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Szenen aus einem alternativen Universum

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30.05.18 14:28
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Kannst du noch?

Kannst du noch?
Ich kann nicht mehr, nie mehr. Es ist gut. Nein, widerspricht mir meine innere Stimme. Es war nie gut. Und sie hat recht. Ich halte das hier schon viel zu lange nicht mehr aus. Ich kann das nicht mehr, nie mehr.

Kannst du noch?
Kannst du diese Welt ertragen? Diese Welt, mit all ihren Hässlichkeiten? Als wäre es für dich ein Problem, die Sterbenden, die Schreienden, die Verdurstenden, die Hungernden, die Angeschossenen, jetzt, in diesem Moment. Als würde es irgendjemanden kümmern. Als wäre es für irgendjemanden ein Problem.
Als wäre es für mich ein Problem.

Als hätte das auch nur irgendwas mit meinem Weltschmerz zu tun. Als gäbe es irgendetwas, dass ihn rechtfertigen würde. Dann wäre er nicht so schwer zu ertragen. Dann wäre er fassbar, greifbar, weniger geisterhaft.
Ich kann ihn nicht sehen, aber er ist immer da.

Kannst du noch?
Glücklich, wer ohne ihn lebt. Glücklich, wer nicht immer sehen muss, was er verloren hat. Sein Umfeld, sein Leben, seine Freunde. Als hätte ich nicht schon längst vergessen, was das überhaupt ist!

Ich hoffe, du hast das nicht.

Ich habe mich schon lange zurückgezogen, hinter den Bildschirm, und rede mir ein, dort frei zu sein. Ich selbst zu sein. Wer weiß, vielleicht habe ich ja recht? Ich sehne mich nach ihnen, diesen besonderen Menschen, die dort draußen sind. Jeder ist besonders. Jeder. Und jeder, wirklich jeder ist unerreichbar.
Außer natürlich die, die ich seltsam finde. Komisch, eklig. Und dabei verdränge, wie ich noch vor kurzer Zeit zu jedem ja gesagt hätte, zu jedem. Aber in dem Moment, in dem ich weniger verzweifelt bin, nach vorne sehe, weiß, dass es klappen könnte, in dem Moment werde ich wählerischer, denn ich habe mehr Auswahl.
Jedenfalls mehr als vorher.

Und dann?
Je mehr ich habe, desto mehr will. Es widert mich an. Ich widere mich an.
Kannst du noch?

Ich kann nicht mehr, konnte es nie.

Nicht jetzt, bitte

Wir stehen auf der Straße, es regnet. Das Vergessen strömt in die Gullys. Man sollte das Prasseln hören können.

Aber ich höre es nicht, wir hören es nicht. Denn wir schreien. "Erkennt uns endlich an! Wir sind das Niemandsland!" Die allmonatliche Demo geht weiter. Es ist großartig. Wir werden es schaffen! Wir schaffen es! Wir gründen unseren eigenen Staat!

Ich halte das Transparent, auf dem steht: "Für unser Land. Für eine neue Welt. #Neuland" Anna hält das andere Ende. Sie brüllt mit starkem Akzent, sie spricht kein deutsch, nur spanisch, und unsere Parole haben wir vorher stundenlang geübt. Sie ist immer so nervös, es zu vergeigen, dass sie die Hälfte der Silben vergisst.

Das spielt keine Rolle. Es ist ein Gefühl der Allmacht, das uns umgibt. Es ist ein Gefühl des Erfolgs, des Wissens, dass WIR es schaffen können. Es schaffen werden! Die erste friedliche Staatengründung seit … ja, seit wann überhaupt? Spätens seit 1989, falls das als Gründung zählt.

Und wir, wir! - ein paar Jugendliche und Studis irgendwo aus Europa - stehen jetzt mit ihnen auf einer Stufe. Wir!

Ich habe ihn nie gesehen, der da vor mir steht. Ein Junge, sechzehn, siebzehn, achtzehn vielleicht. Verstrubbeltes Haar, dicker Schal, aber im T-shirt. Sein Gesicht sähe großartig aus, wenn er mal lachen würde, schießt es mir durch den Kopf.

"Ist hier noch Platz?", fragt er. "Ja", antworte ich verwirrt. Das hier ist eine Großdemo, kein Sitzkonzert.

"Bist du öfter hier?", fragt er. Etwas verwirrt, weil er mich anquatscht, antworte ich: "ja – auf jeder Demo. Seit es hier losging." "Ich bin erst mit meinen Kumpels hergekommen – vor ein paar Wochen; aber dann…" Es klingt einstudiert. Es klingt, als wäre es ihm ungeheuer ernst. Ich will es nicht hören. Aber ich kann ihn auch nicht stoppen.

"Sie sind alle weg, vor vier Wochen schon. Ich kenne hier niemanden. Am Anfang war es richtig gut, ich lernte alle möglichen Leute kennen, ich wollte einem anderen meine Liebe gestehen; und dann … von heute auf morgen, gefühlt, war keiner mehr da. Keiner wollte mehr zuhören, was ich zu sagen hatte. Keiner mit mir reden. Keiner."

Er redet weiter, obwohl ich mich längst weggedreht habe. "Da gibt es einen, der kann großartig viel Zeug. Ein Mädchen, das wahnsinnig kreativ ist. Aber wenn ich was erzählen will, sagen sie immer nur ,nicht jetzt, bitte, ok?' Ich sag dann zwar immer ok, denn was soll ich machen?"

Tränen stehen ihm in den Augen. Ich will es nicht hören. Eigentlich nie. Aber vor allem: Nicht jetzt, bitte.

Während er sich die Tränen wegwischt, gehe ich weiter, die anonyme Masse umhüllt mich; sie ist der Mantel des Schweigens.

Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Und wenn doch, wüsste ich, was ich ihm sagen würde: Nicht jetzt, bitte.

 

Wir verstummen nie

Die Stimmen verstummten nie. Die Karawane von dutzenden, ja, hunderten Jugendlichen bahnt sich ihr Weg durch das schlammige Marschland wie ein Flecken Öl der allmählich in ein Tal hinab gleitet. Warum hatte er sich dieser wahnwitzigen, zum Scheitern verurteilten Aktion nur angeschlossen? Die Stimme in seinem Kopf verstummte nie. Doch er kann nicht zurück, sein Vater hatte ihm explizit verboten zu kommen. Seine Mutter hatte nichts gesagt, sondern ihn nur vorwurfsvoll angeblickt, wie soll er seine Nacht-und-Nebel-Aktion nur erklären? Nein, er kann nicht zurück.

Die Stimmen verstummen nie. Gefühlt ist er der Einzige, der schweigt, er, der sich nur zwischen der Masse bewegt, nicht in ihr; er, der nicht Teil von ihr ist, wie ein Tropfen Wasser im Ölbottich.

Diese nie verstummende, sie selbst genügende Masse war es, die ihn so begeistert hatte, dass Zusammengehörigkeitsgefühl, das Adrenalin, dass einem bei einer unglaublichen Aktion wie dieser unweigerlich in die Adern schoss.

Doch das Adrenalin ist verflossen, jetzt ist er nur noch ein belgischer sechzehnjähriger auf einer norddeutschen Kuhweide, ihm ist kalt wegen des Nieselregens, niedergeschlagen wegen des trüben Tages, so sicher wie die Matschwüste, durch die er seit Stunden stapfte; die Gurte des Rucksacks schneiden sich schmerzhaft in sein Kreuz.

Und sie verstummten nie. Was bei all den Stimmen, die ihm etwas einreden wollten, so hasste, ihn an der Niemandsland/Neuland-Bewegung so sehr fasziniert.

O ja, er war fasziniert gewesen. Jetzt ist er nur müde. Die Füße gingen vorwärts, er nahm nicht war, was um ihn herum gesagt wurde, doch die Stimmen verstummten nie.

Vor Monaten hatte er im Internet zum ersten Mal von der Niemandsland/Neuland-Bewegung gehört. Sofort war er begeistert gewesen. Über allen Streit hatte er sich hinweggesetzt, hatte sein Sachen gepackt. Er war wie elektrisiert, voller Ideale und Entschlossenheit. Denn er war nie verstummt, als er mit ihnen geredet hatte. Und auch sie verstummten nie.

Jetzt weiß er nicht mehr, was er will. Die Vorstellung, zur größten Jugendbewegung zu gehören, war großartig gewesen. Nach all den Berichten von all den – zumeist muslimischen – erfolgreich real aufgebauten Utopien, die das Netz überschwemmt hatten, sogar die herkömmlichen Medien erobert hatten, hatten sie selbst, Jugendliche aus ganz Europa, nicht anders gekonnt, als es selbst versuchen zu wollen.

Über Monate hatten sie diskutiert, er hatte als einer der ersten darüber nachgedacht; doch bis zuletzt, bis es nicht mehr anders, war es für ihn nur ein Gedankenspiel gewesen.

Und sie verstummten nie.

Aber er kann nicht mehr. Die elektrisierte Aufregung ist einer Müdigkeit gewichen, einer Inhaltslosigkeit, einem hohlen Gefühl tief im Innern. Die elektrisierte Aufregung, die Computer entsprechend geneigten Leuten zu geben pflegen, hat ihn hier, auf einer verregneten Kuhweide, verlassen.

In all dieser Unsicherheit bleibt er stehen. Er verstummt.

Ein braunhaariges Mädchen tippt ihn an: „He, alles gut bei dir?“ „Weiß nicht – irgendwie sehe ich nicht mehr, was ich hier soll.“ Er weiß auch nicht, warum er ihr das erzählt. „Wir machen die Welt zu einem besseren Ort!“

In ihrer heiteren Stimme, den braun glänzenden Augen und ihren breiten Grinsen sieht denselben ansteckenden Idealismus, der ihn selbst hierher geführt hat.

„Das kann doch gar nicht klappen. Irgendwas geht immer schief.“

„Geht es nicht.

Denn wir verstummen nie.“

Unsere Heimat, unser Werk

2018. Sahara.

„Was willst du damit sagen?“ Wütend stierte ihn das, trotz der grellen Sonne blasse, Mädchen an. Nach dem Flugzeugabsturz mitten im Nirgendwo auf dem Rückweg vom Urlaub vor etwa einem halben Jahr – so genau zählten sie die Zeit nicht, obwohl er versuchte, jeden Tag einen Strich in den Sand machte, würde er nicht seine Hand dafür ins Feuer legen, nicht doch ab und zu doppelt zu zählen oder einen Strich zu vergessen.

„He, ich rede mit dir!“ Er blickte sie sorgenvoll an. Sie war sommersprossig, hatte in den ersten Wochen ständig Sonnenbrand gehabt und war rechthaberisch – aber er konnte sie nicht zurechtweisen, denn sie hasste es, bevormundet zu werden. Zu allem Überfluss war sie zwei Jahre älter als er, konnte kämpfen, Motorrad fahren, defekte elektrische Geräte reparieren und auch sonst so ziemlich alles, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Auch konnte sie Entscheidungen treffen. Besonders das. Es wäre zu ertragen gewesen, hätte er ab und zu auch etwas zu nörgeln gehabt, aber leider fand er da nicht viel. Jedenfalls nichts, was er ihr vorwerfen könnte, was sie akzeptiert hätte, und dabei konnte man ihr eigentlich vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie sich nicht auf andererleute Argumente einließe, jedenfalls nicht, wenn man zügig erklärte.

Er seufzte. Sie verdrehte nur die Augen, stapfte dann zur Tür hinaus. Kurze Zeit später hörte er den Motor des Motorrads, dass sie sich in irgendeiner dubiosen Nacht- und Nebelaktion verschafft hatte. Er wollte es gar nicht so genau wissen. In dem schmalen, schmächtigen Mädchen steckte mehr als man ahnte, wenn man Linda kennen lernte, wirkte sie eher wie ein typisches Pferdemädchen – in der Selfiephase war sie vermutlich nie angekommen – dass direkt einem Kleinmädchenmagazin entsprungen war.

Er blickte sich um. Der schmale Verschlag in dem verlassenen Wüstendorf wirkte, als hätte jemand eine Mülltonne darüber ausgekippt, und ganz so abwegig war diese Vorstellung gar nicht.

Linda trieb Zeugs auf, wo sie es nur fand, in verlassenen Dörfern, wenn sie Aufträge bekam – anscheinend stahl sie manchmal von diesen Verbrecherbanden, mit denen sie auch handelte – aber so genau wollte er das gar nicht wissen. Es genügte zu wissen, dass er sich um sie keine Sorgen zu machen brauchte, und wenn doch, könnte er ihr definitiv nicht helfen, sie war einfach die bessere von ihnen beiden.

Es sei denn, es ging um Pflanzen. Julius hatte den sprichwörtlichen grünen Daumen. Er hatte angefangen, einige Kakteen zu züchten, aber leider wuchs hier in dieser verdammten Wüste nichts.

Als sie hier gestrandet waren, hatten sie noch versucht, von hier wegzukommen, jemanden anzurufen, irgendwas, aber es half nichts, sie hatten kein Handy in die Hand bekommen, und Linda hatte behauptet, dass jemand ihr erzählt hätte, dass die Satelliten gar nicht mehr oben wären, aber das war offensichtlich Bullshit: warum sollte auch jemand die Satelliten runter holen, die Dinger waren schließlich teuer, und selbst wenn jemand das wollte, wie sollte er es anstellen?

Linda brachte immer wieder Ressourcen mit, Benzin, Medikamente, Alltagsgegenstände, Technik, Werkzeuge, manchmal Zeitungen, aber die waren alle auf Arabisch oder Syrisch oder Lybisch oder was auch immer man hier sprach; noch nicht einmal das Datum konnten sie entziffern, kurz, sie taugten nur als Einwickelpapier. Die meisten ihrer neuen Reichtümer tauschte sie wieder ein, gegen etwas, dass sie gerade dringender benötigten als ihre Fundsachen.

Meistens gegen Wasser. Die ersten Wochen hatte der kleine Brunnen noch gearbeitet, aber dann war er nach einem Sandsturm völlig versandet gewesen, und keiner der beiden war scharf darauf gewesen, zehn Meter einen schmalen Brunnenschacht hinab zu klettern, Linda hatte es aber natürlich trotzdem probiert. Keine Chance.

Seitdem beschaffte sie Rohstoffe, 5 Liter Wasser waren fast jeden Tag darunter, und den größten Teil ihrer Fundsachen musste sie für Benzin und Ersatzteile für ihr Motorrad eintauschen, ohne das wäre sie aufgeschmissen, sagte sie.

Ansonsten bastelte sie noch öfter an einem Stab, der elektrische Schläge verteilen konnte, wenn sie auf einen Schalter drückte; eine Weile hatte sie ein Gewehr besessen, aber die Kosten für Munition waren ins Unermessliche gestiegen, da hatte sie das wieder aufgegeben.

Linda wollte genauso sehr hier weg wie er, aber er musste zugeben, dass er sich mit der Lage arrangiert hatte, er mochte, wie alles wuchs und gedieh – das war mehr auf den Ausbau ihrer Hütte als auf seine Pflanzen bezogen, obwohl es denen für das staubig-heiße Klima erstaunlich gut ging. Sie schien sich vor allem über den kurzfristigen Erfolg zu freuen, sie brauchte jeden Tag etwas neues, sie war mit kleinen Fortschritten nicht zufrieden; mehr als einmal hatte er deshalb (so vermutete er zumindest) über aussehende Wunden verarzten müssen, und er war auch nur ein Schulsanitäter im ersten Jahr.

Die Blumentöpfe standen neben ihren Kochtöpfen auf der sandigen Ablagefläche, ihre Kabel lagen noch überall herum, wusste der Geier, wo sie die gefunden hatte; ihr „Vorratskeller“ - ein Nachbarraum war vollgestellt mit Vorräten, zwei 30 Liter Tanks mit Wasser und ein weiterer Lehrer, fünf Benzinkanister, Werkzeugtaschen und so weiter und so fort, sie hatten erstaunlich viele Vorräte im Vergleich dazu, wie sie begonnen hatten.

 

Ohne sich weiter darauf konzentriert zu haben, hatte er unbewusst das Chaos beseitigt und hatte sich daran gemacht, einen mit Sand verstopften Kompas zu reparieren, als das Motorengeräusch nahte. Er wartete einfach, denn Linda würde gleich zur Tür herein kommen, die Arme voll mit irgendwelchem Krams, und ihn anherrschen, ihm doch mal was abzunehmen, um anschließend zusammen abzuschätzen, wie viel ihr neuer Besitz wert war.

Aber so kam es nicht. „Komm!“, brüllte Linda schon, als sie ihren Unterschlupf noch gar nicht betreten hatte. „Komm!“, rief sie noch einmal, weit erschöpfter, als ihren Kopf zur Tür herein streckte. „Alles gut?“, fragte er. Julius war sich unsicher, wie er reagieren sollte. „Jetzt nimm dein Notfallpäckchen und komm, verdammt noch mal!“, sagte sie ganz außer Atem.

Wie mechanisch ging er in das Vorratskabuff um die Notfalltaschen zu holen, genauer gesagt die Evakuierungstaschen, gepackt für den Tag, an dem sie ihren Unterschlupf würden verlassen müssen. Was war geschehen? Hatte eine dieser Banden dort draußen den Unterschlupf gefunden? Er durchquerte die Küche wieder, nicht ohne den defekten Kompass, mit dem er zuvor beschäftigt gewesen war, an Seite zu legen, gab ihr ihre Tasche, setzte seinen Rucksack auf und folgte ihr.

Als er die Hütte verließ, blickte er zuerst zurück, während ihr blick starr nach vorne gerichtet war. Er speicherte das Bild der Wüstenhauses mit dem Wellblechvordach ab, weil er sich sicher war, dass er diesen Ort nie wieder sehen würde.

Sie zog ihn am Ärmel vorwärts, er wandte sich um, folgte ihr eilig, um nicht zu stürzen. Vor der Tür stand ein Wüstenauto. „Was… ?“, fragte er Linda, perplex und ratlos. Er war froh, keine Entscheidung treffen zu müssen. „Jetzt komm schon!“, sagte sie, sie hatte schon Platz genommen. „Jetzt kommen wir endlich wieder nach Hause!“

 

Zu Hause. Wo war zu Hause? Er wusste es nicht. Wortlos fuhren sie ab, na ja, fast, Linda wechselte eins, zwei Worte auf englisch mit ihm, er war froh, es einfach ignorieren zu können, und wandte sich einem viel dringenderem Problem zu: sie ließen alles hinter sich, was sie sich im vergangenen halben Jahr aufgebaut hatte. Linda fiel das nicht weniger schwer als ihm, sie hatte nur schon längst damit abeschlossen, außerdem hing sie nicht so sehr an Orten, und sie hatte eher kurze Abenteuer gehabt, er hatte etwas aufgebaut. Das, was sie verließen, war sein Werk, Lindas natürlich auch, sie hatte vermutlich mehr dazu beigesteuert als er, aber er war der, der es erbaut hatte.

„Verdammt“, sagte er. Linda blickte ihn von der anderen Seite der Rückbank her an. „Ich wünschte, ich könnte so froh sein, wie ich immer gesagt habe, dass wir hier endlich weg können.“

„Tja“, antwortete sie nur schulterzuckend, aber es ließ sie nur scheinbar kalt, er sah, dass sie sich auf die Lippe biss, „dafür ist‘s wohl zu spät. Wir finden schon irgendwas anderes, ok?“ Er nickte nur, antworten konnte er nicht. Er hatte einen Kloß im Hals.

„Nicht zu glauben, was?“, fragte John und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, während wir durch die sonnenbeschienene Innenstadt von Florida gingen, vom Fantasytag aus zu unserer WG. Wir waren schon 17, ich wohnte aber erst seit einem halben Jahr auswärts.

Er grinste schief und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Na, was meinst du dazu, Kleiner?“, sagte er und deutete in ein nahe gelegenes Eiscafé. Nur er durfte mich Kleiner nennen, es war auch eher scherzhaft als ernst gemeint, trotzdem war ich das erste halbe Jahr immer zusammengezuckt, wurde rot und schämte mich, wenn er mich so genannt hatte. Das hatte ihn natürlich nur ermutigt, mich weiterhin so zu betiteln, und mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt und nahm es sportlich. Aber wenn es jemand anders versucht hätte, wäre es vermutlich nicht ganz unblutig ausgegangen, vorausgesetzt, ich wäre in der Lage, den anderen zu verletzen; ich bin kein Sportass und war nie kräftig, viel brauchte es nie, mich zu besiegen, zumindest was das körperliche angeht. Aber was Computer angeht, macht mir niemand etwas vor.

Ich bin der totale Freak, dass kann ich heute ohne Übertreibung sagen, und war es auch damals schon, auch wenn ich diesen Namen damals verabscheute, vor allem, weil er bedeutete, dass ich ein Außenseiter war. War ich auch und bin ich, zumindest was normale, durchschnittliche Kreise angeht, ich wüsste nicht, was es da zu beschönigen gäbe. Ich war der Freak, den es nur einmal unter tausend gibt, selbst in einer Gesellschaft, wo, inklusive Kaffeemaschinen und Smartphones, auf einen Bürger drei Computer kommen – mit anderen Worten, ich war an meiner Schule der einzige von meiner Sorte. Die einzigen, die sich mit mir abgaben, waren John und Beck, zwei Nerds, auch sie waren verrückt nach Computern und konnten dir aus dem Stehgreif Speichergrößen, Festplattentypen und CPUs aller modernen Computer aufzählen, aber anders als ich, interessierten sie sich nicht dafür, was man alles mit Computern machen konnten; sie waren eben Nerds, und, wie Nerds nun mal so sind, meistens total versunken in ihre Computerspiele. Nicht dass ich es ihnen verübeln konnte. Damals wäre ich auch gerne versunken, anstatt eine ‚Wahrheit‘ zu erkennen, von der ich glaubte, dass sie mein Leben auf den Kopf stellen würde.

Jetzt aber zurück zum Geschehen. Ihr erinnert euch? 25 °C Außentemperatur, 23 Uhr abends, Sommeranfang in Florida, die Sonne geht unter, langezogene Schatten und gelbes bis orangerotes Licht fließt durch die Innenstadt. Ich und John gehen vom Fantasytag – eine Art Lasertag mit AR-Brillen, manche meinen, so würde sich das viel weniger real anfühlen als echtes Lasertag, da könne man ja gleich zu Hause Computer spielen, aber ich wette, solche Leute haben nur Angst vor der künstlichen Realität – ja, wir gehen vom Fantasytag nach Hause; schönes Wetter, es ist warm, er hat ne Cola in der Hand, ich eine Pepsi; wir chillen, sind total entspannt, reden über irgendwas, keine Ahnung mehr, was es war, spielt auch keine Rolle mehr, als er mir die Hand auf die Schulter legt, in ein Eiscafé deutet, schief ich-habs-ja-gesagt-lächelt und sagt: „Na, was meinst du dazu, Kleiner?“

Ich muss gestehen, dass ich zuerst nicht erkannt habe, was er mir zeigen wollte. Und ihn schon verwirrt anblickte, als er mich siegessicher angrinste, und mit seiner anderen Hand meinen Kopf in die bereits erwähnte Richtung drehte.

Im Café saß Beck – der andere Nerd – mit Laura, händchenhaltend. Mir wurde flau im Magen.

Ich muss gestehen, dass das nach einer komischen Reaktion klingt, aber es ist tatsächlich wahr. Am 15.6.2021 wurde mir, nachdem ich sah wie mein Freund Beck händchenhaltend am Café saß, flau im Magen.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist der Abend desselben Tages. Lass mich mich erinnern.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, vor mir eine Liste, ich durchwühle hektisch meine Notizen, auf der Suche nach weiteren Beweisen, aber es ist wahr, es ist einfach wahr, ich weiß es, ich weiß es einfach.

1.“, steht auf dem Papier. „5.3.2021 – C. fordert Hann auf, zum Arzt zu gehen – Arzt findet beinahe tödliche Krebserkrankung, die tödlich verlaufen wäre, wäre die Krankheit nicht frühzeitig entdeckt worden.“

Nächster Punkt: „2. S. schlägt Markus zeichnen vor. Nach erstem Widerwillen probiert er es aus. Ein halbes Jahr später gewinnt er den Staatenwettbewerb zum Thema Emotionen.“

3. S. weißt Beck darauf hin, in der Liebe nicht zu zögern. Zwei Tage später ist er mit seiner großen Jugendliebe zusammen.“

Letzteres schreibe ich mit zitternden Händen hinzu. C. ist selbstverständlich Cortana, S. Siri. Hätte ich doch nur früher mit dem verdammten Virus begonnen!, schelte ich mich selbst. Am besten gleich am ersten verdammten Tag, als du den Verdacht hattest. Aber zu spät. Vergangene „Glückskeckstipps“ - so heißen die scheinbar sinnlosen Tipps, die die sprechenden Assistenten hin und wieder ungebeten von sich geben – lassen sich nicht zurückholen, und sind somit für meine Beweisführung unbrauchbar.

Sie hören uns ab! Ich weiß es einfach! Und bringen uns dazu, etwas zu tun!

Das einzige, was dafür sorgte, dass ich mich zwar verdammt unheimlich, aber nicht bedroht fühlte, war die Tatsache, dass es ihnen nicht geschadet hat. Im Gegenteil, hat es nie. Ich fühlte mich trotzdem in meiner Privatsphäre angegriffen.

Ich weiß noch, wie ich nach meinem Telefon griff, kurzentschlossen, um John anzurufen. Als ich es entsperrte, tönte mir Alexas Stimme entgegen: „Zögere nicht, wenn du heute noch etwas erreichen willst!“ und einzig und allein die Sinnlosigkeit dieses Spruchs brachte mich dazu, das Telefon wieder in die Tasche zu stecken.

Wenn da jemand abhörte, dann hätte er wohl probiert, mich vom anrufen abzuhalten, aber das? Ein paar mal habe ich mit dem Gedanken gespielt, dass die Reaktion Absicht war, weil irgendwer genau wusste, wie ich reagieren würde, aber das ist natürlich Unsinn. Wie sollte das auch funktionieren? Wie sollte man die innerste Persönlichkeit von vier Milliarden Menschen kennen? Eben.

Später am Abend traf die Mathehausaufgabe für die übernächste Woche ein, wir bekamen sie häufig als Mail geschickt. Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Und als ich das ausrechnete, wurde mir klar, dass, wenn man etwas sucht, man immer zwei oder drei passende Ergebnisse findet, wenn die Datenbasis nur groß genug ist. Und die hatte ich mir ja mit dem Virus auf den Handys meiner Freunde selbst geschaffen.

Und erst das, eine sinnlose mathematische Rechnung, ließ mich vollends auf den Boden der Tatsachen zurückkehren, obwohl es sicherlich auch eine Rolle spielte, dass ich zu diesem Zeitpunkt ein Jobangebot bekommen habe und die nervtötende Schule endlich los war.

Feedback

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Herbstblatt Am 25.05.2018 um 16:31 Uhr
Die ersten drei Kapitel waren sehr eindrucksvoll (im wahrsten Sinne) geschrieben und obwohl der Text kurz ist, konnte ich mir die Szene und die Stimmung darin vorstellen. Die nur kurz zur Handlung gebrachten Akteure wirkten zwar im ersten Moment distanziert und fremd, doch sie blieben in meinen Gedanken und ich habe weiter über sie nachgedacht. Gerade durch die Kürze würde man gerne ihren Weg (sowohl in Zukunft als auch in ihre Vergangenheit) weiter verfolgen und das gilt ebenso (oder sogar noch mehr) für die Figuren, die nicht die Erzähler-Rolle tragen. Das vierte Kapitel empfand ich dagegen als fast zu lang und zu detailliert. Hier kam es bei mir nicht wie in den ersten drei Kapiteln zum eigenen ausmalen, wie wohl das Gesamtbild aussieht, vor dem du die Szene beschrieben hast. Mehr anzeigen
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asqiir (Autor)Am 30.05.2018 um 14:22 Uhr
Danke für dein Feedback!
Ehrlich gesagt hatte ich storyhub schon abgeschrieben, aber jetzt kann ich ja mal weiter veröffentlichen ^^

Autor

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Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 5
Sätze: 224
Wörter: 3.952
Zeichen: 22.958

Kurzbeschreibung

Der Weltenzweig ist eine alternative Realität. Er existiert. Er ist irgendwo da draußen. Er streift frei durch Raum und Zeit. Er ist lebendig. Zeit, ihn näher anzusehen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Science Fiction auch in den Genres Entwicklung und Vermischtes gelistet.