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Nachtgedanken

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28.07.18 18:48
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
Der schwache Schimmer des blassen Scheins des Vollmonds fiel durch das kleine Fenster in meinem Zimmer. Ansonsten war draußen absolute Finsternis vorherrschend, kein einziger Stern war zu sehen, einzig und allein der Mond, der mich mit seiner hässlichen Fratze zu beobachten und hämisch zu grinsen schien.
Ich saß an meinem Schreibtisch, die Feder in der Hand, tief über einen Stapel Pergamentpapier gebeugt und war intensiv mit der Arbeit an meinem neuen Theaterstück beschäftigt. Es sollte das beste Werk werden, das ich je verfasst habe und mich damit unsterblich machen. Es war leise, ganz und gar leise. Die Straße, die ich von meinem Raum durch das Fenster gut beobachten konnte, war menschenleer. Die Laternen waren zu solch später Stunde nicht mehr in Betrieb. Man sah keinen Wachtmeister, keinen Gauner und auch kein Getier. Die Wege waren verweist, das einzige Geräusch, welches zu vernehmen war, war das Kratzen meiner Feder über das raue Papier. Dort saß ich nun bei Kerzen-und Mondschein in der finstersten Nacht und kann doch von mir aufrichtig behaupten, versucht zu haben, mich einzig und allein auf meine Arbeit zu konzentrieren. Dies war mir jedoch in Anbetracht der Umstände ein unmögliches Unterfangen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich meine Frau verloren. Wahrlich, hatte ich sie nicht nur verloren, sondern sie ward mir genommen. In der Vergangenheit hatte sich unser Verhältnis bedingt durch unterschiedliche Auffassungen über Moral und Ethik, der Arbeit und dem Geldverdienen und der Zärtlichkeit als belastet herausgestellt. Während ich mich nur umso mehr auf das Schreiben konzentrierte, zog sie aus alledem ihre ganz eigene Konsequenz und entschied sich, mir einfach wegzusterben, mich ohne um Erlaubnis bittend, zu verlassen. Dies war ihr ganz persönlicher Racheakt. Sie ließ mich absichtlich alleine, wo sie doch genau wusste, dass dies meiner angeschlagenen Seele besonders zusetzte.
Gut entsinnen konnte ich mich stets an das Mädchen. Ihr Name war Elsa, sie war von zierlicher Gestalt, blonde Mähne und smaragdgrüne Augen. So sehr mich ihr Äußeres auch anzog, so missfiel mir doch häufig ihr Charakter. Zu eigensinnig, zu energisch und rebellisch verhielt sie sich mir gegenüber. Dennoch hätte ich nie gewollt, dass das arme Kind stirbt. Genau aus diesem Grund tat sie es wahrscheinlich dennoch, um mir eine weitere schmerzhafte Niederlage beizufügen. So sehr ich auch mein Gehirn anstrengte, mir wollte nicht einfallen, was sich am Tag ihres Ablebens zutrug. Jener Tag war wie aus meiner Erinnerung gestrichen. Selbst die Einträge in meinem Tagebuch, welches ich bereits seit geraumer Zeit führte, gaben mir keinen Aufschluss darüber, was sich wirklich zugetragen, warum Elsa in Wahrheit starb. Jeden einzelnen Tag habe ich ausführlich dokumentiert und verewigt, doch an ihrem Todestag, dem 30. Januar, war kein Eintrag erfolgt. Kein einziges Wort schrieb ich in dem für diesen Tag vorgesehenen Abschnitt, aus mir vollkommen unersichtlichen Gründen. Mein Tagebuch diente dazu, meinen Ärger über Elsa freien Lauf zu lassen, wenn sie mich aufs Neue aufregte und es zu einem erbitterten Streit kam. Seit jenem Tag verliefen alle meine Tage gleich. Also schrieb ich in die Spalte für den jeweiligen Tag immer nur ein Wort: SCHREIBEN
Nachdem ich den Tod Elsas gemeldet hatte, ohne Angabe über die Todesursache wohlgemerkt, da diese mir schließlich selber unbekannt war, wurde ihre Leiche eiligst davongetragen, in einem Sarg untergebracht und möglichst bald beigesetzt. Niemand interessierte sich für die Todesursache. Ich gewährte dem Mädchen ein anständiges Begräbnis, um ihr somit die letzte Ehre zu erweisen, denn wenn es an einem bei mir nicht mangelte, dann am Geld. Dafür jedoch an zwischenmenschlichen Beziehungen, Liebe, Geborgenheit und Glückseligkeit. Nach Elsas Tod verließ ich kaum noch das Haus und suchte nie wieder den Kontakt zu anderen Frauen. Sie und ich hatten uns oft gestritten, dennoch liebte ich sie von ganzem Herzen. Wie sehr merkte ich jedoch erst, als sie fort war. Wie sehr ich mir doch wünschte, sie würde noch leben. Wie sehr ich mir doch wünschte, hinter das Geheimnis ihres unergründlichen Ablebens zu kommen. Nun saß ich also alleine in der Dunkelheit und arbeitete. Nach ihrem Tod habe ich mich dazu entschlossen, mein gesamtes Leben dem Schreiben unterzuordnen, ohne auf persönliche Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Ich verschrieb mein vergängliches und ohnehin bedeutungsloses Leben etwas, das größer ist als ich selber und die Dauer meiner leiblichen Existenz überschreiten würde, einem Ideal! Ich gab meine Seele freiwillig dem Schicksal in die Hände. Ich schrieb, um nach meinem eigenen Ableben in Form von Wörtern, Schriften und dargelegten Gedanken und Fantasien weiterleben zu können, um Unsterblichkeit zu erlangen. Ich schrieb, um zu vergessen, wie elendig mir zumute war und wie sehr mich der Verlust meiner großen Liebe schmerzte. Doch in meinen Schriften suchte Elsa mich heim. Sie tauchte immer wieder in Form von niedergeschriebenen Gedanken und fiktiven Charakteren auf. Sie ließ mir keine Ruhe, machte eine vollständige Verschreibung zur Arbeit meinerseits unmöglich und beobachtete mich weiterhin durch das Papier, auf das ich schrieb. Auch nach ihrem Tod verfolgte sie mich, was wahrscheinlich auch ein Teil ihres Racheakts gegen mich war. Ihrer Rache dafür, dass ich sie nicht immer gut behandelte. Zunächst starb sie einfach so und danach versuchte sie meine Träume von der Unsterblichkeit zunichte zu machen. Sie wollte mich zu sich rufen, um mich zu bestrafen, um mich bis in alle Ewigkeit zu foltern. Der Gedanke daran ließ mich erschaudern, doch ich schrieb und schrieb immer weiter. Die Zeit rann dahin, verschwamm mit meiner Arbeit, ward eins mit mir. Schließlich fiel ich schweißgebadet und völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf. Ruhig schlafen würde ich ohnehin erst wieder können, wenn das große Rätsel gelöst wäre, wenn ich endlich die Wahrheit über ihren Tod erführe.
Das Klopfen am Fenster weckte mich. Zunächst leise, dann lauter, dann noch lauter, bis ich endlich meine blutunterlaufenen Augen öffnete. Ich stellte fest, dass es draußen immer noch dunkel war. Finsterste Nacht. Langsam erhob ich mich von meinem Arbeitsplatz, an dem ich eingeschlafen war und sah verwirrt zum Fenster, um den nächtlichen Besucher ausfindig zu machen. Oder war es nur Einbildung? Zu meinem Erstaunen hockte draußen auf der Fensterbank vor meinem Fenster eine gigantische Eule, die wahrlich mehr einem Adler als einer Eule glich. Einzig das Gefieder und die kreisrunden gelben Augen bestätigten mich in der Annahme, dass es sich tatsächlich um eine Eule handelte. Ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich tat, wozu ich aufgrund der Müdigkeit auch nicht in der Lage war, öffnete ich das Fenster und sah dem Vogel zu, wie er hinein geflogen kam und ein heftiger Windstoß den Raum erfüllte. Von der kalten Luft endgültig hellwach, schloss ich das Fenster wieder und widmete mich dem unerwarteten Gast. Die Eule schien sich genau überlegt zu haben, wo sie Platz nehmen sollte und ließ sich schließlich auf dem Schachbrett, das auf einem hohen Schrank lag, nieder. Von dort aus sah das Tier auf mich herab, der riesige Schatten, den es warf, hüllte mich in Dunkelheit, die weder das blasse Licht des Mondes, noch die sich auf meinem Schreibtisch befindende, mittlerweile halb abgebrannte Kerze, zu durchdringen vermochten.
"Was willst du hier?", fuhr ich den Vogel genervt darüber, dass er mich meines kostbaren Schlafs beraubt hatte, an, natürlich ohne eine Antwort zu erwarten, denn ich war zwar ein Schriftsteller, mitnichten jedoch abergläubisch. Zu meinem Entsetzen ließ die Eule jedoch wirklich eine Antwort folgen: "Dir die Antworten auf all deine Fragen liefern."
Seltsamerweise war es weniger die Tatsache, dass das Tier sprechen konnte, dich mich derart beunruhigte, sondern die Art und Weise, wie es sprach. Mit einer solchen Ruhe und sachlichen Nüchternheit, dass es mein rastloses Herz ängstigte.
"Du...du sprichst", stammelte ich nachdem ich meiner kurz anhaltenden Schockstarre entgangen war.
"Das überrascht dich doch nicht", sagte die Eule ruhig. Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich ehrlich war, überraschte es mich wirklich nicht. In meinem Leben hatten sich so viele unerklärliche Ereignisse zugetragen, wie Elsas Tod, dass ich mittlerweile nichts mehr für unmöglich hielt. Und so war es auch nicht auszuschließen, dass eine Eule von der Größe eines Adlers sprechen konnte.
Der Vogel wiederholte, dass er mir die Antworten auf all meine Fragen liefern würde.
"So, so", meinte ich. "Und woher willst du das wissen?"
Meine Frage ignorierend fuhr die Eule fort: "Du lebst alleine!"
Ich fasste es als Frage auf, obwohl die Klarheit in ihrer Stimme verlauten ließ, dass es sich bei der Aussage nicht um eine Frage, sondern um eine Feststellung handelte. "Ja", antwortete ich. "Meine Frau ist gestorben, seitdem lebe ich alleine."
"Kannst du gut alleine leben?"
Ich überlegte einen Moment. Ich hasste die Einsamkeit, mir fehlte Elsa sehr. Dennoch genoss ich die Einsamkeit auch, da ich viel Zeit zum arbeiten hatte. Ich hasste und liebte es, alleine zu sein, wie ich auch Elsa hasste und liebte, wie ich auch mich selbst hasste und liebte, wie ich, aus unerklärlichen Gründen auch den nächtlichen Besucher hasste und liebte. Also sprach ich: "Ja, das kann ich, denn ich kann mich gut auf das Schreiben konzentrieren."
"Kannst du das wirklich?"
Erneut geriet ich in Erklärungsnot. Die Eule brachte mich ganz schön in Bedrängnis. Ich dachte daran, wie mich Elsa auch beim Schreiben verfolgte und mir keine Ruhe ließ.
"Denk gut nach bevor du antwortest", warnte mich die Eule, nachdem ich eine Zeit lang nichts gesagt hatte. Ich entschied mich dazu, ihr die Wahrheit zu sagen. Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir, dass es besser wäre, ehrlich zu sein, wenngleich ich die Quelle dieser Vernunft auch nicht auszumachen vermochte.
"Nein. Ich würde gerne, doch es fällt mir enorm schwer. Ich bin in Gedanken stets bei meiner Frau. Ungewollt schleicht sie sich immer in meine Geschichten ein und tadelt mich. Ich wünschte, ich könnte sie loswerden, aus meinen Erinnerungen streichen, mich von der Qual befreien."
Die Eule rührte sich nicht, während ich bei diesen Worten eine Träne unterdrücken und mich räuspern musste. Wie eine Skulptur thronte sie auf meinem Schrank und durchdrang mich mit ihrem durchbohrenden Blick. Ich fühlte mich nackt, ausgeliefert, hilflos und sehr unbehaglich.
"Liebst du deine Frau?"
"Über alles auf der Welt", sagte ich, diesmal ohne nachdenken zu müssen. Vom Schweigen der Eule fühlte ich mich unter Druck gesetzt und ergänzte noch: "Naja, also meistens. Also...wenn sie mich nicht aufregte, dann ja."
Damit gab sich der nächtliche Besucher zufrieden. "Wie starb sie?"
"Ich...ich weiß es nicht", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Das will ich doch auch um jeden Preis herausfinden!"
Die Eule sagte: "Du hattest oft Auseinandersetzungen mit Elsa. Du hast sie gehasst! Und dir gewünscht sie wäre tot, damit du in Ruhe deiner Arbeit nachgehen konntest, nicht wahr?"
Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich hatte den Namen meiner Frau in der Gegenwart der Eule nicht erwähnt und auch nicht von unseren zahlreichen Auseinandersetzungen berichtet und doch wusste das Tier davon. Genauso wie es fast alles zu wissen schien. Es konnte wahrlich mein Innerstes durchschauen, als wäre ich durchsichtig. Es kannte sich besser mit meiner verborgenen Gefühlswelt aus als ich selber. Es hatte also ohnehin keine Zweck der Eule etwas zu verheimlichen. Dennoch wurde sie mir unverschämt und ich fühlte mich in meinem Stolz angegriffen. Im eigenen Haus würde ich nicht zulassen, dass ein Fremder so mit mir redet, selbst wenn es eine scheinbar allwissende Eule war. Die Gestalt wurde mir unheimlich.
"Du wünschtest dir, dass sie stirbt", wiederholte die Eule, diesmal besonders eindringlich, ohne jedoch, was das beängstigende war, die Ruhe in ihrer Stimme zu verlieren. Tatsächlich war es gerade diese Ruhe und Sachlichkeit, die mich rasend machte.
"Das...das ist nicht wahr", schrie ich plötzlich lauthals auf. Die Wut packte mich. "Was ist das hier, ein Verhör? Du sagtest mir, du hättest Antworten auf meine Fragen und doch durfte ich noch keine einzige Frage stellen! Es reicht! Woher weißt du das alles, du Teufel? Sag, wer du wirklich bist und was du von mir willst! Rede du verdammtes Mistvieh!"
Seelenruhig gab die Eule zurück: "Die Antworten erfährst du zwar durch mich, doch du musst selber darauf kommen, denn ich bin die Wahrheit an sich!"
Der Vogel breitete die Flügel aus und machte sich zum Flug bereit. Ein kräftiger Windstoß stieß plötzlich das Fenster auf und das Tier flog heraus. Ich eilte zum Fenster und schrie hinaus in die Dunkelheit: "Kommst du wieder?"
Keine Antwort. Die Eule war bereits in der Finsternis entschwunden. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich die Augen des Tieres irrtümlicherweise für gelb gehalten hatte, waren sie doch eigentlich smaragdgrün gewesen. Durch den kräftigen Durchzug wurden die Seiten meines Tagebuches, das neben dem Blätterstapel meines Manuskripts aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag, wie von Geisterhand zurückgeblättert. Noch völlig emotional aufgewühlt und in Gedanken bei den Worten der Eule (wollte ich wirklich, dass Elsa den Tod findet, hatte die Eule nicht doch recht?), schloss ich das Fenster wieder und setzte mich zurück an den Schreibtisch. In meinem Tagebuch war die Seite vom 29. und 30. Januar aufgeschlagen. Am 29. hatte ich von einem besonders heftigen Streit mit Elsa berichtet. Ich wollte gerade das Buch zuschlagen, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Mir fiel auf, dass auf der vormals leeren Seite des 30. Januar auf einmal drei Worte geschrieben standen: ZU WEIT GEGANGEN
Die verschnörkelte Handschrift war ohne Zweifel die meinige, doch hatte ich doch niemals etwas für diesen Tag eingetragen! Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter. Mir wurde bewusst, dass ich Teil eines großen Verrats geworden war, dass eine hinterlistige Verschwörung gegen mich im Gange war. Und ich hatte auch eine Vermutung, wer dahinter steckte. Bald darauf schlief ich wieder am Schreibtisch ein, da mich die Müdigkeit übermannte. Doch mein Schlaf sollte nicht lange andauern...
Es kratzte. Zunächst leicht, dann stärker und nochmal stärker. Ich schreckte hoch und sah an mir herab. Auf dem Boden kauerte eine fette Ratte, die aufgrund ihrer Größe eher einer Katze glich. Mit ihren Klauen hatte sie an meinem Bein gekratzt. Das Monster hatte smaragdgrüne Augen, die mich anstarrten. Ich sprang von meinem Stuhl auf und trat nach dem Vieh, doch es war entgegen meinen Erwartungen wesentlich schneller und beweglicher als der stämmige Körper erahnen ließ. Meine wütenden Fußtritte verfehlten die Ratte, woraufhin ich begann zu schimpfen und die Kreatur zu verfluchen. Das Vieh sprang mit einem Satz auf den Schrank und landete auf dem Schachbrett, wo kurz zuvor auch die Eule gesessen hatte.
"Wie bist du denn hier rein gekommen?", schrie ich voller Wut. Ich spürte mein Herz hämmern und wie wild pochen und befürchtete, es würde meinen Brustkorb sprengen.
Die Ratte sah auf mich herab und sagte, ohne auf meine Frage einzugehen: "Du näherst dich der Wahrheit."
Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen. Dass die Ratte zu sprechen imstande war, versetzte mich nicht in Aufregung. Vielmehr, dass sie mit derselben ruhigen und sachlichen Stimme sprach wie die Eule.
"Du kannst also auch sprechen", stellte ich resigniert fest.
"Hättest du Elsa wahrhaftig geliebt, hättest du sie besser behandelt. Doch du warst nur auf deine Arbeit fokussiert. Du hast alles geopfert für dein Ziel durch deine Werke Unsterblichkeit zu erlangen. Du hast vor Nichts Halt gemacht", warf mir der nächtliche Besucher vor.
"Was ist das für ein Spiel", stammelte ich voller Entsetzen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
"Erinnerst du dich an die Wunden, die am Leichnam deiner Frau entdeckt wurden?", fragte die Ratte. Sie sah von oben auf mich herab und durchbohrte mich mit ihren aufmerksamen Augen.
"Ja...ich erinnere mich."
"Was für Wunden waren es?", bohrte die Ratte weiter nach.
Ich überlegte. "Ich weiß es nicht", log ich. Dabei wusste ich es genau.
"Lüg dich nicht selber an. Du weißt es ganz genau. Du kannst vor mir nichts verbergen."
Ich musste einsehen, dass meine nächtlichen Besucher mich durchschauten und jedweder Widerstand zwecklos war. Also blieb mir nichts anders übrig, als die Wahrheit zu sagen, da die Ratte ohnehin merkte, wenn ich log und sie mich nicht eher in Ruhe lassen würde, als bis ich die Wahrheit ausgesprochen hätte.
"Es...es waren...Messerstiche wie die Kriminalpolizei festgestellt hatte. Doch denen fehlten die Möglichkeiten, weiter nachzuforschen und es interessierte sie auch nicht."
"Es wurde nachgeforscht. Du hast davon jedoch nichts mitbekommen, da du als Opfer und zeitgleich auch als Mitglied der gehobenen Gesellschaft nicht infrage für ein solch fürchterliches Verbrechen kamst. Deine Frau wurde ermordet!"
"Oh Gott", stöhnte ich auf und schlug mir die Hand vor den Mund. Zwar hatte ich dies von der Polizei auch schon gehört, jedoch machte mir erst dieser nächtliche Besucher klar, was dies in Wahrheit bedeutete. Eine ungeheuere Übelkeit bemächtigte sich meiner und da meine Beine nicht länger vermochten, das Gewicht meines Körpers zu tragen, ließ ich mich, am ganzen Leibe zitternd, auf meinem Stuhl nieder. Als ich mich wieder gefasst hatte, bat ich den Gast: "Bitte, oh Ratte, sage mir die Wahrheit! Wer könnte nur so etwas tun?"
Die Ratte entgegnete: "Es ist nicht an dir, Fragen zu stellen! Wer bist du?"
Mir wurde schwindelig. "Ich weiß es nicht!"
"Du willst es nicht wissen. Du willst dich nicht der Wahrheit stellen. Doch wir lassen dich nicht eher in Ruhe, lassen dir keine Rast, bis du es herausgefunden hast."
Eindringlich sah mich die Ratte an. Ich kehrte ihr den Rücken und widmete mich wieder meinem Tagebuch. Ich erschrak heftig als auf der Seite des 30. Januar ein weiteres Wort in meiner Schrift geschrieben stand: MESSER
Wie in Trance und ohne zu wissen, was ich tat, öffnete ich die Truhe, in der sich meine Wertgegenstände befanden, die sich zu meiner Rechten befand und nahm ein großes Schlachtermesser hervor, an dessen scharfer Spitze getrocknetes Blut klebte. Jedoch konnte ich mich nicht entsinnen, es jemals benutzt zu haben. Aber woher kam das Blut? Jemand musste es benutzt haben, ohne mich darüber in Kenntnis gesetzt zu haben. Doch wer war dieser jemand? Etwa sie, Elsa? Oder ein Fremder? Oder etwa doch...
"Unmöglich", schrie ich. Das Blut in meinen Adern gefror und ich konnte das Messer nicht länger halten. Es entglitt meinen schweißnassen Fingern und fiel klirrend zu Boden. "Was ist das für ein Spiel", schrie ich mit vor Wut hochrotem Kopf, geweiteten Augen und deutlich am Hals hervortretenden Adern. Ich drehte mich in Richtung Schrank um, doch die Ratte war nicht mehr da. Ich sah mich im Raum um, doch ich war alleine. Nur der Mund, der auf mich herabschien und begann, so kam es mir jedenfalls vor, smaragdgrün anzulaufen. Die Sehnsucht nach Elsa und der Hass auf den Mörder machten mich benommen und ehe ich mich versah, knallte mein Kopf hart auf den Schreibtisch und ich schlief ein drittes Mal ein.
Ein Basilisk suchte mich heim. Eine gigantische Schlange, mit Zähnen, jeder so groß wie ein Schlachtermesser, an deren Enden getrocknetes Blut klebte, mit smaragdgrünen Augen. Das Fabelwesen entstammte der Dunkelheit, eine Kreatur zum Fürchten. Ein Monster, das sich an mir rächte, Elsa! Der Basilisk sagte drei Worte und drei Worte sagte er immer fort und immer fort, mit einer solchen Ruhe und Sachlichkeit, dass es mich beinahe um den Verstand brachte. Auf einmal gesellten sich die Eule und die Ratte dazu und bildeten einen Chor. Die Worte, die sie alle drei gleichzeitig und immer wieder aussprachen, waren: "Wer bist du? Wer bist du? Wer bist du?"
Im Schlaf schrie ich auf und fiel vom Stuhl. Auf dem Boden liegend wachte ich auf. Noch völlig benommen sah ich mich um. Direkt neben mir lag das Messer. Ich sah aus dem Fenster. Der Mond war tatsächlich smaragdgrün. In meinem Kopf spielte sich eine Szene immer wieder ab, bruchstückhaft. Ein gewisses Bild tauchte in Gedanken auf und verschwand dann wieder so schnell wie es gekommen war. Ein kurzes Aufblitzen, nichts weiter mehr. Alles drehte sich, alles verschwamm miteinander und auf meine Wahrnehmung war kein Verlass mehr. Ich sah Elsa, ich hörte Schreie, ich hatte ein Messer. Blut, Stich, Wut, Angst...Tod! Leiche, Schuld, Unschuld, Begräbnis, Einsamkeit, Arbeit...Wahnsinn!
Elsa! Elsa! Elsa! Streit! Streit! Streit! Zu weit gegangen! Zu weit gegangen! Zu weit gegangen! Messer! Messer! Messer! Wer bist du? Wer bist du? Wer bist du? Eule! Ratte! Basilisk!
Die Halluzination, die schrecklichen Bilder in meinem Kopf und die schier unerträgliche Übelkeit überforderten mich derart, dass ich in einer Welle aus Schreien und Visionen ertrank. Es dauerte eine Ewigkeit bis ich wieder zu mir kam. Die Sonne war mittlerweile wieder aufgegangen, das Leben auf den Straßen ging weiter seinen gewohnten Lauf, die Kerze auf meinem Schreibtisch vollkommen abgebrannt. Und mit dem Tageslicht kam die Erkenntnis. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen und ich stieß in meiner unendlichen Qual einen erschütternden Schrei aus. Ich hatte die Wahrheit erkannt!
Langsam erhob ich mich von dem kalten Boden und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Mein Tagebuch war noch auf derselben Seiten aufgeschlagen und drei neue Worte standen dort in meiner Handschrift geschrieben: WER BIST DU?
Ich, der sich der Wahrheit endlich gestellt und dieser ins Auge geblickt hatte, nahm die Feder zur Hand und schrieb: MÖRDER
Im Anschluss vernichtete ich all meine unveröffentlichten Arbeiten. Ich zerriss das Theaterstück, an dem die Arbeit schon weit fortgeschritten war, warf die Überreste aus dem Fenster, um sie vom  Wind davontragen zu lassen, warf mein Tagebuch und einige Geschichten, Briefe und Aufsätze in den Ofen und sah zu, wie es verbrannte. Unsterblichkeit durch meine Arbeit wollte ich nicht mehr erlangen, nachdem mir bewusst wurde, was ich einem nahestehenden Menschen angetan hatte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als erneut mit Elsa zusammen zu sein und meine Fehler an einem anderen Ort wieder gut zu machen. Von diesem Wunsch ergriffen, nahm ich das Messer zur Hand, mit dem ich ihr Leben beendete. Ihr Blut sollte sich mit meinem mischen.
"MÖRDER! MÖRDER! MÖRDER!",skandierten Eule, Ratte und Basilisk in meinem Kopf und von Schuldgefühlen und tiefster Reue geplagt, stach ich zu und das Messer bohrte sich tief in mein Fleisch...

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