfüllt werden. Um jeden Preis. Sie verstehen es. Würden dasselbe tun.“
„Meint Ihr, sie leben noch?“ Die Augen des Prinzen glänzten wie Karamell. Goldpünktchen tanzten in ihnen. Fingen an zu schwimmen, als Tränen der Bestürzung sie überspülten.


Gillok kam als Erster zu sich. Er nahm die Hände von den Ohren, versuchte, das Trillern aus dem Kopf zu schütteln. Es ebbte ab, wurde erträglicher; dennoch sollte es noch Stunden dauern, bis alle Nebengeräusche abgeklungen waren.
Er sah sich um.
Adiv war am Eingang des Seitenarmes zur Erde gerutscht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ihre Augen waren geschlossen.
Videm lehnte mit zitternden Beinen an der Wand. Hin und wieder gab ein Muskel nach. An seiner Schläfe blühte ein Bluterguss, den er sich anscheinend selbst beigebracht hatte.
Akim und Syra lagen auf dem Boden, die Hände in die Köpfe gekrallt. Akim zuckte in Krämpfen. Syra hatte bereits ein Bein aufgestellt. Noch knickten ihre Knie weg, doch sie würde allein zurechtkommen. Der Zustand des Jungen war ernster.
Gillok kroch an ihn heran, griff sacht nach seinen Armen, zog sie herunter. Was er sah, erschreckte ihn. Akims Haut schimmerte aschgrau. Dünne Blutrinnsale rannen aus den Ohren den Hals hinunter. Ausgerissene Haarbüschel klebten zwischen den Fingern. An Stirn und Nacken entdeckte Gillok die blutigen Striemen von Fingernägeln.
Behutsam hob er ein Lid an. Der Augapfel war nach oben gerollt.
„Adiv!“, rief er. „Ich brauche deine Hilfe.“
Mit halb geschlossenen Augen kam sie zu ihm gerobbt. Sacht schlug er ihr mit den Knöcheln gegen die Wangen.
„He“, protestierte sie, die Augen öffnend.
„Du musst mir mit Akim helfen.“
„Was ist mit ihm?“, fragte sie mit schwerer Zunge.
„Der Lärm hat einen Schock ausgelöst. Besorg Kleidung. Alles, was wir entbehren können. Fang mit Mänteln an. Beeil dich.“
„Hol Syriakins“, sagte Videm schleppend und löste sich von der Wand. „Ich kümmere mich um Gilloks und meinen. Außerdem habe ich das Fell.“
Adiv humpelte zur Kriegerin, half ihr beim Aufsitzen, zerrte den Mantel von ihren Schultern. Ob die Sumpffrau Adivs hastig hervorgestoßene Erklärungen verstand, war schwer zu sagen. Immerhin fügte sie sich und blieb sitzen, nachdem Adiv zu Gillok und Akim gewankt war.
„Wer hätte gedacht, dass das hässliche Ding uns so bald von Nutzen sein würde“, sagte die Diebestochter zu Videm, der das Eisbärenfell über den Fährtenleser stülpte.
Gillok stopfte zwei Mäntel unter Akims Knie. Einen weiteren knüllte er unter dem Kopf zusammen, den vierten breitete er über das Fell. Dann bat er Adiv, Akims Hände zu reiben.
Die Hände waren kalt, an den Fingerspitzen blutig, doch Adiv nahm die Finger und knetete sie, streichelte die Handrücken, massierte die Gelenke. Erleichtert fühlte sie, wie die Wärme zurückkehrte, das krampfartige Zucken nachließ.
Gillok legte eine Hand um den Kiefer des Jungen, drückte behutsam, bis der Mund sich öffnete. „Manchmal ersticken Menschen an ihrer eigenen Zunge nach solch einem Anfall. Oder an ihrem Erbrochenen. Er zum Glück nicht. Ein zäher Kerl.“ Beinahe zärtlich strich er über Akims Stirn. „Es wird eine Weile dauern, bis er zu sich kommt. Bleib bei ihm. Wir sehen uns derweil um.“
Adiv hockte sich zu Akim und summte das Lied, das sie vor vielen Tagen im heulenden Wind gesummt hatte. Wie Syriakin schien Akim die simple Weise zu beruhigen.
„Das habe ich schon einmal gehört.“ Die Sumpffrau war neben ihr aufgetaucht. Ihre Stimme raspelte und ihre Augen blickten verschwommen.
„Meine Mutter sang es für mich, als ich klein war. Den Text habe ich vergessen.“
Die Kriegerin runzelte die Stirn, offenbar bemüht, herauszufinden, wieso ihr die Melodie bekannt vorkam. Adiv lächelte in sich hinein. Sie hatte auch ihre Geheimnisse.
Syriakin beugte sich vor, betrachtete Akim. Ihre Miene wirkte eine Spur weicher als sonst. Sie schien um den Jungen besorgter, als sie es um Videm gewesen war.
„Du hast viele verborgene Talente.“
„Was? Wieso?“
„Du hast die Karte in deinem Kopf?“
„Wie kommst du jetzt darauf?“
„Hast du?“
„Ich denke schon. Weshalb?“
„Du wirst uns führen müssen. Der Schmied und der Prinz sind verschwunden.“
„Oh Kaa! Wohin? Hat es etwas mit diesem Dröhnen zu tun? Dem Knall, dem Krachen? Es ging alles so schnell.“
„Davon habe ich nichts gehört“, gestand Syriakin. „Möglich wäre es. Gillok und Videm stießen auf eine Wand aus Schutt und Geröll. Der Gang ist verschüttet.“
Zitternd atmete Adiv ein. „Sind sie begraben worden?“
„Gillok meint, er hätte ein Geräusch von der anderen Seite aufgeschnappt. Doch es war zu undeutlich. Auch Videm ist sich nicht sicher. Wir werden auf Akim warten müssen. Hoffentlich sind seine Ohren unverletzt.“
Syriakin ging los, um ihre Waffen einzusammeln. Adiv sah, wie sie sich bückte, die Fackel aufhob, in den See spähte. Ein Zucken riss sie aus ihren Beobachtungen, lenkte ihren Blick nach unten. Akim stöhnte leise. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sein Bewusstsein kehrte zurück.


„Sie leben. Ich vernehme ihre Bewegungen. Aber undeutlich. In meinen Ohren klingelt und pfeift es.“
„Lasst uns prüfen, ob sie uns auch hören.“
Suchend blickte Gillok sich um, ergriff einen Stein, schlug damit gegen einen steil vor ihm aufragenden Felstrümmer.
„Sie haben es gehört“, sagte Akim, das Ohr an der Felswand. „Es klingt, als rappelten sie sich auf. Da! Jonoys schlurfende Schritte! Er humpelt. Ylaiy bewegt sich geräuschlos. Nun ja, fast.“
Gillok schüttelte den Kopf. Akims Begabung, feinste Töne aus weiter Entfernung und über Hindernisse hinweg zu unterscheiden, beeindruckte ihn. In Adivs Augen stand Stolz. Ihre Hand drückte die Schulter des Fährtenlesers.
„Heda! Schmied! Hört Ihr uns?“ Erneut schlug Gillok mit dem Stein gegen den Felsen.
Ein leises Klopfen drang zu ihnen hinüber. Videm legte den Kopf in den Nacken, betrachtete die gewaltige Steinmauer, die der Erdrutsch in Sekunden geschaffen hatte.
„Schmied? Könnt Ihr sprechen?“
„Ja. Ja, doch“, ließ sich Jonoys unverkennbares Organ vernehmen. „Hammer und Amboss! Ihr lebt! Seid ihr wohlauf?“
„Abgesehen von rauschenden Ohren und dröhnenden Schädeln ist niemand zu Schaden gekommen.“
„Was ist mit dem Jungen?“
„Es geht ihm gut. Der Anfall ist vorüber. Was ist mit euch?“
„Verbeult wie Kochtöpfe, aber nichts Ernstes. Allerdings scheint es, als hätten wir den Herrn der Insel verärgert. Wir sollten uns aus dem Staub machen.“
„Gibt es einen Weg?“
„Der Prinz hat die Karte. Nicht weit vor uns müsste eine weitere Tür liegen, gleich dahinter eine zweite. Letztere mündet in einer Art Saal.“
„Mit einem schwarzen Fleck in der Mitte?“, rief Adiv. Sie hatte die Augen geschlossen und die Stirn in Falten gelegt. Unbestreitbar hatte sie in ihrem Geist das Pergament entrollt, durchforstete die verwinkelten Stollen.
„Ja“, scholl es nach kurzer Pause zurück. „Sieht aus wie die Hauptkammer oder wie man das nennen mag. Jedenfalls groß, viel größer als das Gewölbe, in dem ihr seid.“
„Wir können den Gang zu unserer Linken nehmen, der uns geradewegs zu einer weiteren Kammer führt. So gelangen wir aus unterschiedlichen Richtungen zu demselben Saal. Dem mit dem schwarzen Fleck. Also könnt ihr auf uns warten oder euch allein auf den Weg machen.“ Adiv sprach hastig und abgehackt. Ihr Finger zeichnete Gänge und Pfade in die Luft.
Auf der anderen Seite wurde es still. Jonoy und Ylaiy schienen sich zu beraten.
„Habt ihr das Geräusch gehört, unmittelbar vor dem Erdrutsch?“, drang dann die Stimme des Schmieds hinüber.
„Undeutlich“, antwortete Gillok.
„Wir glauben, dass es der Herrscher war, der gebrüllt hat. Der Blaukopf, den ihr beschrieben habt. Wenn ich das Gefasel des Vogels richtig verstanden habe, nennt er sich Norogdún. Der Letztgeborene. Der Auserwählte. Etwas in der Art.“
„Ihr seid der Einzige, der überhaupt Worte herausgehört hat. In unseren Ohren fauchte es nur.“ Gillok verzog das Gesicht zu einer Grimasse und musterte Akim, der bleich an der Felsbarriere lehnte.
„Verstehen, na ja. Ich habe Worte gehört. Ob ich sie durchschaut habe, steht auf einem anderen Blatt. Sie scheinen die Kinder als Eigentum zu betrachten, als Diener des Blaukopfes. Als Helfer.“
„Dann sind sie noch am Leben?“
Alle schwiegen, während Gilloks Frage das Gewölbe auszufüllen schien.
„Ich hatte den Eindruck“, kam Jonoys vorsichtige Antwort. „Jedenfalls scheint es, als hätten wir die Morrhim bezwungen und die Bur-an-gnea auch. Der Vogel sprach von einem Bruder, nicht Brüdern.“
„Bleiben was? Blaukopf, Magier, schwarze Frauen.“
„Mindestens. Wenn der Norogdún die Morrhim gesandt hat, die Vögel, die Spinnen und wer weiß was noch, dann müssen wir immer davon ausgehen, dass er weitere üble Dinge herauf beschwören kann. Seid auf der Hut!“
„Hoffen wir, dass ihm die Kraft ausgeht. Also wollt ihr nicht bleiben?“
„Nein, wir gehen. Lieber kämpfen wir, als hier wie Kaninchen in der Falle zu sitzen und auf die Schlange zu warten. Wünscht uns Glück. Ich bete zu allen Schmiedefeuern, dass wir euch wohlbehalten am Ende des Weges wiedersehen. Wenigstens lebend.“
Jonoys Stimme erstarb. Sie hörten, wie Ylaiy ihnen einen letzten Gruß zurief, dünn und verzagt.
Akim ließ den Kopf gegen die Wand sinken. Adiv lehnte sich an Videm, der sie unbeholfen in den Arm nahm. Gillok richtete sich auf und sah seine Stammesschwester an, die im Hintergrund gestanden und keinen Laut von sich gegeben hatte. Ihr Gesicht war ausdruckslos. „Gehen wir“, war alles, was sie sagte.

„Links durch die Tür. Langer, gerader Gang. Biegung nach oben. Tür. Schmaler, kurzer Gang. Tür. Größere Kammer. Tür. Zweite größere Kammer. Tür rechts. Hauptsaal.“
Akim warf der Diebestochter einen befremdeten Blick zu. Adivs Lippen bewegten sich unaufhörlich. Sie rasselte den Weg aus dem Gedächtnis herunter, immer und immer wieder. Als hätte sie Angst, ihn zu vergessen. Vielleicht lenkte das Geplapper sie auch ab, hielt sie wach.
Zur Abwechslung führte Gillok die geschrumpfte Gruppe. Videm lief dicht hinter ihm, das Schwert in der linken Hand. Adiv und Akim schlurften hinterher. Anfangs hatte sie den Fährtenleser gestützt, mittlerweile ruhte Akims Hand auf ihrem Arm. Die Kriegerin beschloss den Trupp. In der letzten Stunde hatte sie kein Wort gesprochen. Regelmäßig warf sie einen Blick zurück.
Der Weg glich einer gespannten Schnur. Das Gute daran war, dass sie Feinde frühzeitig wahrnehmen würden; das Schlechte, dass der Gang endlos wirkte. Nicht so lang wie die Spirale, die sie ins Herz der Erde geführt hatte, aber lang genug für unerwünschte Gedanken und Gefühle. Lang genug, um die Angst ins Unermessliche zu steigern, der Unsicherheit Türen und Tore zu öffnen. Lang genug für die Hoffnungslosigkeit, die in ihn strömte wie ein schwarzer, stinkender Fluss.
Lang genug, um hinfällige Entscheidungen zu treffen.
„Haltet ein.“ Videm blieb abrupt stehen, wartete, dass die anderen sich um ihn scharten. Sie starrten ihn fragend an. In ihren Gesichtern stand Erschöpfung.
„Ich muss euch etwas sagen. Es ist kein guter Zeitpunkt, aber ich kann nicht mehr warten. Wer weiß, ob später noch Gelegenheit ist.“ Er schwieg einen Moment, um sich zu sammeln. „Es betrifft wohl am ehesten dich“, wandte er sich an Adiv. „Dich und Aan.“
„Aan?“
„Kurz, bevor er starb, sagte mein Vater zu Rana, sie solle mir die Wahrheit erzählen. Ihr erinnert Euch gewiss.“ Videms Blick wanderte zur Kriegerin, die langsam nickte. „In Fedaj, als Ylaiy und ich Sila am Krankenbett aufsuchten, nahm Rana mich beiseite. Sie erzählte mir eine Geschichte. Irgendwie hängt sie mit all dem hier zusammen. Mit unserem Unterfangen. Mir ist nur immer noch nicht ganz klar, wie.“
Syriakin runzelte die Stirn. „Und das fällt Euch erst jetzt ein?“
„Lasst mich einfach berichten, ja? Es ist nicht leicht. Vor fünfundzwanzig Jahren war meine Mutter schon einmal schwanger. Das Mädchen, das sie zur Welt brachte, war nicht das Kind meines Vaters.“ Videm krümmte sich bei diesen Worten und lächelte verkrampft, bevor er fortfuhr. „Mein Vater war jung und ehrgeizig, stand vor der Wahl zum Zweiten Inquisitor. Ein Skandal hätte seinen Aufstieg gefährdet, zerstört möglicherweise. Er verzieh meiner Mutter, doch mein Großvater bestand darauf, das Kind zu beseitigen. Vater suchte eine Frau auf, um es wegmachen zu lassen, aber die Schwangerschaft war bereits zu weit gediehen. Eine Abtreibung hätte meine Mutter in Lebensgefahr gebracht.
Sie kam in derselben Nacht nieder wie die Kaiserin. Ihr wisst, dass Ylaive Ylaiy kurz nach ihrer Krönung gebar. Nur Stunden nach der Thronbesteigung. Ein Wettrennen, das sie knapp gewann.
Rana war Dienstmagd im Gefolge einer Dame, die auf dem Weg zum Palast in ein Unwetter geraten war und Zuflucht im Haus meines Vaters suchte.“
„In jener Nacht?“, vergewisserte sich Gillok.
„Ja. Die Geburt des Mädchens war kompliziert, das Leben von Mutter und Kind in höchster Gefahr. Mein Vater ließ alle zu Hilfe kommen, die aufzutreiben waren. Das war nicht leicht. Prant befand sich im Festtaumel - Letzte Nacht, Kaiserinkrönung, die Ankunft des Thronfolgers – kundige, nüchterne Hände waren schwer zu finden.
Rana schickten ihm die Götter. Unerschrocken half sie, das Kind auf die Welt zu bringen. Sie hielt meine Mutter im Arm, als diese sie anbettelte, ihre neugeborene Tochter in Sicherheit zu bringen, bevor mein Vater und Großvater es töten ließen. Rana nahm es mit zum Kaiserhof, gab es als ihr eigenes aus. Das fiel nicht auf. Sie hatte selbst kurz zuvor ein Kind geboren, das nicht überlebt hatte. Sie nährte das Mädchen und nannte es Aan.“
„Was?“, hauchte Adiv. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und starrte Videm an, der die Geschichte schnell und emotionslos erzählt hatte. Er musste sie vorher eingeübt haben, denn sie war ihm ungewöhnlich flüssig über die Lippen gegangen.
„Sie wuchs zusammen mit Ylaiy auf. Rana war als Amme an den Hof gekommen, verstehst du? Die Kaiserin war nicht begeistert von dem Mädchen, da sie fürchtete, ihr Sohn würde nicht ausreichend genährt. Sie beruhigte sich, als sie sah, dass beide Kinder gut gediehen.“
„Ylaiy kannte Aan? Und hat keine Silbe gesagt?“ Adivs Unterlippe zitterte.
„Ich glaube nicht, dass er sich an sie erinnert. Sie waren Säuglinge. Rana war zwei Jahre Ylaiys Amme, später Köchin. Aan wuchs im Umfeld der Küchen auf. Ylaiy mag sie hin und wieder gesehen haben, doch für ihn war sie nur eins der vielen Dienstbotenkinder, die es am Hof gibt.“
„Dann war Aan Eure Schwester“, sagte Gillok in das verblüffte Schweigen hinein.
„Halbschwester“, gab Videm zurück. Erschütterung klebte auf seinem Antlitz, obwohl viel Zeit vergangen war, seit er die Nachricht erhalten hatte.
„Und Arlen Euer Neffe“, setzte die Kriegerin hinzu.
Jetzt grub sich Schmerz in das Gesicht des jungen Baraten. „Das war der größte Schock für mich. Das zu begreifen. Nachdem ich alles andere verdaut hatte.“
Adivs Füße scharrten Kreise in den Boden. Akim sah, dass sie mit sich kämpfte. Sie schien wütend, verwirrt und traurig zugleich. Er legte die Hand auf ihren Rücken.
„Habt Ihr deshalb nichts gesagt?“, fragte Gillok.
„Sie änderte alles. Ranas Geschichte. Alles stand infrage. Meine Eltern. Meine Familie. Meine Vergangenheit. Alles.“
„Was passierte dann? Damals?“
„Etwas Schreckliches“, holte Videm zittrig Luft. „Urdat Vei kam an den Hof.“
„Ylaiys Stiefvater?“
„In jenen Tagen Offizier. Ein mittlerer, unbedeutender Rang. Rana zufolge von Ehrgeiz zerfressen, unersättlich in seiner Gier nach Macht.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kaiserin und er in einer Vernunftehe leben. Arrangiert von Hohen Räten. Wie in höfischen Familien üblich. Auch die meiner Eltern war eine. Anfangs waren sie unglücklich, alle beide. Ich denke, das war der Grund für den Fehltritt meiner Mutter. Nichtsdestotrotz bemühten sie sich. Am Ende verliebten sie sich sogar.
Das Protokoll akzeptiert außereheliche Liebschaften. Ehepartner tolerieren Seitensprünge. Höfische Gesänge preisen sie geradezu, doch es ist unabdingbar, dass sie ohne Aufsehen verlaufen, nicht an die Öffentlichkeit gelangen.“
„Jeder hat sie, aber niemand spricht darüber“, fasste die Kriegerin zusammen.
„Ertappte werden zu Opfern von Spott, Schande und nicht selten Gewalt. Frauen verlieren ihr Ansehen, häufig ihren Ehemann und damit ihr Erbe. Die meisten enden bei wohlwollenden Verwandten, in einer der Priesterklausen, im Elend, manchmal sogar im Dirnenhaus. Falls sie nicht von ihren Männern getötet werden. Denen ergeht es besser, doch auch sie büßen ihr Gesicht, ihren Ruf, ihren Offiziersrang, ihre Ehre ein. Affären gehen also im Geheimen vonstatten.
Vei war anders. Roh, gewalttätig, grausam. Raffgierig und schonungslos, wenn es um seine Ziele ging. Es ist überall bekannt, dass er die Kaiserin betrügt. Er spielt permanent mit seiner Laufbahn, seiner Ehre, seinem Leben. Es scheint ihn nicht zu stören. Er erschien am Hof, ehelichte Ylaive, wurde binnen weniger Wochen zum mächtigsten Mann im Reich. Rana sagte, dass alle vor ihm zitterten, buchstäblich Reißaus nahmen, wenn er sich näherte. Er hat … er hat …“
Videm brach ab, starrte zu Boden, plötzlich aller Worte beraubt.
Die anderen sahen ihn an, bis die Sumpfleute gleichzeitig realisierten, was er nicht zu sagen vermochte. Gillok holte tief Luft und blickte zur Decke, während Syriakins Gesicht versteinerte. „Er hat sie geschändet“, stieß sie aus.
„Oh, Kaa“, murmelte Adiv, die Hand vor den Mund gelegt. Mit der anderen klammerte sie sich an Akim.
„Sie wurde schwanger“, flüsterte Videm.
„Mit Sila?“, fragte die Kriegerin.
„Sie ist Veis Tochter. Rana hat es ihr nie erzählt. Vei sind seine Kinder egal, sagt man. Seltsamerweise zwang er jedoch Rana, Aan fortzugeben. Drohte ihr, ihr beide Mädchen zu nehmen, befahl ihr, das Balg, wie er Aan nannte, aus seinen Augen zu schaffen. Sie sollte sich ausschließlich um sein Kind kümmern. Aan fand er lästig. Sie war im Weg, wenn er zu Rana wollte, schrie und weinte, wenn er den Raum betrat. Er hat sich nie einen Deut um Sila geschert. Aber er bestand darauf, dass Rana sich um sie kümmerte.“
„Weil er sie erniedrigen wollte“, murmelte die Kriegerin. „Seine Macht auskosten. Jahrelang.“
„Was für ein Schwein“, flüsterte Adiv.
In Syriakins Gesicht stand Verachtung. „Aan endete im Elend, nehme ich an?“
„Sie war acht, als Rana sie Schaustellern mitgab. Was in den nächsten Jahren passierte, werden wir nie erfahren. Vermutlich überlebte sie mit Betteln und Diebstählen.“
„Und als Hure“, sagte Syriakin schroff.
Adiv zuckte zurück. In diesem Augenblick wirkte sie so jung, dass die Kriegerin sich bemühte, ihre Stimme weicher klingen zu lassen. „Sei nicht naiv. Wer wüsste besser als du, was mit Mädchen geschieht, die auf sich gestellt sind?“ Sie sah die Diebestochter lange an. Bitterkeit stand in ihren Augen.
Videm nickte traurig. „Irgendwann griffen die Soldaten sie auf. Weswegen ist nicht sicher. Jedenfalls endete sie in der Boragha. Schwanger und allein.“
„Wer war der Vater?“, fragte Adiv mit schwerer Zunge.
Videm zuckte mit den Schultern, verzog das Gesicht, als die Bewegung stechenden Schmerz auslöste.
„Wusste Rana, dass ihre Ziehtochter im Gefängnis war?“, erkundigte sich Gillok.
„Ja. Weil mein Vater sie gesehen hat.“
„Er erkannte sie wieder? Nach all den Jahren? Einen Säugling, der zur Frau geworden war?“ Gilloks Stimme war trunken vor Zweifel.
„Nicht Aan. Adivs Mutter. Die Frau, die er einst aufgesucht hatte, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen. An Sabyn. Meiner Mutter.“
Adiv schnappte hörbar nach Luft. „Was?“
„Deine Mutter. Offenbar galt sie als Kundige, als Kräuterhexe und Heilerin.“
„Du trägst ihre Medizin mit dir herum“, meinte Gillok. „Es ist allgemein bekannt, dass kundige Frauen oftmals als Hebammen dienen.“ Seine Augen leuchteten sie mitfühlend an. „Bestimmt war sie eine außergewöhnlich kluge und einfühlsame Frau.“
„Die Säuglinge tötete“, stieß Adiv hervor.
„Weil sie helfen wollte. Frauen wie Rana, die ihre Kinder durch Gewalt empfangen hatten, oder wie Videms Mutter, deren Leben sonst verwirkt gewesen wäre.“
Tränen rollten über Adivs Wangen. Akim drückte ihre Hand, streichelte ihren Rücken.
„Auch deshalb habe ich lange überlegt, ob ich die Geschichte erzählen soll“, sagte Videm mit einem schuldbewussten Blick auf Adiv. „Sie schmerzt. Doch die Wahrheit musste ans Licht. Ylaiy muss sie erfahren. Er muss über Sila und Vei Bescheid wissen. Jemand muss den Oberbefehlshaber zur Verantwortung ziehen.“
„Wer? Der Prinz?“, brach es aus Syriakin hervor.
„Warum nicht? Er hasst seinen Stiefvater, liebt Sila.“
„Er hat sie zur Gespielin, meint Ihr.“
„Es ist mehr als das. Das sieht man. Außerdem war Rana seine Amme.“
„Eine Bedienstete. Ihr Wort gegen das des mächtigsten Mannes im Reich. Wem wird man wohl glauben?“
„Jeder weiß, wie abscheulich Vei ist.“
„Dennoch lebt er, ungestraft und unangetastet. Glaubt Ihr, die Schändung einer Dienstmagd ändert etwas daran?“
„Syra“, warnte Gillok leise.
Sie erwiderte seinen Blick mit vorgeschobenem Kinn. Er versenkte seine Augen in die ihren, rang sie stumm nieder, bis sie eine wegwerfende Handbewegung machte. „Meinetwegen. Der Prinz soll Eure Geschichte erfahren.“
„Er ist der zukünftige Kaiser. Das Amt wird ihm Macht gewähren, auch Macht über Vei.“
Die Kriegerin zog die Nase hoch. „Hoffen wir, dass er sie richtig einsetzt. Nun berichtet, wie Euer Vater von Aan erfuhr. Noch überzeugt mich Eure Schilderung nicht.“ Sie setzte sich in Bewegung. Die anderen folgten ihr eng beieinander.
„Er sah Adivs Mutter bei Visiten in der Boragha.“
„Hat sie ihn erpresst?“
„Warum sollte sie ihn erpressen?“
„Weil sie von dem unehelichen Kind wusste“, dämmerte es Adiv. „Sie hatte ihn in der Hand.“
Videms Augenbrauen zogen sich zusammen. Angestrengt versuchte er, alle Fäden der Geschichte zu verknüpfen.
„Aber“, meldete sich Gillok zu Wort, „Adivs Mutter hat den Säugling niemals zu Gesicht bekommen. Nach der Geburt nahm Rana das Mädchen, gab es später Landstreichern mit, die es verstießen, verkauften, weggaben? Oder rannte sie davon? Als Aan ins Gefängnis kam, waren viele Jahre vergangen.“
„Sie starb an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag“, murmelte Adiv. „Sie hat nie gesagt, dass sie ihn in der Letzten Nacht feierte.“
„Vielleicht kannte sie ihn nicht.“
„Sie war schwanger, als sie zu uns stieß. Heute ist Arlen sechs.“
„Eine Achtzehn- oder Neunzehnjährige erkannte Baraten nicht wieder. Deine Mutter kannte Baraten, wusste von der versuchten Abtreibung, aber auch von Aans Geburt?“
„Das weiß ich nicht.“
„Wann kamen deine Eltern in die Boragha?“, fragte Akim.
„Lange vor Aan“, gab Adiv verwirrt zurück. „Drei, vier Jahre vor meiner Geburt.“
Die Kriegerin musterte Adiv. „Du bist was? Achtzehn?“
„Fast neunzehn.“
„Vor fünfundzwanzig Jahren sollte deine Mutter Aan abtreiben“, rechnete Gillok laut. „Vor etwa zweiundzwanzig wurde sie inhaftiert. Bleiben drei, vier Jahre, in denen sie Zeit hatte, Aan kennenzulernen.“
„Da war sie am Hof.“ Die Brauen der Kriegerin bildeten eine Falte auf ihrer Stirn.
„Dort treibt sich viel Volk herum“, entgegnete Videm, der bemüht war, der Unterhaltung zu folgen. „Leute, die eine Audienz begehren, Dienste und Waren anbieten, ein Schauspiel aufführen. Sie könnte unter ihnen gewesen sein.“
„Das scheint mir sogar wahrscheinlich“, rief Adiv. „Mein Vater war Lehrer und meine Mutter oft mit dem fahrenden Volk unterwegs. Vielleicht hat sie sie dort gesehen.“
„Bei einem der großen Hoffeste durchaus möglich“, versetzte Videm.
„Das kann alles sein“, gab Gillok zurück. „Doch dann? Was geschieht? Sieht sie Rana? Die kennt sie gar nicht, es sei denn, sie hätte sie während der Geburt Aans getroffen.“
„Das wäre eine Möglichkeit“, gab die Kriegerin zu bedenken. „Wenn Baraten Kundige an seinen Hof rief, könnte er sich an Adivs Mutter erinnert und ihre Dienste erneut gesucht haben. Diesmal, um das Kind zur Welt zu bringen. Vielleicht hat Adivs Mutter Jahre danach Rana gesehen, mit einem Mädchen im Arm, die richtigen Schlüsse gezogen. Denkbar, dass sie sich sogar unterhielten.“
„Und anderthalb Jahrzehnte später erkennt sie in der jungen Frau das Mädchen von einst? Das bezweifle ich“, entgegnete Gillok.
„Was ist, wenn Aan etwas erzählt hat? Eine Kleinigkeit aus ihrer Erinnerung. Dass sie den Kaiserhof kannte, beispielsweise, oder einfach Ranas Namen? Meine Mutter hatte ein phänomenales Gedächtnis. Sie hatte Karten und Wege im Kopf, Namen, Gesichter, Geschichten. Eine winzige Andeutung hätte genügt, um Aan wiederzuerkennen.“
„Und dann?“, fragte Gillok, nachdem er zögernd zu Adivs Überlegung genickt hatte.
„Baraten taucht auf“, sagte Akim. „Das tut er regelmäßig. Wenn neue Gefangene kommen oder er jemanden verhören muss. Bei einem der Besuche erkennt er Adivs Mutter.“
„Er erschrickt“, spann Adiv den Faden weiter. „Meine Mutter kennt die Geschichte, kennt ihn und Rana, kennt Aan, weiß, wer sie ist.“
„Sucht sie das Gespräch mit ihm? Zu welchem Zweck? Wie kommt sie an ihn heran? Er ist Inquisitor, gut geschützt vor den Insassen. Bestimmt will die Hälfte den Mann hängen sehen, der sie unter die Erde gebracht hat. Sie kann sich ihm nicht einfach nähern.“
Gillok ist ein schlauer Mann, schoss es Videm durch den Kopf. Er stellte alles infrage. Er selbst hatte Ranas Geschichte halb betäubt zur Kenntnis genommen. Auch jetzt fühlte er sich benommen. Es schmerzte, die anderen über seinen Vater reden zu hören wie über einen Fremden. Er hatte Wochen gebraucht, um zu begreifen, was Rana ihm erzählt hatte, aber nicht in tausend Jahren wäre er auf die Ungereimtheiten und Lücken gestoßen, die der Sumpfmann nun bemüht war zu stopfen. War es richtig gewesen, ihnen alles zu erzählen?
Er versuchte, jenen grauen Tag in sein Gedächtnis zu holen, das Dämmerlicht, das Ranas Gesicht verdunkelt hatte, ihre von Trauer und Sorge überschatteten Augen, den Schmerz in ihren Zügen, als sie Vergangenes enthüllte. Er erinnerte sich an seine Gefühle, die wilde Jagd von Schock und Ungläubigkeit. An den bitteren Geschmack im Mund, als sie von seinem Vater sprach, an den Ekel, als sie Veis Verbrechen mit einer Kälte schilderte, die ihm mehr zusetzte, als Schluchzen und Schreie es getan hätten.
Nein, sie hatte nicht gesagt, dass es ein Geheimnis bleiben musste. Er hatte es nur für richtig gehalten, die Geschichte in seinem Herzen zu verschließen. Es bedrängte ihn, das Geheimnis. Lag auf ihm wie ein Felsen. Der Wunsch, es freizugeben war drängender geworden in den letzten Tagen und Stunden, in denen sie kämpften und fielen und wieder kämpften. In denen der Tod näher zu rücken schien. Ylaiy musste wissen, was passiert war. Er musste von Sila wissen. Adiv musste wissen, wer ihre Freundin gewesen war, was ihre Mutter getan hatte. Es war wichtig, das zu wissen. Oder nicht? Hätte er sein Wissen besser verbergen sollen?
Es änderte nichts. Es machte Adiv traurig, die anderen nachdenklich, schuf Unordnung. Jetzt war es zu spät. Das Vergangene war heraus und Gillok hatte sich daran gemacht, es zu untersuchen, zu prüfen, die Wahrheiten aufzudecken.
„Sie war geschickt“, erscholl Adivs helle Stimme in diesem Augenblick. „Vielleicht konnte sie unbemerkt an ihn heranschleichen.“
„Von wie vielen Wächtern war er gewöhnlich umgeben?“, wollte die Sumpffrau wissen.
„Dutzenden. Seine Ankunft war ein Festakt. Er hielt Gericht auf dem Hauptplatz. Wärter und Soldaten bildeten Vierecke um ihn. Wie Zäune, die die Gefangenen zurückhielten. Direkt bei ihm standen weitere Bewacher.“
„Aussichtslos. Niemals wäre sie unbeschadet zu ihm durchgedrungen. Sie muss sich einer List bedient haben.“
„Er kam, hielt Gericht, ritt davon. Immer unter Aufsicht. Mir ist nicht bekannt, dass er je im Gefängnis genächtigt hätte.“
„Falls sie also Kontakt aufnahm, dann ausschließlich während der Zeit, die er im Haupthof zubrachte, umgeben von einer brodelnden Menschenmenge.“ Die Kriegerin sprach langsam, doch sie eilte ohne Unterbrechung über den vom trüben Fackelschein erleuchteten Gang. Sogar jetzt, inmitten der anstrengenden Unterhaltung, hielt sie die Augen offen. Videm sah, wie sie pausenlos in alle Richtungen spähte, in jeder Sekunde darauf gefasst, reagieren zu müssen. Er selbst hatte völlig vergessen, dass er ein Schwert in der Hand hielt. Als er es registrierte, packte er den Griff fester.
„Woher weißt du, dass sie brodelte?“, fragte Adiv.
„Menschenmengen brodeln immer. Die meisten scheinen öffentliche Veranstaltungen zu erregen. Seien es Volksfeste oder Hinrichtungen.“
„Sie stand in der Menge“, sagte Akim. Er klang so überzeugt, dass die anderen wie selbstverständlich nickten.
„Sie ging nach oben, wenn neue Gefangene kamen“, bestätigte Adiv.
„Sie musste auf sich aufmerksam machen. Ansonsten hätte er sie nicht wahrgenommen. Nicht inmitten einer Menschenansammlung“, warf Gillok ein.
„Aber das hätten Wärter bemerkt und sie niedergeknüppelt“, konterte Adiv. „Sie hätte sich selbst in Gefahr gebracht. Das passt nicht zu meiner Mutter. Sie war ausgesprochen vorsichtig.“
„Ein geheimes Zeichen?“, schlug Akim vor.
„Das hätte er kennen müssen“, entgegnete Gillok.
„Sie hatten es vereinbart“, sagte die Sumpfjägerin und verlangsamte ihre Schritte. „Was ist die Strafe für Mord?“, wandte sie sich an die jüngere Frau.
„Mörder werden gebrandmarkt und gefoltert. Worauf willst du hinaus?“
Die Kriegerin blieb stehen, drehte sich zu den anderen um. „Deine Mutter kam als Diebin ins Gefängnis?“
„Ja.“
„Warum nur als Diebin?“
„Was? Ich verstehe nicht…“
„Sie war eine Kindstöterin, bekannt genug, dass Baraten sie aufspürte. Sie wurde gefasst, möglicherweise, als sie stahl, und sie wurde verurteilt. Von wem?“
„Videms Vater.“
„Der sie kannte“, warf Akim ein.
„Den sie kannte. Der Mann, der sie verurteilte, hatte sie selbst zuvor angeheuert“, präzisierte die Kriegerin. „Gewiss zog sie alle Register, um der Folter zu entgehen, die sie als Kindstöterin erwartete.“
„Du meinst, sie erpresste ihn tatsächlich?“, fragte Adiv.
„Nicht um Gold“, erwiderte Gillok an Syriakins Stelle. „Aber sie handelte ihre Strafe hinunter. Trennte sich lieber von einem Arm, als verbrannt und gefoltert zu werden. Was hättest du gewählt?“
„Sie hätte mehr herausschlagen können. Ihre Freiheit.“
„Nein“, schüttelte Gillok den Kopf. „Ihr Wissen war ihre Lebensversicherung, doch gleichzeitig ihre größte Gefahr. Baraten hätte sie zweifellos beseitigen lassen, hätte sie zu viel gewollt. Sie war schlau, raffiniert. Nein, ich denke, sie schlossen den bestmöglichen Handel. Ihr Schweigen gegen eine mildere Strafe. Sie blieb am Leben. Konnte eine Familie gründen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass Baraten seine Hand über sie hielt.“
„Er war kein böser Mensch“, sagte Videm dumpf. „Er musste tun, was die Arbeit verlangte, und das machte ihn hart. Aber sein Inneres war weich. Er war ein guter Vater, glaubt mir.“ Die hellen Augen blickten wehmütig.
„Ich arbeitete als Dienstmädchen und Botin. Meine Mutter bekam immer wieder Aufträge. Aan die Stelle in der Küche. Diese Dienste sind begehrt. Sie bringen eine kleine Entlohnung, Beschäftigung, Vergünstigungen wie zusätzliches Brot, frisches Wasser oder ein Werkzeug. Eine Feder. Leder.“ Adivs Stimme verklang in einem Murmeln.
„Möglicherweise sogar eine Information. Eine Nachricht von draußen. Ich kann mir vorstellen, dass das ebenso wichtig ist“, sagte Gillok.
„Der Leitende Inquisitor und eine Diebin“, pfiff die Kriegerin durch die Zähne. Selbst Adiv kam nicht umhin, ihre Mutter, ihre geheimniskrämerische, verschlossene Mutter, die Frau, die Kinder getötet und Leute bestohlen hatte, zu bewundern.
Diesmal war die Diebestochter es, die sich wieder in Bewegung setzte und auf die Tür zusteuerte, die sich in der Entfernung aus der Dunkelheit materialisierte. „Ich verstehe es nicht“, murmelte sie. „Sie kannten sich also, tauschten ein verabredetes Zeichen, um was zu tun? Sich zu treffen?“
„Schwierig“, entgegnete Gillok. „Aber vielleicht streifte sie ihn, wenn er durch das Tor ritt, steckte ihm ein Pergament zu. Adivs Vater konnte schreiben. Ich kann mir vorstellen, dass sie schriftliche Nachrichten austauschten. Jahre später kam Aan. Möglicherweise war es so, wie Adiv vorhin sagte. Aan enthüllte ein Detail aus ihrem Leben, eine Winzigkeit nur, doch sie reichte aus, um Adivs Mutter zwei und zwei zusammen zählen zu lassen. Sie verständigte Baraten. Vielleicht stand Aan eines Tages neben ihr in der Menge. Ein Kopfnicken in Aans Richtung, ein bedeutungsvoller Augenaufschlag und schon wusste Baraten Bescheid. Er wusste, dass Rana am Kaiserhof war, sah sie vielleicht bei Besuchen. Vielleicht war er wirklich kein schlechter Mensch. Er hat seine Frau leben lassen, er hat Adivs Mutter leben lassen, er hat Aan leben lassen. Er war kein Mörder. Ich denke, er hat es Rana gesagt. Hat ihr gesagt, dass ihre Ziehtochter lebte, im Gefängnis zwar, aber immerhin. Und er hielt die Hand über sie wie über Adivs Mutter.“
Davanas“, murmelte die Kriegerin. Sie wirkte, entgegen ihrer zurückhaltenden Natur, beeindruckt, sowohl von dem Bericht als auch von Gilloks Kombinationsgabe.
„Bringt das alles uns näher an unser Ziel?“, fragte Videm.
„Es bringt neue Erkenntnisse“, entgegnete Gillok. „Neue Zusammenhänge.“
„Verwirrende Zusammenhänge“, konterte Syriakin. „Zu viele.“
„Dich stören die Zufälle.“
„Dich nicht? Die Geschichte führt Videm mit Aan zusammen. Über sie zu Adiv. Rana ist die Verbindung zwischen Videm und dem Prinzen, Vei die zwischen Sila und Ylaiy. Ich finde mich kaum mehr zurecht.“
„Überspringt man die Generationen, schaffen die Beziehungen eine Verbindung zwischen Yvain und Arlen“, sagte Akim. „Es scheint wirklich so, als hätte das Schicksal uns zusammengeführt. Nur, dass alles schon viel früher begann, lange vor unserer Geburt.“
„Genau genommen vor fünfundzwanzig Jahren“, führte Gillok den Gedanken weiter. „In einer einzigen Nacht, wenn man es recht bedenkt. Die Letzte Nacht vor fünfundzwanzig Jahren. Die Nacht, in der Ylaive Kaiserin wird, Sabyn Baraten Aan zur Welt bringt, nur Stunden später Ylaiy geboren wird. Fast wie Zwillinge. Eine besondere Nacht.“
„Nicht nur für Ylaiy und Aan“, sagte Akim langsam. „Die Letzte Nacht. Das war es, was Gradh gesagt hat.“
„Dein Lehrmeister?“, fragte die Kriegerin.
„Er erzählte von dieser Nacht. Das habe ich gerade begriffen. Er erwähnte die Krönung der Kaiserin.“ Aufgeregt warf er den Speer von einer Hand in die andere. „Er berichtete von etwas Außergewöhnlichem. Schnee. Mitten in der Wüste. Er war in der Nacht gefallen, als das Dorf feierte. Gradh erwachte am Morgen und fand Spuren im Schnee. Dieselben Spuren, die wir nach Kians Entführung fanden. Dieselben, die wir im Forst vor Fedaj entdeckten.“
„Die Vogelwesen?“ Gillok musterte Akim gespannt.
„Sie waren schon einmal in Ranand. In derselben Nacht. Fünfundzwanzig Jahre zuvor.“
„Das halte ich nicht aus“, murmelte Adiv. Sie stemmte die Hände in die Hüften und lief im Halbkreis vor den anderen.
Videm stand gebeugt da, die Hände unschlüssig am Schwertknauf.
Lawine, dachte er. Er hatte sie in Gang gesetzt. Nun wollte sie nicht aufhören, über sie zu rollen.
„Was haben sie gewollt?“, fragte Gillok.
„Die Spur schmolz, bevor Gradh ihr folgen konnte.“
„Das bringt dich ins Spiel“, sann Syriakin laut.
„Das alles passierte zehn Jahre vor meiner Geburt.“
„Es ist kein Zufall, dass du in dem Dorf lebst, das die Vogelmenschen zweimal aufsuchten. Dass sie deinen Bruder nahmen. Dass du heute hier bist. Kians Bruder. Mit Arlens Onkel und der besten Freundin seiner Mutter. Mit Yvains Vetter. Drei Kinder. Kinder, die Gemeinsamkeiten aufweisen, deren Beziehung vor vielen Jahren begann. Ich sagte es schon einmal: Das Ganze ist ein Plan. Ein verteufelt gut ausgeheckter Plan, der seit einem Vierteljahrhundert geschmiedet wird. Mindestens. Nicht Schicksal führte uns zusammen, sondern Absicht.“
Alle starrten die Kriegerin an, die mit grollender Stimme gesprochen und deren Miene sich gallig verzogen hatte. Sie funkelte die anderen an, warf sich die Kapuze über den Kopf und lief geradewegs auf die schmale Tür zu, die sie endlich erreicht hatten.
„Der Blaukopf sollte sich vorsehen“, raunte Gillok humorlos. „Wenn Syra wütend ist, stellt man sich ihr besser nicht in den Weg.“

Die Tür zerbarst unter dem Stiefeltritt der Kriegerin.
Ungläubig tastete Adiv nach dem Bärenzahn an ihrem Hals, dann sah sie, dass es Holzsplitter waren, die durch die Luft rieselten. Syriakin musste mit einem Blick erkannt haben, dass diese Öffnung nicht aus Stein bestand.
Gillok stürmte hinter der Sumpffrau durch die Tür, Krummdolch und Schwert erhoben. Nach wenigen Schritten signalisierte er ihnen, dass vorerst keine Gefahr drohte.
Die anderen schoben sich in den Gang, der so kurz war, dass sie die nächste Tür bereits erkennen konnten.
„Auch Holz“, flüsterte Akim. „Aber stärker. Verziert.“
„Der Eingang zur ersten Kammer“, raunte Adiv.
Gillok hielt die Kriegerin an der Schulter zurück. „Ich gehe vor.“ Ohne eine Widerrede abzuwarten, eilte er weiter.
Der Korridor war so eintönig, wie er kurz war. Nackte, erdige Wände, in dichtes Dunkel getaucht, abgesehen von dem dünnen Streifen Licht, der die kommende Tür wie ein leuchtendes Rechteck aussehen ließ. Schnell hatten sie ihn durchquert.
Die Pforte bestand aus dunklem Holz, das Alter, Moder und der Druck der Erdschichten aufgewellt und zusammengedrückt hatte. Verzogen und schief hing sie in den Angeln. Risse verliefen über die eingekerbten Muster.
Gillok sandte einen stummen Warnblick aus, bevor er den Dolch Adiv reichte und mit der freien Hand vorsichtig nach dem runden Knauf griff.
Keine der anderen hatte einen Knauf.
„Pass auf!“, brüllte Adiv, kaum dass der Gedanke ihr in den Sinn gesprungen war, doch ihr Ruf kam zu spät. Aus Gilloks Hand sprühten Funken. Knisternder Rauch stieg von der Innenseite der Finger empor, drang ihnen stechend in die Nasen. Gleichzeitig breitete sich eine dünne Eisschicht über dem Handrücken aus, lief den Unterarm hinauf.
Gillok schrie auf. „Nicht“, ächzte er, als die Gefährten ihn wegzerren wollten.
Die beiden Burschen und Adiv wichen sofort zurück. Syriakin blieb in seiner Nähe. Er beobachtete die blauen Funkenzungen, die nach ihren Fingern züngelten, schob sich von ihr fort. Das war nicht leicht, denn die Eisschicht hatte fast seinen Ellenbogen erreicht. „Nicht anfassen“, sagte er, bemüht, die Worte wie einen Befehl klingen zu lassen.
Was herauskam, war eine klägliche Bitte, die die Kriegerin zögern ließ. Zeit genug für ihn, sich mit aller Kraft gegen die Tür zu werfen, die knirschend in den Angeln schwang. Er benötigte zwei weitere Versuche, sie aufzustoßen. Bei jeder Berührung mit dem Holz schwappten Kältewellen gegen ihn. Sie hinterließen schwelende Löcher in der Kleidung, die entsetzlich auf der Haut brannten.
Als die Pforte sich schließlich öffnete und er in gleißendes Licht tauchte, hing die Hand noch immer am Knauf, taub und erfroren. Kurz, bevor er glaubte, vor Schmerz die Sinne zu verlieren und in dem weißen Licht zu erblinden, fühlte er Syriakins Gewicht im Rücken. Sie hatte sich an ihn gehängt, zog ihn von der Tür weg, ungeachtet der abgehackten Schreie, die aus seinem Mund strömten.
Videm kam ihr zu Hilfe, indem er gegen die Tür trat.
Mit einem Schmatzen trennte sich Gilloks Hand vom Knauf. Er fiel auf seine Stammesschwester, die sofort unter ihm hervor krabbelte, auf die Beine sprang und nach ihren Messern griff. Unter Tränen sah er, wie sie in das Licht blinzelte, das ihr Antlitz so stark ausblendete, dass alle Linien ausgewischt wurden. Ihre Augen strahlten wie helles Glas, tränten wie die seinen. Adiv und Videm hatten längst die Gesichter abgewandt. Lediglich Akims Kohleaugen schienen die Helligkeit besser auszuhalten.
Vor Gilloks Augen begann es zu flirren. Erst glaubte er, dass eine Ohnmacht nahte, dann realisierte er, dass es die bläulichen Energiefunken waren, die überall aufleuchteten. Er konzentrierte sich auf sie, bis seine Augen sich an das grelle Licht gewöhnten.
Aufatmend ließ er sich zurückfallen, hielt sich die Hand vor das Gesicht. Einige Streifen Haut fehlten. Die Wunden waren klein, aber sie marterten ihn. Rohes Fleisch lag bloß und rauchte. Blut klopfte durch seine Adern.
Syras Zähne rissen bereits Stofftücher in lange Fetzen. „Willst du etwas gegen den Schmerz?“
„Bewahre es auf für Videm. Es wird so gehen“, keuchte er mit verzerrtem Gesicht.
Rasch wickelte sie ihm die Stofffetzen um die Hand. „Das ist die vierte verbundene Hand heute“, sagte sie grimmig und gab ihm einen Klaps auf die Wange. „Wenn wir so weitermachen, brauchen wir keine Handschuhe mehr.“
Adiv verdrehte die Augen. Ausgerechnet jetzt musste die Kriegerin ihren Sinn für Humor entdecken. Sie beugte sich zu dem Sumpfmann, half ihm auf. Dann strich sie den zerknitterten Mantel glatt, bürstete Staub von den Ärmeln, reichte ihm den Dolch zurück.
Unterdessen waren Akim und Videm weiter gelaufen. Mit den Händen schirmten sie sich gegen das Licht ab, das immer noch zu hell strahlte. Vielleicht kam es ihnen nach den vielen Stunden in der Dunkelheit auch heller vor, als es war.
Mit zusammengebissenen Zähnen stolperte Gillok zwischen den beiden Frauen den Männern hinterher. Langsam kehrte das Gefühl in den Unterarm zurück, doch es kündigte sich mit einem unangenehmen Kribbeln und Ziehen an, so als hätte er die ganze Nacht auf dem Arm gelegen.
Godekaa!“ Adivs Ausruf schreckte ihn aus trüben Gedanken.
Davanas“, stimmte er zu, sobald er hinter Videm und Akim getreten war.
Sie standen in einer lichtdurchfluteten Halle, die so hell erleuchtete, dass kein Raum für Schatten blieb. Ein lang gezogenes Gewölbe, mächtig wie die Kathedralen, die vor langer Zeit auf Yruish und Prant entstanden waren. Riesige, kunstvoll miteinander verflochtene Rundstreben schraubten sich vom Boden aus nach oben, um sich unter der kuppelartigen Decke in rautenförmigen Mustern zu vereinen. Durch geschwungene, aus dünnem Eis bestehende Fenster floss das Licht, dessen Quelle ein Rätsel war, so tief in der Erde, so nah am feurigen Herzen der eisigen Insel. Ein Licht ohne Wärme, wie durch die Eisschicht gefiltert. Es tauchte den Raum in glänzendes Weiß, das ihre Pupillen zusammenzog, bis sie nur noch winzige Punkte waren.
Die Strahlen fielen schräg herein, von oben herab, als schiene die späte Vormittagssonne geradewegs hindurch. Ausgeschlossen, dass es die wirkliche Sonne war, denn die war weit, weit entfernt. Der Sumpfmann horchte in sich hinein, erschrak, als er feststellte, dass es ihm unmöglich geworden war, die Zeit zu bestimmen. Ohne Sonne, ohne Mond und Sterne. Ohne das Wetter und die Winde, die Farben der oberen Welt. Er fühlte sich verloren. Wie viele Stunden mochten vergangen sein, seit die Erde sie alle verschluckt hatte? Er krampfte die Finger um die Waffengriffe, erleichtert, als er den Schmerz spürte, den seine Hand protestierend aussandte.
Wenigstens gab es jetzt Licht. Es war bestimmt künstlich, von Menschen hergestellt.
Oder erschaffen.
Vielleicht war es Zauberwerk. Pure Energie wie die blauen Flämmchen. Magnetismus. Zauberei. Magie.
Die Strahlen bildeten lange, viereckige Muster auf dem ebenmäßigen Boden, der so glatt war, als wäre er poliert worden. Abgeschliffen, geebnet. Ohne die winzigste Unregelmäßigkeit. Glänzend wie ein Sumpfsee bei Nacht. Unberührt. Verzaubernd.
Er beobachtete, wie Syra die Rechtecke anstarrte, ihren Fuß über den Boden bewegte, als prüfe sie dessen Beschaffenheit. Wie sie die dicken Säulen betrachtete, die wiederum aus vielen zierlichen Säulen bestanden. Die so breit waren, dass sie sie mit beiden Armen gerade halb umfassen konnte. So hoch und ebenmäßig, dass es unmöglich war, sie zu erklimmen. Er sah, wie sie nach oben blickte, wusste genau, was sie dachte in diesem Moment. Um den Säulenfuß verlief eine Art Sockel. Der einzige erkennbare Vorsprung. Doch selbst, wenn sie auf ihn stieg, sich in die Höhe reckte, musste sie das Fünffache ihrer eigenen Körperhöhe zurücklegen, um den Rand der Decke zu erreichen. Kein Ausweg nach oben.
Er beobachtete, wie sie weiterging, vorsichtig, mit katzenhafter Geschmeidigkeit, ohne die architektonischen Schönheiten eines weiteren Blickes zu würdigen, wohingegen Adiv, Akim und Videm die Schnörkel und Muster studierten, als hätten sie Freude daran, sich in ihnen zu verlieren.
In ihrem Alter hätte er ähnlich reagiert. Überwältigt. Entrückt. Vor Ehrfurcht verstummt. Doch er war alt genug, um beeindruckt zu sein und dennoch den Blick abzuwenden, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, Syra zu folgen, die um die Säulen spähte, obwohl das Licht jeden Winkel ausleuchtete.
„Dort hinten ist eine weitere Tür“, sagte sie zu ihm. „Wenn Adiv sich nicht irrt, ist es die letzte.“
„Hast du Angst?“
Überrascht wandte sie sich ihm zu. Die Frage war ihm in den Sinn geschossen. Er hatte sie ausgesprochen, ohne nachzudenken.
„Ich fürchte mich“, gab er zu, musterte die verbundene Hand. Das stechende Kribbeln erinnerte an ein ganzes Ameisenvolk.
„Es ist nur eine Tür.“
„Doch was ist dahinter?“
„Das finden wir heraus.“
„Auch die Antwort?“
„Auf welche Frage?“
Gillok wusste, dass sie ihn zu täuschen versuchte. Er lächelte verzerrt. „Wo warst du vor fünfundzwanzig Jahren? In der Letzten Nacht? Du weißt es noch, nicht wahr?“ Seine Augen glühten unbarmherzig hell. Das warme Leuchten, das sich normalerweise um die Pupillen konzentrierte, war durch das Licht verschwunden. Stattdessen wirkten sie giftig.
„Das ist nicht von Bedeutung“, sagte sie und blickte den anderen entgegen, die sich behutsam näherten. Als fürchteten sie, auf dem Boden auszurutschen.
„Natürlich ist es das. Du bist das fehlende Glied. Was verbindet Bada mit den drei Jungen? Du weißt, wer der Mann war, nicht wahr? Der Mann im Hintergrund? Seit vorhin weißt du es. Ich weiß es. Also was wirst du antworten?“
„Es ist nicht von Bedeutung, um die Kinder zu retten“, stieß sie hervor. „Es ist vorbei. Lange vorbei. Ich habe es vergessen. Das solltest du auch.“
„Syra“, griff er nach ihrem Arm, doch sie wand sich um ihn, trat auf die anderen zu.
„Dort hinten ist die nächste Tür“, wiederholte sie, Gillok einen Blick zuwerfend, der so rasch war, dass die anderen ihn nicht bemerkten. „Wir sollten gehen. Hier drin ist nichts.“
„Welche Bestimmung hat dieser Raum?“, fragte Videm.
„Keine, so weit ich sehen kann.“
„Das glaube ich nicht“, murmelte Adiv. „Wer sich die Mühe macht, so etwas zu errichten, der hat damit etwas im Sinn.“
„Möglicherweise huldigt der Blaukopf hier seinen Göttern“, sagte Syriakin. Ungeduld schwang in ihrer Stimme mit. „Vielleicht sogar sich selbst. Schaut sich sein Spiegelbild auf dem Boden an, fühlt sich gottgleich inmitten der Größe. Jedenfalls gibt es hier nichts. Ich habe jeden Winkel durchsucht. Säulen, Fenster, Decke, Boden, das ist alles.“
„Also weiter?“, fragte Akim. Er warf zweifelnde Blicke durch den Raum, als glaubte er, eine versteckte Wand käme zum Vorschein oder die Decke senke sich herab.
„Ja“, beschloss Gillok, dessen Gesicht trotz des Eislichts düster wirkte.
Die Kriegerin blickte ihm nach. Durch ihre zusammengepressten Lippen fuhr ein kaum vernehmlicher Laut, eine Mischung aus Fluch und Seufzen. Dann schritt sie zu der Tür, vor der die anderen ihr schweigend Platz machten.
Sie kniete nieder, musterte aufmerksam Knauf und Beschaffenheit des Holzes. Eine Tür ohne Besonderheiten. Schlicht, auffällig unpassend in diesem Raum voller Pracht. Sie ließ ihren Mantelärmel über die Finger gleiten, zögerte kurz, fasste nach dem Knauf. Nichts geschah. Die Hände an ihren Gürtel gelegt, stieß sie die Tür mit dem Stiefel auf. Sie schwang zur Seite, enthüllte einen weiteren Gang. Dunkel, gerade, leer. Der Vorraum zur letzten Kammer.


„Warte.“
Der Sumpfmann stoppte und schaute sich um.
Ihr Gesicht war ernst. Ein dünner Blutfaden war auf ihrer Stirn getrocknet, den er vorher nicht bemerkt hatte. Ihr ganzer Körper signalisierte Abwehr. Alles in ihr schien sich aufzubäumen gegen das, was sie sagen wollte. Gillok war der Anblick nicht fremd; er wusste von den Kämpfen, die sie mit sich selbst ausfocht, hatte sie beobachtet, seit sie das erste Mal das Dorf betreten hatte.
Videm, Adiv und Akim waren einige Meter hinter dem Eingang stehengeblieben, sahen zurück. Weder Syriakin noch Gillok schenkten ihnen Beachtung. Die beiden hatten ihre Blicke ineinander verhakt. Adiv wollte sie rufen, doch der Fährtenleser zog sie weiter in die Kammer hinein.
„Weißt du, ich habe nie begriffen, wie jemand so stark sein kann und gleichzeitig so verängstigt, wenn es um das Innere geht“, sagte Gillok.
Ihre Lippen wurden eine Spur weißer. Gillok rechnete damit, dass ihre Mauern sich wieder um sie schließen würden. Sie verzieh solche Dinge nicht. Auch ihm nicht.
Zu seiner Erleichterung rammte sie ihm jedoch weder eine Faust in den Magen wie so oft als Kind, noch ließ sie ihn einfach stehen wie manchmal als Erwachsene. Stattdessen starrte sie ihn weiter an, öffnete den Mund, versuchte, etwas zu sagen. Er beobachtete, wie sie mehrfach ansetzte, aber die Worte ihr im Hals stecken blieben.
Sie gab auf, schüttelte den Kopf, schnaubte, wollte an ihm vorbei. Er stellte sich ihr in den Weg. Instinktiv schob sie die Arme vor, doch er schubste sie zurück, trat in dem Moment beiseite, in dem sie erneut gegen ihn rammte. Ihr Körper stieß ins Leere und verlor sein Gleichgewicht. Gillok fing sie auf, zog sie an sich. Sie kämpfte nur kurz, bevor sie die Arme sinken ließ und in der Umarmung erstarrte.
„Siehst du, das tust du immer“, flüsterte er. „Wenn dich jemand berührt, wirst du zu Eis. Das war mal anders.“
Sie atmete heftiger, schwieg, vermied es, in seine Richtung zu schauen.
Er wartete einige Sekunden, dann ließ er sie los und wandte sich zum Gehen.
„Hast du je daran gedacht, dass sie deine Tochter sein könnte?“
Er stockte, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Ihm war, als hätten ihre Worte alle Luft aus dem Raum gesaugt. Unendlich langsam drehte er sich wieder um.
Sie war nicht ruhig. Ihre Stimme war es, ihre Worte waren es gewesen, aber ihr Körper verriet sie. Sie war in Aufruhr, so angespannt, dass ihre Zähne klapperten, als sie weiter sprach. „Sie könnte es sein. Hast du … du hast nie … Hast du?“
Sie brach ab und sah zu Boden. Schmerz explodierte in ihm. Er fegte sie beiseite, bekam ihren Arm zu fassen. Sein Griff war fest, sein Gesicht hart. Seine Finger quetschten ihren Bizeps, doch kein Wort des Protests kam über ihre Lippen. Vielleicht wollte sie den Schmerz. Vielleicht verdiente sie ihn. Er wollte ihr wehtun, sie bestrafen.
Dann setzte sein Verstand wieder ein. Er nahm die Hand von ihrem Arm, strich behutsam über die Stelle wie bei einem Kind. Sie ließ es geschehen.
Zu seiner grenzenlosen Überraschung sträubte sie sich auch nicht gegen den Kuss, den er sacht auf ihre Stirn drückte. Stattdessen schloss sie die Augen. „Ich weiß nicht, ob sie deine Tochter ist“, sprudelte sie hervor. „Ich wünschte, sie wäre es, aber ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.“
„Danke“, flüsterte er.
„Wofür?“
„Die Hoffnung. Die Möglichkeit. Die Kraft, die mir der Gedanke gibt.“
„Hast du nie daran gedacht?“
„Unentwegt. Doch du hast nie etwas gesagt und so dachte ich, dass es jemand anderer wäre.“
„Ich hätte es dir schon vor langer Zeit sagen sollen, aber es war alles so durcheinander. Ich … es“ – sie atmete heftig ein auf der Suche nach Worten – „es … gab andere und … es … hätte so nicht sein dürfen…“
Er unterbrach ihr Gestammel, indem er zwei Finger auf ihren Mund legte. „Später. Wenn wir Zeit haben. Jetzt musst du kämpfen.“
Sie nickte, holte tief Luft, verwandelte sich zurück in die Kriegerin. „Lass uns gehen.“


Videm trat gegen das verzogene Holz und duckte sich zur Seite, während die Gefährten durch die Tür drängten.
Schnell richtete er sich auf und folgte ihnen, kam abrupt zum Halt, als er gegen sie prallte, weil sie unversehens stehen geblieben waren und in fassungslosem Schweigen erstarrten.
Das erste, was Videm in der letzten Kammer wahrnahm, noch vor dem grauen Licht und dem dünnen Mann, der am anderen Ende in einer Ecke hockte, war Adiv, die sich stöhnend vornüberbeugte, die Hände auf ihren Bauch gepresst. Ihr Kehlkopf bewegte sich wellenartig auf und ab.
Als Nächstes hieb der Gestank auf ihn ein.
Seine Hände fuhren vor sein Gesicht, legten sich vor Nase und Mund. Am liebsten hätte er auch seine Augen bedeckt, doch die Hände reichten nicht aus. Auf den Gedanken, sie zu schließen, kam er nicht. Manche Dinge waren so entsetzlich, dass man sie ansehen musste, obwohl man wusste, dass man den Anblick nie wieder loswerden würde.
Sein Kopf ruckte wie der eines Falken.
Der Saal, größer noch als der Kuppelsaal, war ein Schlachthaus. Eine Leichenhalle, bis unter die Decke vollgestopft mit reglosen Körpern in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Jahrzehnte, Jahrhunderte alt, denn es war kühl hier drin. Kalt genug, dass Leichen alle Zeit hatten, in Ruhe zu Mumien zu werden. Denn das waren sie. Mumifiziert. Bedeckt mit schwarzer, lederartiger Haut. Skelettierte Menschen mit zerknitterter Haut über dürren Leibern.
Reste von Leibern. Torsos.
Meist fehlten Gliedmaßen, Wangen, die großen Bauchteile, die Gesäße. Löcher waren in sie gerissen worden, entsetzlich tiefe Wunden, die keine Spuren von Blut mehr aufwiesen, sondern leer schienen. So leer wie die Bauchhöhlen und die Augenkammern.
Sie türmten sich an den Wänden. Stapelweise. Zuunterst die schwärzesten, teilweise zu Staub zerfallen, von geisterhaften Haaren bedeckt. Darüber die jüngeren, gekrümmt und verbogen, achtlos weggeworfen wie Überreste eines Mahles. Obenauf und näher an der Mitte des Saales die frischesten Opfer, manche noch mit Hautfetzen bekleidet und einige Spuren heller.
Und über allem lauerte der Gestank.
Videm erinnerte sich an die Räuberleichen in Bantafej. An die Schwefelstöcke im Styf-thal. Schließlich an die Spinnen, deren Sekret ihm in die Nase gefahren war wie das spitze Instrument, das Adiv zum Öffnen der Türen benutzt hatte. Der Gestank hier war ein Konglomerat all dieser früheren Gerüche.
Er spürte, wie Tränen in seinen Augen brannten, es in der Nase stach und der saure Geschmack im Rachen nun auch den Mund ausfüllte. Er sah, dass die anderen ebenfalls Mühe hatten, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten, wie Adiv und Akim würgten. Für den Wüstenjungen musste der Gestank nicht auszuhalten sein. Selbst die Sumpfleute hatten den Mund geöffnet, um nicht weiter durch die Nase atmen zu müssen, zogen ihre Halstücher um die Gesichter.
Er tat es ihnen gleich, aber es half nicht viel. Zitternd beugte er sich vor, legte die Hände auf die Oberschenkel. Schwäche überkam ihn. Es war zu viel. Alles war zu viel. Seine Beine gaben nach. Schwer sank er auf die Knie, inmitten des Saales, inmitten des Todes, der ihn von allen Seiten umgab.
Gillok trat zu ihm, die verbundene Hand vor die Nase gelegt. Mit der anderen zog er ihn hoch, behutsam, fast zärtlich, dabei voller Kraft. Er ließ es zu, dass der Sumpfmann ihn gegen sich lehnte, den Arm um ihn legte.
Akim und Adiv hielten sich gegenseitig fest. Syriakin hatte ihr Hände in die Mantelärmel gezogen. Ihre Finger umklammerten den Saum. Sie sah aus, als wolle sie sich in das Kleidungsstück verkriechen, aber ihre Augen bewegten sich langsam in alle Richtungen, nahmen jedes monströse Detail auf, gnadenlos und systematisch. Sie blieben an dem Mann hängen, der kichernd in der hintersten Ecke kauerte, die kleinen, spitzen Zähne in einem Stück Fleisch vergraben, während Blut aus seinen lippenlosen Mundwinkeln lief.
„Ich habe euch erwartet“, sagte der Blaukopf. Die durchscheinenden Wangen verzogen sich zu einem entstellten Grinsen.

„Was sollen wir tun?“
Die Stimme des Prinzen war noch ein gutes Stück davon entfernt, selbstbewusst und entschlossen zu klingen, doch es war die Stimme eines Kämpfers, im Einklang mit der Persönlichkeit ihres Trägers, der bei aller Unsicherheit nicht zögerte, den eingeschlagenen Weg bis zum bitteren Ende zu beschreiten.
Der Schmied mochte den hochgewachsenen Thronfolger dafür. Er hatte ihn in sein Herz geschlossen wie alle Gefährten. Sie fehlten ihm mehr, als er gedacht hätte. Am meisten vermisste er Akims bescheidenes Wesen und Adivs muntere Leichtigkeit.
Er betrachtete den Mann, dessen Verstand und Kombinationsgabe seine Altersweisheit überstiegen. Das allein hätte nicht genügt, ihm Achtung oder gar Bewunderung abzuringen. Es war Ylaiys Wille, der ihn faszinierte. Er erinnerte sich an den hageren Höfling in der Studierrobe, der ihm vor sechs Wochen am Hoftor begegnet war. Niemals hätte er geglaubt, dass aus dem weltabgewandten Büchernarr der Mann werden würde, der sich neben ihm vorbeugte und aufmerksam die Tür musterte, die das vorerst letzte Hindernis auf ihrem langen Weg darstellte.
„Ihr habt Euch verändert“, stellte Jonoy fest.
„Was? Wie kommt Ihr jetzt darauf?“
„Ach, vergesst es“, winkte Jonoy ab und räusperte sich. „Zu viele Gedanken.“
„Zum Guten, hoffe ich“, sagte Ylaiy, nachdem sie die Tür untersucht hatten.
Der Schmied richtete sich auf und sah in das schmutzige Gesicht des Prinzen. „Unbedingt.“
„Bestimmt sehe ich aus wie ein Trunkenbold aus einer heruntergekommenen Taverne“, strich sich Ylaiy über den Bart.
„Immerhin tragt Ihr Hosen und ein echtes Schwert. Statt Tinte und Kerzenwachs kleben Blut und Eingeweide an Euren Fingern.“
„Das macht mich zu einem wahrhaftigen Mann.“
Beide lachten und sahen gleich darauf zu Boden.
„Ich weiß nicht, was uns hinter dieser Tür erwartet, Ylaiy. Gut möglich, dass wir dem Blaukopf zum Opfer fallen, zu Schneestaub werden oder grauenhaften Tierwesen als nächste Mahlzeit dienen. Ich möchte ganz sicher nicht sterben, aber wisset, dass es mir leichter fiele an Eurer Seite.“
„Ich danke Euch. Es freut mich ebenfalls, Euch kennengelernt zu haben. Doch Ihr solltet auch etwas wissen.“
„Was?“
„Wir sterben nicht. Nicht so kurz vor dem Ziel.“ Damit hob Ylaiy das Schwert und ließ es gegen das Holz krachen.


Ylaiy überblickte die Anordnung der Personen und Gegenstände auf einen Blick. Das war nicht schwer, da der Raum mehr einer Höhle ähnelte, denn der vermuteten Halle. Auf absurde Weise fühlte er sich getäuscht. Dieses Loch mit der tief hängenden Decke, den schmucklosen Wänden und dem nackten Steinboden sollte die letzte Kammer sein? Er hatte Prunk und Festlichkeit erwartet, eine waffenstarrende Verteidigung, Soldaten, die auf sie zustürzten, Bestien, die sie zerfleischen wollten, Zauberzeremonien, den Norogdún. Doch alles, was seine Augen erfassten, war eine Art Altar, um den sechs schwarzgewandete Frauen standen, deren Häupter sich ihnen langsam zuwandten. Abgesehen von den blutroten Augen und den bleichen Gesichtern war das Furchterregendste an ihnen, dass ihre Köpfe sich zur selben Zeit, in derselben Geschwindigkeit, im selben Winkel drehten und sie dann alle gleichzeitig verharrten, als warteten sie auf etwas.
„Die Zauberinnen vom Blutfelsen“, flüsterte Jonoy unnötigerweise.
„Und die Kinder“, gab Ylaiy in normalem Tonfall zurück. Die Worte schienen von der Enge und der niedrigen Höhe aufgesaugt zu werden. Als würde der Schall verschluckt. „Sie liegen in Käfigen rund um den Stein in der Mitte“, erzählte er unterdrückt weiter. „Den Altar. Es sieht so aus, als hätten wir die Zauberinnen bei einem Ritual gestört. Doch sie unternehmen nichts. Weder greifen sie an, noch flüchten sie.“
Es war vollkommen überflüssig, all diese Dinge aufzuzählen, denn Jonoy stand neben ihm, sah, was er sah. Dennoch hatte er das Gefühl, reden zu müssen, weil es in der Kammer so still war. Er musste sich einfach vergewissern, nicht taub geworden zu sein.
„Die Kinder regen sich ebenfalls nicht. Irgendwie habe ich so etwas erwartet“, antwortete der Schmied. Ylaiy war erleichtert, dass er die Worte verstand, wenngleich sie gepresst und flach klangen, als wären alle Höhen und Tiefen aus Jonoys Bass verschwunden. „Sie liegen in einer Art Dämmerschlaf.“
„Sie sind doch nicht tot? Jonoy?“ Panik überfiel den Thronfolger. Er musste sich beherrschen, nicht in die Mitte des Raumes zu stürzen. Die schweigenden Frauen hielten ihn davon ab. Ihre Teilnahmslosigkeit und träge Starre wirkten bedrohlicher als die hölzernen Morrhim oder die kreischenden Flugwesen.
„Hoffentlich nicht“, gab Jonoy mit dieser tonlosen, unmelodischen Stimme zurück. „Ich denke, dass Ihr recht habt mit dem Ritual. Wir haben sie gestört. Es muss wichtig sein, denn sie müssen uns gehört haben vor der Tür. Wir waren nicht gerade leise.“
„Vielleicht auch nicht. Merkt Ihr es nicht? Der Raum dämpft alle Geräusche. Möglicherweise drangen unsere Schwerthiebe gar nicht hier herein und wir haben sie tatsächlich überrascht.“
„Warum wehren sie sich nicht?“, murmelte der Alte.
Ylaiy nahm eine Spur Nervosität in den Worten wahr. Er betrachtete die Fäuste des Schmiedes, in denen der Stab steckte. „Weil sie keine Kämpfer sind?“
„Sie haben Akim vom Felsen gestoßen.“
„Das erforderte nicht gerade Kampfkunst. Alles, was sie tun mussten, war, ihn über den Rand zu schieben. Also. Was tun wir? Angreifen?“
„Ich denke schon. Sonst stehen wir hier bis in alle Ewigkeit. Mindestens so lang, bis Verstärkung auftaucht.“
„Wie greifen wir an? Verflucht! Ich wünschte, die anderen wären hier. Denen wäre schon längst etwas eingefallen.“
„Langsam, Prinz. Unsere Möglichkeiten sind ein wenig beschränkter zu zweit. Bedenkt, dass die Zauberinnen uns zahlenmäßig überlegen sind. Auch ohne Kampfkunst.“
„Und es sind Zauberinnen.“
Während des Gesprächs hatte keiner von ihnen die Frauen aus den Augen gelassen. Diese standen stumm und reglos. Rote Augenpaare glühten sie an, ansonsten wirkten die Zauberinnen unter den Roben körperlos.
„Wir könnten uns aufteilen“, schlug der Prinz vor. „Ich nehme die linke Seite, Ihr die rechte.“
„Was wollt Ihr tun?“
„Nun, sie töten. Kampfunfähig machen. Oder nicht?“
„Hmm. Es ist schwierig, eine Entscheidung zu treffen, wenn der Feind nichts tut. Es scheint, als warten sie auf unsere Attacke, um darauf zu reagieren.“
„Sagt man nicht, dass Angriff die beste Verteidigung sei?“
„Eure Soldaten vielleicht. Syriakin würde das von der Situation abhängig machen. Manchmal hilft Abwarten, manchmal eine List.“
„Schön. Eine List. Welche?“
Jonoy kaute nachdenklich auf einer Bartsträhne. Dann raffte er sich auf, nahm die Fackel aus Ylaiys Hand und warf sie auf die ihm am nächsten stehende Frau.
Die Fackel traf die Zauberin an der Schulter. Deutlich konnte Ylaiy erkennen, wie das Feuer sie am Kinn streifte.
Die Frau gab keinen Ton von sich. Sie wischte sich über die Vorderseite ihrer Robe, als wäre sie beschmutzt worden, dann trat sie mit gleichgültigem Gesicht die Fackel aus. Die anderen Frauen zischten. Ihre Augen glommen auf. Der Brandfleck am Kinn der Getroffenen schwand, während die Luft im Raum sich kurz zu entladen schien. Jedenfalls bekamen Jonoy und Ylaiy einen Schlag gegen die Brust.
„Sie heilen sich“, verkündete der Thronfolger ungläubig.
„Hmm“, brummelte der Schmied und bückte sich nach einem Stein.
Der Brocken traf eine andere Zauberin an der Stirn, hinterließ eine Platzwunde. Diesmal war das Zischen eine Spur lauter und der darauf folgende Schlag so heftig, dass sie nach hinten torkelten. Mit einem Schmatzen sog die Wunde das Blut zurück und schloss sich.
Jonoy sah Ylaiy an. „Sie kämpfen nicht, aber sie kurieren sich. Dabei setzen sie Energie ein. Ihr habt die Schläge gespürt.“
„Deren Intensität sich nach der Stärke der Verletzungen richtet, die wir ihnen zufügen. Denken wir diesen Gedanken bis zum Ende, bedeutet das, dass wir höchstwahrscheinlich sterben, wenn wir sie töten.“
„Hmm.“
„Was nun? Wir können sie nicht verwunden und nicht töten. Meint Ihr, sie lassen uns an die Kinder?“
„Meine innere Stimme sagt Nein.“
„Wir müssen es probieren.“
„Nur zu.“
Ylaiy zog Nase und Schultern hoch und setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, während er sich auf den Altar zu bewegte. Die Arme hatte er erhoben, als wolle er friedlich verhandeln. Beim Laufen plapperte er beschwichtigende Worte, bemühte sich um Höflichkeit und einen sanften Tonfall, dessen Höhen und Tiefen jedoch vom Raum verschluckt wurden, sodass er monoton klang.
Die Köpfe der Zauberinnen folgten ihm. Sobald er im Rücken einer der Frauen war, blickte diese in die Augen der ihr gegenüberstehenden, schien dort seine Bewegungen zu verfolgen.
Auch Jonoy beobachtete gespannt, wie der Prinz, einem Aasgeier nicht unähnlich, enger werdende Kreise um den Altar zog.
Als Ylaiy merkte, dass sie ihn gewähren ließen, beschleunigte er seine Schritte. Ihre Häupter bewegten sich schneller, das Leuchten in ihren Augen wurde dunkler. Doch selbst als er sich dem ersten Käfig näherte und einen Blick auf den dunkelhaarigen Knaben warf, reagierten sie nicht.
„Sie leben“, keuchte Ylaiy erleichtert. Jonoys Aufatmen nahm er als Körperbewegung wahr. „Ich sehe, wie sie atmen. Sie scheinen wirklich zu schlafen. Der hier ist Kian. Er ähnelt Akim. Er ist blass, aber ansonsten sieht er gesund aus. Sie haben sie pfleglich behandelt.“
Vorsichtig ging er zum nächsten Verschlag. „Das ist Yvain. Er sieht ebenfalls unverletzt aus. Haut und Haare sind sauber, auch die Kleidung. Fast schon herausgeputzt. Man hat gut für die Kinder gesorgt.“
Er rang sich ein lobendes Lächeln ab, das er in Richtung der Zauberinnen aussandte, auf das sie jedoch ebenso wenig reagierten wie auf alles andere.
„Bada. Beim Thron meiner Mutter! Die Kriegerin hat eine bildschöne Tochter, das muss man sagen.“
„Die Kinder sind alle schön. Erinnert Euch“, gab der Schmied zurück und setzte sich ebenfalls in Bewegung, scheue Seitenblicke auf die Frauen werfend.
„Richtig. Der Kleine hier muss Arlen sein. Seht ihn Euch an. Diese Locken. Aber nicht rothaarig wie Adiv.“
„Warum auch? Er ist nicht mit ihr verwandt.“
Nachdem sie unbehelligt mehrere Runden um Käfige und Altar gedreht hatten, zogen sie sich an den Eingang zurück und steckten die Köpfe zusammen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Ylaiy. „Sollen wir die Käfige sprengen? Die Schlösser sind simpel und widerstehen keinem Schwert.“
„Dann stellt sich die Frage, warum sie überhaupt in Käfigen liegen“, gab Jonoy zu bedenken. „Sie könnten die Stifte sogar selbst hochschieben.“
„Das ist wahr“, stimmte Ylaiy düster zu. „Steckt dahinter etwas Teuflisches? Was glaubt Ihr?“
„Ich denke, dass es Zauberkäfige sind. Doch wofür?“
„Um die Kinder an der Flucht zu hindern.“
„Mit den Schlössern? Und wozu dann die Bewacherinnen?“
„Möglicherweise geht es darum, die Kinder zu schützen.“
„Wovor?“
„Räubern? Wilden Tieren? Der seltsamen Energie?“
„Hmm. Der Vogel kreischte, dass sie die Zukunft seien. Sie sind wertvoll für die Insel und das Volk hier.“
„Dann sind die Frauen zum Schutz abgestellt. Sie sind Heilerinnen. Schamaninnen. Priesterinnen. Etwas in der Art. Ich wette, sie haben die Kinder in diesen Schlaf versetzt. Sie sorgen dafür, dass sie gesund und am Leben bleiben.“
„Dann müssen wir uns umso mehr vor ihnen hüten.“
„Ja“, strich sich Ylaiy über den Kopf. „Womöglich schaden wir den Kleinen, wenn wir die Käfige öffnen, oder töten sie gar, wenn wir sie aufwecken.“
„Vielleicht sollten wir mit ihnen sprechen“, wies Jonoy auf die Priesterinnen, deren Augen wie Holzkohle glommen.
„Bislang zeigen sie kein Bedürfnis nach Kommunikation.“
„Es ist denkbar, dass sie nicht miteinander reden müssen, um sich zu verständigen. Denkt an die Morrhim.“
„Heyda, ihr!“, rief Ylaiy statt einer Antwort in den Raum.
Alle Augen bohrten sich sofort in ihn. Wie winzige Stifte, die in sein Fleisch getrieben wurden. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in seinem Unterleib breit.
Er räusperte sich. „Wir sind Freunde der Kinder. Wir wollen ihnen nichts Böses, ganz so wie ihr. Im Grunde genommen stehen wir auf derselben Seite. Jeder von uns will sie beschützen. Wir“, schoss er Jonoy einen schnellen Blick zu, den dieser beklommen erwiderte, „kennen sie allerdings besser. Wissen, wie man mit ihnen umgehen muss, was sie brauchen, was ihnen schadet. Ich glaube, es ist sinnvoller, wenn wir uns ihrer annehmen. Natürlich danken wir euch für eure Fürsorge. Man sieht, dass ihr euch gut um sie gekümmert habt.“
Seine Äußerungen prallten an ihnen ab. Sie musterten ihn aus glimmenden Augen, regten jedoch keinen Muskel.
„Also dann“, sagte er mit betont forscher Stimme, sah Jonoy an und bewegte sich strammen Schritts zu dem Käfig, hinter dem er seinen Vetter wusste.
Der Schmied zögerte einen Herzschlag lang, bevor er zu dem Käfig des Mädchens ging. Er spürte die Blicke der Priesterinnen auf sich gerichtet. Sie schienen ihn auf der Stelle gehen zu lassen.
Er erreichte den Verschlag gleichzeitig mit Ylaiy, legte eine Hand auf den Riegel. Das Aufleuchten der roten Augen ignorierte er ebenso wie das bissige Zischen, das jetzt anhob und klang, als wäre ein Rudel Schlangen erwacht.
Er zwang sich zur Konzentration. Seine schwielige Hand hatte Mühe, den dünnen Metallstift zu fassen und nach oben zu ziehen. Ylaiys schlanke Finger hatten es einfacher. Seine Käfigtür sprang kurz vor Jonoys auf.
„Sie können zaubern, aber keine quietschende Tür ölen“, grummelte der Schmied.
Das Zischen verwandelte sich in ein Brummen. Keine Schlangen mehr, sondern eine Armee blutrünstiger Stechmücken. Aufgebracht und zornig. Er sah nur kurz hoch, bevor er sich zu dem schwarzhaarigen Mädchen beugte, erschrak vor den Augen, aus denen Blitze schossen. Der Raum füllte sich mit dem Geruch von verbrannten Kleidern. Er betastete seinen Rücken, fühlte versengten Stoff. „Ylaiy!“, schrie er. „Sie zaubern. Wir müssen weg!“
Der Prinz kam nicht zu einer Antwort, da unmittelbar vor seiner Brust ein roter Strahl gegen das Gerüst des Käfigs fuhr und als Funkenregen auseinanderstob.
Er torkelte zurück.
Das Brummen erhob sich zu einem wütenden Sirren. Fieberhaft suchte der Thronfolger nach einem Vergleich, gab auf. Sein Geist musste warten, solange sein Körper damit beschäftigt war, sich vor den heranschießenden Blitzen und Lichtkugeln in Sicherheit zu bringen.
Es war, als stünde er in einem Hagel aus Licht und Feuer. Er konnte nicht ausmachen, was die Entladungen verursachte, wo die Quelle lag. Allerdings begriff er, dass Jonoy und er das Ziel waren.
Wogen von Energie rollten über alle Oberflächen des Raumes gleichzeitig, verzerrten die Dimensionen. Altar, Wände, Boden und Decke kamen ihm plötzlich nicht mehr wirklich vor, sondern wie ein Bild der Wirklichkeit. Ylaiy hatte das Gefühl, eine Leinwand flattern zu sehen, glaubte, aus der Realität gerissen zu werden, verlor Zeit und Raum. Alle Sinne saugte eine unsichtbare Kraft aus ihm heraus. Er konnte sehen, hören, schmeckte Metall und roch etwas, das ihn an Blands Knallpulver erinnerte; er fühlte die Käfigstangen unter den Fingern, doch seine Sinne arbeiteten nicht mehr zusammen. Einzeleindrücke rauschten heran, stolperten in seinen Geist, ergaben keinerlei Bedeutung. Sie waren verzerrt, gebogen, verkrümmt, genauso wie der gesamte Raum sich in den Ecken zu krümmen schien.
Er merkte, dass er schrie. Jedenfalls stand sein Mund offen. Die Lippen passten nicht mehr aufeinander, schwollen an, gehörten nicht ihm, aber sie saßen in seinem Gesicht, irgendwo oberhalb des Kinns, zogen sich über seine Zähne zurück, in denen es schmerzhaft hämmerte. Er glaubte, seine Schreie zu hören. Lange Töne, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Inmitten dieser vergewaltigten, verunstalteten Wirklichkeit setzte Ylaiys Überlebensinstinkt ein. Etwas Urmenschliches, Archaisches kribbelte in den Zehen, stieg die Waden empor, breitete sich im Bauchraum aus, erfasste die Organe, wurde in die Arme getragen, spülte in die Bronchien, perlte die Wirbelsäule entlang, gelangte in den Kopf, ersetzte das Denken.
Er reagierte, ohne zu wissen, was er tat. Selbstständig trugen ihn seine Beine durch eine zähe, klebrige Schicht aus Bildern, Lärm und Eindrücken zu Jonoy, dessen Fäuste an den Käfigstäben rüttelten, während um ihn herum glühende Kugeln und Strahlen auf den Käfig sprangen, im Zickzack die Richtung änderten, wie toll auseinanderstoben. Ylaiys Hände ergriffen ihn, rissen ihn los, stopften und drückten ihn zu Bada in den Käfig.


Sofort war Ruhe.
Träge schüttelte Jonoy das Haupt, zupfte an seinem Bart. Die Verwirrung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Noch verschleierten Schrecken und Panik die Sinne, aber er war bereits wieder in der Lage, alles zu erfassen und zu deuten. „Der Käfig“, murmelte er.
Der Käfig, aus dünnen Metallstäben zurechtgebogen, mit einem simplen Verschlussmechanismus versehen, war die einzige Bastion vor dem qualvollen Toben außerhalb. Das Gitter schützte vielleicht nicht vor Tieren oder Räubern, nicht nachhaltig jedenfalls, doch es schirmte ab vor den Kraftkugeln, die die Zauberinnen herumschleuderten wie übermütige Kinder einen Ball.
Die Priesterinnen standen so unbewegt wie zuvor, aber ihren Gesichtern haftete nichts Menschliches mehr an. Das rote Glühen ihrer Augen hatte sich ausgebreitet, sodass keinerlei Züge mehr erkennbar waren. Flammen züngelten um ihre formlosen Köpfe, Feuer hüllte sie ein. Jonoy bezweifelte, dass es sich um echtes Feuer handelte, trotzdem richtete es ebenso viel Schaden an.
Er sah, wie die Zauber Wände verbogen, Feuersbrünste schufen, als Lichtsäulen aus dem Boden stiegen, sich wie ein Fächer über den Raum ausbreiteten. Hörte, wie sie knisternd und brüllend über die Erde krochen und über die Decke rasten. Fühlte ihre Energie bis in die Fingerspitzen, roch den Gestank von Tod und Verderben, schmeckte die Hitze auf seiner geschwollenen Zunge.
Doch sie kamen an ihn nicht heran. Nichts kam an ihn heran. So lange er in diesem Käfig lag, war er sicher. Falls er nicht langsam im eigenen Saft schmorte. Das allerdings konnte noch eine Weile dauern. Mit ein wenig Glück erlahmten bis dahin die Kräfte der Frauen.


Ylaiy rutschte, torkelte und schlitterte unterdessen zu Yvains Verschlag zurück, quetschte sich unter dem Gitter hindurch. Schlagartig konnte er wieder denken, klar und logisch. In Sekunden hatte sein Verstand die Situation analysiert.
„Egal, was passiert, wir bleiben in den Gehegen“, brüllte er Jonoy zu und betrachtete verwundert den Blutbach, der aus seiner Nase gestürzt war und den Hals hinunter lief. Er zog die Nase hoch, spuckte blutigen Rotz zwischen den Stäben nach draußen, bevor eine angenehme Ruhe ihn erfasste.
Glücklicherweise tobten noch immer die Zauberinnen, sonst wäre er auf der Stelle eingeschlafen.
„Ylaiy!“, drang die Stimme des Schmieds an seine Ohren.
„Was ist?“, stammelte er und öffnete die Augen. Er erinnerte sich nicht, sie geschlossen zu haben.
„Ihr müsst wach bleiben. Irgendein neuer, teuflischer Zauber wird da gewirkt. Sie schläfern uns ein!“
„Gut“, sagte der Thronfolger und schloss die Augen.
Wärme durchflutete ihn, hüllte ihn ein wie der Duft Silas nach dem Liebesspiel. Ihr biegsamer Körper schmiegte sich an ihn, heiß, weich und klebrig. Er stöhnte behaglich.
„Ylaiy“, seufzte sie in diesem kehligen Tonfall, den die Erregung ihr bescherte.
„Hmm.“ Genießerisch sog er ihren Duft ein, presste seine glühenden Wangen in ihr feuchtes Haar.
„Ylaiy“, sagte sie wieder, doch diesmal runzelte er die Stirn. Ein Misston hatte ihn gestört. Ihre Stimme klang nicht mehr erregt, sondern ungehalten. Angespannt.
Widerwillig öffnete er die Augen und blickte in ein Kindergesicht. Er sah große, hellbraune Augen mit goldenen Flecken darin. Lange, geschwungene Wimpern, für die jede Frau im Palast bedingungslos getötet hätte, gerunzelte Brauen in vollkommenem Schwung, hellrosa Lippen über weißen, kleinen Zähnen. Die Lücken in den Zahnreihen wirkten niedlich, unterstrichen die Anmut des blassen Gesichts.
„Was?“, entfuhr es ihm. Entsetzt richtete er sich auf, biss sich auf die Zunge, als er gegen die Käfigdecke stieß.
„Nicht einschlafen“, sagte ein Stimmchen in fehlerlosem Yr. „Der Schlaf ist schädlich. Sie benutzen ihn, um deine Gedanken zu verwirren, dir schlimme Ideen einzupflanzen. Es ist ein böser Schlaf.“
„Yvain?“, fragte er verständnislos. „Du bist wach?“
„Ihre Kräfte sind auf dich gerichtet. Auf dich und den Mann bei Bada. Sie wollen zerstören.“
„Sie sind abgelenkt?“, brachte Ylaiy nach kurzem Nachdenken zustande.
„Sie verbrauchen ihre Zauber für euch. Damit lösen sie die Fesseln um unsere Köpfe. Sieh! Alle sind erwacht, auch der alte Mann.“
Der Prinz folgte dem ausgestreckten Arm. Um ihn herum, außerhalb des Käfigs, zerbrach die Welt in Chaos und Unordnung. Der Raum war so hell erleuchtet, als schiene eine Sonne in ihm. Doch das Licht stand nicht still, war nicht behaglich warm, sondern eine unruhige, fieberhafte Hitze.
In den Käfigen herrschte Frieden. Trügerisch und von kurzer Dauer mochte er sein, aber er hatte ausgereicht, die Kinder nach Wochen des bösen Schlafes zu wecken. Bada und die beiden anderen Jungen, Arlen und Kian, saßen auf dick gepolsterten Lagern. Jonoy kauerte neben Bada, betrachtete die Umgebung mit verschwommenen Blicken.
„Sie können nicht alles gleichzeitig“, dämmerte es Ylaiy. „Nur eins. Kämpfen, heilen oder Menschen in künstlichen Schlummer versetzen. Alles zusammen kostet zu viel Energie.“
„Sie haben viel Kraft“, hauchte Yvain. „Sie ist überall an diesem Ort. Unerschöpflich, solange man hierbleibt.“
„Magnetfelder“, nickte Ylaiy. „Pure Energie. Reserven. Aber nicht unendlich.“
„Sie steckt in der Erde, im Ozean, in der Luft. Sie ist grenzenlos.“
„Allerdings man muss sie sammeln, in sich aufnehmen, kanalisieren. Das beansprucht die eigene Kraft, den Körper, den Geist. Wäre es nicht so, könnten sie sich aufteilen. Ihre Macht auf verschiedene Dinge richten. Doch sie brauchen einander, können nur eines zur selben Zeit. Das freilich können sie gut“, fauchte er und zog den Kopf zwischen die Knie, als mehrere Energiestöße auf den Käfig trafen und ihn durchrüttelten.
„Ich frage mich, was sie vorhaben“, rief er Jonoy zu.
„Sie wollen töten“, mischte sich der Junge mit den braunen Locken ein.
„Uns alle“, bestätigte Kian, der Kleinste.
„Lieber opfern sie alles, als ihren Anführer zu verlieren“, sagte das Mädchen.
Ylaiy war überrascht, wie gut sie alle die Reichssprache beherrschten. Sie sprachen in den Akzenten ihrer Heimat, aber die Worte kamen ihnen flüssig über die Zunge.
„Und jetzt?“ Der Thronfolger sah die Kinder der Reihe nach an.
„Jetzt sind wir dran“, gab Arlen ruhig zurück.
„Dafür müssen wir in denselben Käfig“, nickte Bada.
„Wir brauchen die Berührung“, erklärte Kian.
„Du wirst sie ablenken müssen“, wandte sich Yvain an den zukünftigen Kaiser.
„Wie stellst du dir das vor? Da geht ein Funkengewitter nieder. Ein Hagelsturm an Energie. Ein … ein … Schauer an Blitzen. Ich … Das hält kein Mensch aus. Man stirbt dort draußen!“
„Du hast den Stein.“
„Stein? Welchen Stein? Ich habe keinen Stein.“
„In deiner Brusttasche“, rief Bada.
„Seine Kraft strahlt hell“, fügte Kian hinzu.
„Was? Wovon reden sie?“, fragte der Prinz den Schmied.
„Seht in Eurer Tasche nach!“
Ylaiys Finger fuhren unter versengte Kleiderschichten, nestelten an dem Brustbeutel. Seine Augen wurden groß, als er die unregelmäßigen Kanten des Klumpens ertastete und ihn heraus zog. „Der Obsidian?“
„Glasstein“, nickte Yvain.
„Er strahlt Kraft aus? Ich sehe nichts.“ Ylaiy betrachtete den Stein mit den ausgelaufenen Rändern von allen Seiten.
„Wir sehen sie“, erwiderte Arlen.
„Die D’araa auch“, wies Kian auf die Zauberinnen, deren Roben qualmten.
Sie hatten keine Lippen mehr. Ihre Münder waren verschwunden. Dennoch wurde aus dem sirrenden Geheul ein fassungsloses Kreischen, als Ylaiy den Obsidian in die Höhe reckte.
Zu Tode erschrocken zog er ihn zurück in seinen Schoß, denn alles Licht und alle Energie im Raum hatten sich unversehens auf den Stein konzentriert. Aus allen Richtungen, Ecken und Winkeln kamen Feuerpfeile auf ihn geschossen.
Als sich Atmung und Herzschlag normalisiert hatten, begriff Ylaiy, dass der Stein genau dies tat: Kräfte einfangen, bündeln, sie im Inneren bewahren.
„Ich nehme an, ich laufe mit ihm herum und fange das Licht ein, während ihr alle zu Jonoy lauft?“
„Nicht zu Jonoy“, erwiderte sein Vetter.
„Es würde ihn gefährden“, sagte Kian.
„Wir gehen zu Arlen“, setzte Bada hinzu.
„Gleichzeitig“, befahl dieser und öffnete die Käfigtür, woraufhin das Kreischen sofort eine Spur zorniger wurde.
„Jonoy!“, brüllte Ylaiy. „Eventuell hatte ich unrecht.“
„Womit?“
„Vielleicht sterben wir doch. So kurz vor dem Ziel.“
„Waren die Kinder nicht das Ziel?“
Ylaiy grinste. „Sorgt dafür, dass sie hier heil herauskommen. Versprecht Ihr mir das?“
„Versprochen. Aber – Prinz?“
„Was?“, murmelte Ylaiy, während er sich bereitmachte.
„Ihr werdet nicht sterben. Nicht jetzt, wo wir das Ziel erreicht haben.“
„Wir werden sehen.“
Ylaiy sprang aus dem Käfig, den Obsidian über das Haupt gereckt.
Er rannte zum Altar, stürmte hinauf. Der Lichtersturm erfasste ihn, brachte ihn ins Strudeln, doch er schaffte es, stehen zu bleiben, breitbeinig und mit erhobenen Armen wie eine Statue.
Der Obsidian fing Strahlen, Feuerpfeile, Lichtsäulen und Energiepunkte ein wie eine Fliegenfalle. Alles Licht, das durch den Raum irrte, geisterte, schwamm, rann, kroch und schwirrte, stob auf ihn zu. Binnen Sekunden brannte er.
Ylaiy schrie auf, als geschmolzenes Glas den Unterarm hinunter lief. Er musste die Augen verschließen, weil das Licht sie geißelte. Um ihn herum gurgelte die Luft. Sie schien sich zu verschlucken, hustete, bellte. Ylaiy biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie sich lockerten und abschliffen.
Er stand da, schrie und schrie. Tränen liefen über seine Wangen, tropften von Nase und Kinn wie das flüssige Glas von seiner Hand. Seine Haarspitzen kräuselten sich von der Hitze, verbrannten knisternd. Er roch angesengtes Fleisch. Sein Fleisch. Rauch stieg von ihm auf, ätzend und beißend, hüllte ihn ein. Entsetzt merkte er, wie der Schmerz ihn betäubte, in die Knie zwang. Er kämpfte gegen die Ohnmacht an, die schlimmer war als der böse Schlaf, weil es kein Erwachen geben würde; also kämpfte er und schrie und kämpfte und merkte doch, dass er verlor. Der Stein glitt ihm aus der Hand und fiel, das eingefangene Licht verspritzend.
Dann war schwarzer Friede.

Er war lang und mager, entsetzlich mager. Seine prachtvolle Robe hatte er abgelegt. Nackt bis auf Hose und Stiefel faltete er sich zu seiner vollen Größe auf, bis er sie alle um mehr als Haupteslänge überragte. Sein Bauch war so zurückgesunken, dass die Bewegungen des Zwerchfells sich deutlich abzeichneten.
Er war noch hässlicher, als Adiv gedacht hatte. Sie war bemüht, sich das Zittern in ihren Kniegelenken nicht anmerken zu lassen, drückte Akims Hand fester. Ein Muskel unter ihrem linken Auge begann, unkontrolliert zu zucken.
Seine bläuliche Haut schimmerte fahl im grauen Licht, sein dünner, haarloser Kopf glänzte matt. Augen, lidlos, wimpernlos, farblos, starrten sie an. Sie wirkten zu groß für die Höhlen. Er schien nicht zu blinzeln, sondern nur zu starren, immerzu zu starren, als wolle er sie alle bis in das Mark ihrer Gebeine durchleuchten. Nackt fühlte sie sich unter dem beinahe lüsternen Blick. Nackt und wehrlos, obwohl sie zu fünft waren und er allein.
Sie sah keine Muskeln, keine Sehnen, nur blaue Haut und weiße Knochen. Abgesehen von der Tatsache, dass er atmete, sprach und sich mit der Trägheit bewegte, die vielen hochgewachsenen Menschen innezuwohnen schien, unterschied er sich nicht wesentlich von den Kadavern, die sich um ihn auftürmten. Dennoch kündete sein Körper von großer Kraft. Sie hätte nicht sagen können, weshalb. Waren es die eckigen Schultern und Schlüsselbeine? Der glatte Rumpf ohne Brustwarzen oder Bauchnabel? Die unbehaarten Arme mit den grotesk langen, biegsamen Fingern?
Was auch immer für den Eindruck verantwortlich war: Sie fürchtete sich vor dem lebenden Leichnam. Nicht zuletzt, weil ihm Blut die Mundwinkel hinab lief, das er gierig mit der Zunge aufleckte, nachdem er sich die Finger, einen nach dem anderen, in den Mund gesteckt hatte. Instinktiv hatte sie sich halb zur Seite gedreht und einen Fuß ausgestellt, obwohl sie wusste, dass es keinen Weg aus der unterirdischen Festung gab. Zumindest keinen, der sie schnell genug aus der Reichweite dieses monströsen Mannes brachte.
„Ich habe auf euch gewartet“, wiederholte der Norogdún und sah sie der Reihe nach an: Videm, der schlaff und teilnahmslos in Gilloks Griff hing, Gillok, der dem Hünen in die Augen blickte, Syriakin, die weniger aufrecht stand als gewöhnlich, Akim, der so hart schluckte, dass Adiv die Bewegung in ihrer Handfläche spürte. Sie selbst, deren Knie zitterten. Ihr war, als weilten seine Augen auf ihr am längsten, als fühle er die Furcht in ihr, weide sich daran.
„Ich hatte nicht erwartet, dass ihr es schafft. Als meine Kundschafter mir berichteten, dass ein Junge sich aufgemacht habe, seinen Bruder zu suchen, und eine Frau ihre Tochter, da lachte ich. Dachte, dass es eine Prise Abwechslung bringen würde in mein tristes Leben. Überlegte, wer von beiden am weitesten kommen würde. Ich tippte auf sie.“ Der blutbesprenkelte Zeigefinger wies auf Syriakin.
Akim roch das Fleisch, das an dem Finger klebte, klammerte sich an Adivs Hand.
„Doch das Wüstenkind ist zäh. Es fand den Felsen, den nur wenige jemals zu Gesicht bekommen hatten. Es überlebte den Sturz. Da bekam ich die erste Ahnung. Von der Gefahr, in der ich schwebte. Mein Volk. Meine Insel. Zumal ich erfuhr, dass der Junge Hilfe gefunden hatte. Einen Greis. Weise, herumgekommen in eurer Welt. Stark. Ausdauernd und zupackend. Sie indes blieb allein, ausgestoßen von ihrem Stamm, verflucht von den eigenen Leuten, in einem Land, über das Feuer und Krieg ziehen.“
Adiv sah, wie Syriakin sich streckte, das Kinn vorschob.
„Ich änderte meine Meinung. Der Junge und der Alte erreichten die Hauptstadt, den Kaiserhof. Sie würden weiter kommen. Wie weit? Was konnten sie wissen? Wir leben im Geheimen, seit vielen Jahrhunderten. Wer würde ihren Märchen glauben?“
„Ylaiy“, gab Videm hustend zurück.
„Der Prinz“, nickte der Menschenfresser. „Ich lachte, wie ich lange nicht mehr gelacht hatte, obschon meine Berater schwiegen, berieten, zweifelten. Der vul Dran’o, Prinz Glück, dem das Schicksal übermäßig wohlgesonnen blieb. Ab da wurde die Angelegenheit bedenklich. Nicht gefährlich, noch nicht, doch bedenklich. Zumal der schlaue Mann ihn begleitete. Der Inquisitor. Der die richtigen Fragen stellte, schnelle Schlüsse zog, nachdachte, Zusammenhänge herstellte. Baraten. Ein gefährlicher Mann. Sehr gefährlich. Eifrig, streng, schlau, grausam bisweilen, aber unbestechlich und leider auf der falschen Seite stehend.“
„Also stecktet Ihr dahinter?“, zischte Videm. „Ihr habt ihn umgebracht?“ In seinen Augen glomm Hass auf.
Der Norogdún zuckte mit den spitzen Schultern. Beiläufig, wegwerfend. „Ich bin der Kriegsherr. Ich erteile Befehle. Ihr solltet alle sterben, oben in Bantafej. Der Prinz, Baraten, der Sohn. Die Tochter Veis.“
„Warum?“, fragte die Kriegerin.
Lidlose Augen wandten sich ihr zu. Der lippenlose Mund verzerrte sich zu einem Lächeln. „Ah, die Frau, die so schnell denkt, wie sie läuft und schießt. Nun denn: Der Prinz und Baraten waren in der Lage, Geheimnisse zu lüften, die besser ruhen sollten. Sie wussten von meiner Insel, von meinem Stamm, unserer Geschichte. So wie der greise Büchermann. Der Junge“, ließ er seine Augen zu Videm weiterwandern, „wusste schon zu viel. Selbst Veis Tochter mochte einiges aufgeschnappt haben; sie ist scharfsinnig wie ihr Vater.“
„Wie hätte eine Bedienstete von den Dingen wissen sollen?“ Die Worte der Sumpffrau kamen flüssig über ihre Lippen; zu flüssig, zu schnell. Adiv durchschaute ihre Absicht genauso wie der Kriegsherr. Man musste sich vor ihm in Acht nehmen.
„Die Unschuld vom Lande steht dir nicht. Wir alle wissen doch, dass sie weit mehr war als eine Kammerzofe. Der Prinz teilt das Bett mit ihr, seit Jahren schon. Was er weiß, weiß auch sie. Außerdem: Sie ist Veis Sprössling. Wer weiß, welche Rolle ihr noch zugefallen wäre?“
„Wusste Vei von Euch?“
„Nur das Nötigste. Nur, was wir für wichtig hielten. So wie die anderen.“
„Jodanam“, sagte Syriakin.
„Oh, er war nicht so leicht zu überzeugen, wie du glauben magst.“
„Jorgen?“, fragte Adiv.
„Jorgen. Andere Helfer, die auf die Belohnung aus waren, die wir ihnen in Aussicht gestellt hatten.“
„Was denn?“, schnaubte die Kriegerin.
„Das, wonach alle streben. Reichtümer, Land, ein Titel, Macht. Aber nicht so schnell, Frâgg, du verdirbst mir meinen Auftritt.“
„Wo sind die Kinder?“ Ihre Augen zuckten über die Leichenberge.
Er streckte eine Hand aus. Die Handfläche war weich, von rosafarbenen Adern durchzogen. Adiv grauste bei dem Gedanken an eine Berührung.
„Du musst dich gedulden. Erst meine Geschichte. Der Reihe nach.“
„Leben sie?“
„Geduld, Weib.“
„Sind sie am Leben?“ Sie schleuderte ihre Worte harsch und unbeeindruckt. Ihre Augen funkelten finster.
Der Hüne bog sich in der Hüfte ein und kicherte.
Das Vergnügen eines Wahnsinnigen, dachte Adiv.
Erstaunlicherweise wirkte der Gedanke befreiend. Ihre Angst floss zusammen, verhärtete zu einem zähen Klumpen, der in ihrer Magengrube schlummerte, den sie aber ignorieren konnte. Sie fühlte erste Spitzen des Aufbegehrens gegen ihre Rippen schlagen.
„Dann kamst du“, fuhr der Letztgeborene fort, als wäre die Kriegerin aus Luft. „Kamst ihnen zu Hilfe, rettetest alle bis auf Baraten, so wie du dem Jungen und dem Greis das Leben gerettet hattest, draußen in den Sümpfen. Der kleinen Frau. Sie war auch so ein Zufall. Unberechenbar, diese Zufälle. Aufregend. Bringen ein wenig Würze. Noch war ja nichts verloren, nicht wahr? Alles, was ihr hattet, waren einige dünne Spuren, ein paar Gemeinsamkeiten, uralte Geschichten, die niemand ernst nahm.“
„Verzweiflung und Hoffnung“, entgegnete Akim.
„Ah, das Wüstenkind hat sprechen gelernt. Und welche Worte es gebraucht! Verzweiflung, ja. Ein starker Antrieb. Hoffnung. Der letzte Faden, an den man sich klammert. Ja. Ja, du hast recht. Diese menschlichen Eigenheiten! Sie hatte ich nicht eingerechnet. Nein. Ich gebe es zu.“
Er hielt ein, die Augen nach innen gekehrt, an den Fingerspitzen saugend. „Die Sumpffrau führte alles zusammen. Euch. Gemeinsam fandet ihr heraus, um was es geht, nicht wahr?“
„Die Kinder sind sich ähnlich“, gab die Kriegerin nach kurzem Nachdenken leise zurück. „Sie sind stark, schlau, unabhängig. Besonders.“
„Charismatisch“, warf Adiv ein, verstummte jedoch sofort wieder.
„Besonders, ja“, entgegnete der Blaukopf, ohne sie zu beachten. Seine wimpernlosen Augen starrten Syriakin an. „Hast du eine Ahnung davon, wie besonders sie sind? Die Jungen? Deine Tochter? Weißt du das überhaupt?“
„Sie sind verwachsen mit ihrer Umwelt“, erklärte Adiv, als die Kriegerin nicht antwortete. „Sie werden kaum krank, heilen schnell.“
„Sie sind Wunder“, zischte der Norogdún. „In ihren Adern fließt gesundes, starkes Blut. Ihre Knochen sind zart und biegsam, dabei so unzerbrechlich wie Eisen. Ihnen machen die Elemente nichts aus. Sie vertragen Dürre genauso wie Wasser, Hitze genauso wie Kälte. Sie können hungern, dursten, ohne Schlaf auskommen. Sie sind gerade gebaut, makellos. Schlau! Die Menschen lieben sie. In einigen Jahren, wenn ihre Körper ausgewachsen sind, und ihre Geister geschult, werden sie vergöttert werden! Die Menschen hören ihnen zu, glauben ihnen, verehren sie! Jetzt schon. Stellt euch vor, wie sie sein werden!“
„Göttergleich? Die Untertanen eines blutarmen Schwächlings? Braucht Ihr die Kraft von Kindern, um Eure eigene degenerierte Gestalt zu stützen? Euch beliebt zu machen? Durch sie?“
Gilloks Stimme hatte sich erhoben wie ein Sturm. Sie donnerte durch die Halle, wehte silbrige Haarsträhnen und Totenstaub beiseite, erreichte die umgestülpten Löcher, die der Letztgeborene an Stelle von Ohren trug.
Der Norogdún brüllte auf, ein Laut wie der Todesschrei eines verwundeten Tieres. Mit wenigen Schritten war er bei dem Sumpfmann, langte um dessen Hals, warf ihn wie eine Gliederpuppe auf einen Leichenhaufen, der klappernd in sich zusammenfiel. Videm wurde durch die Wucht des Wurfes zur Erde geschleudert.
Adiv sah jede einzelne Bewegung des Inselherrn, denn er bewegte sich mit der Verzögerung von Menschen unter Wasser. Und doch war selbst Syriakin nicht schnell genug, ihn aufzuhalten.
Akim wollte Gillok zu Hilfe eilen. Der Norogdún stieß ihn achtlos zur Seite, weil die Kriegerin bereits mit gezückten Messern auf ihn zuflog, breitete die Arme aus, stellte sich ihr in den Weg. Sie wollte seitlich unter den Armen wegtauchen, aber diese fuhren wie Lanzen nach vorn, hebelten die Messer beiseite, krallten ihre Handgelenke. Der Hüne pflückte sie aus der Luft, schob sie vor sich. Wie Klammern schlossen seine Arme sich um ihren Hals. Sofort prügelte sie auf seine Unterarme ein, doch mit einem brutalen Ruck riss er ihren Kopf zurück.
Das alles war so rasch vonstattengegangen, dass Adiv sich noch keinen Fingerbreit bewegt hatte. Erst jetzt stieß sie den angehaltenen Atem aus, schluckte mit trockener Kehle.
Akim half Videm vom Boden auf, schaute besorgt nach Gillok, der inmitten von sterblichen Überresten auf der Erde lag.
Auch Syriakin schielte zu ihrem Gefährten, schnell, unauffällig. Sie erschlaffte, gab dem Blaukopf zu verstehen, dass er nicht mit weiterem Widerstand rechnen musste. Adiv betete, dass sie ihn nur in Sicherheit wog.
„Wo sind die Kinder?“, fragte die Sumpfjägerin gepresst.
„In unserer Obhut.“
„Sind sie am Leben?“
„Natürlich. Sie sind meine Zukunft.“
„Es war alles ein Plan, nicht wahr? Sie wurden nicht zufällig ausgewählt. Ihr braucht sie als Waffe.“
„Waffe?“, wiegte er nachdenklich den Kopf. „So habe ich sie noch nicht gesehen. Aber ja, es gab einen Plan. Einen sehr guten, wie ich finde.“
„Was habt Ihr vor? Sie zu Unteranführern machen?“
„Gewissermaßen. Ja. Doch. So könnte man sagen.“
„Wie?“, stieß Syriakin hervor. Es fiel ihr schwer, Luft zu bekommen. Akim sah, wie ihre Rippen sich beim Einatmen gegen ihren Mantel drückten.
„Erziehung. Sie sind im richtigen Alter. Alt genug, um nicht unversehens zu sterben. Jung genug, um Neues aufzunehmen. Gelerntes zu vergessen. Meine Berater verfügen über gewisse Kräfte. Sie können den Geist beeinflussen. Die Kinder werden in meinem Sinne lernen, meine Herrschaft sichern.“
„Ihr seid verrückt“, keuchte die Kriegerin und unterdrückte ein Stöhnen, als der riesenhafte Mann die Armklammer fester zog.
„Ich bin ein kühner Denker. Ein Planer. Ein Mann, der zugegebenermaßen höchst interessiert ist an Macht und Geltung in der Welt. Denn was nützt es, über ein Volk zu herrschen, und niemand sieht es?“
„Die Kinder werden Euch niemals folgen“, sagte Akim. „Mein Bruder liebt meine Mutter. Er wird sie nie vergessen. Die anderen ihre Herkunft ebenso wenig. Und die Tatsache, dass sie geraubt wurden.“
„Das werden sie“, widersprach der Blaukopf. „Es ist ein langer Prozess, umständlich und kompliziert, doch er wird erfolgreich sein. Sie werden die Inseln für mich erobern, eine nach der anderen, von unten, aus dem Volk kommend. Ich brauche keine Armeen, nur wortgewandte Gesandte. Wenn die ersten Worte gesprochen, der erste Samen gelegt ist in den Köpfen der Alten Völker - des Sumpfvolks, der Madif, der vergessenen Stämme der Sta, der Insassen der Boragha - wird die Saat aufgehen. Sie werden den Kindern folgen und damit mir. Ich werde herrschen. Ein Inselreich wird mir untertan sein!“
„Wozu?“, fragte Adiv.
„Blut“, stöhnte die Kriegerin, die Augen verdreht.
„Was?“
„Sie meint, dass ich das Blut brauche, um zu überleben“, erklärte der Norogdún beinahe freundlich. Er lockerte den Griff so weit, dass Syriakin rasselnd nach Luft schnappen konnte. „Ich bin der Letztgeborene, verstehst du? Der Allerletzte meiner Art. Die B’shua mischten sich mit den Drahór. Sie bekamen Nachkommen, Mischlinge, aber fast alle starben. Der Letzte, der überlebte, war ich. Die Morrhim waren die Letzten des geflüchteten Volkes, das die Drahór aufnahmen und zu ihren Sklaven machten. Wertvolle Sklaven. Sie brachten frisches Blut, Kraft, Lebendigkeit. Drahór sind zauberkundig, gleichzeitig jedoch schwach und anfällig. Die Energie spendet Zauberkraft, doch sie nimmt von Körper und Geist. Jahrhunderte schon. Wir holten frisches Blut. Von Kindern. Jungen Erwachsenen. Drüben in Fedaj. Von anderen Inseln. Es reicht nicht. Die Frauen, die wir schwängerten, überlebten nicht. Genauso wenig ihre Brut. Die Reisen kosten Zeit. Kraft. Der Felsen muss bewegt werden für die Vögel. Muss losgelöst werden aus der magischen Klammer. Zeremonien müssen gehalten werden. Kraft, viel, viel Kraft, wird dabei verbraucht. Sie nimmt ab, je weiter die D’ulan sich von der Insel entfernen. Und das Kaiserreich wächst. Immer mehr Menschen, überall. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist groß. Doch wenn ich herrsche, habe ich die Macht. Frisches Blut. Ich kann Nachkommen zeugen, die überleben werden. In den Ländern, die weniger lebensfeindlich sind. Ich bin sicher.“
Seine Augen glühten in wahnsinnigem Licht. Lippenlose Kiefer raspelten beim Sprechen aufeinander.
„Das alles für Blut“, flüsterte Adiv.
„Blut bedeutet alles. Zukunft. Geltung. Leben.“
„Die Kinder werden Euch nicht folgen“, beharrte Akim. „Ihr könnt Erinnerungen nicht auslöschen. Ihr könnt sie nicht umdrehen. Für Eure Zwecke missbrauchen.“
„Aber das ist ihre Bestimmung! So oder so. Sie werden herrschen.“
„Was?“ Akim schwankte einige Schritte zurück.
„Chada wusste das. Sie wusste, dass alles zusammenhängt, dass alles und jeder seinen Platz hat. Eine Seherin, so wie meine Berater Seher sind. Sie waren vom selben Stamm, wusstet ihr das? Einst, vor so langer Zeit, dass ganze Landschaften sich seither geändert haben. Meine D’ulan und D’araa stammten von derselben Insel, Berlen. Wanderten in die Sümpfe aus, weiter nach Norden. Ausgestoßene, Verdammte der Madif. Meine Insel gehörte damals noch zu Kânegg, versteht ihr?“
„Eine Landenge?“, fragte Videm.
„Ein schmaler Weg über das Meer. Den gingen sie. Ließen sich hier nieder. Gründeten eine Kultur. Dann brach die Insel ab, driftete in die Kälte. Das Eis kam und bedeckte alles. Chada wusste so viel. Von uns. Von mir. Sie sah so vieles voraus, was auch meine Berater sahen. Die Kinder. Es ist ihre Bestimmung, das Führen. Arlen wird die Insassen zurück nach oben führen, die vielen Unschuldigen. Die Nachkommen. Kian die Madif. Yvain wird den Thron besteigen, Bada die Frâgg sammeln.“
„Meine Großmutter wusste von Euch?“
„Sie sah den Felsen. Die Bur-an-gnea. Ich glaube, sie hatte uns vorher schon gesehen, in ihren Visionen. Sie reimte sich zusammen, was wir taten all die vielen, vielen Jahre.“
„Kinder rauben“, sagte die Kriegerin verächtlich. Sie bezahlte ihr Aufbegehren umgehend, als der Wahnsinnige wie beiläufig den Druck um ihren Hals verstärkte.
„Mädchen vor allem“, nickte er. „Wir wollten sie zur Züchtung. Sie starben an Kälte und Einsamkeit. Eins nach dem anderen. Mein Volk ging unter. Ich musste etwas unternehmen. Wir konnten schlecht gegen eure Welt ziehen. Die Morrhim waren außergewöhnlich, Nachfahren einer uralten Kriegerkaste, doch die Vermischung des eigenen Blutes wirkte sich nachteilig auf ihren Geist aus. Ihr Alten Völker wisst, wovon ich spreche. Suchen eure Schamanen noch immer Frauen aus anderen Stämmen? Reißen sie aus ihren Heimatdörfern? Vermählen sie mit fremden Männern? Hmm, Sumpffrau? Tun sie das weiterhin?“
„Manchmal“, erwiderte die Kriegerin mühsam.
„Sie handeln aus ähnlichen Gründen, findest du nicht?“
„Nein. Frauentausch und Frauenhandel sind alte Traditionen, um…“
„… Degeneration zu vermeiden. Krankheiten, Schwäche. Nichts anderes planten wir.“
„Sie rauben keine Kinder, um deren Blut zu trinken“, krächzte sie.
„Aber sie nehmen die Mütter, ist es nicht so? Holen sie aus ihren Familien. Geben sie Fremden zur Frau. Ungeachtet der Kinder.“
„Sie fressen sie nicht. Pfuschen nicht an ihrem Geist herum. Sie werden versorgt, die Kinder und ihre Mütter.“
„Wir haben unsere Frauen und Kinder auch umsorgt.“
Syriakin rang nach Luft.
„Woher wisst Ihr das alles?“, mischte Videm sich ein. „Ihr scheint sie zu kennen.“
„O ja. Schon eine ganze Weile. Ich weiß das meiste aus ihrem Leben.“
Die Kriegerin erschlaffte, als hätte sie einen Schlag erhalten. Der Hüne grinste sie an.
Er spielt mit ihr, durchfuhr es Adiv.
„Wie habt Ihr sie beobachtet?“, fragte Videm.
„Ah. Jeder braucht seine kleinen Geheimnisse. Eure Freundin hier pflegt die ihren geradezu. Wollen wir eins lüften? Hmm? Was sagst du, Syra? Ach, dir fehlt die Luft zum Sprechen. Verzeih“, hauchte er in ihren Nacken und lockerte den Griff.
Syriakin schnappte nach Luft. Mit dem Sauerstoff kehrte ihre Gelassenheit zurück. Akim erkannte, wie eine Welle des Widerstands über sie lief.
„Wo fangen wir an? Mit deiner Mutter?“, beugte der Blaukopf sich zu ihr hinunter, strich mit der abgebrochenen Nase durch ihr Haar und atmete tief ein. Seine Augen stierten in den Raum, über ihren Kopf hinweg, musterten Akim und Adiv, Videm und den am Boden liegenden Gillok.
Die Kriegerin starrte gegen die Wand. „Wie Ihr wollt“, antwortete sie mit der Andeutung eines Achselzuckens.
„Wie war es, als man sie holte? Weg aus ihrer Heimat? Weg von dem Mann, der sie liebte? Den sie liebte? Wie war es für das Kind, das sie mitnehmen musste? Wie war es in der Fremde, Syra?“
„Ich erinnere mich nicht.“ Ihre Stimme klang unbeteiligt.
„Warst du einsam? Vermisstest du dein Dorf? Deine Verwandten? Deinen Vater?“
„Ich erinnere mich nicht.“
„Soll ich es dir erzählen? Meine D’ulan haben mir berichtet. Sie haben dich gesehen in ihren Visionen. Deine Erinnerungen, deine Träume. Deine Pein, all die Tränen, die du nie geweint hast. Furchtbar, oder? Zu wissen, dass andere dein Inneres kennen?“
Sie schluckte und schwieg. Ihre Finger unter den Mantelärmeln zupften an ihren Hosennähten, ballten sich zu Fäusten.
Adiv presste die Fingernägel in die eigenen Handflächen, fühlte die Schnitte des Taus und genoss den Schmerz. Er war leichter zu ertragen als die Spielchen des Menschenfressers.
„Hört auf“, sagte sie. Zu ihrer Überraschung verfügte ihre Stimme noch über Festigkeit. „Ihr müsst sie nicht quälen.“
„Ich will aber. Ihr seid in mein Reich eingedrungen, begehrt mein Eigentum, also lasst mir wenigstens die Freude, mich zu unterhalten, bevor ich euch töte.“
„Ihr seid grausam“, stieß Adiv erbost hervor. „So lasst uns gleich kämpfen.“
„Lasst uns kämpfen, hihi. Ich mag dich, kleine Frau, wirklich. Du bist so erfrischend. Es ist fast ein wenig schade, dass ich dich genauso vertilgen muss wie die anderen.“
Knurrend langte Adiv nach dem Heft ihres Schwertes, doch Videm hielt sie zurück.
Die Augen des Norogdún hatten sich gefährlich verengt. „Vorsicht. Sonst breche ich ihr das Genick“, warnte er, mit dem Kinn auf die Kriegerin weisend, die Adiv mit einem stummen Augenaufschlag zu besänftigen suchte. „Sie schafft das schon“, fügte er hinzu und tätschelte den schwarzen Schopf. „Einige Geheimnisse für das Leben ihrer Tochter. Ein geringer Preis, nicht wahr?“ Er zwang ihren Kopf zu einem Nicken.
„Vor fünfundzwanzig Jahren zog ich aus, Chada zu töten“, fuhr er ohne Übergang fort. „Ich hatte schon immer eine Vorliebe für das Theatralische. Das macht das einsame Inselleben inmitten einer Horde untergebener Schwachköpfe. Also wählte ich einen besonderen Tag. Den Tag der Krönung. Eine neue Epoche. Das sollte auch für mein Volk gelten. Wir flogen in die Wüste, in das Dorf, aus dem Chada stammte. Ein kleiner, stinkender Flecken am Rand der Hölle. Sie war fort! Etwas hatte sie gewarnt. Ihre Instinkte. Visionen. Möglicherweise war es auch viel banaler.“
„Der Schnee“, sagte Akim tonlos. „Gradh hat den Schnee gesehen. Ihr habt ihn mitgebracht.“
„Ja, das passiert schon mal“, erwiderte der Kriegsherr verärgert. „Jedenfalls kehrten wir unverrichteter Dinge zurück. Als ich später Nachforschungen über euch alle anstellen ließ, fiel es mir auf: An dem Tag, an dem Chada ihrem Tod entging, begann euer gemeinsamer Weg. Ich muss zugeben, dass selbst ich das nicht hatte kommen sehen. Ich war, gelinde gesagt, überwältigt. Versteht ihr? Als formierte sich ein Gegner. Still. Unsichtbar. Im Geheimen. Ein Gegner, der erst jetzt, nach einem Vierteljahrhundert, zu einem Ganzen wurde. Als hätte Chada sich in euch aufgespaltet, um sich meinen Plänen zu widersetzen.“
„Ylaiy wurde geboren“, sagte Videm, „ebenso Arlens Mutter. Das wissen wir bereits.“
„Unterbrecht mich nicht!“, donnerte der Blaukopf plötzlich so laut, dass Videm beinahe das Schwert fallen ließ und die Kriegerin zusammenzuckte. Adiv sah sie bleich werden und die Luft anhalten. Akim hingegen beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Gillok sich unmerklich bewegte.
„Ihr wisst nicht alles“, fuhr der Norogdún in seinem Plauderton fort. „Ihr wisst nicht von dem Schmied, der eben jene Nacht mit Chada verbrachte. Weit weg von ihrem Heimatdorf, in einer Oasenstadt.“
Puard, dachte Akim. Das Bild des alten Jula unter seiner Palme blitzte in ihm auf.
„In dieser Nacht gingen Teile ihres Geistes auf seinen über. Später sah er Dinge mit ihren Augen. Nun ist er selbst ein Prophet, wenngleich nur ein halber. Unvollständig. Ungebildet. Er weiß kaum, damit umzugehen, doch er spürt, dass die Macht wächst hier im Eis. Die Energie, versteht ihr? So, wie sie in dem Jüngelchen wächst. Auch er hat Träume, wirre, beängstigende Bildsplitter in seinem zerstörten Schädel. Wo kommen sie her, hmm, die Bilder? Sag es mir.“
Die farblosen Augen wandten sich Videm zu. Pupillen, die das graue Licht hindurch zu lassen schienen. Gefühllose, unbewegte Abgründe.
„Ich nehme an, der Unfall hat einiges durcheinandergebracht.“
„Welch harmlose Umschreibung“, grinste der Blaukopf. „Meine Magier reisten in deinen Kopf. Ein Vergnügen, sie so erschrecken zu sehen! Sie waren völlig aus der Bahn geworfen.“
Der lange Mann kicherte eine Weile vor sich hin, bis er schlagartig verstummte und mit schleppender Stimme weitersprach. „Syriakin. Sie ist das fehlende Teil, das eure Gruppe vervollständigt. - Möchtest du selbst berichten?“ Schmatzend beugte er sich zu ihr.
Sie starrte gegen die Wand. „Nein.“
„Widerspenstig bis zuletzt, was?“, lächelte er. „Nun denn: Garnison Frarn vor fünfundzwanzig Jahren. Ein Offizier, der anlässlich der Feiern seinen Kameraden Jodanam besucht, wird Zeuge, wie Soldaten ein einheimisches Mädchen einfangen, das aus seinem Dorf ausgerissen und durch die Sümpfe gestromert war. Die betrunkenen Kerle machen sich einen Spaß daraus, das Mädchen mit allerlei Spielchen zu quälen. Der Spaß endet, als sie sich wehrt, dem Kommandanten in den Arm beißt und ihm eine Pfeilspitze ins Bein jagt, die ihn einen Unterschenkel kostet. Die Soldaten prügeln sie daraufhin halb tot und der Gast befiehlt, sie in einen Pfuhl zu werfen. Zum Glück wird sie von einem Freund gerettet. - Weißt du, wer der Offizier war, der dich wegwerfen ließ wie Unrat?“
Er drehte die Kriegerin, bis sie gezwungen war, ihm ins Gesicht zu schauen. Sie ließ es geschehen, als wäre ihr Willen abhandengekommen, doch ihre Stimme klang gefasst, als sie antwortete. „Urdat Vei.“
„Oh Kaa“, stieß Adiv zwischen blassen Lippen hervor.
Videm und Akim rissen den Mund auf.
„Urdat Vei, damals noch Kommandeur der Festung Fedaj“, bestätigte der Norogdún. Es fehlte nicht viel und er hätte vor Erregung gejauchzt. „Ihr seht: Diese eine Nacht verbindet uns alle. Euch, die Kinder, mich. Und nun sind wir alle hier. Ist das nicht berauschend?“ Er sah die Gefährten der Reihe nach an, doch statt Begeisterung und Taumel erntete er düstere Blicke und zornige Verwünschungen.
Verdrossen winkte er ab. „Ah, Menschen. Wie gewöhnlich ihr seid. Ohne Sinn für das Erhabene. Die Fäden des Schicksals, die alle Pläne durchkreuzen. Überlegt, wie viele Unwägbarkeiten aufeinandertreffen mussten, damit wir alle hier zusammenkommen! Ich wollte Chada töten. Zwanzig Jahre später finde ich heraus, dass ihr Enkel eines der Besonderen Kinder ist, die mich retten werden. Mich! Ihren Mörder! Was sagt man dazu?“
„Ironie des Schicksals“, schnaufte Syriakin.
„Genau“, kicherte der Blaukopf. „Das Schicksal als unbekannte Kraft. Als mächtigster Gegner.“
„Schicksal“, entgegnete Videm geringschätzig. „Wir sind Euer Gegner. Nicht das Schicksal.“
„Nein, nein, nein. Mir gefällt der Gedanke. Ich gegen die Vorherbestimmung. Ich gegen euch. Zusammengewürfelt. Allein ohne Hoffnung. Und doch seid ihr hier. Als gehörtet ihr zusammen. Es ist … kosmisch. Wo wärt ihr allein ohne die wundersamen Launen des Geschickes?“
„Hier. An dieser Stelle“, sagte Akim.
Der Norogdún brach in ein Gelächter aus, das an bellenden Schluckauf erinnerte und die Kriegerin schüttelte. Akims Miene verdunkelte sich. Seine Fäuste quetschten den Speerschaft.
„Das glaubst du wirklich, Menschenkind?“
„Irgendwie wäre ich hierher gelangt. Ich hole meinen Bruder zurück.“
„Du wärst in der Wüste gestorben ohne Chadas Schüler. Du wärst gestorben, als du von dem Felsen stürztest ohne den Schmied. Im Gefängnis ohne die Diebestochter und ihre außergewöhnlichen Eltern. Oh ja, sogar über dich weiß ich vieles, kleine Frau. Du warst nicht vorgesehen in meinem Plan, trotzdem gehörst auch du dazu. Deine Mutter erkannte die Frau, die sie einst geholfen hatte, zur Welt zu bringen. Sie holte sie in ihre Nähe, unter ihre Fittiche, unauffällig, unbemerkt, und mit ihr den Sohn. Dein Vater ahnte, was der Knabe war. Was er werden würde. Er träumte. Er sah. Lehrte den Jungen. – Du, Wüstenjunge, wärest mehrere Tode gestorben, noch bevor du Fedaj erreicht hättest.“
„Ich werde Euch töten“, verkündete Akim mit der Stimme eines Mannes. „Ich werde Kian retten und Euch töten.“
Das Lächeln gefror auf den entstellten Zügen des Blaukopfes.
„Wir sind hier“, fügte Adiv hinzu. „Warum und weshalb ist nebensächlich. Wir sind hier. Wir holen die Kinder nach Hause.“
„Ach ja?“, zischte der Inselherr, während er sich weiter in die Höhe streckte, Syriakin auf die Zehenspitzen ziehend. „Und wie willst du das anstellen? Mit dem Schwertlein da? Deine Freundin ist tot, noch bevor du es in den Händen hältst. Du kannst mich nicht töten, kleine Frau. Keiner von euch kann es. Ich bin der Norogdún. Ich herrsche auf dieser Insel länger als euer aller Leben zusammengezählt. Ich bin unbesiegbar! Kostprobe gefällig? Sieh her!“
Mit drei Schritten war er bei Videm, die Kriegerin hinter sich herschleifend wie einen nutzlosen Gegenstand. Sein Bein schnellte in die Höhe, traf den jungen Baraten am verletzten Arm. Videm stieß einen Schmerzensschrei aus und rollte sich zusammen. Sein Schwert segelte durch die Luft.
Unbeeindruckt schlurfte der Letztgeborene zurück, zog die Sumpffrau erneut an sich. „Du kannst nicht gewinnen, kleine Frau. Ich bin das letzte Hindernis. An mir wirst du scheitern. Ihr alle.“
„Warum bringt Ihr uns dann nicht gleich um?“, fragte Adiv herausfordernd. „Weshalb dieses Hinhalten?“
„Vergnügen“, entgegnete der Blaukopf träge. „Ihr habt euch so viel Mühe gegeben. So viel Abwechslung. Es war spannend, euch zu beobachten. Ich bin fast ein wenig stolz auf euch. Ihr verdient eine Belohnung. Milde und Gnade - Tugenden eines Herrschers. Ich gewähre sie euch in Form der Wahrheit. Ihr sollt wissen, an wem ihr scheitert. Warum. Außerdem – wie unrühmlich würde eure Geschichte enden, stürbt ihr schnell.“
„Ihr labt Euch an unserer Qual“, stellte Adiv richtig. Sie klang erschöpft.
„Sieh es, wie du willst“, kicherte er.
Akim betrachtete den blauhäutigen Mann, spürte Hass in sich wachsen. Echten Hass. Aus den Tiefen seines Herzens und seiner Seele. Zum ersten Mal begriff er die Kriegerin. Ihren Antrieb, die Ursache ihres ewigen Kampfes. Er verstand, in welche Gefühle Erniedrigung und Hilflosigkeit Menschen trieben. Die Ungerechtigkeit, die den Stärkeren über den Schwächeren herrschen ließ. Man konnte es geschehen lassen, die andere Wange hinhalten, sich in Ideen wie Moral und Ehrbarkeit retten oder schlicht und einfach die Augen verschließen. Man konnte weinen und jammern, hoffen, dass von irgendwoher Gerechtigkeit nahte. Oder man kämpfte. Einen Kampf, der einen veränderte, der Opfer forderte, das Selbst zerrüttete, es vielleicht zerstörte.
Er fühlte, wie etwas Neues in ihm heranwuchs. Zart noch, verletzlich. Doch es würde reifen. Wachsen. Es war ein warmes Gefühl, das ihn freier atmen ließ, frische Stärke durch seinen Körper schickte.
Er sah Gillok, der sich auf dem Boden wälzte. Videm, dessen Arm anschwoll. Die Kriegerin, die in den Klauen des Wahnsinnigen hing, verstört von ihrer eigenen Vergangenheit. Adiv, die vor dem Blaukopf stand, empört von dessen Grausamkeit. Und plötzlich wusste er, dass er sie hinhielt mit seinen Spielchen, dass er Zeit zu schinden suchte. Er plante etwas.
Seine Flucht.
Wenn er floh, fürchtete er. Wenn er floh, log er. Er war nicht unbesiegbar. Er fürchtete sich. Vor ihnen. Vor dem Schicksal, dem Zufall, dem Unberechenbaren. Einer von ihnen konnte nicht gewinnen. Sieben schon. Sie hatten es bis hierher geschafft. Sie würden den letzten Schritt gehen.
Etwas in ihm keimte und wuchs. Unaufhaltbar. Es schwelte. Es stand am Beginn.
„Woher wusstet Ihr von den Kindern? Dem Außergewöhnlichen in ihnen?“, fragte er.
Seine neue Stimme gefiel ihm. Sie klang nach Einsamkeit, nach dem endlosen Himmel seiner Heimat. Weich wie eine Düne, doch im Kern hart wie ein Sandkorn. Selbst Syriakin riss die Augen auf, als sie sie vernahm.
„Studien“, sagte der Norogdún. „Die D’araa, die dich von der Felsnadel stießen, bereiteten alles vor. Sie versetzten die D’ulan in einen Zustand allerhöchster Konzentration. Über ein Jahr lang. Die D’araa nährten die Zauberer und hielten sie am Leben. In dieser Zeit erkundeten sie. Bereisten euer Kaiserreich, ohne jemals die Insel zu verlassen. Sie kehrten zurück mit der Kunde der Besonderen Kinder. Deren Aussehen, Charakter und Geist geeignet waren für unsere Pläne. Deren Vorfahren starke Persönlichkeiten waren. Ein Junge, der Chada zur Großmutter hatte. Ein Knabe, dessen Mutter zu einer Dynastie gehört, die mit viel Umsicht, Scharfsinn und Brutalität die Völker zu einem Reich vereint hatte und seither darüber herrscht. Ein Knabe, dessen Mutter seit frühester Kindheit überlebt hatte, schon vor ihrer Geburt, gegen alle Widerstände. Der in die Lehre des Weisen ging, wenn auch nur kurz. Schließlich die Tochter einer Frau, die Aan so ähnlich ist und doch so anders. Ein Mädchen aus einer langen Ahnenreihe starker Frauen. Denn das war sie, deine Mutter, nicht wahr, Sumpffrau? Stark, unangepasst, kämpferisch.“
„Das war sie“, bestätigte die Kriegerin leise.
„Die D’ulan fanden sie und wir machten uns auf, sie zu holen. Warteten, bis aus den Säuglingen Kinder geworden waren, welche die Reise überleben würden. Um sicher zu gehen, dass sie uns nicht enttäuschten. Sie übertrafen unsere Erwartungen.“
Der arrogante Plauderton des Norogdúns war verschwunden, ebenso das höhnische Lächeln. Andächtig stierte er auf einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand.
Die Kriegerin brach das Schweigen. „Was ist mit den Vätern?“
„Ah, die ewige Frage! Ich habe auf sie gewartet, denn es ist die entscheidende Frage, zumindest für dich, nicht wahr? Die, die dich quält. Dich nicht ruhen lässt. Man erzählt sich, dass du wanderst, in einem fort herumstreichst. Lange Zeit dachte ich, du läufst vor der Wahrheit davon, doch irgendwann begriff ich, dass du sie suchst. Überall. Immer. Glaubst du, du hast sie gefunden? Bei mir?“
Die Stimme knirschte in Adivs Ohren wie eine Schaufel über den Kies auf dem südlichen Gefängnishof. Sein Fingernagel, lang und gebogen wie die Kralle eines Raubvogels, lag auf dem Hals der Kriegerin, dicht unter dem Kinn. Er erinnerte an einen Dolch, fühlte sich wohl auch wie ein solcher an, denn Syriakin hatte den Kopf zurückgebogen. Auf ihren Zügen gefror ein Ausdruck unfassbaren Abscheus, doch ihre Augen starrten in die Fratze ihres Bezwingers.
Der Norogdún betrachtete die dunkelhaarige Frau, die in seiner Umarmung wie ein Kind wirkte. Er neigte den Kopf zur Seite, näherte sich ihrer Halsbeuge. Sie entfloh ihm, indem sie sich immer weiter zurückbog, bis er die Klammer um ihre Schultern löste und seinen Arm in ihren Nacken legte. Dann presste er das Gesicht an ihren Hals, fuhr mit der schwarzen Zunge hinunter bis an ihr Schlüsselbein.
Sie versteifte. Sämtliche Muskeln in ihrem Körper spannten sich an, widersetzten sich dem Kuss.
Akim hörte, wie die raue Zunge über die Haut raspelte und sie aufriss. Er roch den verdorbenen Atem des Menschenfressers. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, doch Syriakin schaffte es, dem Monstrum ins Gesicht zu starren, und so zwang er sich, es ihr gleich zu tun.
Der Norogdún brach in kreischendes Gelächter aus, als er sich vom Hals der Kriegerin entfernte und sie ansah. Sie erwiderte den Blick unbeeindruckt. Adiv fand das unbegreiflich. Ihr war allein von dem Anblick übel, den das degenerierte Monster bot.
Das Lachen ging in schluckenden Husten über. Wieder und wieder würgte er den Schleim hinunter, den der Husten in seinen Lungen freisetzte. Speicheltröpfchen von der Farbe dunklen Eidotters benetzten das Haar der Sumpffrau. Sie ertrug es stoisch, wenngleich ihre Gesichtsfarbe in eine hellere Schattierung wechselte. Videm widerstand der Versuchung, sich über das Gesicht zu wischen.
„Das gefällt dir nicht, nicht wahr, mein Kind? Berührungen. Du hasst sie, habe ich recht? Erträgst sie nicht. Noch weniger erträgst du das Wissen, warum das so ist. Ist es nicht so?“ Sein Finger streichelte ihre Wange. „Die Erinnerungen. Sie gehen nicht, nicht wahr? Niemals. Sie sind da, immerfort, in all den Nächten, in denen du wach liegst, grübelst, die Welt verfluchst und dich selbst.“
Adiv fühlte sich wie ein Eindringling. Was auch immer die Sumpfjägerin erlebt hatte; es gehörte ihr. Sie fragte sich, für wen die Worte des Norogdún folternder waren: Syriakin oder die Zuhörenden. Wenn sie die Gesichter der anderen betrachtete, sah sie Schmerz, Mitleid, widerwilliges Verstehen, während die Kriegerin so unbeteiligt wirkte, als wäre sie nicht mehr im Raum.
„Hast du sie aufgespürt? Ich wette, sie vermodern irgendwo in den stinkenden Morasten deiner gottverlassenen Insel. Hat es geholfen? Ist die Ungewissheit mit den Männern verschwunden? Oder raubt sie dir noch immer den Schlaf? Lass dich ansehen.“
Mit Gewalt drehte er ihren Kopf zwischen seinen Händen, die so viel Kraft aufwiesen, obwohl sie schlaff und durchsichtig wirkten. Widerstrebend gehorchte sie dem Druck, den Blick unentwegt auf den haarlosen Schädel gerichtet.
Akim sah bestürzt, dass es in ihren Augen zu glitzern begonnen hatte. Der Blaukopf drang zu ihr durch. Ihre Barrieren würden nicht halten.
„Ah, du siehst müde aus, Syra. Älter als du bist. Bist dünn geworden, ausgemergelt. Früher warst du … hm … weiblicher, eine Augenweide für viele Männer. Doch heute? Wer begehrt dich jetzt? Wen begehrst du? Oder hast du es aufgegeben zu begehren? Welch Jammer.“ Wie giftige Schlangen schlüpften die Worte aus dem keuchenden Mund, glitten in ihre Ohren.
„Genug.“
Ruckartig wandten sich alle Köpfe dem Boden zu.
Benommen wischte Gillok sich das Blut von der Schläfe. Angestrengt blinzelte er seine Finger an, dann kam er auf die Beine.
Der Norogdún betrachtete den schlanken Mann, der seine Arme benötigte, um sich hochzustemmen. Er schien belustigt. „Gillok. Es ist mir eine Ehre.“
Die spöttische Verneigung quittierte Gillok mit einem verächtlichen Lächeln. „Genug. Lasst sie los.“
Die Kriegerin sah ihren Stammesbruder an. Ihr Gesicht wirkte wie aus Stein gehauen, doch in ihre Augen trat ein warmer Schimmer.
Der Drahór begann wiehernd zu lachen, bis ihn erneut der Husten überkam. Der dolchartige Fingernagel zitterte, hinterließ dünne Linien auf der Wange der Sumpffrau. „Ihr habt Mut, das muss ich Euch lassen.“
Er schnalzte mit der schwarzen Zunge, wendete sich neuerlich der Kriegerin zu. „Er ist es, der dich begehrt, nicht wahr? Dein Freund aus Kindertagen? Wie erbärmlich. Wie unsäglich vorhersehbar.“ Seine farblosen Augen wanderten zwischen Syriakin und Gillok hin und her, die stumme Blicke austauschten.
„Ist er der Vater?“, fragte er mit deutlich lauterer Stimme. „Oder ist es einer der anderen?“ Der Kopf schoss herum zu Gillok, der in der Bewegung verharrte.
Die Frage überrumpelte auch die Kriegerin. Ihre Maske bekam Risse. Selbst Videm entging nicht der Ausdruck des Schmerzes in ihren Mundwinkeln. Zorn wallte in ihm auf.
„Badas Mutter ist hier“, übernahm Gillok die Antwort. „Sie braucht keinen Vater.“
„Du bist ein schlechter Lügner.“
„Und Ihr ein größenwahnsinniger, durch Inzucht und Kannibalismus geschädigter Angeber. Einer, der sich an fremden Erinnerungen berauscht, sich mit der Qual anderer Befriedigung verschafft. Das alles nur, um der eigenen Bedeutungslosigkeit zu entfliehen. Ein Verrückter, dessen verworrene Pläne an einer Handvoll Sterblicher scheitern.“
Die Augen des Kriegsherrn wurden schmal. Ihr Ausdruck wechselte von Ärger zu Empörung. Doch in dem Augenblick, in dem sie in blinde Wut umschlug, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Adiv sah gerade noch, wie Gillok der Kriegerin zunickte, da bäumte sich Syriakin bereits auf, die linke Hand um den Unterarm des Drahór geschlungen. In der rechten hielt sie einen Eisbärenzahn, den sie aus einer ihrer Taschen gefischt haben musste. Mit einer Halbwärtsdrehung ihres Körpers trieb sie ihn in die empfindliche Stelle oberhalb des Schlüsselbeines. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen und an seinem Arm nach oben ziehen, doch ein Kreischen bewies, dass sie gut getroffen hatte.
Der Zeigefinger bohrte sich in ihre Wange, riss sie der Länge nach auf. Mit der Handfläche hieb Syriakin den Bärenzahn tiefer in das Fleisch des Norogdún und trat rabiat in seinen Unterleib, bevor sie ihren Stiefelabsatz auf seine Fußspitze hämmerte.
Der Drahór kreischte und spuckte, als hätte er den Verstand verloren. Seine Hand krallte sich um ihre Schulter. Die Sumpffrau hing zur Hälfte in der Luft, einen Schrei erstickt in der Kehle.
Gillok warf sich gegen den Blaukopf, brachte ihn ins Wanken, riss seine Gefährtin aus der Klaue, zog sie aus der Reichweite des zornentbrannten Herrschers. Der wedelte mit den langen Armen um sich, verteilte wilde Fußtritte in Richtung der beiden Frâgg, die sich anfühlen mussten wie Hammerschläge, zumindest dem Aufstöhnen nach, das Adiv von Syriakin und Gillok vernahm.
Nach nur ein paar Treffern lagen die Sumpfmenschen mehr oder weniger kampfunfähig auf der Erde. Die Kriegerin hielt sich schwer atmend die rechte Hüfte, Gillok tastete benommen nach seinem Kopf. Immer weiter wichen sie zurück, wanden sich wie Schlangen. Der Norogdún stellte ihnen nach, brüllend wie ein verwundetes Tier.
Adiv merkte nicht, dass sie ebenfalls schrie, während sie ziellos hin und her rannte. Ihr war auch nicht bewusst, dass sie nach Brocken am Boden griff. Eis, Felsgestein und Leichenteile schleuderte sie auf den Herrscher der Insel. Sie traf, doch nicht oft und an Körperstellen, die muskelbewehrt und somit gut geschützt waren. Der Blaukopf wirkte verärgert, irritiert, ließ aber nicht von den Frâgg ab, die er zunehmend in die Enge drängte.
Akims Speer sirrte heran, grub sich in den Oberschenkel des Norogdún. Das Brüllen ging in ein lang anhaltendes Wimmern über. Videm hatte das Schwert aufgeklaubt, stürmte gegen den Blaukopf an, hieb auf ihn ein. Er zielte ebenso wenig wie Adiv, die das Werfen einstellte aus Angst, den jungen Baraten zu treffen, und ebenfalls ihr Schwert zog. Auf wackligen Beinen rannte sie zu Videm, hackte blindlings nach dem Fleisch des Bluttrinkers.
Der ließ endlich von den Sumpfmenschen ab und sah mit blutunterlaufenen Augen die Diebestochter an.
O Kaa, dachte Adiv, bevor sie einen solch gewaltigen Stoß bekam, dass sie mehrere Meter weit in die Ecke schlitterte, wo sie gegen einen Leichenberg krachte und mit Flimmern vor den Augen liegen blieb.
Videm hatte mehr Glück. Ihm war es gelungen, unter den Armen des Norogdún wegzutauchen. Nun stand er hinter diesem, hieb sofort wieder auf ihn ein.
Der Drahór blutete mittlerweile aus vielen Wunden, doch da sein Blut die Farbe stark verdünnten Weines hatte, sah er weniger furchterregend aus als die Kriegerin. Auf deren rechter Gesichtshälfte lief das Blut bis an den Hals hinab, wo es sich mit dem Speichel des Letztgeborenen vermengte.
„Er schindet Zeit!“, brüllte Akim Adiv zu. Er war aus der Reichweite der langen Arme gesprungen, half ihr auf die Beine. „Wir müssen uns beeilen. Ich glaube, dass er eine Flucht plant. Er wird die Kinder mitnehmen wollen!“
„Dann müssen wir ihn aufhalten“, lallte Adiv.
„Wirf Steine. Am besten auf die Stirn. Blende ihn. Lenke ihn ab.“
„Gut“, keuchte Adiv. Sie sah doppelt, bückte sich jedoch nach Brocken.
„Videm! Schlag weiter auf ihn ein“, schrie Akim, bevor er unter den zutretenden Beinen des Drahórs hindurch schlitterte und an Syriakins Seite rutschte, während Gillok sich gegen die Schienbeine des Blaukopfs warf.
Der Angriff brachte den Menschenfresser aus dem Gleichgewicht, aber nicht zu Fall. Immerhin schuf er genügend Zeit für Akim. Er zerrte die Kriegerin aus der Ecke, drückte ihr eins ihrer Messer in die Hand, das er irgendwie vom Boden aufgelesen hatte. „Hast du noch Wurfwaffen?“, fragte er hastig.
Sie griff in ihren Mantel und zog ein dickes Lederband hervor, das zu einer Schlaufe geknüpft war. Dazu reichte sie ihm ein Säckchen. „Sie darf auf keinen Fall einen von uns treffen“, ermahnte sie.
Akim rannte zu Adiv, die ihre Steinwürfe wieder aufgenommen hatte. Diesmal zielte sie genau, die Zunge zwischen den Lippen, die Brauen konzentriert zusammengekniffen.
„Was ist das?“, hielt sie inne, als Akim sie erreichte.
„Eine Schleuder. Die Geschosse sind in dem Beutel. Ziele nach oben, über unsere Köpfe. So triffst du ihn, aber nicht uns. Vorsichtig, die Kugeln sind mit Gift versetzt.“
„Was? Das kann ich nicht! Ich habe so ein Ding noch nie in der Hand gehabt“, schrie Adiv dem Fährtenleser hinterher, doch der eilte bereits den anderen zu Hilfe.
Das Säckchen war schwer, prall gefüllt mit pflaumengroßen, harten Kugeln aus Schlamm und lehmiger Erde. Verzagt seufzte Adiv, straffte sich dann. Eine Wahl blieb ihr nicht. Ihre Gefährten rannten gegen den Hünen an, drei von ihnen verletzt. Ihre Kräfte schwanden rascher als die des Blaukopfes. Die Leichenberge und der stechende Geruch trübten ihre Sinne, schufen Kopfschmerz und Hoffnungslosigkeit.
Adiv legte das erste Projektil in die Schlaufe, hob sie ungelenk hinter ihren Kopf. Der Wurf ging beschämend weit daneben. Die Kugel bekam nicht genug Schwung, landete so dicht an ihren Füßen, dass sie einen Sprung zurücktat. Die nächsten torkelten ebenfalls ins Leere, kollerten Knochenhügel hinab, prallten an die Wand.
Beim achten Versuch traf sie. Mit einem kaum hörbaren Plopp schlug die Schlammkugel gegen die Brust des Drahór, nah an Gilloks Ohr vorbei. Sie zielte höher, traf erneut. Diesmal das Schlüsselbein. Härter, schmerzhafter.


Der Norogdún merkte auf, als die Kugeln einschlugen. In Kopf, Schultern, Rumpf, Hals. Sie kamen in immer kürzeren Abständen, verwandelten sich in wirkliche Geschosse. Schließlich zerplatzten die ersten beim Aufprall, zerstäubten auf der Haut. Das freigesetzte Pulver juckte quälend, drang in verwässerte Blutbahnen, gelangte in den Brustraum. Dort lähmte es das Herz und schwächte die Lunge.
Seine Hiebe und Tritte wurden langsam und beschwerlich. Den Sterblichen fiel es zunehmend leichter, den Angriffen auszuweichen, sie zu parieren. Ihre Schwertstreiche gerieten genauer. Gefährlicher.
Bevor Bewusstlosigkeit ihn übermannen konnte, öffnete er den lippenlosen Mund.
„D’ulaaaaan!“
Der Schall wälzte sich wie eine unsichtbare Woge von ihm weg, warf die Gefährten zu Boden, Leichenberge durcheinander und hallte von den Wänden wider. Die Schallwelle war noch nicht wieder zu ihm zurückgekehrt, als die Tür aufsprang und vier Diener auftauchten. Ihre Hände hoben sich, woben Funkenlinien zu einem komplizierten Muster. Er fühlte sich emporgehoben, in die Horizontale geneigt. Getragen von den Formeln, schwebte er zurück in den Gewölbesaal.
Die Schritte des Wüstenjungen waren die ersten, die er wahrnahm, dicht gefolgt von den weiter ausholenden der Kriegerin. Die beiden kamen herangestoßen wie die Falken der Wüstenvölker.
Die Magier wandten sich gleichzeitig zu ihnen um, hoben die Augen zur Decke.


Syriakin riss Akim hinter eine Säule, als ein Schauer tödlicher Eiszapfen auf sie prasselte. Binnen Sekunden war der Spiegelboden ein Meer aus Splittern, auf dem sie augenblicklich ins Rutschen geriet, als sie auf die D’ulan zustürmte. Sie fing den heftigen Sturz mit ihrer ohnehin lädierten Hüfte auf, schlitterte in die Mitte des Saales, blieb zusammengerollt liegen.
„Syra!“, riefen Akim und Gillok wie aus einem Mund.
Sie tasteten sich zu ihr heran, behielten die Magier im Auge, die sich wieder abgewandt hatten, um das Zeremoniell fortzusetzen. Ihr Gebieter, betäubt und verstummt, schwebte zwischen ihnen auf einem Netz aus bläulichen Linien.
Die Decke öffnete sich zuerst, glitt geräuschlos beiseite. Weit über sich sah Akim den dunklen, sternenklaren Himmel. Frische Luft strömte auf sie herab. Unbewusst reckte er sein Gesicht nach oben. Zu lange waren sie schon unter der Erde.
„Der Boden“, schrie Gillok plötzlich. „Syra, verschwinde!“
Augenblicklich stieß die Kriegerin sich ab, sprang mit einem gewaltigen Satz in Gilloks und Akims Richtung. Ihre Beine rutschten beim Aufprall erneut weg, doch diese Bewegung hatte sie einkalkuliert. Die Arme ausgestreckt, kam sie auf dem Bauch zu ihnen herangerutscht. Gillok fing sie auf und zog sie weiter, hinein in den Gang, zurück zu der schauerlichen Leichenkammer, in der Adiv und Videm sie erwarteten.
Von der Türschwelle aus beobachteten sie atemlos, wie sich eine riesenhafte Steinspitze aus dem Boden drehte, der ebenso lautlos auseinander glitt wie die Decke. Unterhalb der Spitze befand sich ein umlaufender Steg, eingefasst von einem schmalen Geländer. Diesen betraten die Magier, dirigierten ihren Herrscher mit murmelnden Mündern und synchronen Armbewegungen neben sich. Dann fassten vier Händepaare nach der Balustrade und die ausdruckslosen Gesichter wandten sich ein letztes Mal den Gefährten zu.
„Zurück“, schrie Gillok.
Adiv purzelte über Videm und stieß Akim um, als der Sumpfmann sie in den Raum zurück schubste. Am Rand der Steinspitze begann es zu knistern und zu knirschen. Entsetzt beobachtete Videm, wie eine Eisschicht sich wie ein Flächenbrand quer durch den Saal fraß. Das Eis raste über den Boden, kletterte an Säulen und Wänden empor, umschloss alle Oberflächen mit tödlicher Kälte.
Gillok rannte den kurzen Gang zurück, schloss die erste Tür, warf die zweite zu, trieb die anderen hastig weiter in den Raum hinein. Heftig atmend duckten sie sich, horchten auf das Knistern, sahen sich erleichtert an, als es verstummte und der Staub auf Boden und Leichen nicht gefror.
Dafür erfasste ein ohrenbetäubendes Dröhnen den Gewölbesaal, breitete sich bis in die Leichenhalle aus, versetzte die Totenberge in Schwingungen.
Dann setzte die Stille ein.
Nach einiger Zeit kroch Videm zur Tür, berührte sie. „Sie ist nicht vereist“, verkündete er und riss sie auf.
Davanas“, murmelte die Kriegerin und wandte ihnen allen ihr blutüberströmtes Gesicht zu. Ihre rechte Wange klaffte auseinander, ließ sie gespenstisch aussehen.
„Da ist er“, flüsterte Videm. „Der Obelisk.“
Adiv schob ihren Kopf an den Häuptern der anderen vorbei in den Gewölbesaal, von dessen Imposanz nicht mehr viel übrig war. Zerschmettertes Eis überzog den Boden, Stuck und Zierrat an Wänden und Säulen waren hinter einer dicken Eisschicht verschwunden. Überall glitzerte es. Die Decke stand offen, doch vom Himmel konnten sie kaum noch etwas sehen. Der Obelisk, der durch die Decke hindurch ragte, verdeckte ihn.
„Ich wusste, er hält uns hin“, raunte Akim. „Das dort ist sein Fluchtweg.“
„Wo sind die Kinder?“, fragte Syriakin. Zum ersten Mal hörten die anderen Panik in ihren Worten.
„Hier“, sagte eine klare Stimme. „Sie sind wohlauf.“
In einer winzigen Tür, versteckt zwischen Leichenbergen, stand Ylaiy.

„Sie leben. Sie sind gesund. Alle.“
Ylaiy war blass und ging gebeugt, doch Erleichterung und Freude überspielten die Erschöpfung.
„Können wir zu ihnen?“, raspelte Akim.
Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Thronfolgers, in dessen Rücken der Schmied auftauchte. Ihm folgte ein schlanker Junge mit blonden Haaren und braunen Augen, der die Anwesenden neugierig betrachtete. Ylaiy zwinkerte seinem Vetter zu, bevor er antwortete. „Sie warten auf euch.“
Der Fährtenleser blickte die Diebestochter an, die ihre verbundenen Hände auf ihre Brust gepresst hatte und Akim unter Tränen anlächelte. Er ergriff ihre Hand, zog sie mit sich auf die letzte Tür zu. Vor Ylaiy stoppte er, sah ihn stumm an. Adiv nickte ihm zu. Der Prinz blinzelte und schob die beiden weiter.
Jonoy ließ sie nicht so einfach durch. Er breitete die Arme aus, schloss sie in eine innige Umarmung. „Kinder“, krächzte er. „Ich bin froh, euch am Leben zu sehen.“
„Und dich, alter Mann“, sprach Adiv in Jonoys Kleidung, deren stechenden Geruch sie als tröstlich empfand.
„Geht schon“, stupste der Schmied sie schließlich an und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Die Kleinen warten.“


Das Wüstenkind sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Akim - dünn, klein, zartgliedrig. Seine Haut war dunkel, obschon die Sonne sie lange nicht berührt hatte, das Haar kraus und von glänzendem Schwarz. Er wirkte zerbrechlich, doch sein Stimmchen erscholl klar und fest, als er seinem Bruder mit leuchtenden Augen entgegen blickte und ihn in ihrem Heimatdialekt begrüßte. „Du bist gewachsen.“
„Du auch“, erwiderte Akim, ließ Adivs Hand los und schloss Kian in die Arme.


Adiv zögerte merklich länger, während sie den Lockenkopf musterte, der mit einer Mischung aus Wiedersehensfreude, Spannung und Angst auf sie zu trat. Scheu erfasste sie.
„Arlen.“
Der Junge nickte ihr zu, versuchte ein tapferes Lächeln, doch Adiv bemerkte sofort, wie aufgesetzt es wirkte. Seine Augen suchten den Raum ab, bevor sie sich wieder auf sie legten. Sein Brustkorb hob und senkte sich zitternd.
„Du hast jemand anders erwartet“, stellte sie fest.
Er blickte zu Boden. Adiv betrachtete die Wirbel auf dem Hinterkopf, streckte die Hand aus, um über sie zu streichen. Früher hatte sie das gelegentlich getan. Zu gut erinnerte sie sich an die Widerborstigkeit des Schopfes, der sich nicht glätten ließ, egal, wie oft Aan mit Fingern oder einem nassen Kamm über ihn fuhr. Jetzt wagte sie nicht, ihn zu berühren.
Als er aufsah, schwammen seine Augen in Tränen und sein Gesicht schimmerte weiß wie der Schnee. „Ist sie tot?“, fragte er tonlos.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie, bevor ihre Stimme brach. Hilflos sah sie zu, wie er zu weinen begann.
„Du bist trotzdem nicht allein“, erklang plötzlich eine warme Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum, erkannte Videm, der an sie herangetreten war, eine Hand auf ihren Rücken legte, ihr aufmunternd zulächelte.
In diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal in voller Tragweite bewusst, auf was sie sich eingelassen hatte. Wütende Bestien, grausames Wetter, endlose Strapazen, mit Blasen übersäte Füße, müde Muskeln, wunde Gelenke – all dies erschien ihr jählings gering im Vergleich zu dem, was sie erwartete. Sie würde ein Kind haben, einen sechsjährigen Knaben, der Schreckliches erlebt hatte und nun völlig allein auf der Welt war. So wie sie selbst. Sie würde Verantwortung tragen, nicht nur für sich. Sie musste ein Heim finden, ihn groß ziehen, ein neues Leben aufbauen. Sie würde mit ihrer Vergangenheit leben müssen und mit seiner dazu. Aan würde zwischen ihnen leben wie ein Geist.
Adiv wurde schwindlig vor Angst. Ungewollt stolperte sie rückwärts, erstickte dabei in Scham und Furcht. Doch Videms Arm war da und ließ sie nicht los. Sanft drückte er sie wieder vorwärts, auf den schluchzenden Jungen zu.
Dann löste sich der Reifen um ihre Brust. Luft strömte durch ihre Lungen und mit ihr Zuversicht. Sie würde es schaffen. Sie musste. Für ihn. Für Aan.
Sie tapste einen weiteren Schritt nach vorn, ging in die Hocke. Sacht nahm sie seine Hände, blickte in die nassen Augen. „Es tut mir unendlich leid, Arlen. Aber ich bin da, wenn du möchtest. Ich nehme dich mit. Du bist nicht allein, verstehst du? Ich bin da. Videm dort ist da. Ja, Arlen?“
Er schluchzte, schniefte, schnüffelte. Schließlich nickte er und schmiegte sich an sie.


„Syra?“
Gilloks Stimme war drängend. Er streckte den Arm aus, doch sie schlug ihn fort, ohne ihn anzusehen, starrte Ylaiy und Yvain an. Auf ihrem Gesicht lag tiefe Nachdenklichkeit.
„Kommst du? Sie wartet. Syra?“
Die Worte prallten an ihr ab. Unschlüssig wanderten seine Augen zwischen ihr und der letzten Tür hin und her.
Jonoy beobachtete die beiden. Seufzte. Schließlich schob er Ylaiy und Yvain in den Altarraum, humpelte zu den Sumpfleuten, umfasste Gilloks Schulter. „Geht. Ich kümmere mich um sie. Das Mädchen wartet.“
Gillok zögerte. Dann nickte er und lief den anderen nach.
Die Kriegerin stand in der Düsternis, die Augen starr auf die Tür gerichtet, versteinert.
Jonoy sprach behutsam. „Es sind nur wenige Schritte. Du bist so weit gegangen, du kannst nicht mehr zurück.“
Sie schwieg, scheinbar atemlos, blickte über ihn hinweg.
„Sie ist dort drin. Ich habe sie gesehen. Bada ist hinter dieser Tür. Sie lebt.“
Ein rasselnder Atemzug löste sich aus ihrer Kehle. Ihr Brustkorb dehnte sich. Blutstropfen platschten zu Boden. Abwesend wischte sie sich über die zerschnittene Wange.
„Syriakin. Sie lebt. Verstehst du? Deine Tochter wartet auf dich. Auf dich. Du bist um die halbe Welt gegangen. Du kannst jetzt nicht umkehren. Geh! Geh hinein!“
Er drängte sie vorwärts, doch ihre Beine stemmten sich in den Boden.
„Ich kann nicht“, stieß sie hervor.
„Du kannst. Du musst. Andernfalls wirst du dir nie verzeihen. Bada dir vielleicht auch nicht.“
Stumm schüttelte sie den Kopf.
„Es ist wie ein Gefecht. Du kannst es gewinnen. Du musst dich nur selbst schlagen.“
Er nahm sie bei den Armen und rüttelte sie sacht. Sie atmete vor unterdrückter Anspannung so heftig, dass sie sich verschluckte.
„Syra, deine Tochter braucht ihre Mutter, mehr noch als du sie brauchst. Du kannst deine Gefühle nicht auf ewig verbergen oder du verlierst sie!“
„Das habe ich doch längst!“
Mit einem kräftigen Ruck riss sie sich los. Nach drei, vier Schritten stoppte sie abrupt, die Arme in die Hüften gestützt, den Kopf in den Nacken geworfen, ihm den Rücken zuwendend. Jonoy hinkte ihr nach. Er beobachtete, wie sie mit den Tränen rang, aber er war alt und sentimental und hatte schon viele Frauen und Männer weinen sehen.
„Dennoch bist du hier.“
Er wartete, während sie schwieg, nachdachte, grübelte, zweifelte. Als sie sich umwandte, wirkte sie verloren, schaute ihn an, als erwarte sie eine Lösung. Eine Antwort auf all ihre Fragen.
„Du bist doch hier. Nun hole dein Kind nach Hause.“
„Welches Zuhause?“, fragte sie. „Es ist nicht mehr da.“
Tränen lösten sich, liefen über ihre Wangen. Sie biss sich auf die Lippen, fuhr ärgerlich mit dem Handrücken über ihr Gesicht, fluchte unterdrückt, als sie Salz in die Wunde rieb. Er wartete geduldig, beobachtete, wie sie gegen das Weinen wie gegen einen Feind ankämpfte. Irgendwann gab sie auf, ließ die Hände sinken, starrte tränenblind in die Gegend. Sie wandte sich nicht ab. Er sah Trauer und Wut, unendliche Erleichterung. Und einen Berg von Schuld.
Das veranlasste ihn, einen Schritt zurückzutreten. „Du glaubst, das ist deine Schuld. Aber das ist nicht wahr.“
Jetzt erst verschränkte sie die Arme vor der Brust, ein Schluchzen niederringend.
Mitleid wallte in ihm auf. Er hätte wissen müssen, dass sie ihn abschüttelte, sobald sie seine Berührung spürte, doch er hielt ihr Handgelenk fest. „Für die Toten deines Volkes bist nicht du verantwortlich. Es waren Soldaten, die die Hütten niederbrannten, nicht du. Sie mordeten wegen Yvain. Es hatte nichts mit dir zu tun.“
„Ich habe Jodanam getötet. Andere von ihnen.“
„Für die Toten deines Volkes bist nicht du verantwortlich“, wiederholte er. „Nicht du hast den Krieg entfacht. Nicht du hast die Inseln erobert. Verstehst du, Syra? Du hast schlimme Dinge getan und dafür solltest du dich schuldig fühlen, aber im großen Ganzen, im großen Plan der Welt, in den verrückten Vorstellungen dieses Blaukopfes bist du ein Opfer. So wie dein Kind.“
Blut tropfte zu Boden, sacht und stetig, während sie schwieg, seinen Worten zuhörte, tief Luft holte, sich beruhigte.
Jonoy reichte ihr ein Tuch, das sie auf ihre Wange presste. Ihre Tränen versiegten bereits. Energisch wischte sie die letzten verräterischen Spuren fort. „Gehen wir.“


Das Erste, was die Kriegerin von ihrer Tochter sah, war die Flut dunklen Haares, die über ihren Rücken fiel. Sie dachte an die wirren Strähnen auf ihrem Kopf, fühlte sich schmutzig, unwürdig, ihr Kind in Empfang zu nehmen. Sie erinnerte sich, dass sie nach der Geburt, nach dem stundenlangen, zähen Ringen, nach den Qualen, die so anders gewesen waren als die Schmerzen ihrer vielen Verletzungen, ganz ähnliche Gedanken gehabt hatte.
Bada stand eng an Gillok gelehnt, das Gesicht an dessen Brust vergraben. Ihr Körper hob und senkte sich in seine Hände. Gillok drückte sie an sich, die Augen fest geschlossen. Als er sie öffnete, quollen Tränen hervor, durch deren Schleier er die Kriegerin erkannte. Er lächelte und stupste Bada an.
Das Erste, was Bada von ihrer Mutter sah, war ein schemenhafter Umriss. Eine schmale Gestalt, die sich im Dunkeln hielt, am Türrahmen lehnend, als suche sie dort Halt. Die Gestalt trug die unverkennbaren Züge ihrer Mutter, wenngleich sie älter wirkten als in ihrer Erinnerung, härter und schärfer.
Das Mädchen verharrte in seiner Bewegung und blickte die Gestalt an, die stumm zurück starrte. Nach einer endlosen Minute versuchte Bada ein zaghaftes Lächeln. Im Gesicht ihrer Mutter begann es zu arbeiten und sie ging in die Knie.
Bada löste sich von Gillok, lief auf sie zu, schlang ihre Arme um den Hals Syriakins, sorgsam darauf bedacht, den blutigen Riss nicht zu berühren. „Ich wusste, dass du kommst“, flüsterte sie.
Syriakin zauderte ein wenig länger, doch Bada erinnerte sich an die Verzögerungen, wartete voller Vorfreude. Als die Arme sich um sie schlossen, lächelte sie und schmiegte ihre Wange an die ihrer Mutter.


Für Gillok war der Anblick schwer zu ertragen. Er freute sich für Syra, die ihre Tochter abwechselnd an sich drückte und von sich schob, um sie immer wieder anzusehen. Als müsse sie sich vergewissern, dass sie real sei.
Die Freude war bittersüß, denn gleich dahinter kam der Schmerz. Er fühlte sich ausgeschlossen, nutzlos, fehl am Platz. Er lenkte sich ab, indem er Ylaiy betrachtete, der seinen Vetter unbeholfen um die Schultern gefasst hatte und auf die zerbeulten Käfige starrte.
Er folgte Ylaiys Augen, musterte die seltsam verkrümmten, schwarzen Frauen, die wie Aschehäufchen auf dem Boden verstreut lagen. Fragte sich, was geschehen war in diesem Raum, wie es dem Thronfolger und Jonoy gelungen war, die Zauberinnen zu überwältigen und die Kinder zu befreien. Rußspuren, Rauch, eingeschlagene Mauern, Krater in der Erde und Ylaiys Erschöpfung kündeten von einem harten Kampf.
Seine Gedanken schweiften zurück zu seiner einstigen Gefährtin und dem Mädchen, das vielleicht doch seine Tochter war. Er vermied es, in die Richtung der beiden zu schauen, aber aus den Augenwinkeln erspähte er Badas dunkles Haar und ihre grünen Augen. Sie glich ihrer Mutter sehr. War sie auch wie er? Die Gedanken marterten ihn nicht zum ersten Mal, doch es war lange her, dass er sie zugelassen hatte. Vor Jahren bereits hatte er sie zu Grabe getragen. Jetzt waren sie zurückgekehrt.
„Hättet Ihr gedacht, dass wir die Kinder jemals finden?“, drang die Stimme des Schmieds an sein Ohr.
„Ich weiß nicht“, gestand Gillok. „Ich habe mich bemüht, nicht darüber nachzudenken. Hätte ich es getan, wären die Zweifel gekommen und mit ihnen die Schwäche.“
„Ich zweifelte.“
„Ihr habt es gut verborgen.“
„Wie jeder von uns. Ich denke, wir alle sind mehr als einmal aus dem Schlaf geschreckt in dem festen Glauben, zu verlieren. Zu spät zu kommen, auf der falschen Spur zu sein. Die Kinder verändert vorzufinden. Tot. Misshandelt. Gefoltert. Verletzt. Es gibt wohl kein Schreckensszenario, das nicht durch meinen Geist gerauscht ist.“
„Nun sind wir alle hier. Bei Kräften. Am Leben.“
„Unglaublich, nicht wahr?“
„Oh ja“, seufzte Gillok und begegnete den tief liegenden Augen des Schmieds, die ihn eindringlich musterten. „Was? Was ist? Worauf wollt Ihr hinaus?“
Jonoy suchte nach passenden Worten. „Die Kinder“, sagte er dann leise und angestrengt. „Sie sind … anders als wir dachten. Syriakin hatte recht. Sie sind eine Waffe. Zusammen, meine ich. Ich habe gesehen, was sie anrichten können. Ylaiy hat es gesehen. Gemeinsam sind sie gefährlich, Gillok.“
„Was meint Ihr?“
„Schaut Euch Ylaiy an. Er steht noch immer in ihrem Bann.“


Seine Augen öffneten sich gerade noch rechtzeitig, um die Feuerwand zu sehen, die die Priesterinnen auslöschte. Die Kinder kauerten in Arlens Käfig, hatten sich an den Händen gefasst. Ihre Gesichter waren nach oben gewandt, bleich und viel zu ernst für Kindergesichter, mit Augen, die älter aussahen als die Jonoys. Die Wand schien direkt aus ihren Händen zu springen. Es war, als hätten sie die Kraft der Zauberinnen eingefangen und umgedreht. Als schickten sie sie zurück, die Energie, um ein Vielfaches verstärkt. Die Feuerwalze zitterte, waberte an den Rändern, doch sie richtete sich auf, raste los. Den D’araa blieb keine Zeit, sich gegenseitig zu heilen. Die Feuerwand erfasste sie gleichzeitig, walzte sie nieder.
Dann war die Wand weg, als hätte sie nie existiert.
An der Stelle des Altars klaffte ein Loch.
Zurück blieb ein Stein. Unscheinbar. Grau, etwas bräunlich, schwarz geronnen an den Kanten. Kein Licht, keine Energie, kein Pulsieren, nichts. Nur ein Stein. Er wog ihn, hob ihn vor die Augen, drehte ihn hin und her, nahm ihn in die andere Hand. Nichts passierte. Der Stein war ein Stein war ein Stein. Fels. Mineralien. Zusammengepresst von Wind und Feuer und Eis.


Gillok versank in Schweigen, während Jonoy sich zu Ylaiy gesellte. Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er zusammenschrak, als Syra ihn zu sich und Bada heranzog. Ihm wurde warm, als ihr Arm nach oben wanderte und sich um seinen Nacken legte. Die Berührung war flüchtig, doch sie ließ ihn erschauern. Noch erstaunter war er, als sie ihm mit dem Finger über die Wange strich und ihm ein Lächeln schenkte, das er in alle Ewigkeit nicht vergessen würde.

Kian und Akim fuhren auseinander, als der erste Kiesel sich löste. Die Köpfe der Brüder schoben sich gleichzeitig in den Nacken und zwei Glutaugenpaare musterten argwöhnisch die Decke, die wie unter Faustschlägen zitterte.
Der zweite Stein fiel Ylaiy auf den Fuß. Er betrachtete ihn verwundert. Im selben Augenblick rannten die Brüder bereits geduckt in Richtung Leichenhalle, Warnrufe ausstoßend, den Prinzen und Jonoy mit sich ziehend.
Die Kriegerin riss Bada auf ihren Arm. Gillok stieß Adiv und Arlen aus dem einsetzenden Steinhagel. Videm schlug hinter sich die Tür zu, stürmte den anderen hinterher durch die Leichenhalle. Er warf die zweite Pforte zu und kam schließlich auf dem eisbedeckten, mit Kratern und Splittern überzogenen Boden der Gewölbehalle zum Stehen. Hinter ihm versank die Welt in Getöse, Staub, Steinmehl und Knochenpulver.
„Die Festung bricht zusammen!“, schrie Adiv.
„Auf den Obelisken!“, befahl die Kriegerin. „Wir klettern!“
„Es ist, als würden Wellen durch die Gemäuer rasen“, brüllte Gillok. „Schau, die Pfeiler!“ Sein Finger zitterte, als er auf die Stützpfeiler wies, die wankten wie die Beine eines Betrunkenen. Noch hielten sie, aber um sie herum und an den Wänden entlang zeigten sich erste Risse und Haarlinien.
„Klettern“, beharrte die Kriegerin. Sie hob Bada auf einen den Obelisken umlaufenden Absatz, ähnlich der Brüstung unter der Spitze. „Rasch!“
„Die Kinder zuerst.“ Jonoy reichte Arlen hinauf.
Ylaiy stemmte seinen Vetter auf den steinernen Ring; Videm half Akim mit Kian. Dann ergriff er die ausgestreckte Hand Syriakins, die sich am Geländer nach oben geschwungen hatte. Akim hockte bereits auf dem Vorsprung, zog Adiv zu sich, die Gillok mit der Schulter hochdrückte, bevor er selbst mit kraftvoller Anmut das Podest erklomm. Gemeinsam hievten sie den Schmied hinauf, wohingegen Ylaiy den Kletterakt selbstständig bewerkstelligte.
„Das schaffen wir nicht“, murmelte Jonoy mit einem Blick auf das Loch in der Decke, durch welches der Obelisk in den Nachthimmel ragte. Es schien unendlich weit entfernt und der Obelisk bis auf die schmalen Plattformen spiegelglatt.
Die Sumpfleute verständigten sich wortlos. Gillok verschränkte die Finger ineinander, ging in die Knie. Syriakin legte einen Arm um seinen Hals, stieg auf seine Hände und hangelte sich mit der freien Hand nach oben. Der Sumpfmann richtete sich zu voller Größe auf, stemmte sie empor, sodass sie auf seinen Schultern balancierte. Trotzdem erreichten ihre Fingerspitzen nicht einmal den Rand des nächsten Ringes.
„Zu hoch. Ich finde nicht genug Halt. Ylaiy, Ihr seid größer.“ Mit diesen Worten sprang sie zurück auf die Balustrade. Jonoy fing sie auf, während Gillok die Schultern kreisen ließ und den Nacken massierte.
„Ich bin viel schwerer als Ihr“, stammelte Ylaiy. „Gillok wird mich nicht halten können.“
„Macht Euch darüber keine Sorgen“, gab Gillok mit einer Grimasse zurück.
„Aber ich habe nicht die Kraft Eurer Freundin.“
„Macht Euch darüber keine Sorgen“, wiederholte die Kriegerin.
Adiv war nicht die Einzige, die bemerkte, dass Syriakins Worte jetzt hastiger kamen, dass sie dauernd nach unten schielte, auf die Risse, die sich schnell verbreiterten, den Boden, der sich wölbte.
„Die Kinder!“, rief Akim plötzlich. „Schaut!“
Yvain, Bada, Arlen und Kian hatten sich an den Händen gefasst, ihre Köpfe zum Himmel gewandt. Ihre Lippen öffneten sich zu einem stummen Singsang. Oberlider und Wimpern zitterten. Adiv spürte, wie eine unsichtbare Kraft sich erhob, aus allen Richtungen an ihnen zerrte, ihre Kleidung aufblähte. Dann bemerkte sie, dass die Spitze des Obelisken sich in das eigene Innere schob.
„Er schrumpft“, sagte sie verdutzt.
„Er verschwindet in sich selbst“, entgegnete Ylaiy. „Er ist hohl.“
„Was tun wir jetzt?“ Adivs Stimme überschlug sich.
„Warten“, verkündete Ylaiy, nachdem er die Konstruktion gemustert hatte. „Wir stehen auf dem untersten, breitesten Ring. Geht soweit wie möglich an den Rand. Wenn ich recht habe, hört das Schrumpfen auf unserer Höhe auf.“
Seine Hand krampfte sich um Adivs, während sie zusahen, wie der Obelisk sich Absatz für Absatz in sich selbst schob, dabei stetig kleiner werdend. Dazwischen warfen sie nervöse Blicke auf die Wände und Säulen, von denen sich Brocken lösten und zu Boden donnerten.
„In die Mitte“, befahl er, sobald der Mechanismus rumpelnd zum Halt gekommen war. „Dorthin, wo vorhin die Spitze war. Haltet euch aneinander fest. Kniet euch hin.“
Akim sprang die Stufe hinauf, setzte sich, zog Adiv an seine Seite. Nacheinander kauerten die anderen sich dicht nebeneinander, suchten nach Kleiderzipfeln und Armen, um sich gegenseitig zu stützen. Die Kinder stiegen murmelnd und mit halb geschlossenen Augen in den Kreis der Erwachsenen, lehnten sich gegen sie, die Hände ineinander verschränkt.
Um sie begann die Auflösung.
Wände gerieten ins Rutschen, brachten den Raum in Schieflage. Steine brachen aus Säulen heraus. Risse fraßen sich durch das Gestein, während der Boden sich wie eine Gasblase aufwölbte. Staub setzte sich auf Körper und Kleidung, reizte Augen, Nase und Kehlen. Von den Überresten der aufgesprungenen Decke lösten sich weitere Steine und rauschten nach unten.
Von überall her schienen plötzlich blaue und silberne Funken zu kommen. Sie tanzten in der Luft, perlten an den Wänden entlang, schlängelten sich um die Pfeiler, rasten über den Boden. Sie knisterten an den verschränkten Händen der Kinder, liefen über deren Arme und Schultern, erleuchteten die entrückten Gesichter.
Syriakin konnte für einen Augenblick in den Schädel ihrer Tochter sehen, an Haut, Muskeln und Gewebe vorbei. Deutlich sah sie die Sehnerven und Gehörgänge, die Kiefer mit den Milchzähnen, die diffuse Masse des Gehirns. Dort, in den Tiefen der verschlungenen Windungen, erspähte sie Licht. Zuckende rote und goldene Fünkchen, die aus dem Nichts entsprangen, in irrwitziger Geschwindigkeit die Nervenbahnen entlang sausten, aufleuchteten, verglühten. Wie Sternschnuppen am sommerlichen Nachthimmel.
Die Worte Jodanams kamen ihr in den Sinn.
Kinder mit Zauberkräften. Sie sagten, man müsse sie vernichten.
Tief in ihrem Herzen regte sich etwas, sprudelte die Adern hinauf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es Angst war. Und sie fragte sich, ob Jodanam gewusst hatte, dass ihr Kind die Macht hatte, zu zerstören. Auszulöschen.


Ylaiy erfasste ein Gefühl des Rausches, als der Obelisk sich aus der eigenen Verankerung riss, wieder auseinander schob. Bislang hatte das wundersame Bauwerk sich langsam und knirschend bewegt, doch nun war es, als hätte man einen tollwütigen Hund von der Leine gelassen. Nachdem es ruckartig wieder zum Leben erwacht war, schoss es zum Himmel empor, veranstaltete dabei einen infernalischen Lärm.
Trotz der Geschwindigkeit und der Kräfte, die an ihnen zerrten, trotz der Höhe, in die sie unaufhörlich strebten, kam Ylaiy der Gedanke, dass die Spitze, um die herum sie sich alle drängten, im Augenblick der sicherste Platz im Umkreis war. Der Obelisk schien unter der Festung verankert, möglicherweise sogar in der brodelnden Steinsuppe, aber O’shu’o-gh selbst hörte auf zu existieren, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Fast überkam ihn Trauer, denn die Festung war Herzstück einer uralten Kultur, Zeugnis eines unbekannten Volkes. Der Wissenschaftler in ihm weinte unsichtbare Tränen, als er beobachtete, wie die Eisdecke immer weiter aufriss, Kanten nach innen rutschten, Blöcke sich lösten und in die Tiefe glitten.
Der Übergang zwischen Unterwelt und Erdoberfläche gestaltete sich fließend. Mit einem Mal waren sie unter freiem Himmel. In Sekundenbruchteilen nahm Ylaiy das Funkeln der Sternenschwärme wahr, sah den im Mondlicht glitzernden Strandstreifen, das träge schaukelnde Meer, eine über hundert Meter hohe Schelfeiskante entlang der Küste. Selbst im Dunkel schillerte sie in einem faszinierenden Hellblau.
Er fühlte Erleichterung, sog die frische Luft ein. Sie mussten sich im äußersten Westen Drahorsúls befinden. Von hier aus konnten sie zurückkehren. Nach Hause. Weg von diesem Eiland mit seiner erdrückenden Leere. Weg von Zauberei und magischen Geschöpfen, von Entbehrung, Kälte, Hunger. Nach Hause. Zu Büchern und Laboratorien. Zu seinen Studien. In die Einsamkeit seiner Gemächer. Zu Sila.
Abrupt kam der Obelisk zum Halt. Die Beschleunigung schleuderte sie in hohem Bogen auf den Strand.
Stöhnend rollte er zur Seite, kam mit der Kriegerin gleichzeitig auf die Beine, die zum ersten Mal, seit er sie kannte, nicht sofort nach ihren Waffen griff, sondern die Arme ausbreitete, um ihre Tochter aufzufangen.
Die Geschwindigkeit, zweifellos angefacht von der Zauberkraft der Kinder, hatte sie weit genug von der einstürzenden Gewölbedecke wegkatapultiert. Unter ihren Füßen wütete wilde Zerstörung. Das Bersten der Tunnel und Kammern war deutlich zu vernehmen, ebenso das Platschen der Felsbrocken in den unterirdischen See, der mittlerweile verschüttet lag. Mit ihm die Überreste des letzten Morrhim.


Der schmale Strand wurde an einer Seite vom Meer, an der anderen von der Eiskante eingerahmt, die senkrecht in die Höhe ragte. Frischer Schnee bedeckte die uralten Eisschichten.
Gillok spürte den eisigen Windhauch, der vom Meer Richtung Land wehte und Wellen aufwarf, die mit unbegreiflicher Beständigkeit gegen das Ufer wogten, unbeeindruckt von der Zeit. Er sah zu Bada und Syra und eine Angst erfasste ihn, die eisiger war als der Wind. Er würde sie verlieren. Beide. Auf die eine oder andere Art würde er sie verlieren. Und die Wellen würden an den Strand waschen, als wäre nichts geschehen. Dann dachte er an Syras Lächeln, an ihre Hand in seinem Nacken. Er dachte an Bada, die sich an ihn geschmiegt hatte, und er straffte sich. Rappelte sich vom Boden auf, trat zu seiner Gefährtin.
„Es ist noch nicht vorbei.“
Sie klopfte sich Schnee von den Schultern, nickte, sah sich nach ihrem Bogen um. „Weit kann er nicht sein.“
„Dafür, dass die Magier ihn schweben ließen, waren sie nicht gerade behutsam“, mischte sich Akim ein. „Schaut euch die Fährte an. Als wäre eine Kamelherde vorbeigekommen.“
„Sie führt den Strand entlang in diese Richtung“, wies Adiv mit dem Finger nach Süden.
„Du hast viel gelernt“, lächelte Gillok.
„Na ja. Da ich uns sowieso ein neues Leben aufbauen muss, kann ich ja vielleicht mein Glück als Fährtenleserin versuchen. Möglicherweise werde ich Jäger wie ihr, gehe in die Wälder oder fische.“
„Wir können dich alles lehren“, bot die Kriegerin an.
Adiv wollte auflachen, als sie bemerkte, dass Gillok und Syriakin sie ernst anschauten. „Danke“, murmelte sie, nach Arlens Schultern greifend.
„Tu das bloß nicht. Sie ist eine strenge Lehrerin“, flüsterte Bada ihr mit einem Lächeln zu, das so hinreißend war, dass Adiv sofort leichter ums Herz wurde.
„Gehen wir ihm nach oder fliehen wir?“, fragte Videm.
„Wohin denn?“, wandte Ylaiy ein. „Die Eiswand kommen wir niemals hinauf. Hinter uns klafft ein gigantisches Loch, das womöglich noch weiter aufreißt. Dort liegt das Meer. Abgesehen von den Sumpfleuten dürfte das Schwimmen uns erhebliche Probleme bereiten. Ich zumindest würde hoffnungslos ertrinken, wenn ich nicht vorher erfriere.“
„Bei mir wäre es umgekehrt“, entgegnete die Kriegerin mit gekrauster Stirn.
„Wir haben keine Wahl“, sagte Arlen. „Er wird kämpfen.“
„Er will uns vernichten.“ Bada sah allen ins Gesicht. „Die Erwachsenen auf jeden Fall. Vielleicht verschont er uns Kinder.“
„Ohne die Priesterinnen kann er uns nicht in seinem Sinne lenken“, warf Yvain ein.
„Er wird uns töten“, beteuerte Kian leise. Sofort stellte Akim sich schützend hinter ihn.
„Besitzt er noch genügend Kraft?“, fragte die Kriegerin. „Er wirkte angeschlagen. Die Magier mussten ihn in Sicherheit bringen. Können sie ihn heilen? Ihn wiederherstellen?“
„Er ist allein“, entgegnete Gillok. „Die Morrhim sind erledigt, ebenso die Flügelwesen. Wenn ich das richtig verstanden habe, waren sie seine Streitmacht.“
„Und die Schamaninnen seine Heiler“, setzte Ylaiy hinzu. „Ihre Aufgabe bestand darin, sich und alle anderen am Leben zu erhalten.“
„Hat der Anführer auch magische Kräfte?“, fragte Videm. „Er hat gekämpft wie ein Mensch, nicht wie ein Zauberer. Doch was war mit dem Flächeneis, den Spinnen?“
„Dem Türknauf?“, ergänzte Gillok.
„Die D’ulan waren das“, antwortete Yvain. „Sie kämpfen für ihn.“
„Dann müssen wir sie zuerst ausschalten“, überlegte Jonoy. „Bis er allein ist. Danach ist das Ganze ein Kinderspiel.“
„Seine Schläge und Hiebe sind kein Spiel, glaubt mir“, sagte Gillok.
„Aber ihr konntet ihn besiegen. Zu fünft. Nun sind wir zu siebt. Außerdem haben wir die Kinder. Ihr habt gesehen, was sie anrichten können.“
„Nein!“ Die Kriegerin funkelte ihn an. „Sie halten wir heraus. Wenn wir kämpfen, dann ohne sie.“
„Wir können euch helfen“, wandte Bada ein.
„Nein!“ Syriakin atmete zweimal tief ein, um ihre Stimme weicher klingen zu lassen. „Wir schaffen das ohne euch. Der Schmied hat es gesagt: Wir haben diesen Wahnsinnigen besiegt. Er ist angeschlagen. Ihr haltet euch heraus!“
Bada schwieg, aber sie wandte die Augen nicht vor den einschüchternden Blicken ihrer Mutter ab. Sanft starrte sie die Sumpffrau an, bis deren verbissener Ausdruck sich glättete. „Ihr kämpft nicht. Wir finden eine andere Lösung. Bringen euch in Sicherheit.“
„Wie denn?“, fragte Ylaiy. „Ich meine, ich stimme Euch zu. Wir sollten die Kinder nicht erneut in Gefahr bringen. Doch wie wollt Ihr sie in Sicherheit bringen?“
Die Kriegerin blieb ihm die Antwort schuldig. Sie mahlte mit ihren Kiefern und schwieg, während sie nachdachte und dabei ihre Tochter anschaute.
„Ihr könnt sie nicht retten“, mischte sich eine schleifende Stimme in das angespannte Schweigen.
Noch bevor die Worte zu Ende gesprochen waren, hatten alle ihre Waffen in den Händen. Der Norogdún wieherte angesichts der Messerspitzen und Klingen, die sich ihm entgegen reckten. Akim hielt den Speer wurfbereit, die Kriegerin ihren Bogen, auf dem bereits ein Pfeil lag. Ein zweiter steckte zwischen ihren Lippen.
„Ihr könnt sie nicht retten“, wiederholte der Menschenfresser, der hinter einer vorstehenden Eiskante hervortrat.
Halbnackt stand er im Schnee, unbeeindruckt von Kälte und Seewind. Augenblicklich begann Adiv zu frieren. Sie vermisste die Gesichtstücher und Handschuhe.
„Ihr könnt nicht einmal euch selbst retten“, spottete der Inselherr, der bei bester Gesundheit schien.
Gillok forschte nach den Wunden, die sie ihm beigebracht hatten, doch die bläuliche Haut war glatt und eben. Dagegen spürte er die eigenen Verletzungen schmerzhaft aufflackern.
„Das habt Ihr schon einmal gesagt“, rief Akim dem Norogdún entgegen, sich vor seinen Bruder schiebend.
Gillok entging nicht, dass alle Erwachsenen sich vor die Kinder gestellt hatten. Als könnten ihre Körper sie vor der Kraft des Wahnsinnigen und seiner Magier schützen.
„Und ich behielt recht“, gab der Blaukopf zurück.
„Ihr seid geflohen!“
„Ein wahrer Führer weiß, wann er sich zurückziehen muss.“
„Das ist feige“, sagte Adiv.
„Es ist klug!“, fauchte der Drahór und kam näher, Schnee in dichten Wolken aufstiebend.
Syriakin und Gillok wichen sofort zurück. Mit ihren Leibern schoben sie die Kinder nach hinten, bis der klaffende Boden sie zum Innehalten zwang.
„Was denn? Du kämpfst nicht, Kriegerin? Greifst nicht an?“ Der Norogdún lachte meckernd wie eine Bergziege.
Adiv riss Syriakin den Bogen aus der Hand, schaffte es, den Pfeil in der Sehne zu behalten, erstaunt darüber, wie viel Kraft das kostete, zielte kurz und ließ die Sehne los. Der Pfeil sirrte durch die Luft, traf den Brustkorb des Inselherrn. „Da! Ich greife an! Nun zufrieden?“, herrschte sie ihn an.
Gillok drückte sie und die Kinder in den Schnee, während die Kriegerin den Bogen aus ihren Fingern zerrte, den zweiten Pfeil einlegte und ihn abschnellen ließ. Anders als Adivs prallte er nicht wirkungslos von einer der Rippen ab, sondern bohrte sich unter die Haut, direkt ins Herz.
Sekunden später wurde der Wind zum Sturm. Eiswirbel, tanzenden Gespenstern gleich, wehten über den schmalen Strand zu ihnen heran.
„Die Magier“, schnappte Gillok nach Luft. „Sie zaubern.“
„Wir müssen die Kinder wegbringen. Er wird sie töten!“
„Aber Ihr habt ihn getroffen“, keuchte Ylaiy, der sich über Yvain und Arlen geworfen hatte. „Oder nicht? Ihr habt sein Herz doch nicht verfehlt?“
„Er hat keines“, gab Syriakin verdutzt zurück. „Oder es sitzt woanders. Er steht noch, seht Ihr?“
Ylaiy hob den Oberkörper, spähte durch die Geisterwirbel. Der Norogdún stand aufrecht. Der Pfeil steckte mitten in der Brust. Jeder Mensch wäre augenblicklich gestorben, gefällt durch Wucht und Genauigkeit des Geschosses.
Der Norogdún war kein Mensch. Er begann zu lachen, hoch und wiehernd, und alle begriffen, dass der Wahnsinn nun entfesselt war. Dass tanzende Eiswirbel nur der Beginn waren.

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Kapitel: 11
Sätze: 3.574
Wörter: 36.748
Zeichen: 217.928

Kurzbeschreibung

Tief unter der Erde stoßen die Gefährten auf die Festung des Norogdúns und seiner magischen Diener und nehmen den Kampf auf.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Fantasy auch im Genre Abenteuer gelistet.