Storys > Romane > Fantasy > Einsinsel (Teil 7): Strand

Einsinsel (Teil 7): Strand

51
13.01.24 15:04
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Unter der Schneedecke streckten die Kinder ihre Arme aus. Acht Hände glitten unbemerkt ineinander. Finger verschränkten sich, verschmolzen zu einem Körperteil.
Jonoy spürte die Feuchtigkeit an den Sohlen, als die Woge ans Land spülte. „Kommt die Flut?“, fragte er verdutzt.
Die Kriegerin und Gillok wandten ihre Köpfe zum Meer. Beide sprangen gleichzeitig auf, rissen die anderen auf die Füße, ungeachtet der Wirbel, die böse fauchend um sie jagten, sie in alle Richtungen stießen.
„An die Wand!“, schrie Gillok, schob Videm und Ylaiy zur Eiskante, weg vom Wasser, das, deutlich höher gestiegen, auf den Strand lief.
Die Kinder wurden in dem Getümmel mit aufgestellt wie die Bauklötze, mit denen Ylaiy und Videm als Kleinkinder gespielt hatten. Sie ließen es willenlos geschehen, fassten sich so eng an den Händen, dass es den Erwachsenen unmöglich war, sie zu trennen. Wie unter der Erde hielten sie die Augen geschlossen, die Köpfe dem Himmel zugewandt.
Sie sind es“, flüsterte Ylaiy. „Sie holen das Wasser.“
„Wozu?“, raunte Jonoy.
„Um ihn zu ertränken?“, fragte der Prinz zurück.
„Dann bringen sie uns alle um“, erwiderte Akim.
„Könnten sie es nicht nur auf ihn lenken?“, fragte Jonoy.
„Ich weiß es nicht. Möglicherweise lassen die Magier es gefrieren. Oder … Ich weiß es nicht.“
Ylaiy verstummte. Bestürzt und fasziniert gleichermaßen beobachtete er, wie das Meerwasser sich vor dem Ufer aufstaute, immer mächtigere Wellen den Strand überspülten, versickerten, Pfützen und Tümpel schufen. Bald schon hatte der Schnee sich in Eis verwandelt, das unter ihren Füßen knirschte.
„Was ist das?“, schrie Videm in das Gebrüll der Eiswirbel hinein.
Die anderen folgten dem ausgestreckten Arm, blinzelten gegen Salzwassertropfen und Schneewirbel an.
„Ein Fisch?“ Ungläubig wandte Adiv sich an Akim.
„Ein Wal“, sagten Gillok und Syriakin wie aus einem Mund.
„Ein sehr großer“, erklärte der Sumpfmann. „Das riesigste Exemplar, das ich jemals gesehen habe. Ogala. Ein Gigant. Sie sind keine Fische. Sie säugen ihre Jungen.“
„Mir ist neu, dass es Wale vor Kânegg gibt“, brummelte Jonoy, beeindruckt von dem bergähnlichen Tier, das aus den Fluten aufgetaucht war und nun in der Wasserwand schaukelte.
„Sie sind ausgesprochen selten. Man trifft sie nur an wenigen Tagen im Jahr an, wenn überhaupt. Doch es gibt sie, ganze Herden von ihnen. Bei manchen Frâgg gilt es als Mutprobe, mit ihnen zu tauchen. Die meisten sind friedlich. Riesig, angsteinflößend, jedoch gemeinhin scheu. Eines ist allerdings sehr seltsam.“
„Was?“
„Sie kommen nie an die Küste. Bei Ebbe kämen sie nicht wieder weg. Sie lägen buchstäblich auf dem Trockenen. Ihr eigenes Gewicht würde sie erdrücken. Dieser dort ist schon viel zu nah für die flachen Ufergewässer.“
„Aber es ist nicht flach“, sprudelte Ylaiy aufgeregt hervor. „Seht doch! Die Kinder errichten keine Flutwellen, um sie an Land zu schicken, sie machen sie, damit der Wal darin schwimmen kann. Und er kommt näher. Woho!“ Erschreckt sprang er zurück, als eine Woge den Wal so nah heran spülte, dass alle deutlich den urwüchsigen Kopf sehen konnten. Kleine Fische tanzten um ihn.
„Er ist größer als ein Schiff“, flüsterte Adiv, die Hände vor den Mund gelegt.
„Und das ist nur der Teil, der aus dem Wasser ragt“, bestätigte Gillok.
Unterdessen war der Lärm, den die Eiswirbel und der Blaukopf verursacht hatten, beinahe verstummt. Offenbar war der Inselherr von dem Anblick des Meerestieres ebenso benommen wie die Gefährten. Es herrschte eine fast greifbare Stille, die nur unterbrochen wurde von dem Schnauben des Wales, der schäumende Fontänen in die Luft warf und auf etwas zu warten schien.
Die Wellen türmten sich weiter auf. Noch immer hielten die Kinder ihre Hände verschränkt, doch ihre Köpfe hatten sich auf die Brust gesenkt. Sie wirkten erschöpft.
Das Zaubern laugt sie aus, dachte Jonoy.
Der Wal ließ sich träge herantragen. Er prustete und gab gurgelnde Geräusche von sich, die aus dem kellerartigen Inneren heraufstiegen. Die Flossen schlugen sacht im Wasser, als er sich mit der Breitseite zu ihnen drehte.
Syriakins Augen huschten über den eindrucksvollen, nicht enden wollenden Leib. Sie kannte Wale, kleinere Exemplare aus nächster Nähe, doch selbst sie konnte sich nur schwer aus dem Bann des sanftmütigen Ungetüms reißen. Der Kopf war lang gestreckt, mit weit ausladenden Kiefern. Er schien übermäßig groß; so gewaltig, dass sie sich fragte, warum er nicht nach vorn kippte. Seepocken und andere Auswüchse sprossen auf der Haut.
Sie stockte, als sie das Auge bemerkte. Es war winzig im Vergleich zu dem monströsen Körper, aber gigantisch, wenn man ein menschliches Auge zum Maßstab nahm. Je länger sie das Auge ansah, desto unbehaglicher wurde ihr. In ihr wuchs das Gefühl, dass der Wal sie beobachtete, ganz so, wie sie ihn.
Dann realisierte sie, dass der Wal ihre Tochter anstarrte. Die hatte sich aus dem Kreis der Kinder gelöst, schritt auf das Ufer zu, die Augen fest auf das Meeresungetüm gerichtet, augenscheinlich ohne Furcht.
„Bada“, rief Syriakin und musste feststellen, dass ihre Stimme ihr nicht gehorchte. Mit zwei großen Schritten hechtete sie ihrer Tochter nach, riss sie am Ärmel herum.
Bada nahm die Hand ihrer Mutter vom Arm und schüttelte den Kopf. „Du machst ihm Angst.“ Sie zeigte auf den Wal, dessen Flossen das Wasser zerwühlten. Das Luftloch stieß erschreckte Fontänen aus, sein Auge kreiste.
Die Kriegerin zwang sich, Geist und Körper unter Kontrolle zu bringen. Sie starrte auf Bada, die unbeirrt weiter ging, bis sie das Wasser erreichte, das – allen Gesetzen der Natur und Logik zum Trotz – wie eine Wand vor ihr stand.
Gillok trat an Syriakins Seite. „Lass sie. Das Meer ist ihr Lebensraum. Ihr wird nichts geschehen.“
„Es ist, als rede sie mit ihm.“
„Ich glaube, genau das tut sie.“
„Warum?“
„Um dir zu gehorchen. Du sagtest, die Kinder sollten in Sicherheit gebracht werden. Um was wetten wir, dass das ihr Plan ist?“
„Du meinst, der Wal bringt sie weg?“
„Wetten wir?“, fragte Gillok mit einem verzagten Grinsen.
„Das scheint ihm nicht zu gefallen. Horch!“
Die Stimme des Norogdúns hatte sich erneut erhoben. Sie wurde lauter, als die Kinder zum Wasser rannten, in die eisigen Fluten sprangen, auf die Vorderflosse des Wales stiegen und sich auf dessen Rücken hievten, Seepocken als natürliche Stufen benutzend.
Der Menschenfresser setzte sich in Bewegung, heulend wie ein verwundetes Tier, den Pfeil in der Brust. Blassrosa Blut sickerte aus der Wunde. Er tobte, bellte, warf sich nach vorn, bleckte die Zähne, zischelte mit der schwarzen Zunge, wütete, schimpfte. Doch er war zu langsam, konnte nicht verhindern, dass das Wasser mit dem Wal zurückwich und die Kinder mitnahm.
Die Kriegerin schaute zwischen ihm und dem Wal hin und her. In ihren Augen stand Sorge, als sie sah, wie der Wal sich dem Meer zudrehte und mit der Schwanzflosse schlug. Mit wenigen Bewegungen trieb er aus ihrer Sichtweite, die Kinder rittlings auf ihm.
Gillok drückte ihre Hand. „Es ist das Richtige. Sie werden es schaffen.“
„Nach Fedaj? In eisigem Wasser?“ Zweifel erstickten ihre Stimme.
„Der Wal ist viel schneller als ein altersschwaches Boot. Er kennt die Gewässer. Die Kinder halten die Kälte aus. Mach dir keine Vorwürfe. Sie in Sicherheit zu bringen, war richtig.“
„Wir hatten sie gerade erst wieder“, flüsterte Akim.
„Hauptsache, er hat sie nicht“, gab die Kriegerin zurück, griff an ihren Gürtel und wandte sich dem Bluttrinker zu, dessen Gebrüll in den Nachthimmel stieg.
„Ich werde sie mir holen, hört ihr mich? Ich hole mir die Kinder zurück! Wenn ich mit euch fertig bin, hole ich sie!“
„Sie sind weg!“, schrie Adiv. „Eure Handlanger sind längst Pulver da unten. Eure Höhle ist zerstört, alles ist tot! Gebt auf!“
Ich bin am Leben! Die Kinder gehören mir! Mir allein! Ihr könnt nicht gewinnen! Niemals!“
Akims Kopf zuckte bei jedem Wort ein winziges Stück zurück. Er sah den Geifer, der aus dem Schlund des Norogdúns spritzte und in der Kälte verdampfte.
„Ich ertrage diesen Unrat nicht mehr“, raunte Jonoy.
„Geben wir ihm den Rest“, ertönte die heisere Stimme der Kriegerin. Sie begann, in ihren Taschen zu kramen, zog ein Röhrchen und Geschossspitzen heraus.
Die Augen des Prinzen weiteten sich. „Ist noch Gift auf den Dingern?“
„Stark, tödlich. Allerdings längst eingetrocknet und durch Kälte und Nässe möglicherweise unbrauchbar. Doch mit ein wenig Glück schwächt es ihn.“
„Feuert sie ab!“
„Das ist nicht so einfach. Das Blasrohr hat eine geringere Durchschlagskraft als ein Pfeil. Mein Bogen liegt irgendwo da hinten im Schnee. Hab ihn in den Eiswirbeln verloren; sinnlos, ihn jetzt zu suchen. Hierfür muss man näher an den Wahnsinnigen heran.“
„Wie lautet dein Plan?“, fragte Gillok.
„Und was ist mit den Zauberern?“, setzte Videm hinzu.
„Wir stürmen auf den Blaukopf zu. Kurz zuvor weicht ihr aus und greift die Zauberer an. Videm, Ylaiy, Jonoy und Akim lenken je einen ab. Einigt euch, wer welchen nimmt. Gillok und ich laufen vor und greifen an.“
„Und ich?“
Die Kriegerin streckte Adiv ein Blasrohr und Giftspitzen entgegen. „Du wartest, bis wir sie abgelenkt haben. Halte Abstand.“
„Was? Aber ich…“
„Kräftig hineinpusten. Und nicht uns treffen.“


Sie gelangten nicht einmal in seine Nähe.
In dem Augenblick, in dem sie sich in Bewegung setzten, lösten sich Zapfen aus den Fingern der Magier. Ein Sturm tödlicher Geschosse raste auf sie zu, viel zu schnell, um mehr zu tun, als sich flach auf den Boden zu werfen.
Adiv spürte die Eisbolzen gegen sich prasseln. Sie bekam eine Ahnung davon, wie es sich anfühlte, von einem Messer getroffen zu werden. Unzählige Stichwunden erblühten auf ihrem Körper. Selbst dort, wo Kleidung sie vor verheerenden Schäden schützte, hinterließen die Spitzen Blutergüsse. Der Schmerz kam verzögert hinterher.
Erst nach etlichen Atemstößen war sie sicher, nicht fatal verwundet worden zu sein. Ein Großteil ihres Rumpfes und ihrer Gliedmaßen war von der enormen Kraft der Geschosse taub oder brannte peinigend. Wie ihre Gefährten wälzte sie sich durch den Schnee, versuchte, auf die Beine zu kommen, sich für das zu wappnen, was als Nächstes kam. Dabei kreiste in ihrem Kopf die schreckliche Frage, wie sie gegen so viel Macht vorgehen konnten. Was hatten die Magier noch in ihrem schier unerschöpflichen Vorrat an Waffen und Kriegskünsten? Wie sollten sie dagegen bestehen? Wie gewinnen?
Der Norogdún brach in ein höhnisches Gelächter aus. Ihre mühseligen Versuche, sich wieder aufzurichten, schienen ihn über alle Maßen zu amüsieren.
Adivs Kopf hämmerte. Sie glaubte nicht, dass es eine Stelle auf ihrem Körper gab, die nicht jaulte vor Qual, doch sie merkte, wie der Hass zurückkehrte, ihr Kraft schenkte.
In den Mienen ihrer Freunde sah sie Ähnliches. Trotz. Zorn. Entschlossenheit. Sie alle waren angeschlagen, aber so wie die Kriegerin sich auf beiden Armen nach oben drückte und dem Blaukopf herausfordernd in das entstellte Antlitz starrte, verhielten sich auch die anderen. Sie kamen auf die Beine, boten dem Inselherrn die Stirn. Dessen Lachen verebbte, machte argwöhnischen Blicken Platz.
„Haben wir einen Plan, Syra?“, ächzte Gillok und befühlte sein von einem Eispfeil zerfetztes Ohrläppchen.
Sie wandte kaum den Kopf. „Die Magier versperren uns den Weg. Wir müssen an sie heran. Ohne sie ist er nichts.“
„Wir müssten in seinen Rücken“, überlegte Adiv. „Ihn von mehreren Seiten angreifen. Dann wären die Magier vielleicht verwirrt.“
„Das ginge nur über das Wasser“, entgegnete die Kriegerin. „Die Eiskante kommt niemand von uns hoch, nicht einmal Akim.“
„Das Wasser ist doch gut. Ihr Sumpfleute schwimmt wie Fische“, sagte Ylaiy. „Ihr müsstet das schaffen.“
„Kiemen“, fiel Adiv ein. „Ihr könnt atmen unter Wasser.“
„Syra nicht“, stellte Gillok richtig. „Ihre Familie lebt in den Wäldern. Außerdem wird er sofort wissen, dass es eine Finte ist.“
„Passt auf!“, brüllte Jonoy, die Augen vor Entsetzen geweitet.
Ein Schneewall hatte sich vor ihnen in Bewegung gesetzt. Blitzschnell verbreiterte er sich, wuchs in die Höhe, bis er Umfang und Stabilität eines Hauses angenommen hatte.
Die Lawine rollte direkt auf sie zu.
Videm schubste den Alten zur Seite. Gemeinsam rannten sie auf die Schelfeiskante zu. Gillok fand die Geistesgegenwart, Ylaiy und Adiv mit sich Richtung Wasser zu zerren. In dieser Sekunde walzte die Lawine an ihnen vorbei, begrub alles unter sich. Sie rauschte vorüber, hüllte sie in Kälte, riss sie von den Beinen, bis das Loch in der Erde die gewaltige Masse aus Schnee und Eis verschluckte.
Der Rand des Schneeberges erfasste Adiv und Ylaiy. Meterweit wurden sie mitgeschleift, konnten sich hustend und spuckend aus den Schneemassen befreien. Geschockt schauten sie sich nach Gillok um, riefen seinen Namen, aber der Sumpfmann war spurlos verschollen.
Jonoy und Videm starrten betroffen auf den platt gewalzten Fleck, auf dem soeben noch Syriakin und Akim gestanden hatten. Sie suchten den gesamten Strand ab. Alles, was sie fanden, war aufgewühlter Schnee. Ihre Gefährten waren im wahrsten Sinne des Wortes vom Erdboden verschwunden.
„Heyda, Sterbliche!“, drang die spottende Stimme des Norogdúns durch die Nacht. „Meine trüben Augen mögen mich täuschen, aber von hier aus scheint es, als hätten sich eure Reihen gelichtet. Wo sind sie?“
Keiner fühlte die Kraft, ihm zu antworten. Das Schweigen schien den Blaukopf zu verunsichern, denn das verhöhnende Lachen brach abrupt ab.
„Wo sind sie?“, wiederholte er ernst und bedrohlich.
„Was glaubt Ihr?“, stieß Adiv hervor.
Der Bluttrinker sah die D’ulan an. Undeutlich hörten sie, wie er ihnen etwas zu zischte, ohne die Menschen aus den Augen zu lassen.
„Ich wünschte, Akim wäre hier“, murmelte Jonoy. „Er würde verstehen, was er sagt.“
„Er scheint wütend. Horcht! Das Zischen wird lauter, auch wenn er es zu unterdrücken sucht. Er gibt Befehle, glaube ich“, raunte Ylaiy.
„Die sie nicht ausführen“, knurrte Adiv.
Ylaiy betrachtete den Norogdún, der sich zu den Robenträgern gebeugt hatte. Er schien immer erregter zu werden. Mittlerweile bellte er die Untergebenen an.
„Sie widersetzen sich seinen Anweisungen? Darauf stünde im Palast Gefängnis. Möglicherweise Tod.“
„Sie können nicht!“, entfuhr es Adiv.
Der Thronfolger nickte. „Keine Kraft. Sie haben in den letzten Stunden wahrscheinlich mehr gezaubert als in den Jahren zuvor. Sie mussten ihn heilen, nach oben tragen, einen Obelisken bewegen, die Decke, den Boden. Dazu die vielen Kampfzauber. Sie sind erschöpft, glaube ich. Ihr Vorrat an Magie ist verbraucht.“
„Dann sollten wir den Vorteil nutzen“, stieß Videm aus, zückte das Schwert und rannte los, geradewegs auf die Drahór zu.


Wir hätten es wissen müssen.
Mittlerweile waren sie nahe genug, um das Grinsen zu sehen, das über die durchscheinenden Wangen floss. Der Blaukopf richtete sich auf, streckte die Arme aus. Es wirkte wie die groteske Vorbereitung auf eine Umarmung.
Wir hätten es wirklich wissen müssen, dachte Jonoy, als der Boden sich in Brei verwandelte, seine Füße unversehens in weiche, nachgiebige Masse traten. Es war beinahe lächerlich, wie ihrer aller Lauf mit einem Mal gestoppt wurde. Bis zu den Oberschenkeln steckten sie im Schnee, ruderten hilflos mit den Armen.
„Was denn?“, herrschte Adiv den Blaukopf an. „Mehr bringen Eure Magier nicht zustande? Ein bisschen Tiefschnee? Nach all dem Brimborium? Also ehrlich, ich hatte etwas Beeindruckenderes erwartet.“
Wut und Verachtung tränkten ihre Stimme, dabei war ihr Ausfall kaum mehr als ein kläglicher Versuch, die eigene Ohnmacht zu überspielen.
Das erkannte auch der Drahór, der sich damit begnügte, belustigt zu schnauben. Dann verschloss sich sein Gesicht zu einer boshaften Fratze. „Schluss jetzt“, verkündete er. „Machen wir diesem Spielchen ein Ende.“
„Euch geht wirklich die Luft aus, oder?“, schlug Ylaiy in die gleiche Bresche wie Adiv. „Eure Magier wirken erschöpft. Seid Ihr sicher, es noch mit uns allen aufnehmen zu können?“
„Für vier Sterbliche reicht sie allemal.“
„Auch für sechs?“
„Sec…?“
Zu beiden Seiten stob der Boden plötzlich auf. Zwei Schneemänner wuchsen vor den D‘ulan in die Höhe, schneller als das Auge des Norogdún erfassen konnte. Viel schneller, als sein Verstand reagieren konnte.
„Sie sind unter der Lawinenkugel durchgetaucht“, keuchte Ylaiy Adiv zu, während sie sich unter Einsatz aller Körperkräfte aus dem breiigen Untergrund hievten. „Haben sich in den Schnee gewühlt. Akims Speer tauchte direkt vor mir aus der Erde. Ich hatte Angst, er sticht mir ein Auge aus.“
„Beeilen wir uns“, schniefte Videm, der sich als Erster aus dem Tiefschnee befreit hatte. Mit langen Schritten stürmte er an die Seite des Wüstenjungen, dessen Speer bereits gegen die Magier schnellte.
Adiv zerrte Jonoy aus dem tückischen Untergrund. Ylaiy rannte zur Kriegerin.
Wie Akim war sie von Kopf bis Fuß mit einer Schneeschicht bedeckt. Haare und Gesicht waren durchnässt. Ihre durchfrorenen Gliedmaßen behinderten ihre Geschmeidigkeit, dennoch erfolgten ihre Hiebe und Stiche in so schneller Abfolge, dass Videms und Ylaiys Bewegungen sich dagegen plump ausnahmen.
Jonoy und Adiv sahen beim Näherkommen, dass die Magier von dem Angriff überrumpelt worden waren. Sie leisteten keine Gegenwehr. Lediglich ihre Lippen bewegten sich und Jonoy hatte den Eindruck, als suchten ihre Hände die der anderen. Darauf jedoch schienen alle Gefährten vorbereitet, denn wiederholt stachen sie auf die Arme ein.
Die vier Robenträger begannen zu schwanken wie Grashalme im Wind. Offenbar hatten sie wirklich keinerlei Reserven mehr, um dem Ansturm standzuhalten.
Syriakins Messer trieben ein ums andere Mal in das Fleisch der Zauberer, das von eigenartig zäher Beschaffenheit war. Einer festen Flüssigkeit gleich, schloss es sich um die Klingen, schien diese festzuhalten. Niemand wusste besser als die Kriegerin, wie schwer es war, eine Waffe, die in einen Leib eingedrungen war, wieder herauszuziehen, aber niemals zuvor hatte es sie so viel Kraft gekostet wie bei den D’ulan.
Akim fand das Herausziehen des Speers anstrengender als ihn hineinzutreiben. Noch seltsamer war, dass die Körper der Zauberer keinen Widerstand boten. Alle größeren Lebewesen, die Akim kannte, besaßen ein Skelett, einen knöchernen Unterbau, einen Brustkorb, hinter dem sich Organe verbargen. Die Magier schienen nichts davon zu besitzen.
„Sie sind wie Schnecken“, rief Ylaiy angewidert.
„Lasst sie!“, befahl die Sumpffrau. „Sie kosten zu viel Kraft. Sie haben ohnehin genug.“
Damit erhob sie das Messer gegen den Anführer.


Überrascht war er zurückgewichen, hatte die wütenden Attacken beobachtet. Jetzt zuckte er grollend vor dem Messer der Kriegerin zurück. Zweifellos hatte sie auf seine Wange gezielt, zweifellos in dem Versuch, ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Möglicherweise, um sein Auge zu treffen. Glücklicherweise war sie zu klein, zumal sie aus ihrer Seitwärtsbewegung heraus nicht zu einem Sprung gekommen war.
Sie traf nur seine Schulter und er wischte sie beiseite. Sie war schnell, sehr schnell, doch nun, da seine Reaktionen zurückgekehrt waren, stand er ihr darin nicht nach. Überragte sie sogar, wenn man es recht bedachte. Immerhin kämpfte er mit bloßem Oberkörper, unbehindert von dicken Kleiderschichten. Bestimmt war sie in ihrer Heimat noch schneller, in der brütenden Schwüle der Sümpfe. Aber hier fehlte die Wärme, die den letzten Rest Geschmeidigkeit in ihren Körper brachte.
Man musste ihr lassen, dass sie sich wirklich zu beherrschen wusste. Er schleuderte sie gegen die Eiskante, sah, wie sie dagegen krachte und zu Boden rutschte. Sie riss den Mund auf, einerseits um frischen Atem in ihre zerdrückten Lungen zu ziehen, andererseits um vor Schmerzen zu schreien. Gleichwohl, den Gefallen tat sie ihm nicht. Sie schaffte es, den Schrei nach innen zu lenken. Alles, was von ihren Lippen drang, war ein keuchender Fluch.
Wenigstens blieb sie liegen. Vorerst. Es stand außer Zweifel, dass sie bald auf die Beine kommen würde. Immerhin: Im Moment war sie zu sehr damit beschäftigt, ihre Sinne wieder zu erlangen.
Zeit genug, die anderen abzuschütteln. Er packte den Speer, schleuderte ihn mit dem Wüstenjungen von sich, bekam kaum mit, dass Akim weich im Tiefschnee landete, denn da griff er bereits nach der Klinge Videms. Der Sohn des Inquisitors prallte unweit der Kriegerin auf den Boden.
Ylaiys unbeholfene Bewegungen amüsierten ihn. Ohne viel Aufhebens hebelte er ihm das Schwert aus der Hand, hob ihn an den Hüften hoch, warf ihn von sich. Der Thronfolger war schwerer, als seine Magerkeit vermuten ließ. Möglicherweise hatte ihm die Reise einige Muskeln beschert. Nun musste er nur noch lernen, sie richtig einzusetzen. Dazu würde er allerdings keine Gelegenheit mehr bekommen.
Mitten in diesen Gedanken bohrte sich schmerzhaft der Stab. Er nahm sich kurz die Zeit, ihn aus der Taille herauszuziehen und die Wunde in Augenschein zu nehmen. Sie öffnete seinem dünnen Blut den Weg nach außen. Ein Wutgeheul brauste über seine Lippen. Sofort bereute er, den weißhaarigen, gebeugten Greis unterschätzt zu haben. Den Mann, der den Jungen gefangen hatte, aus der Luft heraus, mit der bloßen Kraft seiner Schmiedearme. Er durfte ihn nicht unterschätzen.
Genauso wenig wie das Mädchen, dessen Kampfkünste an Unbedarftheit alles übertrafen, was er bisher gesehen hatte. Doch die Diebestochter war erfüllt von unbändigem Trotz und eisernem Willen. Für einen Moment erwog er, sie am Leben zu lassen. Sie gefiel ihm, die kleine Wilde. Hatte alles noch vor sich. Würde sie hart gesotten werden wie die Kriegerin? Listig wie ihre Mutter? Würde sie ihn überraschen?
Der Gedanke verrauschte in einem weiteren Zornesschrei, als sie ihm ihr Schwert in den Oberschenkel rammte, es in der Wunde drehte. Lichter zuckten durch seinen Kopf.
Gemeines Biest.
Gleichzeitig stieß er sie und den Schmied so heftig von sich, dass sich beide mehrfach rückwärts überschlugen und mit verrenkten Nacken liegen blieben.
Dann tastete er seinen Körper ab, fuhr Wundränder entlang, musterte die sechs Sterblichen, die um ihn verstreut lagen.
Es wurde gefährlich. Sie rückten ihm auf den Leib, wieder und wieder. Er musste ihnen den Garaus machen. Schnell.
Mit einem Blick auf den klaffenden Abgrund machte er einen Schritt nach vorn, auf den Schmied zu. Er war den Schritt noch nicht gegangen, als er etwas von hinten heranrauschen hörte. Einen winzigen Moment lang dachte er an einen der Vögel. Dass einer überlebt hatte. Doch die kräftigen Arme, die sich nass und dolchbewehrt um seinen Hals legten, gehörten einem Menschen.
Der Sumpfmann. Gewandt, schnell, entschlossen. Eisig kalt. Vermutlich schimmerte die Haut so blau wie seine.
„Ihr Sumpfvolk seid wirklich wie Fische!“
„Amphibien“, keuchte Gillok, der auf seinen Rücken gesprungen war, Schultern und Hals mit nassen Armen umschlingend.
„Gebt auf. Eure Gefährten sind nutzlos“, knirschte er und schob eine Hand unter den Dolch, direkt vor die Kehle. Das Gewicht des Frâgg zwang ihn, sich nach vorn zu beugen, wollte er nicht nach hinten umfallen.
„Dann wird es ein Kampf Mann gegen Bestie“, versetzte Gillok.
„Meine Diener sind nicht tot.“
„Meine Freunde auch nicht.“
Der Druck auf den Dolch verstärkte sich. Er fühlte, wie die Klinge seine Hand durchschnitt, Blut aus der Wunde floss. Wertvolles, unersetzliches Blut. Er ließ den Kopf zurückschnappen, traf Gilloks Stirn mit einem entsetzlichen Laut. Sofort wurde der Druck schwächer. Er hörte Gillok aufstöhnen, roch das dunkle Blut auf dessen Schläfe. Der Geruch benebelte die Sinne. Süße Schwere kroch seine Glieder hinauf.
Er beugte sich noch weiter vor, wobei er Gillok auf die Zehenspitzen zog, drehte den Kopf angestrengt nach rechts. Seine Zunge suchte die Stirn des Sumpfmannes. Er zischte befriedigt, als er die ersten Tropfen aufleckte.
Gillok keuchte in einer Mischung aus Verärgerung und Abscheu. Sein Haupt floh, neigte sich weg vor ihm. Doch dadurch drohte er abzurutschen oder den Dolch zu verlieren, also bemühte er sich, wieder einen festen Stand zu bekommen, ließ sich auf seinem Rücken hinuntergleiten.
Sofort umklammerte er Gilloks Arm, sodass der Sumpfmann nun in seinem Griff gefangen war. Gillok drückte ihm den Dolch gegen die Hand, die bereits auseinanderklaffte und Bäche hellen Bluts an die Luft entließ.
Er wusste, dass er verloren war. Gilloks Dolch würde ihn nicht töten. Die Klinge war scharf, aber zu klein, um eine Hand zu durchtrennen. Die Halsschlagader würde sie nicht erreichen, niemals, solange er den Sterblichen in der kräftezehrenden, ungelenken Position behielt.
Seine Hand würde ihn umbringen. Ein Schnitt in seiner Hand. Das Blut lief aus ihm heraus. Sein Blut. Auserlesen. Unersetzlich. Mit einem Mal spürte er all die anderen unbedeutenden Wunden. Die Messerstiche. Den Speerhieb. Den Pfeilstich. Die Kratzer Adivs. Das Loch, das der Stab hinterlassen hatte. Sie würden ihn ausmerzen, über kurz oder lang.
Lächerlich banal. Eines Herrschers unwürdig. Abrupt ließ er Gilloks Arm los, langte gleichzeitig nach dem um seinen Hals, bevor der Sumpfmann zu Boden rutschen konnte. Er zerrte Gillok über die Schulter nach vorn, ergriff den Dolch mit der verletzten Hand, schraubte ihn ohne nennenswerten Widerstand aus Gilloks Fingern. Dann schnappte er nach der Kehle des Sumpfmannes.
Gillok riss den Kopf im letzten Moment beiseite, bäumte sich verzweifelt auf, trat gegen seine Kniekehlen und Waden, prügelte auf Rücken, Schulter und Wange ein.
Er wehrte den Sumpfmann mit Beißattacken, Kopfstößen und Fausthieben ab, bis er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Die Kriegerin war zu sich gekommen. Es war an der Zeit.
Mit einem einzigen Ruck riss er Gillok von den Beinen, drehte sich um die eigene Achse, wirbelte den Sumpfmann herum. Die Kriegerin starrte mit verschwommenen Augen zu ihnen. Sie hatte sich in eine halb sitzende, halb knieende Position gebracht hatte, die Eiswand als Stütze benutzend. Er ließ Gillok in ihre Richtung fliegen. Zufrieden nahm er wahr, wie sie ungeschickt auswich und erneut gegen die Wand prallte, jedoch nicht hart genug, um abermals das Bewusstsein zu verlieren.
Es war an der Zeit. Er würde verbluten. Die Sterblichen gaben nicht auf. Das hatte er nicht erwartet. Gern hätte er noch Spaß mit ihnen gehabt, aber das Blut strömte aus seinen Wunden. Es war an der Zeit.
Er lachte, als er an das dachte, was nun kommen würde.

Das verhöhnende Lachen des Norogdún ging in Lärm unter. Entgeistert starrte Ylaiy auf den Bluttrinker, über dessen Haut sich dünne, hellblaue Fäden zogen, die in Windeseile den Körper umspannten wie ein Netz.
Mit gefühllosen Fingern tastete er nach dem Schwert, fühlte sich jedoch zurückgestoßen. Gillok, Jonoy und Syriakin schoben sich vor ihn, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, als wollten sie ihre jüngeren Gefährten abschirmen gegen die Energie, die in der Luft zu pulsieren begann. Sie entzog ihm den Atem, bewirkte, dass die Mütze ihm vom Kopf gesaugt wurde, die Haare sich aufstellten. Er musste die Augen schließen, um gegen den Luftstrom anzublinzeln, der ihm Eisnadeln ins Gesicht trieb und an der Kleidung zerrte. Den unnatürlichen Elementen ausgeliefert, taumelte er im Kreis, spreizte die Hände, um bei den anderen Halt zu suchen.
Adivs kalte Finger schlossen sich sofort um seine. Videms Schulter schob sich in seinen Rücken. Akim klammerte sich an seine Taille, stemmte sich gegen die unsichtbare Kraft, rutschte dennoch Fuß für Fuß rückwärts. Zum zweiten Mal rettete ihn der Arm des Schmieds. Ylaiy sah, wie die Nackenmuskeln Jonoys sich anspannten, sein Gesicht eine violette Farbe annahm. Mit unglaublicher Kraft, die sicher mehr der Seelenstärke als der körperlichen Verfassung entsprang, griff Jonoy nach der Faust des Jungen, die weiterhin den Speer umklammert hielt, als ginge von diesem ein heilsamer Zauber aus. Die Pranke umschloss das schmale Handgelenk mühelos.
Mit der anderen Hand hielt er den Stock, den er kurz entschlossen schräg in den Untergrund rammte. Dann entriss er Akim den Speer, hieb ihn ebenfalls in den Boden. Das so entstandene Kreuz drückte in Syriakins Rücken, verhinderte, dass sie von den anhaltenden Windstößen nach hinten geschleudert wurde.
Die Sumpffrau lehnte sich gegen den Luftstrom. Ihre Haare wehten, ihre Kleidung flatterte. Sie schrie etwas, das Ylaiy nicht verstehen konnte, bis er ihrem ausgestreckten Arm folgte. „Die Magier! Sie entfesseln den Wind!“
Die vier D’ulan standen im Halbkreis um ihren Anführer, die Augen in tiefster Konzentration geschlossen. Mit ihren Roben, auf denen feuerrote Muster aufglühten, und den schwarzen, eng anliegenden Kappen ähnelten sie den kegelförmigen Steinen in der Senke irgendwo über ihnen. Ihre fahlen Gesichter schienen mit jeder Sekunde Lebenssaft zu verlieren. Sie murmelten unhörbare Formeln vor sich her, waren ihrer Umwelt völlig entrückt. Sie erinnerten Ylaiy an die Akrobaten, die manchmal am kaiserlichen Hof gastierten und sich in die unmöglichsten Positionen verrenken konnten. Alle vier hatten die Arme so weit über ihren Kopf nach hinten verzerrt, dass sie sich aus den Schultergelenken gelockert haben mussten. Aus ihren Fingerspitzen stoben blaue Lichterbögen - haarfeine Eissplitter, die in einer Art Sprühregen auf den Norogdún zielten.
Um die Eisströme herum verdampfte die Luft. Anders konnte der Kaisersohn sich das Flirren und Knistern nicht erklären. Er nahm an, dass es sich um ein Energiefeld handelte. Winzige silberne Blitze zündeten und verbrannten beständig darin. Das Kraftfeld summte. Wahrscheinlich erzeugte es auch den Wind, der auf sie einhämmerte.
Die Füße der D’ulan waren durch den Saum ihrer Roben verborgen, doch Ylaiy sah, wie es unter ihnen zischte, die Magier zu schrumpfen schienen.
Sie brennen sich durch den Boden.
Mittlerweile hatten sie so viel Energie freigesetzt, dass sich unter ihnen Pfützen gebildet hatten, in denen das Wasser brodelte. Dampf stieg auf, hüllte sie ein, während die Nässe an den Gewändern heraufkroch, in Windeseile verdunstete und danach zu schwelen begann.
Sie brennen. Sie verbrennen.
Er begriff, dass der Letztgeborene ihr Gott war, dass sie sich aufgaben für ihn.
Die Frage war, was sie schufen.
„Oh Kaa! Er wächst!“ Adivs Aufschrei, lauter noch als das Getöse um sie herum, riss ihn aus der Lethargie, die ihn inmitten des brandenden Windes heimgesucht hatte.
„Ich habe das geträumt“, rief Videm gegen das Tosen an. „Meine Mutter hat sich so verwandelt.“
Ylaiy sah die Traurigkeit auf dem Antlitz des Freundes, drückte dessen Hand.
Über den Nachthimmel, der eine patinagrüne Färbung angenommen hatte, jagten dunkle Wolken niedrig dahin, tobten am Kopf des Norogdún vorbei. Ylaiy warf einen Blick nach oben. Der Himmel hatte sich nicht gesenkt. Das Monstrum wuchs tatsächlich.
„Wir müssen die Magier aufhalten!“, schrie Gillok.
„Der Wind ist zu stark!“, gab Jonoy zurück. „Wie sollen wir zu ihnen gelangen? Ich kann mich kaum auf den Beinen halten!“
Der Stein.
Ylaiy vergewisserte sich, dass Akim nach wie vor an den Schlaufen seines Gürtels hing, und nestelte mit einer Hand nach dem Brustbeutel, in dem er den Obsidian aufbewahrte. Er hatte die Kraft der Priesterinnen eingefangen; mit ein wenig Glück würde er dasselbe mit der Energie der Zauberwirker tun.
Er zog den Kopf ein, hielt den Stein in die Höhe. Nichts geschah. Unbeeindruckt entfesselten die D’ulan ihre Zauber. Der Stein blieb ein Stein. Womöglich half er nur gegen bestimmte Kräfte. Vielleicht war seine eigene aufgezehrt. Möglicherweise lag es an den Kindern, die nun fehlten.
Indessen verwandelte sich der Norogdún. Ein Panzer aus Eis erwuchs aus dem Leib, legte sich über die hellblaue Haut. Er schimmerte, schien unentwegt zu schmelzen und wieder zu gefrieren. Dadurch verlor seine Gestalt ihre Umrisse. Die Konturen waberten. Beulen und Pusteln wölbten sich auf, nicht unähnlich der Seepocken auf dem Wal. Schlagartig begriff Ylaiy, dass die Auswüchse ihn noch unverletzlicher gegen Angriffe machten. Er schielte auf sein Schwert, das ihm plötzlich vorkam wie eine Spielzeugwaffe.
Wir können nicht gewinnen.
Er erschrak, als der Boden sich unter seinen Füßen zu bewegen begann. Doch diesmal öffnete sich kein Abgrund. Stattdessen flossen Schnee und Eis zusammen, sammelten sich zu Füßen des Bluttrinkers, vereinigten sich zu Strömen, bevor sie in den Körper des Monstrums gesogen wurden, dort zu noch mehr Eis gefroren.
Der Blaukopf wuchs und wuchs. Schon mussten sie die Köpfe in den Nacken legen, um das Haupt sehen zu können, das von den tief hängenden Wolken eingehüllt schien.
Schließlich zerfetzten die letzten Kleidungsreste des Menschenfressers. Er war nun ganz und gar nackt, sodass alle die gigantischen Muskelberge und Sehnenstränge erkennen konnten, die über jeden Zentimeter des Körpers liefen. Ylaiy schluckte hart bei dem Anblick.
Aussichtslos.
„Er hat kein Geschlecht“, rief Gillok den anderen zu. „Zwischen seinen Beinen ist nichts.“
„Degenerierter Irrsinniger“, murmelte die Kriegerin.
Ylaiy dachte an die vielen Lebewesen, die ihre Geschlechtsteile innen trugen, doch er behielt die Überlegung für sich. Irgendwie war es befreiend, sich zumindest in dieser Hinsicht über die Bestie erheben zu können.
Ansonsten konnte man nicht anders, als sich angesichts der monströsen Größe winzig, unbedeutend, ohnmächtig vorzukommen. Mit den Ausmaßen eines Wals konnte er es nicht annähernd aufnehmen, aber in Höhe und Breite überragte er sie alle um das dreifache. Mindestens.
Unbesiegbar.
An schierer Hässlichkeit kaum noch zu übertreffen war der Kopf. Viereckig, vierschrötig, kantig. All das Weiche, Nachgiebige des menschlichen Antlitzes verschwunden unter der spiegelnden, schmelzenden Eisschicht. Selbst die Augen bedeckte der dicke Panzer. Über den Schläfen sprossen stumpfe Enden aus dem blockartigen Schädel, die an Hörner gemahnten, auch wenn sie aus Eis waren und eher unbeholfen zugehauen. Der Norogdún mochte in der Lage sein, Schnee und Eis aus der Umgebung zusammenzuziehen, aber es war ihm oder den Magiern nicht gelungen, die Masse säuberlich zu modellieren.
Die Nase, in menschlicher Gestalt verformt und platt, war verschwunden. Lediglich zwei dunkle Löcher stießen Reif aus. Der Mund hatte sich in ein Raubtiermaul verwandelt. Ein Schlund, stinkend, schäumenden Geifer ausstoßend. Nach hinten gezogene Lefzen legten spitze Zähne bloß. Ylaiy schüttelte sich bei dem Anblick. Seine Gedärme zogen sich schmerzhaft zusammen.
„Was geschieht mit den Magiern?“, rief Jonoy.
In der Zeit, in der ihr Gebieter in die Höhe gewachsen war, waren die D’ulan immer tiefer in den Boden gesunken. Bis zur Brust standen sie im Wasser, die Roben um sie schwimmend, die Arme grotesk überstreckt, die Rücken durchgebogen, bis sie die Form eines geblähten Segels angenommen hatten.
Das Wasser unter ihnen dampfte, hüllte die Szenerie in Schwaden, die wiederum beim Aufsteigen gefroren und als Puder spiralförmig in die Luft stiegen. Darüber waberte ein grausamer Gestank, den sie wiedererkannten. „Verbranntes Fleisch“, stieß Adiv hervor.
Über die Züge der Kriegerin flog ein Schatten und Ylaiy realisierte, was der Ausruf Adivs bedeutete.
Sie brennen. Ihre Körper brennen.
Er zwang seine Gedanken in andere Bahnen, seine Blicke in andere Richtungen, doch seine Augen blieben an den Fingern der Magier hängen. Die Fingerspitzen verschossen weiterhin Eisschlangen, nährten den Norogdún, aber die Nägel waren schwarz, verkohlt von freigesetzter Energie, ihre Gesichter kalkweiß, blutleer, ohne Anzeichen von Leben. Sie zerflossen wie brennende Kerzen. Das Gemurmel war bereits leiser geworden. Sehr bald würde es verstummen.
„Was tun sie?“, fragte Jonoy.
„Sie opfern sich“, brüllte Ylaiy und rief damit unbehagliches Schweigen hervor.
Pa dé“, sagte Syriakin schließlich. „Vier weniger.“
„Sieben gegen einen“, entgegnete Gillok.
„Das wird nicht reichen“, mahnte Ylaiy.
„Das muss es.“ Die Stirn der Kriegerin lag in Falten. Ihre zusammengekniffenen Augen schätzten den Gegner ab. Mittlerweile kannte Ylaiy sie gut genug, um zu wissen, dass sie nach Schwachstellen suchte, nach empfindlichen Körperteilen, nach einer Lücke in der Verteidigung. Ihre Augen glitten den turmhohen Körper hinauf und hinab, musterten den hünenhaften Rumpf, die säulenartigen Beine, die kraftstrotzenden, in Höhe der Knie schwingenden Arme.
„Das ist er, oder?“, ließ sich Adivs Stimme vernehmen. „Der Eisriese. Der aus den Märchen. Es gibt ihn.“
„Unmöglich“, blaffte Ylaiy. „Sieh doch! Seine Magier sterben. Er hätte sich selbst umgebracht bei der Verwandlung.“
„Niemand weiß, wie viele D‘ulan einst existierten“, gab Gillok zu bedenken. „Womöglich konnten sie auch neu geschaffen werden. Von den Priesterinnen. Was wissen wir schon von dieser Insel? Ihrem Volk?“
„Wir könnten ihn schmelzen“, schlug Adiv vor.
„Woher nehmen wir das Feuer?“, fragte die Kriegerin, ohne den Blick von dem Koloss zu wenden. „Es gibt keine Fackeln mehr, kein Treibholz in der Nähe. Das wäre sowieso zu feucht. Uns bleibt nur der Kampf.“
Ylaiy schrie auf, als die Magier noch mehr Eis zusammenlaufen ließen. Diesmal fing der Letztgeborene es mit schaufelartigen Händen auf, hob sie vor das Gesicht. Beinahe andächtig verfolgten die Gefährten, wie das Wasser in einem breiten Strahl nach unten rann, in der Luft gefror. Der Vorgang erinnerte an die unglaublich beschleunigte Entstehung eines Tropfsteines.
„Was tut er nun?“, flüsterte Adiv.
„Er schafft sich ein Schwert“, murmelte Ylaiy.

„Na dann“, sagte Videm so unbeschwert, als mache er sich auf, seinen Vater in dessen Arbeitszimmer einen Besuch abzustatten. Seine Augen leuchteten unternehmungslustig, nachdem er einen letzten Blick auf die leeren Roben der verdampften D’ulan geworfen hatte.
„Was genau habt Ihr vor?“, hielt Syriakin ihn zurück.
„Ihn töten.“
„Wollt Ihr einfach gegen ihn anrennen?“
„Was sonst? Lasst uns aus allen Richtungen anstürmen, auf ihn einhacken, ihm viele Wunden beibringen, die ihn hoffentlich auf Dauer ausschalten. Oder habt Ihr einen besseren Vorschlag?“
Statt einer Antwort ließ sie erneut ihren Blick kreisen. Eiskante und Meer verhinderten einen Angriff über die Flanken, zumal der Riese sich kein zweites Mal täuschen lassen würde.
„Wir haben keine Zeit für Überlegungen.“ Videm wies auf den Koloss, aus dessen Rachen ein Grollen aufstieg.
Sie nickte. „Achtet darauf, nicht zu eng beieinanderzustehen. Zielt nicht, verletzt ihn nur. An die lebenswichtigen Organe reichen wir sowieso nicht heran. Nehmt euch vor dem Schwert in Acht. Seine Reichweite ist enorm, seine Durchschlagskraft auch.“
„Dann los“, gab Videm das Signal.
Adiv wollte wie die anderen nach vorn preschen, doch ein Arm legte sich auf ihre Schulter. „Du nicht“, sagte die heisere Stimme Syriakins. „Du bleibst hinten. So lange es geht. Hast du noch das Blasrohr? Meine Geschosse?“
„Ein paar. Zwei habe ich in dem Schneebrei verloren.“
„Was ist mit der Schleuder? Den Kugeln?“
„Nicht mehr sehr viele.“
„Benutze sie. Alle. Ziele genau. Du kannst dir Zeit lassen. Der Wind hat sich gelegt, du musst also nicht ganz so weit heran. Wenn du alles verschossen hast, suche meinen Bogen. Hier – schnall das um!“ Hastig ergriff Adiv den Köcher. „Du bist die Einzige, die die Möglichkeit hat, lebenswichtige Körperstellen zu treffen. Den Hals. Die Augen.“
„Warum nicht das Herz?“
„Ich weiß nicht, wo sein Herz sitzt“, sagte die Kriegerin ungeduldig. „Und der Brustkorb ist zu mächtig. Die Geschosse würden abprallen, ohne Schaden anzurichten. Die Pfeile nicht, wenn du sie kraftvoll abschnellen lässt. Doch dazu musst du den Bogen weit spannen.“
„Was tue ich, wenn alles verschossen ist und er dennoch nicht umfällt?“
„Dann kommst du zu uns. Zeit, dein Schwert zu schwingen“, setzte Syriakin bissig hinzu.
„Viel Glück!“, rief Adiv der davon sprintenden Frau zu.


Videm rannte den anderen davon, erfüllt von einer namenlosen, unerklärlichen Erregung. Als hätten sich alle über die vergangenen Wochen aufgestauten Gefühle entladen und dem Verlangen Platz gemacht, das Ungeheuer zu töten. Videm fühlte, dass es vorwärtsging, dass etwas endlich zu einem Ende fand.
Er spürte Gilloks und Akims keuchende Atemzüge im Nacken. „Ich nach rechts“, rief er den beiden zu und scherte aus, auf die Schelfeiskante zu. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Gillok auf die linke Seite lief, begriff, dass der Sumpfmann sich das Meer als letzten Ausweg sicherte.
Akim zauderte, als er erkannte, dass er dem Monstrum als Erster die Stirn bieten musste. Zwar wusste er Jonoy und Syriakin hinter sich; dennoch lähmte der Gedanke. Zum Glück blieb keine Zeit für trübsinnige Überlegungen. Das Eisschwert vibrierte durch die eisige Luft. Er duckte sich und das Schwert strich weit über seinem Kopf durch die Nacht.
„Zielen kann er nicht besonders“, knurrte Gillok.
„Womöglich sieht er nicht gut“, knirschte die Kriegerin, die zwischen ihnen auftauchte und ihre Messer schwang.
Akim stieß den Speer in die erstbeste Körperstelle und sprang beiseite. „Fühlt er das überhaupt?“, fragte er, nachdem auch Syras Messer, Gilloks Dolch, Videms Schwert und Jonoys Stab in die eisenharte Hautschicht gefahren waren.
Niemand antwortete, weil alle aufmerksam auf die Bewegungen des Monstrums achteten, insbesondere auf das Pendeln der langen Arme. Zweifellos war der Letztgeborene sehr viel unempfindlicher geworden, dafür aber behäbiger. Unbeholfen wirkte er, tapsig wie ein junger Bär, der das Kämpfen noch erlernen muss. Das Schwert schwang träge und im immer selben Rhythmus. Nach wenigen Streichen hatten die Gefährten den Schlagtakt verinnerlicht. Sie wichen ohne größere Anstrengung aus, entweder nach den Seiten oder vorwärts, unmittelbar zwischen die baumstammdicken Beine, wo er sie nicht sehen konnte.
Wunden blühten auf. Schnitte und Löcher im Eispanzer, kaum mehr als Kratzer. Auf diese Weise würden sie tagelang gegen den Riesen anrennen müssen.


Adiv kniff die Augen zusammen, legte die Zunge zwischen die Lippen und eine der Kugeln in die Schlaufe, nahm den Schädel mit den verunstalteten Hornauswüchsen ins Visier. Schon als die Kugel aus der Schlinge schnellte, wusste sie, dass sie treffen würde.
Das nächste Projektil verschwand in der Schlaufe, nicht ganz so schnell, wie die Kriegerin ihre Pfeile nachlegte, aber doch beachtlich für eine Frau, die kaum Erfahrung mit Schusswaffen hatte.
Auch die zweite Kugel zerplatzte an der Stirn, setzte ihr Pulver frei. Leider schien der Norogdún nur in seiner menschlichen Form angreifbar für Gift zu sein. Der Riese schüttelte lediglich verärgert das Haupt, ließ ein Grollen ertönen, das sich an der Eiskante brach. Immerhin rieselte ihm das Pulver in die Augen, trübte die Sicht.
Ein gewaltiges Niesen wenige Augenblicke später signalisierte ihr, dass es ihm außerdem in die Nase gefahren war. Explosionsartig entluden sich die Nüstern, stießen schwarzen Schleim aus, der stinkend und ätzend auf die Schultern ihrer Freunde niederregnete, wo er zu harten Klümpchen gefror. Ylaiy und Akim schrien auf, als das Sekret sie benetzte.
„Mach weiter!“, rief Gillok Adiv zu. „Der Schleim brennt nur ein bisschen auf der Haut und schmilzt den Schnee. Ansonsten ist er harmlos.“
Als ihre Projektile verschossen waren, glänzten dunkle Flecken auf Stirn und Wangen des Kolosses, doch kein Blut floss. Die Kugeln waren zersprungen, hatten Abschürfungen hinterlassen, das Monstrum verärgert. Es war zorniger geworden, stampfte heftiger, schwang das Schwert schneller. Die Gefährten mussten nun mehr auf der Hut sein.
Mit dem Blasrohr zu zielen, stellte sich als schwierig heraus. Außerdem brauchte man erstaunlich viel Atemluft, um die Geschosse treffsicher auf die Reise zu schicken. Zweimal musste sie nach vorn laufen, um sie aus dem Schnee zu klauben.
„Stoßartig“, riet ihr Gillok, der vorsichtige Blicke in ihre Richtung warf. „Luft sammeln, anhalten, dann hineinstoßen.“
Adiv war panisch darauf bedacht, die Menschen nicht zu treffen. Deutlich stand ihr der Morrhim vor Augen, der von Syriakins Gift blitzartig getötet worden war. Mit einem schmerzhaften Zusammenziehen ihres Magens beobachtete sie, wie das nächste Geschoss durch die Luft trudelte. Zu ihrer Überraschung erreichte es das Untier, sogar in der Nähe der angepeilten Stelle, doch es sprang vom Eispanzer ab.
„Das wird nie was“, murmelte die Diebestochter zu sich selbst. Dennoch tat sie, was die Kriegerin ihr geheißen hatte. Giftspitze um Giftspitze pfiff aus dem Blasrohr. Die meisten prallten wirkungslos ab. Die wenigen, die ihren Weg unter die Haut fanden, ließen den Riesen unbeeindruckt. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die angefeilten Tierzähne und angespitzten Pflanzenenden aus dem Gesicht zu wischen. Er knurrte nur, schwang unbeirrt das Schwert.
„Kaa möge dich verfluchen!“ Adiv steckte das Rohr in ihre Manteltasche, machte sich daran, den Bogen der Kriegerin zu suchen. Ein aussichtsloses Unterfangen, wenn sie an die Lawine dachte, die den Strand zu einer Ebene gewalzt hatte. Möglicherweise war er auch in dem Abgrund verschwunden, aus welchem noch immer Staubwolken und Felsmehl aufstiegen, oder in dem Schneebrei, den die D’ulan gezaubert hatten. Krampfhaft ließ sie in ihrem Geist die Ereignisse der letzten Stunde rückwärts laufen. Wo hatte Syriakin ihren Bogen zuletzt gehabt?


Die Gefährten stürmten gegen die Bestie an wie Wellen, die gegen den Strand rollen. Wie das Wasser, das Millionen von Jahren benötigt, um aus Geröll und Sand Landschaften zu formen. Wie die Gezeiten, die mit jedem Wellenschlag verändern, umformen, Neues schaffen, Altes zerstören. Jeder Schwertstreich, jeder Messerstich, jeder Dolchhieb, jeder Speerschlag, jeder Stabschwung, jedes Wurfgeschoss, jede Pfeilspitze hinterließ eine Spur auf der eisigen Haut des Monstrums. Winzig waren sie: Kratzer, bedeutungslose Narben, fast unsichtbar.
Die erste Stunde war lange vorüber, die zweite verstrichen. Doch Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Sie war ihnen schon vor Tagen abhandengekommen, vielleicht sogar vor Wochen, als die Tage sich immer mehr verkürzt hatten.
Nun herrschte ewige Nacht.
Ylaiy klammerte sich stärker an die Zeit als alle anderen. Unentwegt war sein Geist damit beschäftigt, die Ordnung wiederherzustellen, die Zeit einzuteilen in Tag und Nacht, Minuten und Stunden, Herbst und Winter. Er war sich sicher, dass die Nacht bereits vergangen sein und Dämmerung am Horizont heraufziehen musste, doch nach wie vor standen Sterne und Mond am Himmel. Es war einerlei, nicht von Bedeutung für den Ausgang des Kampfes, aber der Prinz konnte nicht aufhören, über die Zeit nachzudenken. Darüber, wie sie verging, mal schnell, mal unsagbar langsam, so wie jetzt. Er hatte das Gefühl, die Schlacht dauerte schon Tage.
Videm hingegen schien es, als hätte das Gefecht eben erst begonnen. Die Minuten galoppierten. Noch immer fühlte er sich ausgeruht und frisch. Allerdings nicht mehr beschwingt wie vorhin. Seine Augen wanderten den haushohen Gegner hinauf, versuchten, die Wunden zu abzuschätzen, die sie ihm beigebracht hatten. Es waren unzählige, aber sie konzentrierten sich auf Schenkel und Unterleib, wo Hieb- und Stichwaffen ihn erreichen konnten, und auf den Kopf, der Adiv als Zielscheibe gedient hatte. Selbst Jonoys Stab und Akims Speer reichten kaum über die Gürtellinie hinaus. Keine Möglichkeit, die verletzlichen Stellen zu treffen.
Er biss die Zähne zusammen, grinste säuerlich. Dann würden sie eben länger aushalten müssen.
Gillok fror. Anfangs, als er aus dem Wasser geklettert war, war die Kälte nicht mehr gewesen als eine nebensächliche Empfindung. Der Zweikampf hatte alle Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch genommen. Ihm war der Schweiß ausgebrochen während des Ringens. Sein Herzschlag hatte das Blut in schwappenden Stößen durch den Körper geschickt. Nun half auch die Bewegung kaum noch. Seine Glieder waren steif vor Kälte und der Anstrengung, die ihn das Schwimmen gekostet hatte. Er merkte, dass er müde wurde, aber es kümmerte ihn nicht.
Syriakin warf ihm immer öfter besorgte Blicke zu, schob sich an ihn heran, den Schwerthieben des Riesen ausweichend, ihm unbeirrt mit ihren Messern zusetzend. Ihrer eigenen Anweisung zum Trotz versuchte sie, stets in dieselbe Kerbe zu treffen, diese so allmählich zu vertiefen.
Als sie an Gilloks Seite anlangte, musterte sie ihn verstohlen. Beunruhigt vernahm sie die keuchenden Atemstöße, sah sein blasses Gesicht, die blauen Lippen, bemerkte die Nachlässigkeit, mit der er Dolch und Schwert führte. Es gab nicht viel, was sie dagegen tun konnte, außer auf ihn Acht zu geben, ihn vor Fehlern zu bewahren. Sie wusste so gut wie er, dass Bewegung ihn am Leben hielt.
Adiv hatte den Bogen nach längerem Suchen halb vergraben unter der Schneedecke gefunden und alle verbliebenen Pfeile verschossen. Nur einer hatte das Ziel verfehlt. Zwei steckten im Hals, einer zwischen den Rippen des Hünen. Sie zeigten ebenso wenig Wirkung wie Syriakins Pfeil in die Brust.
Schlussendlich hatte sie sekundenlang auf ihre Hände gestarrt, unfähig zu begreifen, dass es nichts mehr gab, was sie schießen, werfen oder schleudern konnte, abgesehen von Schneebällen. Nun stand sie hier, zwischen Jonoy und Akim, mit einer Waffe, die sie als unhandlich empfand. Ihr fehlten Behändigkeit, Ausdauer und Kraft ihrer Mitstreiter. Immerhin stachelte der Hass auf den Blaukopf ihre Wut an. Eine mächtigere Waffe als die abgenutzte Klinge mit den schartigen und rostbefleckten Rändern. Also hieb und hebelte sie ungelenk auf den Riesen ein, hüpfte vor seinem Schwert davon, hielt sich an Akim.
Der sprang wie ein Äffchen in alle Richtungen. Den Speer hatte er weit hinten gefasst und zur Stabilisierung auf die rechte Schulter gelegt. Immer, wenn er sich nach vorn bewegte, zuckte die Stichwaffe nach oben, traf den Gegner in die Oberschenkel, zweimal, dreimal in den geschlechtslosen Unterleib. Jeder Mensch wäre bei den Stößen, so zufällig sie waren, stöhnend und blutend zu Boden gegangen. Dem Riesen entlockten sie kaum mehr als ein ärgerliches Knurren.
Akims Kräfte waren noch nicht erschöpft, dafür schoss zu viel siedendes Blut durch die Adern, ließ das Herz wie einen Schmiedehammer schlagen. Stattdessen fühlte er, wie Mutlosigkeit in ihn tröpfelte wie zähes Pech.
Auch der Schmied kämpfte gegen innere Feinde. Zwar hieb der Stock in konstantem Rhythmus gegen die Eishaut, doch hinter seiner Kämpferschale schäumten Hoffnungslosigkeit, Resignation und Verzweiflung. Er wusste nicht, wie lange seine Arme das Erzittern noch aushielten, das einsetzte, wann immer der Stab abprallte, wie lange es brauchte, bis er stolperte, wie lange, bis ihm die Luft ausging. Er wollte nicht das erste Opfer des Riesen werden, gleichzeitig keinen der anderen sterben sehen. In den trübsinnigsten Augenblicken schaute er zu den Freunden, schöpfte für kurze Zeit wieder Mut.
Den Riesen ärgerten die Kerben, die Stiche und Risse, die auf der Haut brannten und juckten wie das Pulver aus den Geschosskugeln. Es machte ihn zornig, wie mühelos die Sterblichen den Schwüngen auswichen, mit welcher Zähigkeit sie ihm immer noch zusetzten. Sie hätten schon so viele Tode sterben müssen, doch sie waren hier, in seinem Reich, hatten seine Diener gemetzelt, seine Kinder geraubt. Sie wagten es, ihm die Stirn zu bieten, nach all dem, was sie bereits überstanden hatten. Fast nötigten sie ihm Respekt ab.
Fast.
Der menschliche Norogdún mochte diesen Gedanken weiter gesponnen haben, doch er war der Letztgeborene in seiner Allmächtigen Gestalt. Für moralische Nuancen war in seinem Denken kein Platz. Er war geschaffen, zu kämpfen. Zu töten. Das Volk zu bewahren, seine Geschichte, seine Tradition; auch wenn dessen Herz in Schutt, Asche, Geröll und Eis untergegangen war.
Er musste überleben. Wo er war, war Hoffnung. Ein Neuanfang. Sie mussten sterben. Ihr Blut würde ihn laben; es würde reichen, Kraft zu schöpfen, ein neues Volk zu schaffen.
Seine schwarzen, vom Eis umschlossenen Augen fixierten die Menschlein unter ihm. Er packte das Schwert fester, stampfte auf den Boden, versetzte ihn in Schwingungen.


Urplötzlich veränderte der Riese den Rhythmus. Als die Erde erzitterte, verloren die Freunde für einen Augenblick das Gleichgewicht, gerieten aus dem Takt.
Das war alles, was der Hüne brauchte.
Gillok bekam einen Tritt ab, dessen Wucht ausreichte, ihn auszuhebeln. Entsetzt beobachteten die anderen, wie er auf dem Rücken landete und nach Atem ringend liegen blieb, sein Schwert in Richtung Wasser schlingerte. Noch bevor er sich krümmen konnte, fuhr die Spitze des Eisschwerts in seinen Körper. Ein zweiter, achtloser Fußtritt beförderte ihn in die Dunkelheit.
Den Gefährten blieb keine Wahl, als vor weiteren Angriffen zurückzuweichen. Bald merkten sie, dass der Riese die Geschwindigkeit erhöhte. Außerdem setzte er neben Armen und Beinen seinen Atem ein.
Jonoy dachte, sein Herz bleibe stehen, als der Koloss Luft holte und eine Wolke eisigen Reifes ausstieß. Zum Glück reagierten Syriakin und Akim schnell genug, zerrten ihn zwischen die Beine des Riesen. Ein Hauch streifte den Rücken des Schmieds, ließ eine Eisschicht darauf zurück, die wie eine schwere Last auf ihm lag.
Von nun an blieb keine Zeit zum Nachdenken mehr. Von nun an mussten sie um ihr Leben rennen.
Ylaiys Zeitgefühl verrann mit den nächsten Minuten, löste sich auf. Er kämpfte, sprintete, sprang, hüpfte, duckte sich, sprang wieder, stieß zu, ein ums andere Mal. Hetzte weg, kauerte sich hin, setzte zurück. Und so ging es weiter, immer weiter. Minuten dehnten sich zu halben Stunden, dann zu ganzen. Noch immer herrschte Nacht, tiefe Schwärze und große Kälte, doch all dies lauerte lediglich an den Grenzen seines Bewusstseins.
Seine Augen nahmen den dampfenden Atem seiner Mitstreiter wahr, ihre schweißüberströmten Gesichter, ihre schnellen, immer gleichen Bewegungen. Die ersten Blutergüsse. Seine Ohren hörten keuchende Atemstöße, klirrende Waffen, knirschenden Schnee. Schmerzensschreie, hervorgerufen durch Streiftreffer, Muskelkrämpfe, Verstauchungen. Er roch den metallischen Geruch des Blutes, fühlte Hitze und Kälte gleichermaßen. Doch alle Eindrücke verschmolzen letztlich zu einem, schrumpften zusammen auf ihn: den Riesen. Unüberwindlich, unbesiegbar, unversehrt ragte er vor ihnen auf. Seine Füße erinnerten an gigantische Hammerköpfe. Sie versetzten den Boden in unvorhersehbare Schwingungen, die sie im Lauf stoppten oder im Sprung taumeln ließen. Das Schwert warf er von einer Hand in die andere, benutzte den freien Arm, um nach ihnen zu greifen. Adiv, Akim und Syriakin hatte die klobige Faust bereits erwischt und zur Seite gefegt. Alle drei hatten sich aufgerappelt und waren zurückgekehrt, aber es stand außer Frage, dass der Koloss mit der verbesserten Kampftechnik schneller Opfer fand.
Immer wieder mussten sie den Atemstößen ausweichen. Sie wurden von einem tiefen Luftholen angekündigt, dennoch war das ständige Wegspringen, oft mitten aus einer zustürmenden Bewegung heraus, kräftezehrend für den Körper und niederschmetternd für den Geist.
Akim konnte schließlich kaum mehr den Speer heben. Die Kriegerin wies ihn an, sich zurückzuziehen. Sie musste die Bitte in einen Befehl verwandeln, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Nun kämpften sie nur noch zu fünft. Ylaiy spürte bald, wie Ermattung mit aller Macht über ihn herfiel. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, immer häufiger stolperte er über seine eigenen Füße. Ob er wollte oder nicht: Er musste die Geschwindigkeit drosseln, die Angriffe reduzieren.
Jonoy schwankte ebenfalls. Sein Gesicht war verzerrt, erinnerte an einen fauligen Apfel, sein Kinn zitterte und der Atem drängte quietschend aus seiner Brust.
„Nehmt Jonoy“, sagte die Kriegerin zu Ylaiy. Ohne zu zögern entfernte sie schwächsten Glieder ihrer Kette aus dem Radius des Feindes, auch wenn sie, Adiv und Videm ihre Anstrengungen verdoppeln, verdreifachen mussten.
Das schlechte Gewissen klemmte Ylaiy die Kehle zu, aber er nickte und schleppte sich ein letztes Mal in einen Scheinangriff, tauchte unter dem Schwert hindurch, schubste den erschlafften Schmied nach hinten, in den Rücken des Riesen.
Hier waren sie in trügerischer Sicherheit. Die Hände auf die Knie gestützt, mühsam um Luft ringend, die eisig die platten Lungen füllte, standen Ylaiy und Jonoy da, auf der Hut vor Rückwärtsausfällen, die Gefährten beobachtend, die einen Kampf fochten, der sie immer schneller abnutzte.
Videm und Syriakin wirkten ermüdet, aber nicht halb so verbraucht wie Adiv, deren Schwert hinter ihr im zertrampelten Schnee schleifte. Ylaiy erwartete, dass die Sumpffrau sie ebenfalls aus dem Gemenge schicken würde, doch sie schien anzunehmen, dass Adiv, die später in den Nahkampf gewechselt war, noch über Reserven verfügte.
Videm stürmte unbeirrt, nahezu stumpfsinnig, gegen den monströsen Gegner an. Von allen Gefährten brachte er ihm die meisten Wunden bei. Die Kriegerin hingegen schien alles gleichzeitig im Blick zu haben. Sie wirbelte ihre Messer gegen den Hünen, wich geschickt und noch immer mit unglaublicher Geschmeidigkeit allen Angriffen und Ausfällen aus. Daneben zupfte sie Adiv aus der Reichweite des Eisschwertes und behielt die erschöpften Männer im Auge. Sie keuchte Videm Anweisungen zu, schlüpfte durch die Beine des Kolosses auf die Rückseite, schaffte es schließlich, ihm ihre Messer in die Kniekehlen zu rammen.
Der freie Arm des Riesen schwenkte nach hinten, doch erlaubten Muskelberge und fehlende Beweglichkeit ihm nicht, ihn so locker zu gebrauchen wie als Mensch. Der Arm schwang bedrohlich zur Seite, erreichte die Sumpffrau jedoch nicht.
Die veränderte nun ihrerseits die Taktik. Statt weiterhin wild und ziellos auf ihn einzuhacken, nahm sie sich Zeit, visierte Kniekehlen und Fersen des Kolosses an.
„Sie will ihn zu Fall bringen“, keuchte Ylaiy Jonoy zu.
„Erstaunlich, dass sie noch denken kann. Ich könnte Euch nicht einmal mehr meinen Namen nennen.“
„Dafür muss sie längere Strecken laufen. Immer um ihn herum, von einer Seite zur anderen“, sagte der Thronfolger, sich den oberen Brustkorb massierend.
Der Riese war langsam im Denken, aber kein Dummkopf. Bald durchschaute er das Vorhaben der Kriegerin, richtete all sein Sinnen gegen sie. Ylaiy sah so deutlich wie Akim, der von der anderen Seite zu ihnen gepirscht kam, wie die bösartigen Augen sich auf Syriakin legten.
„Er hat es auf sie abgesehen“, murmelte der Wüstenläufer. „Videm und Adiv beachtet er nicht mehr.“
„Wie geht es Gillok?“, erkundigte sich Jonoy.
„Wenn er nicht an dem Schlag oder an dem Stich stirbt, dann an der Kälte“, stieß Akim aus. „Ich weiß nicht, was wichtiger ist: ihm zu helfen oder ihr.“
„Wenn sie das nächste Opfer wird, haben wir alle schlechte Karten.“ Ylaiy wies auf die Kriegerin, die in mörderischem Tempo um den Riesen rannte. Mitunter behalf sie sich mit lang gestreckten Sprüngen oder mit abrupten Richtungswechseln, bei denen ihm übel wurde, denn dann stob sie dem Schwert entgegen, duckte sich erst im allerletzten Augenblick. Doch selbst sie konnte nicht allen Schwüngen ausweichen. Hiebe streiften sie, bewirkten, dass sie sich überschlug. Schließlich brachte sie allein der Luftstoß, den die Eisklinge erzeugte, zu Fall.
Akim entschied, dass sie es nun war, die eine Pause brauchte.
Er atmete zweimal tief durch, wartete, bis Syriakin an der linken Seite des Monstrums angekommen war, und begab sich zur rechten. Mit aller Macht stieß er den Speer in den Fuß des Biests, knapp oberhalb der Ferse, wo die starke Sehne verlief, die einen aufrecht hielt.
Markerschütterndes Gebrüll stieg in den Nachthimmel, ließ die Gefährten einhalten. Das Ungetüm schwankte, bückte sich, umklammerte den verletzten Fuß.
Doch anstatt umzufallen, tat es etwas Unerwartetes. Es wandte sich nicht Akim zu, der nach hinten sprang. Es schlug nicht nach der Kriegerin, die sich augenblicklich daran gemacht hatte, sein anderes Bein zu bearbeiten. Ohne es auch nur durch eine Augenbewegung anzukündigen, grapschte es nach Adiv, unbeeindruckt von dem fuchtelnden Schwert der Diebestochter.
Die Gefährten stießen einen erschrockenen Schrei aus. Spitze Laute artikulierend, wand Adiv sich mit verzerrtem Gesicht im eisernen Griff der Bestie, die Luft für einen Atemstoß holte.
Videm war am schnellsten bei ihr. Der Riese stand in gebückter Haltung, hatte das Haupt nach unten geneigt. Ein Vorteil für Videm, der sofort reagierte. Er sprang in die Höhe, streckte den Arm so weit wie möglich vor. Seine Waffe reichte nicht hinauf bis auf Augenhöhe, verfehlte die Fratze, fuhr stattdessen in den Hals des Giganten, in die weiche Stelle unterhalb des Kehlkopfes, blieb federnd hängen.
Der Norogdún röchelte, ließ die junge Frau los, um das Schwert aus der Kehle zu ziehen. Videm stieß Adiv mit beiden Armen nach hinten. Sie fiel hin, schleppte sich hastig aus der Reichweite der Eisarme, blieb gekrümmt liegen, beide Handflächen gegen ihre Rippen gepresst, grau im Gesicht.
Videms Schwert nahm sich winzig in der Pranke des Hünen aus. Der betrachtete die Waffe kurz, schmetterte sie mit einem Schnauben fort und schnappte nach Videm.
„Nein!“, schrie Syriakin und preschte von der Seite heran.
Sie kam zu spät. Die Hand des Riesen fand den jungen Mann, hob ihn in die Höhe, als wäre er schwerelos. Syriakins Messer steckten im Handrücken der Bestie, doch die zerquetschte das Rückgrat Videms so unbeschwert, wie sie eine Nuss zerdrückt hätte, warf ihn mit der gleichen Achtlosigkeit zu Boden wie das Schwert.
Adivs Herzschlag setzte aus, als sie den harten Aufprall vernahm. Sie schluckte die Galle hinunter, die Mund und Rachen füllte. Am liebsten hätte sie geschrien, aber ihr gequetschter Brustkorb gab nicht mehr genug Atem her.
Akim, Ylaiy und Jonoy setzten sich gleichzeitig in Bewegung – der Alte brüllend, der Wüstenläufer betroffen taumelnd und der Thronfolger vor Entsetzen schweigend. Indes warf die Kriegerin sich mit ihrer Schulter voran gegen das säulenartige Bein des Riesen. Es war das erste Mal, dass die anderen sie etwas derart Sinnloses tun sahen.
Der Hüne schwankte nicht einmal, während sie, durch den Aufprall erschüttert, zu Boden sackte. Weniger als einen Flügelschlag später schraubte sie sich wieder in die Höhe, verschwand durch die Beine nach hinten. Diesmal war der Letztgeborene darauf vorbereitet. Mit verblüffender Schnelligkeit drehte er sich um die eigene Achse, ungeachtet der zerschnittenen Ferse, schwang das riesige Schwert.
Jonoy und Akim schrien erschrocken auf, doch auch diese Warnung kam zu spät. Syriakin fühlte den Luftzug des Eisschwertes, noch bevor sie es sah, aber es gelang ihr nicht, der tödlichen Klinge auszuweichen. Die Zeit reichte nicht einmal mehr für ein Stoßgebet oder für einen letzten Gedanken an ihre Tochter und Gillok.

Norogdún.
Das Böse existiert.
Wir kämpften lang, so lang.

Wir kämpften.
Gegen den Menschen, lang und hart.
Gegen den Riesen, länger noch und härter.

Wir verloren die, welche wir liebten.
Freunde und Gefährten.
Schnee - blutig rot in diesen dunklen Stunden.

Wir kämpften eine Ewigkeit.
Der Feind war unbesiegbar.

Unser Schicksal schien besiegelt.

(Enaidyionalan: „Das Unbekannte Land“)

Das ist das Ende.
Bäuchlings lag sie auf dem Boden, die blutigen Hände in das Eis gekrallt. Ihre Arme fühlten sich ebenso taub an wie ihre Beine und die Seite ihres Rumpfes, wo erst der Fuß des Norogdúns, dann die Eiskante sie getroffen hatte. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, verzerrten das Geschehen um sie herum. Betäubt nahm sie zur Kenntnis, dass ein Wasserfall aus grünem Licht aus den Wolken rauschte, sich in Schleifen und Kreise aufspaltete, die wie Irrwische über den Nachthimmel schwirrten.
Sie blutete aus zahllosen Wunden, sodass ihre Kleidung sich wie ein Putzlappen anfühlte, schwer und stinkend. Die aufgeschürfte Haut an ihrem Hals brannte, wo der eitrige Schleim sie berührt hatte. Mehr noch als ihr zerschlagener Körper schmerzte ihr Kopf von den Schwüngen des übermächtigen Gegners. Die schwerste Verletzung hatte ihr der letzte Schwertstreich zugefügt, der sie mit Sicherheit skalpiert und getötet hätte. Ylaiys beherztem Kopfstoß in ihren Magen verdankte sie ihr Leben. Im allerletzten Moment hatte sein Schädel sie gerammt und der Hieb sie lediglich gestreift.
Sie betastete ihren Kopf mit klammen Händen. Feuchtes Blut klebte in ihren Haaren. Ihre Nase blutete ebenfalls, war aber nicht gebrochen, im Gegensatz zu zwei Fingern, die in unnatürlichem Winkel abstanden.
Ihre Lippen waren geschwollen und aufgerissen. Sie schmeckte Blut in ihrer Kehle. Von dem kupfernen Geschmack wurde ihr übel. Mühsam wandte sie den Kopf zur Seite, fühlte die Konvulsionen ihres Magens. Sie spuckte das Gemisch aus Säure und Blut in den Schnee, schaufelte sich ächzend breiiges Eis ins Gesicht, rieb es über ihre blutverkrusteten Augen und die zerschnittene Wange.
Ihr Blick klärte sich, die Umrisse begannen, sich aus dem grün erleuchteten Nachthimmel herauszuschälen. Das Erste, was sie sah, war Gillok. Noch während ihr Verstand den Anblick verarbeitete und Sorge heiß in ihr aufwallte, robbte sie auf ihn zu.
Wegen der gebrochenen Finger, die sie mühsam über dem Boden hielt, und der geprellten Hüfte dauerte es eine Ewigkeit, ihn zu erreichen. Als sie bei ihm anlangte, stöhnte sie auf. Gilloks Gesicht war blutüberströmt. Darunter zeichneten sich Blutergüsse und Schwellungen ab, jedenfalls auf der Hälfte, die sie erkennen konnte. Die Augen waren geschlossen. Kein Lebenszeichen ging von ihm aus.
Unter größten Anstrengungen drehte sie ihn auf den Rücken, legte den Kopf auf seine Brust. Sie hielt den Atem an, während sie nach einem Herzschlag horchte. Tränen der Erleichterung sammelten sich in ihren Augenwinkeln, als sie nach endlosen Sekunden das befreiende Klopfen vernahm, schwach und zaghaft zwar, doch so stetig wie Regentropfen auf einem Schilfdach.
Ihre Hände glitten fahrig über ihn. Gilloks nasse Kleidung dampfte. Sie würde ihn entkleiden müssen, bevor er an Fieber und Entzündungen erkrankte wie sie selbst, aber im Augenblick fehlten ihr dazu Kraft und Fingerfertigkeit. So konnte sie ihn nur oberflächlich untersuchen, Gliedmaßen und Rumpf nach Brüchen und Verrenkungen abtasten, über seinen Kopf streichen.
Die anderen würden helfen müssen.
Dieser Gedanke ließ sie innehalten. Die anderen. Wo waren sie? Was war geschehen? Wie lange war sie ohne Besinnung gewesen?
Sie richtete sich auf, spähte nach allen Seiten.
Jonoy und Videm lagen am Boden. Die Brust des Schmieds hob und senkte sich in wilden, keuchenden Atemzügen. Sie erkannte, dass er drohte, im eigenen Blut zu ertrinken, konnte das Gurgeln in seiner Kehle hören, sah die Pranken, die ihr Trost hatten spenden wollen.
Videm hingegen war in unnatürlichen Bewegungen erstarrt. Sein Kopf war so weit in den Nacken gerollt, dass der Anblick schmerzte. Die Augen standen offen, starrten auf das geisterhafte Lichtspiel über ihm.
Sie schluckte hart. Trauer überwältigte sie, aber mit dem letzten Rest Willenskraft schob sie sie beiseite. Es galt, sich um die Lebenden zu kümmern.
Nicht weit entfernt tobte die Bestie. Noch immer. Der gehörnte Schädel pendelte unablässig hin und her, der furchteinflößende Kiefer war weit aufgerissen. Geifer benetzte den Boden. Der stinkende Schlund des Untiers gähnte in alle Richtungen.
Sie sah die Bewegungen des ungleichen Kampfes, wusste aus Erfahrung, dass sie von vielerlei Geräuschen begleitet wurden. Schmerzensschreien. Waffenklirren. Dem Grollen des Monstrums. Erst jetzt fiel ihr auf, wie dumpf alles klang. Als steckten Wachsstöpsel in ihren Ohren. Alles war durch ein Rauschen gestört. Die Töne waren verzerrt, schleiften, schienen sehr langsam zu ihr getragen zu werden. Eisige Fingerspitzen liefen über ihren Rücken. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Die Erkenntnis, dass sie dabei war, ihr Gehör zu verlieren, ließ sie entsetzt die Augen schließen. Eine Erkrankung war alles, was es gebraucht hatte.
Lächerlich. Jämmerlich.
Sie befahl sich, die Augen wieder zu öffnen.
Der beulige Körper des Riesen war an mehreren Stellen zerfetzt. An seinen Gliedmaßen gab es tiefe Wunden, die schwarzes Blut ausstießen, so dickflüssig, dass es nicht gefror. Gesicht und Hals spickten Wurfspitzen und abgebrochene Pfeile. In der Brust hatten die Pfeile ausgefaserte Blessuren hinterlassen. Dennoch stand die Bestie auf den Beinen, zischte das Schwert durch die Luft.
Adivs und Ylaiys Bewegungen zeugten von enormer Müdigkeit. Akim sah frischer aus, lief noch immer mit der Eleganz eines Tänzers um das Monster herum, ihm hier und da wirkungslose Speerstiche versetzend. Das Mädchen und der Prinz bekamen ihre Kurzschwerter kaum noch hoch genug für ihre Schwünge. Adiv taumelte bei jedem Ausfall. Es war höchstens eine Frage von Minuten, bis der Norogdún ihr den endgültigen Hieb beibringen würde.
Die Kinder mochten sie gerettet haben, aber ihren Gefährten und ihr stand der Untergang bevor. Er würde überleben. Sich erneut auf die Suche nach Opfern machen.
Verzweiflung überspülte sie, drückte sie nieder. Sie senkte den Kopf, überließ sich der Hoffnungslosigkeit.
Das ist das Ende.
Da regte sich der Mann neben ihr und mit ihm ihr Eigensinn. Sie hatte Wichtigeres zu tun als zu jammern. Gilloks Worte kamen ihr in den Sinn, und sie kamen auf Flügeln zu ihr geflattert.
Sie ist erst besiegt, wenn sie tot ist.
Sie war nicht tot. Noch nicht.
„Gill!“, rief sie drängend, schüttelte ihn an der Schulter.
Er stöhnte leise. Mit beiden Händen griff sie in sein Haar, auch wenn ihre gebrochenen Finger protestierten. Am Hinterkopf entdeckte sie eine Beule von der Größe eines Apfels, an der Schläfe einen Schnitt, der sich als oberflächlich erwies, obwohl er stark blutete.
Erneut tastete sie den Rumpf ab, drückte vorsichtig auf den Brustkorb. Seine Rippen schienen unverletzt, ebenso die Bauchdecke. Kein Blut tränkte die Kleidung, sodass sie vorerst davon ausging, dass keine Organe beschädigt waren.
Seine Hände waren mit Prellungen und Blutergüssen übersät, die Knöchel aufgeschlagen. Kein Wunder bei den vielen Fausthieben, die er verteilt hatte. Schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich.
Am rechten Bein stockte sie. Die Hose war aufgerissen, zerfetzt vom Schwert. Blut quoll hervor. Eine Menge Blut. Das war ernst, sehr ernst, vor allem, wenn man bedachte, wie lange Gillok schon im Schnee lag.
Mit einer Hand griff sie nach ihren Halstüchern. Beinahe hätte sie sich selbst stranguliert, dann gaben die Knoten nach. Sie riss die Tücher in Fetzen, nahm sie in den Mund. Danach nestelte sie in ihren Taschen, bis sie eine scharfkantige Muschel fand, die mit dem Fischernetz in ihre Kleidung gewandert war, säbelte mit hastigen Bewegungen an ihren Hosenbeinen herum, bis sie sie abreißen und zusammen rollen konnte. Das Bündel presste sie mit aller verbliebenen Kraft auf Gilloks Oberschenkel, wand die Tücher darum, musste zweimal innehalten, weil ihr schwarz vor Augen wurde. Zum Schluss wickelte sie ihren Gürtel von der Taille, drehte ihn um den Verband. Ein Blasrohr diente als Knebelhilfe.
Nun gab es nichts mehr, was sie für Gillok tun konnte. Für die anderen.
Adiv war am Ende ihrer Kräfte, zog sich zurück. Die Kriegerin sah, wie sie Eisbrocken einsammelte, lächelte mit blutigem Mund. Die Kleine war härter, als sie selbst ahnte, aber was sollten einige Brocken ausrichten gegen ein eisgepanzertes Untier?
Ylaiy kämpfte mit einer Ausdauer, die sie ihm niemals zugetraut hätte, nur wurden seine Schwertstreiche immer langsamer und richteten kaum mehr Schaden an. Er hatte ihr das Leben gerettet. In seiner Schuld zu stehen, empfand sie als Strafe. Doch wenn sie seinetwegen für Bada überlebte, würde sie ihm ewig dankbar sein.
Und Akim. Ach, Akim. Wenn sie an ihn dachte, überflutete sie eine Welle der Zuneigung, die sie nicht mehr überraschte. Der Junge wirbelte um das Untier herum, den Speer in den Fäusten wie einen verlängerten Arm, die Augen konzentriert auf den Gegner geheftet, immer auf der Hut.
Die Bestie hatte längst erkannt, dass von ihm die größte Gefahr ausging und all sein Augenmerk auf ihn gerichtet. Sie würde eingreifen müssen, ihm helfen müssen, aber im Augenblick brachte sie keinerlei Energie mehr auf. Ihre Kräfte waren verbraucht. Ihre Ausdauer. Ihr Mut. Es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Sie verlor.
Schwer sank sie auf Gillok, legte den Kopf auf die Brust ihres Gefährten, die Arme über den Oberkörper, vernahm seinen Herzschlag, leicht, doch beständig, dumpf und wie aus einer anderen Welt kommend. Sie hörte sein Leben durch den Körper klopfen. Immerhin das war ihr vergönnt. Sie schloss die Augen und dachte an ihre Tochter, presste ihr Gesicht in die Kleidung des Mannes, wartete auf das Ende.


Aber es war nicht zu Ende.
Eine Hand legte sich auf ihren Kopf, strich über ihr verschmiertes Haar. „Du gibst doch nicht auf, oder?“ Gilloks Stimme schabte durch seine Kehle, musste das Rauschen in ihren Ohren überwinden.
„Ich gebe auf“, sagte sie nach einer Weile, ohne die Augen zu öffnen. Ihre eigene Stimme klang wie die einer Fremden, dunkel und langsam.
„Das kannst du nicht. Der Kampf ist noch nicht vorbei.“
„Wir können ihn nicht gewinnen. Ich kann ihn nicht besiegen.“
„Du nicht. Nicht allein. Nicht ohne Hilfe.“
„Ich war nicht allein. Nun ist niemand mehr da.“
„Dann schau zum Wasser, Syra. Schau zum Wasser.“
Die Worte brauchten lange bis zu ihren Ohren und noch länger bis zu ihrem Verstand.
Sie hob ihren Kopf, stützte das Kinn auf Gilloks Brust.
Wie ein Trugbild erschien die Janta vor dem unwirklichen Himmel, über den Lichtblitze in allen Grünschattierungen huschten und sich in wunderbarem Formenspiel vereinigten. Gestalten ragten auf dem Bug auf.
Ihre Raubkatzenaugen leuchteten auf und die Kraft kehrte in ihren Geist zurück.


Akim jagte dem Monster hinterher. Oder jagte es ihn? Einerlei. Hauptsache, er blieb in Bewegung, unentwegt in Bewegung. Sonst würde das Schwert ihn zerfetzen, die Beine ihn zermalmen, die Zähne ihn zerreißen, der Atem ihn einfrieren.
Das Biest ist wie eine Festung.
Mit zusammengebissenen Zähnen lief er im Kreis herum, sprang zur Seite, wich aus, wagte Ausfallschritte mit vorgestrecktem Speer.
Du bist schnell, aber auch schwach, hörte er Gradhs Stimme beständig summen, bleibe hinten, lasse dich nicht auf den direkten Zweikampf ein.
Eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten überkam ihn, hier, inmitten von Blutgeruch, Kampfgebrüll, Schmerzensschreien und dem giftgrünen Lichterspiel am Himmel. In diesen Wahnsinn hinein schnitt die Ruhe in Form heißen, trägen Wüstensands. Dünen tauchten auf. Karge Hütten aus Lehm und Stroh, von dem dürre Ziegen fraßen. Das Wasser der Oase. Dazwischen Mutter, Kian, Onkel, Tanten, Vettern. Alle sahen ihm lachend zu, wie er auf spillerigen Beinen umher sprang wie ein Derwisch.
Ein knochiger Arm legte sich von hinten um seinen Hals. Taroufgeschwängerter Atem wehte in seinen Nacken. „Spring weg“, flüsterte die heisere Stimme seines Lehrmeisters. Dann lachte er sein schleifendes Lachen, das anwuchs, heftiger wurde, schneller, heller, meckernder, bis es sich in ein Ziegenlachen verwandelt hatte. Akims Nackenhaare stellten sich auf und er wollte wegspringen, der Gefahr entrinnen, in einer Sandwolke verschwinden.
Er lief und lief. Vergangenheit und Gegenwart rannen ineinander, Inseln trieben zusammen, Sandberge und Eisebenen verschmolzen. Flirrende Hitze legte sich über die Schneewüste. Hinter rotzgrünen Blitzen wurde der Himmel gleißend, wolkenlos. Die Sonne schob den Mond beiseite. Sie leuchtete, sandte Wärme aus wie ein Feuer aus Kameldung.
Er sprang, hüpfte, duckte sich, die Glutaugen auf die dicken Beine der Bestie gerichtet, die zu grünen Palmen wurden. Jula lehnte an einer von ihnen, die Hände vor die Stirn gelegt zum Schutz gegen die Sonne. Er breitete die Arme aus, lud ihn zum Trinken ein. Akim wandte sich um und blickte zum See, zu den unendlichen Tiefen des Wassers, über dem die Sonne schien und das Boot bestrahlte.
Er blinzelte, schüttelte den Kopf. Schloss die Augen, öffnete sie wieder. Schüttelte erneut den Kopf, schlug mit der flachen Hand dagegen. Das Bild schwand nicht. Ein Boot? Eine Luftspiegelung? Hier?
Orientierungslos sah er sich im Kreis um, begriff die Welt nicht mehr. Aber es gab keinen Zweifel. Am Ufer knirschte der breite Rumpf der Janta auf die Eiskante. An Deck entdeckte er Personen. Kian. Die Kinder. Die Kaiserinschwester. Die Kaiserin. Sila. Rana. Und einen Einäugigen. Ein Fremdkörper im Weiß des Schnees, doch unverkennbar Jula, neben sich eine Frau, die ihm vage bekannt vorkam. Sie war klein wie ein Kind und so alt, dass ihre Haut unter dem Lederkopfputz aussah wie das verbrannte Holz der Fischerhütten auf Kânegg.
Akim war so verdutzt, dass er wie angewurzelt stehen blieb und zum Wasser stierte. Kian winkte, wedelte mit den Armen. Sein Mund stand offen. Warum? Auch die anderen gestikulierten wild, hatten den Mund geöffnet, trampelten auf den Planken herum.
Erst als das Boot endgültig aufgesetzt hatte und die Passagiere auf den Boden sprangen, setzte Akims Verstand wieder ein, und mit ihm sein Gehör. Kians helle Stimme schrie unentwegt seinen Namen. Julas Altmännerstimme knarzte Unverständliches. Der Rest war hysterisches Geschnatter. Dann erhob sich die knarrende Stimme der alten Frau, übertönte alle anderen, hüllte ihn ein in ihre Wärme und Macht.
„Akim! Lauf!“
Woher kennt sie meinen Namen?
Seine Instinkte schalteten rascher als Erinnerungen und Gedanken. Er sprang in dem Augenblick zur Seite, in dem das Schwert in die Eisdecke schlug und einen Krater an der Stelle hinterließ, an der er eben noch gestanden hatte.


Ylaiy fühlte sich so schwach wie niemals zuvor in seinem Leben. Einmal noch, ein letztes Mal, würde er das Schwert gegen das Monstrum heben. Mehr gaben seine überanstrengten Muskeln nicht her. Auch die kleinste Bewegung erforderte ein Übermaß an Kraft und Willen.
Selbst seine Gedanken hatten sich zur Ruhe gelegt. Er war zu müde. Stumm und benommen ertrug er den ein oder anderen abgewehrten Hieb, Muskelkrämpfe, Zerrungen, die Blasen an den Händen, die vor Kälte erfrorenen Wangen.
Seit Videms Tod empfand er rein gar nichts mehr. Eine eigenartige Verstimmung vielleicht – darüber, dass der Kampf so ausging, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Wie ungerecht. Der Blaukopf war der Böse. Er hatte die Kinder geraubt, Unschuldige getötet, er hatte versucht, sie alle zu töten, immer wieder, und nun vollendete er sein schmutziges Werk.
Gillok. Videm. Syriakin. Jonoy.
Nur die Kinder hatte er nicht.
Der flüchtige Gedanke an die Kinder erwärmte sein Herz, jedoch genügte der Funke nicht, um frischen Kampfesmut zu entzünden, letzte Energien freizusetzen.
Jedenfalls nicht genug. Aus dem einen Schwerthieb waren zwar einige mehr geworden, doch nun reichte es. Er konnte nicht mehr. Adiv und Akim waren bereits zurückgewichen, hatten aufgegeben. Er von allen Gefährten stand noch und bot dem Ungeheuer die Stirn. Welche Ironie. Dabei war sein Schicksal längst besiegelt.
Er ließ das Schwert sinken und beugte den Kopf. Eine unrühmliche Haltung, aber er brachte es nicht über sich, dem Tod ins Auge zu sehen.
Augenblicke später hob er ihn blinzelnd wieder, betrachtete verwirrt die fremden Männer, die mit prachtvoll blinkenden Klingen um ihn ausschwärmten. Vor lauter Verblüffung setzte er sich in den Schnee.
Sein übermüdeter Verstand riet ihm jedoch umgehend, sich schleunigst in Sicherheit zu bringen, solange es andere Gegner gab, auf die sich der Riese konzentrieren musste. Auf dem Hosenboden robbte er rückwärts vom Kampfplatz, während ihm allmählich dämmerte, dass die Verstärkung angekommen war.
Er drehte sich zum Strand. Seine Tante hatte ihr Versprechen wahr gemacht. Neben der alten, bauchigen Janta schaukelten schmale, schnittige Schiffe auf dem Wasser.
Dann sah er seine Mutter und sein Herz setzte kurz aus. Sie stand neben ihrer Schwester am Bug der Janta, vor sich ihren blonden Neffen. Es war unmöglich, mehr als Umrisse und schemenhafte Gesichter wahrzunehmen, und doch glaubte er, Missbilligung in den Augen der Dran‘a zu lesen. Sofort stemmte er sich vom Boden hoch, wenngleich die Anstrengung Wogen der Pein durch seine Arme schickte.
Andererseits war der Schmerz nichts im Vergleich zu Hohn und Gespött bei Hofe. Der zukünftige Kaiser auf dem Hintern im Schnee! Ganz zu schweigen von der stummen Verachtung, die sein Stiefvater, der mit hoher Stimme vom Strand aus die Soldaten dirigierte, ihm ein Leben lang zeigen würde.


„Wie konnten wir zweifeln? Sieh sie an!“
Unter schweren Anstrengungen hob Gillok den Kopf. Syra lagerte noch immer halb auf ihm, doch sie wirkte leichter als zuvor, trug ihr Gewicht wieder selbst. Kurz darauf rappelte sie sich auf, schwankte beim Stehen.
Wie eine Tote, die sich aus ihrem Grab erhebt.
Er griff nach ihrer Hand, zog sich stöhnend empor. Das Bein wollte ihm nicht gehorchen; es pochte und dröhnte unerträglich. Er musste sich schwer an Syra lehnen, die ihn stützte, indem sie ihre Schulter unter seinen Arm schob und ihren Arm um seine Hüfte legte. Zusammen blickten sie auf die Janta, aus deren Rumpf Männer strömten.
„Ich war noch nie so froh, einen Soldaten zu sehen“, gestand Gillok leise.
Syra sagte nichts, aber die Erleichterung, mit der sie ihr Kind betrachtete, war unübersehbar. Das Mädchen ragte neben dem blonden Kaiserneffen und den beiden dunkelhaarigen Knaben auf wie eine kleine Gallionsfigur. Ihre Haare flatterten im Wind, auf ihrem schmalen Gesicht lagen Entschlossenheit und Konzentration.
Sie war das Abbild ihrer Eltern.
Badas Augen schweiften suchend über den Strand, nahmen entsetzt die Folgen des Kampfes auf, schlossen sich, als sie Videms Leichnam entdeckten. Schließlich erblickte Bada ihre Mutter am Rande des Kampfgeschehens, über und über mit Blut besudelt, an Gillok gelehnt, um nicht umzufallen.
Dann sah sie, wie sich eins der seltenen Lächeln auf das Gesicht ihrer Mutter stahl, wenngleich es schauderhaft aussah wegen der tiefen Blässe ihrer Haut und der Narbe aus geronnenem Blut, die quer über ihre Wange schnitt und sie entstellte.
Doch das Lächeln war da, trotzig und unbesiegbar. In Badas Augen schien es hell wie der Nordstern.
Als ihre Mutter sich von Gillok frei machte, um nach Videms Schwert zu suchen, sprang sie von Bord und rannte geradewegs in ihre Arme, barg den Kopf an ihrer Brust, hörte das Herz kräftig schlagen, wie es immer geschlagen hatte, seit dem ersten Tag ihres Lebens. „Du siehst schrecklich aus“, schluchzte sie in die blutverschmierte Kleidung hinein.
„Es geht mir gut.“ Die rauchige Stimme ihrer Mutter beruhigte Bada und sie schmiegte sich in die Hand auf ihrem Kopf. „Was um alles in der Welt tust du hier? Du solltest dich und die anderen retten.“
„Der Wal schwamm um die Insel herum. Wir trafen auf die Schiffe. Yvain erkannte seine Mutter und die Kaiserin, die auf dem alten Boot segelten. Sie hatten es am Strand erspäht, verwittert und von Eis besetzt. Yvains Mutter bestand darauf, auf ihm weiter zu fahren. Der strenge Mann, der Befehlshaber, war dagegen, aber die Frauen setzten sich durch. Sie nahmen uns mit. Wir wussten, wo ihr wart. Der grüne Himmel zeigte uns den Weg. Sonst hätten sie euch nicht gefunden. Verzeih mir.“
„Es ist gut. Du hast richtig gehandelt.“
„Wir sind zu spät.“
„Für Videm, ja“, erwiderte die Kriegerin düster. Dann hob sie das Kinn ihrer Tochter an. „Alles wird gut. Geh und bringe dich in Sicherheit. Geh zu deinem Vater.“
Bada blickte verwirrt. Syriakin lächelte unter herabfallenden Haarsträhnen. Bada lächelte zurück, nickte und stahl sich zu Gillok, der beinahe umfiel, als sie ihn umarmte.
Syriakin angelte Videms Schwert aus dem Schnee, stellte es gegen ihre Beine. Mit den Zähnen riss sie weitere Stoffstreifen von einem ihrer zahllosen Unterhemden. Mit angehaltenem Atem und einem kräftigen Ruck drückte sie die gebrochenen Finger in ihre natürliche Position zurück und wickelte die Streifen fest darum. Eine Schiene hätte besser stabilisiert, doch das musste warten. Während sie ihre Verletzung versorgte, blickte sie auf den Kampf, der trotz der etwa vierzig Soldaten keineswegs schon entschieden war.
Die Neuankömmlinge schienen Kampfrausch und Blutgier des Norogdúns anzufachen. Er brüllte, fauchte, drehte sich im Kreise, das Schwert wie eine Peitsche schwingend, die Hautauswüchse klingenartig aufgestellt, die Zähne gebleckt, den hörnernen Kopf angriffslustig gesenkt.
Die Kriegerin schulterte Videms Waffe wie eine Spitzhacke, nahm sich die Zeit, ihn genauer zu studieren.


Adiv kauerte am Rande des Geschehens, zitternd vor Überanstrengung und Qual. Verwirrt starrte sie auf die vermummten Männer, die von allen Seiten auf die tobende Bestie einschlugen.
Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Syriakin heranhinken sah. „Du lebst, Kaa sei Dank. Auch wenn du nicht so aussiehst“, begrüßte Adiv sie mit flatternden Lidern.
„Bleib hinten und kümmere dich um den Schmied.“
„Was? Nein. Ja. Gern. Ich meine, ich weiß doch gar nicht, was ich tun soll.“
„Dir wird etwas einfallen“, beendete Syriakin das Gestammel und hielt Adiv die Hand hin.
„Was soll mir denn einfallen? Ich bin keine Heilerin.“
„Du hast mir geholfen. Und Akim. Deine Hände, dein Herz und dein Verstand werden das Richtige tun.“ Energisch zog sie die jüngere Frau auf die Beine.
„Also gut“, meinte die Diebestochter nicht sehr überzeugt. Sie klopfte sich Schnee und Eis von der Kleidung, schaute sich um. Ihre Augen wurden groß, als sie Videm und Jonoy in der Nähe liegen sah. „O nein“, hauchte sie.
„Für Videm kannst du nichts mehr tun“, sagte die Kriegerin rau. „Aber Jonoy lebt. Noch“, setzte sie nachdrücklich hinzu und wühlte aus ihren Taschen ein Schächtelchen aus geflochtenem Schilf. „Hier. Das steckte noch unter meinem Köcher.“
„Ist das eine Froschhaut?“ Misstrauisch äugte Adiv in die Schachtel.
„Sie hilft gegen Entzündungen. Zerreibe sie und die Samen und vermische alles mit deinem Speichel. Den Brei kannst du als Wundumschlag verwenden. Bei inneren Verletzungen wird er allerdings nicht helfen.“ Syriakin sprach schnell, mit Augen und Ohren eher beim Kampf als bei Adiv. Dennoch gab sie ihr einen aufmunternden Klaps auf die Schulter.
„Wer sind all die Leute?“, rief Adiv der Kriegerin hinterher, doch die antwortete nicht mehr.


Der Schmied wusste, dass er im Sterben lag.
Die Lieder der alten Schriften logen. Ihn erfasste keine innere Ruhe im Angesicht des Todes. Es zogen keine Bilder aus seinem Leben vorbei. Er war nicht glücklich, weil er ruhmreich auf dem Kampffeld sterben würde wie ein Held aus längst vergangenen Tagen. Keine Wärme umhüllte ihn, weil es ihm bald vergönnt sein würde, seine Lieben wiederzusehen im Reich der Toten.
Alles Lügen. Er war erfüllt von dem grausigen Gedanken, dass es zu Ende ging. Er wollte nicht sterben. Wollte diese Welt nicht verlassen, so unbarmherzig und ungerecht sie sein mochte. Es gab noch vieles, was er erleben konnte. Er wollte sich an den einfachen Freuden des Alltags erfreuen. Ein anständiges Stück Eisen schmieden, ein schönes Mahl genießen, am Feierabend mit Freunden ein Starkbier trinken. Vielleicht noch einmal eine Frau begehren.
Vor allem wollte er, dass dieses Abenteuer gut ausging. Er wollte sie siegen sehen. Wollte miterleben, wie sie zurückkehrten, wie Akim und Kian ihre Mutter wiedersahen, Adiv und Arlen sich für die Zukunft einrichteten, Ylaiy den Thron bestieg und diesen grässlichen Urdat Vei in die Wüste schickte. Er wollte das Lächeln auf dem Gesicht der Kriegerin wiedersehen, wenn sie ihr Kind in die Arme schloss. Und Gillok dazu, wenn er die Zeichen richtig gedeutet hatte.
Nichts davon war ihm vergönnt. Das setzte ihm mehr zu als das gurgelnde Rasseln in der Lunge, das Blut, das den Hals hoch schwappte und aus dem Mund lief, die Schmerzen im Leib. Er wollte nicht sterben, nicht so, nicht mit dem Gefühl, dass alles umsonst gewesen war.
Als Adivs Gesicht sich in sein Sichtfeld schob und er in ihre kobaltblauen Augen blickte, seufzte er. Sie sah so schön aus, trotz der Erschöpfung und der Schürfwunden, trotz der Locken, die ihr ungekämmt in die Stirn fluteten, trotz der Sorge auf ihrem Antlitz. Gern hätte er ihr gesagt, wie wunderschön sie war und wie sehr ihr Anblick seine Seele belebte, doch das Blut in Lunge und Hals verhinderte, dass er mehr als undeutliche Laute artikulieren konnte.
„Pst, alter Mann“, schalt sie ihn mit Tränen in den Augen. „Nicht sprechen.“ Ihre Hände flatterten um seinen Körper. Er fühlte die Angst, die von ihr aufstieg wie eine dunkle Wolke. Gern hätte er ihr gesagt, dass sie sich nicht sorgen müsse um ihn, dass er keine Wunder erwartete. Dass es ihn tröstete, dass sie hier war bei ihm, seine Hand hielt und seine Wange streichelte, während sie ein Kinderlied summte, das eine wunderbar beruhigende Wirkung hatte.

Mit entzündeten, vor Wut brennenden Augen sah der Norogdún auf die Kadaver seiner Feinde. Die meisten hatte das Schwert gefällt. Es hatte furchtbare Wunden geschlagen, Körperteile abgetrennt. Viele hatte der Frostatem getötet, einige das eisige Meerwasser, in das er sie geschleudert hatte. Drei oder vier waren Opfer der Hörner und Zähne geworden. Er schmatzte, als er die letzten blutigen Fleischstücke von den Lefzen saugte.
Alles in allem war Veis Armee eine Enttäuschung gewesen. Sie hatte ihn an die Wasserkante gedrängt, doch nur eine Handvoll Soldaten lebte noch. Für die anderen vierzig Männer hatte er weniger Zeit benötigt als für die sieben Gefährten, von denen drei ihm weiterhin trotzten. Vier, wenn man die kleine Frau mitzählte, die sich um den halb toten Alten kümmerte.
Ein paar Sterbliche – mehr stand nicht zwischen ihm und den Kindern. Seine Augen leuchteten auf, sein Geist belebte sich, wann immer er sie ansah. Blut und Fleisch in Hülle und Fülle. In menschlicher Form hätte er wohl vor Freude gejauchzt. Jetzt grunzte er lediglich.
Dann bleckte er die Zähne und wandte sich den Gefährten zu, die sich abwartend und alarmbereit vor ihm aufgestellt hatten.
Die Kriegerin stützte sich schwer auf das Schwert, klammerte sich an den Griff, um nicht umzufallen. Ein dünner, ausgehöhlter Schachtelhalm, kaum größer als ihre beschmierten Finger, hing von ihren aufgeschlagenen Lippen. Fast grunzte er erneut. Sie war stets für eine Überraschung gut. Er hatte wirklich geglaubt, sie hätte der Diebestochter alle Wurfwaffen und Schussgeräte übergeben, so, wie er geglaubt hatte, sie ein für allemal erledigt zu haben. Er bezweifelte allerdings, dass sie noch genug Luft besaß, um die Giftspitzen mit der nötigen Durchschlagskraft abzufeuern. Jedenfalls hatte er nichts gespürt.
Der Prinz kniete rechts von ihr, das Schwert quer über den Oberschenkeln. Seine Hände zitterten. In den Mundwinkeln trockneten blutige Speichelblasen. Schmutzigblondes, feuchtes Haar hing ihm in die Augen. Die Kleidung, vor allem das lederne Wams, war zerfetzt, legte einen Teil des Oberkörpers frei.
Links von der Kriegerin stand der Wüstenjunge. Er hielt sich noch aufrecht, aber die Beine schlotterten. Die Finger hatte er so fest um den Speer mit der steinernen Spitze gekrampft, dass sie weiß aussahen. In den Augen glühten Erschöpfung und Hass.
Eine weitere Gestalt schälte sich aus dem Dunkel, trat zu den anderen. Der Sumpfmann. Angeschlagen, tot geglaubt, doch am Leben wie seine Gefährtin, und genauso bereit, es erneut mit ihm aufzunehmen. Seine Lefzen schürzten sich in einer Mischung aus Respekt und Verachtung. Gillok humpelte stark, hatte blutige Verbände um den Kopf gewickelt. Kein ernst zu nehmender Gegner mehr.


Verzweifelt presste Adiv ihre Hände auf den Umschlag auf Jonoys Brust, unter dem das Blut hervorströmte. Sie betrachtete sein wächsernes Gesicht, fühlte weitere Tränen aufsteigen. Sie würde ihn verlieren. Ihre Heilkünste waren es nicht wert, so genannt zu werden. Dumme Lieder und Streicheln hatten noch nie jemanden vor dem Tod bewahrt.
„Geh, Kind“, flüsterte plötzlich eine Stimme in ihr Ohr, sodass sie vor Schreck herumfuhr. „Geh zu den anderen. Wir kümmern uns um ihn.“
Mit offenem Mund blickte Adiv die winzige Diebin an, die sich an der Seite einer uralten Frau über den Schmied beugte. Ihre verbliebene Hand fuhr über Jonoys Wunde. Die andere Frau sah den Greis aus gütigen Augen an, strich ihm zärtlich über das weiße Haar. „Du bist alt geworden, lieber Freund“, sagte sie mit einer Stimme, die sich weich wie eine Düne anhörte und gleichzeitig raspelte, als rieben Sandkörner aneinander.


„Was tun wir?“, raunte Urdat Vei seiner Gemahlin zu.
„Vielleicht solltet Ihr nach vorn gehen und helfen“, riet seine Schwägerin eisig.
Er starrte sie aus hellen, harten Augen an, doch sie erwiderte den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Er schürzte die Lippen, sagte jedoch nichts.
„Können sie gewinnen?“, fragte die Kaiserin tonlos. „Ihr habt gesehen, wie dieses Untier die Männer gemetzelt hat. Wie können diese fünf dagegen halten? Seht sie an. Sie erinnern an Gestrandete, an Kriegsversehrte, an Hungerleider.“
„Wenn es jemand schafft, dieses Monstrum aufzuhalten, dann diese fünf“, gab die Drana’sora zurück.
„Sechs“, korrigierte eine junge Stimme forsch.
„Sila“, entgegnete die Kaiserinschwester warm. „Eure Tapferkeit in allen Ehren, doch mir scheint, Ihr seid noch nicht vollends genesen.“
„Einer muss ja helfen“, erklärte Sila. Sie ignorierte Vei, der sie mit Blicken erdolchte.
„Du bist nicht allein“, versicherte der Blondschopf an ihrer Seite.
„Wir stehen dir bei“, ergänzte Arlen.
„Alle“, sagte Kian.
Bada trat neben die Jungen. „Lasst uns beginnen.“


Drei hatten vor ihm gestanden. Dann war der Sumpfmann gekommen, danach die kleine Frau. Schließlich die Gespielin des Prinzen. Unbemerkt war sie herangetreten, hatte verstohlen nach der Hand des Thronfolgers gegriffen, seine Einwände beiseite gewischt. „Lieber sterbe ich hier, neben Euch, als am Strand neben diesem Feigling.“
„Wen nennst du einen Feigling, Weib?“, fauchte es hinter ihr. Urdat Vei höchstpersönlich fand sich zum Kampf ein.
„Euch, Vater“, gab sie gedehnt zurück.
„Was?“ Ylaiy zuckte zusammen. Vei schreckte nur kurz zurück, bevor kalter Hohn in seinen Mundwinkeln erschien.
„Später“, unterbrach Sila. „Jetzt er.“ Ihre Schwertspitze wies auf den Riesen. „Schaffen wir das?“
„Ganz sicher“, knirschte die Kriegerin und richtete sich auf.


Nahe der Schiffe hatten die Kinder sich im Kreis aufgestellt und an den Händen gepackt. Ihre Köpfe waren dem Himmel zugewandt, doch ihre geschlossenen Augen sahen nicht das gespenstische und gleichzeitig anmutige Lichterspiel, das über ihn jagte. Ihre Lippen bewegten sich murmelnd im Einklang, aber kein Ton drang zwischen ihnen hervor.
Die Kaiserin, ihre Schwester und Rana standen daneben. Ihre Blicke flackerten zwischen den Kindern und dem Gefecht hin und her, das erneut entbrannt war. Alle drei sprachen ein stummes Gebet.


Hauen, stechen, hacken, schlagen, laufen, ducken, schwingen, ausweichen. Gefangen in einer Zeitschleife, dachte Ylaiy und grinste verzerrt.
Neu war, dass Sila die Gruppe ergänzte. Was ihr an Kampfkraft und Geschicklichkeit fehlte, machte sie mit Wagemut und loderndem Hass wett. Er wusste nicht, was genau vorgefallen war, doch sie hatte Vei ihren Vater genannt und eine düstere Ahnung hatte ihn beschlichen.
Neu war, dass er Seite an Seite mit seinem Stiefvater kämpfte. Man konnte über den Oberbefehlshaber viele schlechte Dinge sagen, jedoch nicht, dass er das Gefecht nicht beherrschte. Im Gegenteil: Die stumpfe Waffe, von ihm entworfen und nach ihm benannt, rauschte mit der Intensität und Beharrlichkeit eines Dreschflegels gegen den Hünen. Vei glänzte mit geschmeidigen Ausweichmanövern und wuchtigen Angriffen, brachte seinen Stiefsohn damit in einen seelischen Zwiespalt.
Neu war auch, dass der Riese verhaltener wurde. Es schien, als bräuchte er Zeit, sich auf die ungewohnte Konstellation einzustellen.
Neu war, dass die Sumpfleute jählings ihre Taktik änderten. Auf ein stummes Signal hin setzten sie sich gleichzeitig in Bewegung. In entgegengesetzter Richtung rannten sie in weitem Bogen um den Gegner, fanden sich zeitgleich in seinem Rücken ein.
Nicht nur Ylaiy hatte das Manöver bemerkt. Wortlos erhöhten alle ihre Anstrengungen. Hiebe, Schwünge und Stiche prasselten auf die Bestie ein, lenkten sie ab.
Unterdessen steckte Gillok seine Waffen in den Gürtel, stellte sich mit dem Rücken zu dem Monstrum. Syriakin hatte sich einige Meter entfernt, wartete ruhig, bis ihr Freund ihr zunickte. Ihre Finger nestelten an zwei metallischen Gegenständen.
„Was hält sie da?“, fragte Ylaiy unterdrückt, mehr zu sich selbst.
„Die Haken“, raunte Akim.
Dann nahm sie Anlauf.
Ylaiy jauchzte innerlich, als er sah, wie sie auf Gillok zupreschte, langsamer als sonst, doch noch immer schneller als die meisten von ihnen in ausgeruhtem Zustand. Videms Schwert glitzerte an dem Gurt, den sie einem der toten Soldaten abgenommen haben musste. Aus dem Lauf heraus sprang sie auf die ausgestreckten Handflächen Gilloks, benutzte sie als Rampe. Gillok verstärkte ihre Bewegung, indem er sie nach oben stieß.
Sie flog auf den Rücken des Letztgeborenen, hieb die Haken in das eisige Fleisch.
Der Riese stoppte, grunzte und wedelte mit den Armen. Syriakin hing zwischen Gürtellinie und Schulterblättern. Weder von oben noch von unten kam er an sie heran, zumal die angeschwollenen Muskeln es ihm nicht gestatteten, seine Arme weit zu beugen.
Der Koloss tapste einige Schritte zur Seite, hielt inne, äugte über die Schulter nach hinten. Syriakin begann, auf den hervorstehenden Wirbeln des Rückgrats nach oben zu klettern, die Haken als Hilfe benutzend. Er brüllte zornig, stieß Reifwolken aus. Die Soldaten vor seinen Knien gefroren innerhalb von Sekunden zu Statuen. Dann schüttelte er sich, beugte sich ruckartig vor, krümmte den Rücken zu einem Buckel.


Entsetzt sah Akim, wie die Stiefel der Kriegerin abrutschten und sie schwer in die Haken sackte. Einer der Pickel löste sich und rauschte zu Boden, sodass sie sich an den einen verbliebenen klammerte, ihr Arm so verdreht, dass allein der Anblick schmerzte. Er registrierte, wie sie stöhnend die Zähne aufeinanderbiss. Gleich darauf katapultierte die groteske Verbeugung des Riesen sie mit den Beinen voran nach oben. Jetzt hing sie kopfüber, die Hand auf den Haken gestützt, die Stiefelabsätze nah an den Schultern des Kolosses. Das Schwert baumelte vor ihrem Gesicht, drohte, aus dem Gurt zu rutschen. Sie schob die freie Hand davor, den Kopf rot vor Anstrengung und vom Blut, das in die falsche Richtung lief.
„Halt dich fest“, flüsterte Akim kribbelig.
Seine Blicke kreuzten sich mit Gilloks. Er rannte zwischen den Beinen hindurch zu ihm. „Wirf mich hinauf!“
Gillok kehrte dem Riesen erneut den Rücken zu, verschränkte die Hände, schwankte auf dem verletzten Bein.
Akim sprintete los. Als Gillok ihn empor stieß, sah er Chada, Jula und Gradh am Rand des Kampfplatzes stehen. Sie nickten ihm beifällig zu. Auf Gradhs verschwommenem Gesicht zeigte sich ein stolzes Lächeln, das ihm Flügel verlieh. Auf allen Vieren landete er auf dem Rücken, kletterte los, als hätte er einen Gebirgspfad mit Wurzelsträngen und Gesteinsvorsprüngen vor sich. Finger und Fußspitzen berührten die eisige Hülle nur kurz und so leicht, dass der Riese ihn nicht einmal wahrnahm.
Der richtete sich in dem Augenblick wieder auf, in dem Akim bei der Kriegerin anlangte. Er schaffte es gerade noch, den Speer oberhalb der Hüfte in den Panzer zu rammen und sich neben Syriakin an den Haken zu hängen, der sich unter dem doppelten Gewicht bedenklich lockerte.
Dann schoss der Unterleib der Kriegerin an ihm vorbei. Sie prallte mit ihrer gesamten Längsseite gegen den Eispanzer. Ihr Schultergelenk knirschte laut.
„Festhalten“, schrie er und schielte zu Syra, deren zu Kopf gestiegenes Blut zurück in die gewohnten Bahnen rauschte und eine Blässe zurückließ, die ihn erschreckte. Er selbst spürte bereits die klamme Schwere in den Muskeln, betete, dass ihre nicht nachgaben.
„Der Speer“, rief er und stupste sie mit den Beinen an. „Stoß dich von ihm ab. Los!“
Sie gehorchte ohne ein Wort. Ihre Stiefel hangelten nach dem Speer, der aus der Hüfte des Riesen ragte. Ihre Augen verloren den trüben Glanz, als sie Halt fand und endlich ihren verrenkten Arm erlöste. Mit der anderen Hand griff sie nach dem Haken, streifte Akims Finger. Er kostete das warme Gefühl aus, das ihn durchlief, als sie seine Hand mit der ihren umwölbte und drückte.
„Du zuerst“, raspelte sie dann.
Er spähte nach oben, schätzte die Entfernung ein, sah nach unten auf die Gefährten, welche die Beine des Giganten mit stumpfen Schwertern und Soldatenschilden bearbeiteten. Blickte erneut zu Syriakin, die seine Miene studierte, gleichzeitig auf die Bewegungen des Riesen horchte, die Muskeln bis über die Schmerzgrenze angespannt, unzählige Stellen ihres Körpers zerschlagen und dennoch nicht bereit, aufzugeben. Und wie könnte er das? Ein letzter Blick zu Kian und er war frei.
Er stemmte die Knie in die Hüften der Kriegerin, die das zusätzliche Gewicht stöhnend ertrug, zog sich an ihr empor, bis seine Stiefel auf ihren Schultern wankten, während der Norogdún sie beide hin und her warf wie ein Boot auf wogenden Gewässern. Doch wie ein Boot gingen sie nicht unter, sondern ahmten die Bewegungen nach. Seine Arme erreichten die Schultern des Riesen, tasteten sich suchend über den rissigen Panzer, fanden unsicheren Halt an einem der Auswüchse.
Bäuchlings schob er sich hinauf, streckte den Arm aus, so weit er konnte. Atemlose Sekunden lang fürchtete er, abgeworfen zu werden, schielte furchtsam in die Tiefe. Den Sturz mochte er überleben, die stampfenden, trampelnden Beine allerdings nicht.
Dann fühlte er Syriakins Fingerspitzen an seinen. Augenblicke später verschränkten sich ihre Hände und sie zog sich mit übermenschlicher Stärke, die nur noch aus Verzweiflung und Angst um ihre Tochter gespeist sein konnte, empor. Ihr verdrehtes Schultergelenk lähmte ihren linken Arm, sodass er sich auf die Kraft seiner Schenkel und Knie verlassen musste. An ihrem Umhang zerrte er sie nach oben, wo sie keuchend zusammenbrach.
Er rüttelte sie. „Syra.“
„Ja.“ Vorsichtig wälzte sie sich herum, suchte nach Stellen, an denen sie Halt finden konnte.
Indes war das Geschrei von unten angeschwollen. Sinnloses Gebrüll, Verwünschungen, saftige Beleidigungen. Akim bekam rote Ohren, als er einige der Schimpfworte aus den Mündern der hochhöfischen Damen vernahm. Ranas weiche Stimme mischte sich darunter, außerdem der monotone Singsang der Kinder.
Das Ablenkungsmanöver half, aber nicht so sehr wie die präzisen Streiche Urdat Veis. Der erfahrene General hatte die Fersen als Schwachstelle ausfindig gemacht, hieb in die bereits tiefen Kerben. Damit brachte er sich in unmittelbare Lebensgefahr, da der Riese die Bedrohung erkannte, seine Anstrengungen erhöhte.
Auf den Schultern des Hünen schlingerten Akim und Syriakin. Doch während es auf einem Boot Masten und Taue zum Festhalten gab, blieb Akim nur der unförmige Hals des Giganten. Er schlang einen Arm darum, konnte den Nacken jedoch nicht annähernd umschließen. Immerhin gelang es ihm, die Finger in die Kehle zu krallen. Vorsichtig reichte er Syriakin den anderen Arm, half ihr auf, stützte sie.


Die behandschuhten Hände an den Mund gelegt, warf die Drana’sora bestürzte Blicke auf die verwegene Frau hoch oben auf den Schultern des Monstrums. Auf Knien kroch sie Zentimeter für Zentimeter an den klotzigen Schädel heran, gehalten nur vom Arm eines schmächtigen Knaben und ihrem unglaublichen Körpergefühl.
Ihre Augen schwenkten zu den Kindern, die irgendetwas ausgelöst hatten. Eine unsichtbare Wand schien sich um sie errichtet zu haben. Die Luft pulsierte, vibrierte vor unterdrückter Kraft. Irisierende Lichter kreisten um die Kinder, sprenkelten ihre entrückten Mienen, wischten um ihre schmalen Gestalten.
Was auch immer ihr tut, tut es schneller.


Sein Kopf hämmerte. Die Brustwunde pochte, klopfte im unruhigen Rhythmus seines Herzens, mal galoppierend, mal ein oder zwei Schläge aussetzend. Immerhin hatte er es geschafft, sich auf die Seite zu rollen und den Kopf in die Armbeuge zu betten. Die verschobene Hüfte ruhte weich im Schnee.
Er wusste nicht, warum oder wie, doch er lebte.
Die Frage war, wie lange noch.
Wie lange noch, bis der Riese Syriakin und Akim abschüttelte? Wie lange noch, bis er Vei erwischte, die Gefährten auslöschte wie den armen Videm? Wie lange noch, bis er sich ihm näherte, der ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatte?
Wie lange noch, bis er die Kinder wieder bekam?
Seine matten Augen leuchteten auf, als er sah, wie die Kriegerin sich hinter dem Haupt aufrichtete und Videms Schwert aus dem Gurt zog.
Sie musste wissen, dass der Schwertstreich ihre letzte Chance war. Doch es lag in ihrer Natur, Risiken einzugehen. Und so tänzelte sie freihändig für einen winzigen, endlosen Moment auf den Schultern, hob das Schwert weit über ihren Kopf und hieb es mit einem kraftvollen Schwung in den wuchtigen Schädel.


Der Riese merkte, dass er aufgehört hatte, sich zu bewegen. Er blinzelte nach unten, erblickte die Sterblichen, die in alle Richtungen von ihm weg stoben.
Sie sahen seltsam aus, flach und undeutlich. Er wollte sie aufhalten, aber die Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er stocherte nach ihnen, doch das Schwert entglitt ihm.
Plötzlich begriff er nicht mehr, warum er den Menschlein nachsetzte.
Er erkannte sie kaum mehr; ihre Umrisse wurden unschärfer, verschmolzen mit der Umgebung. Die Geräusche nahmen ab, bis er nur noch sich selbst hörte. Keuchende Atemzüge, schluckend, hicksend, hustend.
Dann reduzierte sich seine gesamte Wahrnehmung auf eine hauchzarte Empfindung in der Nähe seines Halses.
Kurz darauf explodierte der Schmerz in seinem Kopf.


Alles passierte auf einmal.
Der Koloss ließ das Schwert fallen, glotzte in die Gegend, brüllte auf, tobte, schüttelte Syra und Akim ab wie lästige Fliegen. Die Kriegerin hatte mit einem Sturz wohl gerechnet, denn sie tauchte mit einem halbwegs gelungenen Hechtsprung ins nahe Meer. Akim hingegen rollte sich instinktiv zu einem Ball, landete mit einem lauten Spritzen in den Fluten.
Im selben Augenblick verwandelte sich das Schelfeis in einen Wasserfall, der den Letztgeborenen von den Füßen riss. Adiv spürte die Erschütterung noch aus der Entfernung.
Die Eishülle wurde fortgespült. Mit dem Panzer zog sich seine Gestalt zusammen, schrumpfte vor ihren Augen. Innerhalb kürzester Zeit konnte sie die nackten Umrisse des Blaukopfs ausmachen. Wie ein Neugeborenes lag er im breiigen Schnee.
Wie ein ausgewachsener Mann erhob er sich Minuten später.
Angstschauer rasten Adiv über den Rücken. Ein fader Geschmack kitzelte sie in der Kehle. Der Norogdún war unverletzt. Der fratzenhafte Schädel unversehrt, ebenso der Körper. Er lächelte, als er sich ihnen zuwandte. „Ihr könnt nicht gewinnen. Seht ihr dies nun endlich ein?“


Der Aufprall auf das Wasser war härter als ein Schlag mit dem Stock. Akim riss den Mund auf vor Überraschung und Schmerz. Sofort strömte eisiges, beißendes Salzwasser in ihn hinein, betäubte ihn. Er würgte und strampelte, paddelte mit Händen und Füßen, öffnete die Augen, sah nur schwimmende Dunkelheit. Sie nahm ihm seine Sinne, seine Orientierung. Von Panik erfasst, schrie und heulte er wie ein Kleinkind.
Niemand hörte die Schreie und die Tränen zerflossen im Meer. Wieder boxte und schlug er, diesmal in etwas Weiches, das nicht zurückwich. Sekunden später realisierte er, dass die Kriegerin ihn gefunden hatte, ihn nach oben zog, an die rettende Luft.
Er japste, spuckte und würgte. Als sie um ihn herumschwamm, den verletzten Arm um seinen Nacken gelegt, überkam ihn erneut Panik. Sie wich rasch Erleichterung, denn sie schwamm mit kräftigen Stößen auf dem Rücken Richtung Ufer, hielt seinen Kopf über Wasser. Nach wenigen Metern bemerkte er bereits, wie es flacher wurde.
„Danke“, hustete er, als seine Füße festen Boden spürten.
Davanas!
Der Zorn in ihrer Stimme ließ ihn herumfahren und zu Stein erstarren. Eine gewaltige Kälte erfasste ihn. Gelähmt sah er ihr nach, wie sie mit langen Sprüngen auf den Blaukopf zu hetzte, der mit ausgebreiteten Armen vor den Gefährten stand, sie mit wieherndem Lachen verhöhnte.


Syriakin war noch nicht ganz heran, Gillok und Vei erst auf halbem Weg, Ylaiy und Sila dicht hinter ihnen, als ein Gedankensplitter in Adivs Geist jagte.
Erinnere dich.
Und sie erinnerte sich. Ihre Hand glitt in ihre Manteltasche, packte die Goldmünze, die ihre Mutter einst zwischen den Fingern balanciert hatte. Sie nahm nur kurz Maß, schleuderte die Münze von sich. Glitzernd und blitzend raste sie auf den offenen Rachen des Menschenfressers zu.
Die Arme des Norogdún schossen an seine Kehle. Aus seinem Inneren fuhr ein gurgelndes Röcheln, das Adiv bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen würde. Seine farblose, im giftigen Sternenlicht faulig aussehende Grimasse begann, sich vor ihren Augen aufzulösen. Sie schluckte, drängte den Ekel zurück, als die schwindende Haut zwei Reihen kräftiger Kiefer freilegte, in denen spitze Zähne mit langen Wurzeln steckten.
Nachdem die Kiefer verdampft und die Zähne zu Boden gefallen waren, blickte sie auf die Finger, die die Münze gehalten hatten. Dann sah sie hoch, drehte sich im Kreis, nahm die Umgebung in Augenschein. Ihre Freunde, die Kaiserin mit ihrer Schwester, Rana, Sila, die Kinder, Vei. Sonst niemand. Wieder schaute sie auf ihre Hände, schüttelte den Kopf. In ihrer Miene stand Ratlosigkeit. Ihre Augen blieben an dem Letztgeborenen hängen, von dem nicht viel mehr übrig war als eine Pfütze im Schnee.
Sie wankte zu ihm, ignorierte die fragenden Blicke und überraschten Gesichter der anderen, bückte sich und langte nach dem blinkernden Gegenstand. Sie hielt sich die Münze vor die Augen, drehte sie, wendete sie, steckte sie achselzuckend in ihre Jackentasche.
Möge er dir Glück bringen. Vergiss uns nicht.
„Gewonnen“, sagte sie zu den Überresten. Alsdann wischte sie die Hände an ihrem Mantel ab. Sorgfältig. Man konnte nie wissen. Ihre Mutter hatte Gift schließlich genauso gern gehabt wie Syra.
Dann knickten ihre Beine ein.


„Die Kälte hier ist unerträglich. Beseitigt diesen Unrat. Danach brechen wir auf.“ Angewidert wandte Urdat Vei sich zu den Schiffen um.
Stumm blickte die Kaiserin ihrem Gemahl nach, der zum Wasser schritt und den dort verbliebenen Männern befahl, die Abfahrt vorzubereiten. Ihre Miene war unergründlich. Nachdenklich, unbehaglich, unentschlossen. Ylaiy beschloss, sie nicht zu drängen. Die Zeit würde kommen.
„Rana, Sila, lasst uns Feuerholz, Wein und Vorräte von der kaiserlichen Flotte auf die Janta schaffen. Verbandszeug. Decken. Meine Diener werden euch helfen.“ Sila und ihre Mutter nickten und eilten unverzüglich davon, während die Drana‘sora sich an die Gefährten wandte. „Ich habe frische Kleidung mitbringen lassen und auf dem Schiff wartet ein Heilkundiger. Bald schon werdet ihr euch erholen können.“
Niemand erwiderte etwas oder machte Anstalten, sich zu erheben. Auch die Kinder verharrten schweigend neben ihren Angehörigen und Freunden.
„Videm zuerst“, ächzte Ylaiy schließlich.
„Natürlich“, versicherte seine Tante.
„Was soll mit ihm geschehen?“, fragte die Kaiserin.
Ylaiy vergewisserte sich wortlos bei den anderen, bevor er antwortete. „Wir werden ihn neben seinem Vater in Fedaj beerdigen.“
„So sei es.“ Die Dran’a winkte Bedienstete heran, die frierend und von Angst erfüllt auf dem Deck des vordersten Schiffes gewartet hatten. „Schlagt ihn in Decken ein und bahrt ihn im Frachtraum des mittleren Schiffes auf.“
„Er ist mit uns gekommen“, wandte Ylaiy ein.
Seine Mutter neigte zustimmend das Haupt, schnippte nach den Lakaien. „Bringt ihn auf die Janta. Die anderen Leichname verbrennt, nachdem ihre Namen festgestellt worden sind.“
Während die Diener sich um Videm kümmerten, veranlasste die Kaiserinschwester, dass Jonoy auf eine Trage gebettet wurde. Sein Gesicht war aschfahl, aber die Augen strahlten ein wenig in früherem Glanz. „Sorgt euch nicht“, versicherte er ein ums andere Mal, wobei er vor allem Adiv ansah. „Es geht mir bald wieder gut.“
„Er hat recht“, sagte Yvain, nachdem der Schmied fortgebracht worden war.
„Er wird gesunden.“ Kian schmiegte sich an Akim, der vor Kälte schlotterte.
„Das gilt leider nicht für Videm“, raspelte Ylaiy mit erstickter Stimme. Er signalisierte den Bediensteten, die eben den Toten vorbei trugen, die Bahre nochmals abzustellen. Dann erhob er sich schwerfällig. Die Gefährten taten es ihm gleich. Im Halbkreis verharrten sie am Körper ihres Freundes, die Kinder vor sich. Adiv schniefte, barg ihr Gesicht an Ylaiys Schulter. Akim schnüffelte, klammerte sich an seinen Bruder. Die anderen starrten den Leichnam betäubt an.
„Gehen wir“, sagte Ylaiy schließlich leise.


Mámá.“
Syriakin und Gillok blieben stehen, während die anderen zur Janta wankten und es den Bediensteten überließen, Waffen, Kleidungsstücke und Habseligkeiten, die weit verstreut am Strand lagen, einzusammeln. Die meisten Schwerter waren nicht mehr zu gebrauchen mit ihren stumpfen Klingen und angelaufenen Griffen, doch sie würden aufbewahrt werden als ewige Erinnerung.
„Ich kann dich heilen. Euch alle. Wir können das. Hier, an diesem Ort. Zusammen.“
Die Kriegerin schwieg lange, sah ihre Tochter an, horchte auf die verschwommenen Geräusche, nahm das Zwicken in ihren Ohren überdeutlich wahr, all die anderen Stellen an ihrem Körper, die brannten, bissen, hämmerten und pochten.
„Nein“, erwiderte sie schließlich.
„Warum nicht? Wir …“
„Wir schaffen das schon.“
„Aber wir können dir helfen.“
„Wir schaffen das allein“, wiederholte Syriakin nachdrücklich. Gillok schoss ihr einen besänftigenden Blick zu, sodass sie vor ihrer Tochter in die Hocke ging. „Ich danke dir für dein Angebot. Es ist verlockend.“
„Wieso nimmst du es nicht an?“
„Weil ihr schon genug getan habt, die Jungen und du. Es ist Zeit, dass ihr euch erholt. Ich komme von allein auf die Beine, die anderen auch. Es mag länger dauern, aber das ist ganz gut so. Und nun lauf. Geh ins Warme.“
„Das solltet ihr auch. Ihr tropft.“ Leichtfüßig lief sie den anderen hinterher.
Gillok half seiner Gefährtin hoch. „Du hast sie angelogen.“
„Nein. Ich habe ihr nur nicht alles gesagt.“
„Ist das nicht dasselbe?“
„Sie ist ein Kind. Soll ich ihr sagen, dass sie gefährlich ist? Dass ich ihrer Magie misstraue? Dass ihre Fähigkeiten Größenwahnsinnige, Glücksritter, Heuchler anziehen werden wie Licht die Motten?“
„Du musst es ihr sagen.“
„Nicht heute. Nicht nach alledem.“ Damit warf sie einen letzten Blick zurück an den Strand. „Lass uns verschwinden. Ich kann die Kälte nicht mehr ertragen.“

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

Aidans Profilbild Aidan

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Kapitel: 6
Sätze: 1.384
Wörter: 18.994
Zeichen: 113.129

Kurzbeschreibung

Gerade erst der Unterwelt Drahórsuls entkommen, müssen die Gefährten sich dem verlustreichen Gefecht mit den Norogdún in seiner verwandelten Form stellen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Fantasy auch im Genre Abenteuer gelistet.