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Einmal nur

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06.06.20 17:08
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Der Holzfäller geht um den Tisch herum und betrach­tet neugierig das hölzerne Kästchen von allen Seiten. Er läßt sich Zeit, wissend um die seltenen Gelegenheiten, dem Alltagstrott eine farbige Schleife der Abwechslung ins Haar zu binden. Staunend blickt er auf die Intarsien, die das ziegel­steingroße Kästchen zieren und wundert sich über die plötzliche Herkunft, über das unerwartete Auftauchen am heutigen Morgen.

Dabei hatte der Tag ganz normal begonnen, als Verlängerung und Wiederholung vorangegange­ner Tage mit einem Hahnenschrei, der in das kleine, schlafende Dorf hineinstach. Ein Schrei, der bis zum blechernen Wetterhahn des Kirchturms hinauf stieg. Der Wetterhahn drehte sich langsam, als er eine verspielte Windböe abfing, die munter in der frischen Morgen­luft blies.

Er nimmt das Kästchen vorsichtig auf und schätzt dessen Gewicht. Es kann nicht viel darin sein, da er es ohne jegliche Kraftanstrengung heben kann. Behutsam setzt er es wieder ab. Er kratzt sich am Hinterkopf und überlegt, woher das Kästchen kommen könnte, ob ihn irgendein Verbot oder eine Gefahr hindern könnten, einen Blick in das Innere zu werfen. Er wendet seinen Kopf zum Fenster, um nach Lausbuben Ausschau zu halten in der Furcht, sich im Mittelpunkt eines üblen Streichs wiederzufinden. Aber keine Gesichter drücken sich am Fenster platt und weiden sich an seiner Unsi­cherheit. Dennoch geht er zur Tür, öffnet sie und tritt hinaus, um einen kurzen Blick auf den kleinen Garten zu werfen. Der liegt jedoch unberührt unter zartem Morgentau und läßt sich nur von Käfern und dem flatternden Schatten eines Schmetterlings kitzeln.

Der Holzfäller geht wieder hinein und schließt die Tür. Zum Tisch zurückge­kehrt, klappt er langsam den Deckel des Kästchens auf. Die Innenseiten sind mit roter Seide gefüttert und eine zierliche Goldkette hält den aufgeklappten Deckel in fast senkrechter Position. Zarter Geruch von Jasmin und Rose kräuselt sich in die staubige Zimmerluft. Etwas enttäuscht blickt der Holzfäller auf den einzigen Inhalt des Kästchens: ein unscheinbarer, blau glänzender Ring liegt auf dem Boden des Kästchens, in den ein runder Spiegel eingesetzt ist.

Er nimmt mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den Ring aus dem Kästchen und hält ihn in den Sonnenstrahl, der als eckige Säule das Fenster in den Raum verlängert. Während er den Ring neugierig betrachtet, hört er ein leises Klingeln, das aus dem Kästchen zu kommen scheint. Er beugt sich über das Kästchen, neigt den Kopf zur Seite und horcht in das Kästchen hinein. Schon glaubt er, sich getäuscht zu haben, als er wieder leise ein Klingeln hört. Es kommt von weit her, hell erklingend und schelmisch aus einer Tiefe, die sich nicht kümmert um ­akkustische Grenzen der Kästchenwände, die vom Kästchen steif in die Welt gestreckt werden. Der schwebende Ton kommt näher und der Holzfäller blickt erstaunt in das Kästchen hinein. Und während der Spiegel gerade noch das Hier und Jetzt verächtlich in das Zimmer zurückgewor­fen hat, gibt er jetzt stolz den Blick frei auf einen schwarz schimmernden Weg, auf dem eine alte, schöne Frau langsam heranschreitet. In ihrem Gewand sind viele kleine Glöckchen eingearbeitet, die im Rythmus ihrer Bewegungen heiter bimmeln.

Starren Blicks verfolgt der Holzfäller den majestätischen Weg der Frau, als sie stehenbleibt, ihre Arme ausbreitet und mit tiefer Stimme sagt: "Höre gut zu, Holzfäller. Dir ist dieser Ring geschenkt. Einen Wunsch hast du frei. Er wird in Erfüllung gehen, wenn du diesen Ring anstecken und deinen Wunsch aussprechen wirst. Überlege dir deinen Wunsch gut und fälle die richtige Ent­scheidung". Kaum hat sie diese letzten Worte gesprochen, dreht sie sich um und während ihre langen, schwarz-blauen Haare noch in der Drehung mitschwingen, besinnt sich der Spiegel seiner alten Aufgabe und zeichnet die eingesun­kenen, dunklen und aufgerissenen Augen des Holzfällers nach.

Solange die seltsame Erscheinung den Holzfäller gebannt in den Spiegel starren ließ, hatte er den Ring mit fester Hand in der Luft gehalten. Er legt ihn etwas er­schrocken auf den Tisch, reibt sich die Augen und blickt erstaunt in den Spiegel. Aber es bleibt ein gewöhnli­cher Spiegel und die morgendlichen Geräusche schließen sich wieder über dem Kästchen und fügen sich zusammen zu einer Einheit ohne Eindringlinge.

Irritiert nimmt der Holzfäller den Ring auf, legt ihn schnell in das Kästchen zurück und klappt den Deckel hastig zu. Dann packt er das Kästchen und schiebt es weit unter die Matratze seines Bettes. Er schultert seine Axt und erst als er die Tür seines kleinen Hauses hinter sich schließt, klopft sein Herz etwas langsamer. Während gerade noch seine Gedanken in unruhigen Atemstößen umherwirbel­ten, schweben sie jetzt langsam nieder, formieren sich zu einer durcheinander gewürfelten Reihe, die er auf seinem Weg in den Wald Gedanke für Gedanke widerkäuen wird.

 

Bedächtig, in Grübelei versunken, schreitet der Holzfäller in den Wald. Farblos war bis dahin das Leben an ihm vorbeigeglitten. Selten hatte er Besuch in seiner abgelegenen Behausung und selten führte ihn sein Weg in das Dorf. Allmorg­endlich hielt sein Pflichtbewußtsein ihn an der Hand und schickte ihn auf den Weg zur Arbeit. Dort wurde er in die Obhut der Routine übergeben, die ihn beim Ausholen mit seiner gewaltigen Axt nur an den nächsten Schlag denken ließ. Abends fingen ihn die warmen Arme der Müdigkeit auf und setzten ihn auf die kleine Bank vor seinem Haus oder an kalten Winter­abenden in die Stube vor den knisternden und rauchenden Ofen.

Und plötzlich platzt ein Tag in sein Leben, der Grenzen sprengt und Türen aufreißt zu neuen Möglichkeiten. Nur langsam legt der Holzfäller sein Mißtrauen ab und beginnt, an ein neues Leben zu denken, das Leben nicht mehr als geraden Weg zu betrachten, sondern an vielfach verzweigenden und verschlungenen Reichtum zu glauben. Seine Schläge werden kräftiger, seine Arbeit geht schneller voran und ein verloren ge­glaubtes Glücks­gefühl schwillt in ihm an. Die Freude läßt den Tag kurz werden, aber gegen Abend kriecht Angst in seine Glieder. Er fürchtet, sich am Morgen getäuscht, im Schlaf geträumt zu haben und eine Matratze ohne versteckten Schatz wiederzufinden. Und so eilt er nach Hause, stürmt in seinen Schlafraum und reißt die Matratze vom Bett - das Kästchen steht noch da und als er den Deckel aufklappt, liegt auch der Ring unberührt auf dem Spiegel. Während der Holzfäller das Kästchen in seinen Pranken hält, schüttelt ihn ein Lachen, Tränen des Glücks kullern in den Falten seines Gesichts herunter und ein Eichhörnchen huscht erschrocken aus dem Garten, flüchtend vor dem Gelächter, das breit aus dem Haus über den Garten schallt.

Am nächsten Tag spritzt das Wasser beim Waschen nach allen Seiten aus dem Holztrog und erfrischt schlendert der Holzfäller mit weit ausholenden Schritten in den Wald, die Axt geschultert, ein Lied auf den Lippen. Zwei Bauern, die auf dem Weg in das Dorf sind, grüßt er im Vorbeigehen mit ein paar freundlichen Worten und einem kurzen Anheben seiner runden Mütze. Sie bleiben stehen, drehen sich um und schauen ihm verwundert nach. Sie waren ihm schon öfters begegnet, ohne daß er ihren Gruß erwidert hätte. Er galt im Dorf als Einsiedler und komischer Kauz, der sich nur selten in die Dorfschenke verirrte und sich dann still in eine Ecke setzte. Ihre Begegnung mit dem Holzfäller wandert in ihren Gedanken und Gesprächen mit in das Dorf. In den folgenden Tagen und Wochen durch die erzählten Erfahrun­gen weiterer Dorfbewoh­ner verstärkt, wird die seltsame Wandlung des Holzfällers schon bald ein Herzstück im dörflichen Klatsch­. Um wahre Begebenheiten herum, beginnen kleine Über­treibungen und Gerüchte zu wachsen, machen den Holzfäller in tolldreisten Phantasien zum glücklichen Finder eines Goldschatzes oder zum heimlichen Liebhaber einer geistern­den Waldfee.

So vergehen Tage, Wochen und Monate und jeden Abend holt der Holzfäller das Holzkästchen aus dem Versteck, hält es fest umschlossen in seinen mächtigen Armen oder betrachtet die seltsamen Zeichnun­gen und Symbole auf dem Kästchen. Mit seinen groben und kräftigen Händen, die gewöhnlich den Schaft einer Axt umklammern, befühlt er die Verzierungen, betastet das Kästchen mit ge­schlossenen Augen. Bald schon kennt er es auswendig und meint, bei seiner Arbeit die Ornamente auf den Rinden der Bäume zu erkennen. In seine Träume vertieft, malt er sich Reichtum, Schönheit oder Macht aus und ergötzt sich an der Vorstellung der Reaktionen der Dorfbewohner, wie sie ihn bewundern werden, mit offenen Mündern erstaunt die Zeigefinger auf ihn richten oder mit ausgestreckten Händen um Goldstücke betteln werden.

Er geht wieder öfters in das Dorf, plaudert mit den Bauern und den Handwer­kern. In die Dorfschenke kehrt er als gern gesehener Gast häufig ein, erzählt wilde Sagen und Waldgeschichten aus dem tiefen Fundus der Holzfäller-Tradition. Er spaßt mit den Zechbrüdern, stimmt grobe Lieder an und torkelt so manches Mal nach Hause, begleitet und gestützt von Heimkehrern, die in dieselbe Richtung gehen. Der Holzfäller wird fröhlich und aufge­schlossen und nur, wenn ihm die Tischnachbarn zuviele Fragen stellen, verengen sich seine Augen und zieht er sich zurück. Die Gerüchteküche brodelt längst andere Skurrilitäten aus und nur noch wenige Dorfbewohner denken manchmal an die seltsame Wandlung des Holzfällers zurück.

Sooft er aber auch den Ring aufnimmt und vorsichtig in den Händen dreht, der Spiegel bleibt ein gewöhnlicher Spiegel und zeigt kein zweites Mal einen Hinweis auf die magischen Kräfte des Ringes. Während ihn anfangs noch die Träume beschwingt über den Tag schweben ließen, setzt er jetzt ab und zu wieder ruppig auf dem Boden auf und wie ein pummeliger Schwan, der zur Landung ansetzt, spürt er, wie die Träume vom Balast des Zweifels beschwert werden und ihn wieder in den seichten Tümpel seines auslaufenden Lebens plumpsen lassen. Hatte er sich die Er­scheinung eingebildet im Morgentau reifender Senilität?

 

Eines Tages beim geselligen Zusammensein sitzt ein Goldschmied mit am Tisch des Holzfällers. Er ist auf der Durchreise zum Schloß, trägt eine große lederne Tasche bei sich und breitet stolz seine kunst­vollen Werke auf dem Tisch aus. "Um Gottes Willen, faßt' diesen Ring nicht an. Ihre Majestät die Königin hat ihn bei mir persönlich in Auftrag gegeben", sagt er und nickt zustimmend mit dem Kopf, "einen halben Winter habe ich daran ge­arbeitet." Die Dorfbewohner sitzen staunend am Tisch und betrachten das Glitzern und Funkeln der Kerzen auf den Schmuck­stücken. Ein paar stehen um den Tisch herum und werfen sprachlos Blicke über die Schultern der Sitzenden.

Der Gold­schmied greift mit ernster und gewichtiger Miene in seine Tasche und holt eine goldene Halskette hervor. Wie eine Trophäe hält er sie nach oben und fast sieht sie aus wie ein Heiligenschein um seine schweiß­nasse Glatze. "Diese Kette habe ich für die Gräfin von Hohenberg gefertigt", erklärt er und legt sie herablassend vor den Holzfäl­ler. Als der Gold­schmied wieder in seiner Tasche wühlt, ergreift der Holzfäller die Halskette und betrachtet sie sich aus der Nähe und läßt sie sich sachte durch die Hände gleiten. Als der Goldschmied mit spitzen Fingern einen weiteren Ring aus seiner Tasche hervorzieht, sieht er, wie der Holzfäller die Kette in der Hand hält. Erbost fährt er ihn an: "Leg' sofort wieder die Kette auf den Tisch!". Er beugt sich über den Tisch und reißt dem Holzfäller die Kette aus der Hand. Wutschnaubend und mit rotem Gesicht verstaut er hastig die Kette wieder in seiner Tasche, heftig gestikulierend und lamentierend: "Da ist man so gutherzig und zeigt Schätze, die sonst nur Herrschaften vom Hof zu sehen bekommen - und was ist der Dank - jeder Dorftrottel glaubt, mit seinen schmutzigen Händen meine Schätze betatschen zu müssen". Währenddessen sammelt er zappelig seine Schmuckstücke wieder ein, wickelt sie in samtene Tücher, legt sie in die Tasche und ohne sich umzuschauen oder sein Bier zu bezahlen, stürmt er aus der Dorfschenke.

Ein paar Dorfbewohner zucken mit den Schultern, winken ab oder setzen sich wieder an ihre Tische. Andere Dorfbewohner dagegen sehen sich um ihre Schau von Reichtum und Fülle betrogen und beschimpfen den Holzfäller. Die Kinder - heimlich hereingeschlichen - haben ihr Opfer gefunden und spotten mehrstimmig im Refrain: "der Holzfäl­ler haut die Bäume um - und ist für Gold und Geld zu dumm". Sie springen in der Dorfschenke herum, bis ihnen der Wirt Prügel androht und sie herausschickt.

Der Holzfäller sitzt stumm am Tisch. Seine Schultern bewegen sich leicht im Rythmus seines Atmens. Als die Kinder schon eine Weile draußen sind, steht er plötzlich heftig auf und stößt dabei seinen Stuhl um. Er haut mit seiner gewaltigen Faust auf den Holztisch. Unter der Kraft des Schlages erzittert der Tisch und seine Ritzen weiten sich und knarzen. Mit einem seltsamen Glitzern in den Augen, stößt es aus dem Holzfäller heraus: "Ihr werdet es schon noch sehen - seht euch nur vor - einen Holzfäller kann man so nicht behandeln - so nicht".

Seine Worte übertönen den angeschwollenen Geräuschpegel, bilden eine Klammer, die alle anderen Geräusche umfaßt. Dabei waren es nicht die Worte an sich, sondern seine Stimme, die urgewaltig wie eine neu dem Fels entspringende Quelle in mächtigen Strömen herausspritzt. Eine Lebenswut, die sich in vielen Jahren gesammelt hatte, still in ihm heranwuchs und nun aufbrach aus aufplatzenden Sprüngen seines Panzers, den er täglich Schicht um Schicht in endlosen Wiederholungen aufgebaut hatte.

Die Erlebnisse seines gesamten bisherigen Lebens fokussieren sich in diesem Moment im Holzfäller, der mit leuchtenden Augen in der Dorfschenke steht und die Dorfbewohner aufhorchen läßt. Sie verstummen und plötzlich wird es leise und alle Augen sind auf den Holzfäller gerichtet. Dieser bleibt noch einen Moment regungslos stehen und stürmt dann mit weit vornüber gebeugtem Oberkörper heraus. Die Dorfbewohner schütteln den Kopf und wenden sich wieder ihren Tischnachbarn zu. Aber am heutigen Abend bleibt die Stimmung irgendwie gedrückt und eine seltsame Ahnung steht in der Luft.

Der Holzfäller jagt nach Hause, von einer Kraft getrieben, die stärker ist als seine Beine und ihn ein manches Mal stolpern und fast hinfallen läßt. Er hetzt weiter durch die kühle Abendluft und findet erst wieder Ruhe, als er sich mit dem in verschränkten Armen geborgenen Kästchen in seinen Sessel fallen läßt. Mit seinen Händen befühlt er das Kästchen und tätschelt es wie ein Plüschtier. Er spricht leise zu dem Kästchen: "jetzt brauch' ich dich und wenn du wirklich magische Kräfte besitzt, wirst du mich wieder zu einem geachteten Holzfäller machen - einem großen Holzfäller, von dem man mit Respekt spricht".

Seine Träume waren anfangs vielgestaltig und in wildem Tempo übertrumpfte eine Wunschvorstellung die vorangegangene. Mit der Zeit verlangsamte sich der Ablauf der Bilder und was nur schemenhaft vorbeiflog, nahm nun konkrete Gestalt an. Er wollte keinen Reichtum und keine Macht, nichts von alledem, das schon in der Welt verteilt war und keine Grenzen zog zwischen glück­lichen und unglücklichen Menschen, sondern Grenzen zwischen gierigen und geizigen Menschen. Er wollte etwas einmaliges, nur ihm - dem Holzfäller - vergönnt. Und eines Tages hatte er seinen Wunsch gefunden und wußte in dem Moment, daß die anderen Träume nur billige Kopien fremder Träume waren. Er hatte im Wald eine Fichte zu fällen, die lang und schmal nach oben ragte, weit über die anderen Baumwipfel hinaus. Er schaute nach oben, legte die Hand vor die Augen, um sich gegen das hindurchstrahlende Sonnenlicht zu schützen und spürte, wie er Neid empfand, die Welt einmal von oben zu betrachten, in die Ferne zu blicken und die Grenzen der Welt zu sprengen, so weit es die eigene Sehkraft ermöglicht. Seit diesem Tag wußte er, er möchte fliegen können, wie ein Vogel im Wind tanzen und über den Baumkronen vergnügte Purzelbäume schlagen.

Der Holzfäller atmet tief durch, setzt das Holzkästchen auf den Tisch, öffnet es und nimmt den Ring heraus. Langsam streift er den Ring auf den Ringfinger der linken Hand. Der Ring fängt an, mit hellbläulichem Licht zu schimmern. In rythmischen Abständen verdichtet sich die Farbe zu einem tiefdunklen, erwartungsvollen Blau. Der Holzfäller erhebt seine Stimme und sagt feierlich: "ich möchte fliegen können und der Schwerkraft der Mutter Erde entfliehen". Der Ring pulsiert schneller und rote Schlieren wandern immer zahlreicher um den Ring. Sie reißen sich vom Ring los und umspannen den Holzfäller. Rote Streifen pulsieren um den Holzfäller und er spürt, wie sein Körper leichter und leichter wird. Immer schneller rotiert ein wildes, blutrotes Netz um den Holzfäller, er wird vom Stuhl in die Höhe gerissen und mitten im Zimmer bleibt er in der Luft hängen, während der Ring allmählich wieder seine blaue Farbe annimmt.
 

Fassungslos schaut der Holzfäller auf seine in der Luft schweben­den Füße. Er rudert mit den Armen und stößt mit dem Kopf an die Decke. Er krallt sich mit seinen Fingern in den Ritzen der Holzdielen fest und zieht seine Beine an, bis er kopfüber an der Decke hockt. Unsicher blickt er nach unten und fürchtet, jeden Moment herabzustürzen und das Genick zu brechen. Weisheiten, die soeben noch wohlgeordnet in ihren heimeligen Gefäßen Jahrzehnte­ alter Lebens­erfahrungen saßen, schrecken auf, starren sich bestürzt an, schreien durcheinander, streiten sich um neue Naturgesetze und lassen den Holzfäller wie angewurzelt an der Decke kleben. Dem Holzfäller steigt das Blut in den Kopf und ihm wird schwindlig. Nicht nur, daß sein Körper sein Gewicht verloren hätte, die Erde scheint ihn regelrecht abstoßen zu wollen, zu verbannen von dem Planeten, der sich liebevoll an seine Kinder schmiegen möchte. Er kriecht wie eine dicke Küchenschabe zu der Tür, streckt langsam seine zitternden Beine aus, ergreift kopfüber die Klinke und öffnet die Tür. Die Nachtluft züngelt frisch herein, lockt ihn mit kalten Fingern nach draußen.

Der Holzfäller hievt sich über den Türrahmen und gleitet langsam in das Freie. Die Nacht ist hell und der Mond scheint sanft auf den schwebenden Holzfäller, der nun über seinen Garten treibt und langsam nach oben driftet. Zuerst mit Schwimmbewegungen, dann mit immer wilderen Armbewegun­gen und hilflosem Strampeln versucht er, seinen Flug zu kontrollieren, dem Boden wieder näherzukom­men oder wenigstens die Richtung zu bestimmen, aber seine ganze Fuchtelei endet nur in Schweißperlen, die sein Gesicht befeuchten. Er steigt weiter auf und kann jetzt schon auf das Dach seinen Hauses sehen, während er von einem leichten Westwind Richtung Dorf getrieben wird. Wehmütig und verängstigt schaut er auf sein kleines Haus hinunter und nimmt in Gedanken Abschied von seinem Haus, dem Haus eines Holzfällers, der sich mehr herausnahm, als ihm zustand und nun davonschwirren wird in den Nachthimmel. Eine dicke Hummel, die sich für einen Adler hielt und in luftigen Höhen verenden wird.

Schlagartig fällt ihm ein, daß er noch den Ring trägt. Er streift ihn vom Finger und läßt ihn in die Tiefe fallen. Nichts passiert, lediglich mit einem leichten Rascheln empfängt ein Busch den Ring und verschluckt ihn in schwarzer Hülle. In seiner Verzweiflung fängt der Holzfäller wieder an, zu rudern, mit den Armen zu schlagen und mit den Füßen zu treten. Als er nach einer Weile atemlos nach Luft schnappt und erkennen muß, daß er weiter an Höhe gewonnen hat und nach Osten driftet, fügt er sich in sein Schicksal und dreht sich so, daß er auf den Wald blicken kann. Nur schemenhaft erkennt er ein paar Lichtungen und den Umriß des Waldes, der sich weit gegen Westen zieht. Er streckt den Arm aus und schluchzend ruft er dem Wald zu: "Adieu, vergiß mich nicht". Sein Ruf verhallt ungehört und zwei Rehe, die am Waldrand äsen, heben nicht einmal ihre Köpfe.

Der Holzfäller gleitet weiter lautlos durch die Nacht, versucht, es sich gemütlich zu machen. Still verfolgt er die vorbeiziehen­den schwarzen Flecken auf dem Boden, als er bemerkt, daß er im Augenblick die ersten Häuser des Dorfes überfliegt. Mühsam dreht er sich wieder nach vorne und erkennt, wie er direkt auf den Kirchturm zusteuert. Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, daß beim Anblick eines Gotteshauses sein Herz plötzlich eine Oktave höher schlagen würde. Seine Augen klammern sich an den scharfen Umriss, der sich gegen den Himmel abzeichnet und stückchenweise breiter und größer wird. Nur nicht abtreiben jetzt, nur nicht vorbeischrammen und die letzte Chance auf eine Rückkehr verpassen.

Um Haaresbreite hätte der Holzfäller den Kirchturm überflogen, aber zielsicher packt er zu und erwischt die dünnen Blechkanten des Wetterhahns. Kreischend windet sich der Wetterhahn um seine verrostete Achse und schüttelt den Holzfäller fast wieder ab. Der kann sich jedoch mit letzter Anstrengung festhalten und nach unten ziehen, bis er auf dem spitzen Dach des Kirchturms sitzt und mit dicken Armen den Wetterhahn umschließt. Leise trickelt Blut von seinen Händen herunter, die er sich an den scharfen Kanten aufgerissen hat. Den Holzfäller kümmert es wenig, er legt seine heiße Wange an das kalte Gesicht des Wetterhahns und wartet, bis sein Puls wieder ruhig und gleichmäßig ist.

Das Dorf ist dunkel, die Strassen verlassen. Die Schmach nicht scheuend, füllt der Holzfäller seine Lungen und möchte um Hilfe rufen. Das Krächzen, das seiner Kehle entschlüpft, purzelt schwach das Kirchdach hinunter und verschwindet lautlos in der Regenrinne. Der zweite Versuch, schon kräftiger, reicht bis an die ersten umstehenden Häuser heran. Der dritte Versuch schafft es, in ein zwei Schlafzimmer zu dringen und den Schlafenden den Traum aus den Köpfen zu reißen und den Schlaf zu rauben. Bald schon flackert im ersten Fenster Kerzenlicht und da die Hilferufe nicht wieder schwacher werden, treten schlurfende Schritte in das Freie und ziehen schlaftrunkene Lichttrauben müder Fackeln mit sich.

Es dauert eine Weile, bis sie seinen Rufen folgend den Holzfäller entdecken. Erst als sie ihre Fackeln wieder löschen und gegen den dunklen Himmel spähen, können sie seine klumpigen Umrisse an der Kirchturmspitze erkennen. Und erst als er ihnen mit einem Arm zuwinkt, begreifen sie, daß das Gebilde auf dem Kirchturm wirklich der Holzfäller ist.

"Was machst du denn da oben?", ruft jemand nach oben.

"Holt mich erst hier herunter!", schallt die Antwort zurück. Eifrig werden Leitern herangeholt, aber keine ist lang genug, um bis zur Spitze zu reichen.

"Werft mir ein Seil zu, aber lang muß es sein", ruft der Holzfäller schließlich. Der kräftige Sohn des Gastwirts klettert daraufhin auf das Dach des sich seitlich erstreckenden Kirchen­schiffes und wirft dem Holzfäller von dort ein Seil zu. Er bindet sich das Seil um und läßt das eine Ende des Seils nach unten fallen. "Jetzt bindet es an seinem Pflock fest und fragt nicht warum", kommandiert der Holzfäller. Sie folgen seinen Worten und kaum daß sie fertig sind, stößt er sich vom Kirchturm ab. Ein paar Beobachter schreien auf, wenden sich schon ab, um den Sturz nicht mitansehen zu müssen. Als aber kein Aufschlagen zu hören ist, schauen sie wieder nach oben und sehen staunend den Holzfäller am straff gespannten Seil hängen. Mit vereinten Kräften holen sie das Seil ein und ziehen ihn auf die Erde. Vier Männer halten ihn unten und binden ihn am Pflock fest.

Der Holzfäller erzählt vom Ring, den er im Wald gefunden habe und ihn beim Anstecken plötzlich in der Luft schweben ließ. Wäre nicht die vor­angegangene Rettung gewesen und die Seile, die ihn noch immer am Boden festhielten, so würden die Dorfbewohner ob seiner Flunkereien auseinander­laufen. So aber lauschten sie seinen Worten und betroffen klopften sie ihm auf die Schulter und brachten ihn in einer seltsam anmutenden Prozession in sein Haus, fesselten ihn an sein Bett und gingen tuschelnd wieder in das Dorf zurück.

Mit dem Schmied kommen sie am nächsten Morgen zum Holzfäller, der in der Nacht kein Auge zugetan hat und erschöpft und willenlos ihren Vorschlägen folgt. Als sie ihn probeweise losbinden, schnellt er nach oben gegen die Decke und schlägt sich den Kopf an. "Solange das nicht besser wird, müssen wir dafür sorgen, daß du uns nicht weg­schwebst", sagt der Schmied und zeigt zwei schwere Eisenkugeln vor, die er vorbereitet und mitgebracht hat. Sie zerren den Holzfäller nach unten und der Schmied befestigt mit zwei Eisenschnallen die Kugeln an den Fußknöcheln des Holzfällers. Als sie ihn wieder loslassen, bleibt der Holzfäller aufrecht auf dem Boden stehen. In irgendeiner eigentümlichen Weise verrenkt und leicht vor und zurück schwankend, aber nach mehreren Versuchen schafft er es, kleine schlurfende Schritte zu machen. Die Dorfbewohner fragen ihn noch nach seinen Wünschen, sprechen ihm gut zu und verlassen ihn wieder.

So beginnt der Lebensabend der Holzfällers. Seiner Pflichten entbunden, hängt er jeden Tag an seinen Eisenkugeln. Schleppt sich manchmal niedergeschlagen in den Wald, um sich an irgend­einer Lichtung unter einen vom Blitz gespaltenen und gebeugten Baum zu klemmen, wie ein knorriger Waldgeist auf der feuchten Baumunterseite klebend und in den Himmel schauend.

Die Hoffnung, von der Erde wieder angenommen zu werden, hatte er bald verloren. Nach tagelanger Suche hatte er den Ring zwar gefunden, aber selbst als er ihn vom Schmied zu einem Klumpen Metall schmelzen ließ, blieb der Holzfäller federleicht, immer mit dem Drang nach oben, so hilflos unglücklich nach den Sternen greifend. Dieser Tag beim Schmied war sein letzter Besuch im Dorf. Er war zum Gespött der Kinder geworden, die ihre Eltern anflehten, ihn doch einmal nur als Drachen im Herbstwind fliegen zu lassen. Die dem Kindesalter entwachsenen Dorfbewohner mieden ihn, da sie sein so plötzlich hereinbrechendes Unglück nicht auch auf sich verteilt wissen wollten.

Der Holzfäller selbst fügt sich gebrochen seinem Schicksal und manchmal nur, wenn der Wind in den Bäumen raschelt, das Eichhörn­chen geschwinde in die Höhe wieselt, träumt er vom Fliegen. Befühlt mit seinen Händen seine Fußfesseln und spielt mit dem Verschluß. Eines Tages, nimmt er sich vor, wird er ein zweites Mal fliegen und es diesmal bis zum Ende genießen.

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