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Wirklichkeit

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03.07.18 19:54
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Was ist die Wirklichkeit? Das Blau des Himmels? Das Grün der Natur? Das Seufzen des Windes? Oder nichts von alledem?
Diese Fragen stellte sich Louis. Das Leben zwang ihn dazu, sich solchen Fragen zu stellen. Das Leben hatte ihm schwer zugesetzt. Sein elendes Dasein war nichts als die Aneinanderreihung unglücklicher Zufälle.
Louis befand sich in der Bibliothek. Alleine saß er in einem Sessel und blätterte in seinem Lieblingsbuch, welches er schon mehrmals durchgelesen hatte, was ihn aber nach wie vor faszinierte. Dabei dachte er an sein Leben.
Leben wir überhaupt in der Wirklichkeit? Wirklichkeit geht mit Wahrheit einher. Können wir die Wahrheit überhaupt verstehen und verkraften? Ist das Leben real oder nichts anderes, als eine Illusion?
Louis dachte über alles nach, was ihm widerfahren ist. Er lebte alleine, hatte nie eine Frau gehabt. War unzählige Male unglücklich verliebt gewesen. Beruflicher Erfolg blieb aus. Louis verdiente sein Geld als Busfahrer, eine Tätigkeit, die ihn ganz und gar nicht erfüllte. Jedoch war es sein Kindheitstrauma, das ihn am meisten mitgenommen hatte...
Louis war einsam und alleine. Nur seine geliebten Bücher verliehen seinem elenden Dasein einen Sinn. Louis suchte täglich die Bibliothek auf und las stundenlang, sofern es die Zeit zuließ. Er flüchtete in entfernte Welten. Fiktive Geschichten gaben ihm das Gefühl, aus der tristen Realität zu entkommen. Immer wieder stellte er sich die Frage nach der Wirklichkeit. Wie ein Traum kam ihm das Leben oft vor. Eher wie ein Albtraum. Hinter der Fassade musste sich noch mehr verbergen.
Louis betrachtete das Buch in seiner Hand. Hielt er es wirklich in den Händen oder fand dies alles nur in seinem Kopf statt? Bei dem Werk handelte es sich um Bret Easton Ellis´ "American Psycho", seinem Lieblingsbuch. Für den Protagonisten in der Geschichte verschwammen krankhafte Vorstellungen mit der Wirklichkeit, sodass der Leser schließlich nicht mehr weiß, was Fiktion und was Realität ist.
Louis klappte das Buch zu und legte es zurück. Die Geschichte machte ihn immer wieder sehr nachdenklich. Er konnte sich nicht länger konzentrieren. Zu sehr beschäftigte ihn die Frage nach der Wirklichkeit. Was, wenn alles, was wir sehen, hören und fühlen, alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, alles, was wir zu wissen glauben, in Wahrheit nicht existiert?
Louis kam zu dem Entschluss, dass es letztendlich unmöglich für den Menschen ist, mit absoluter Sicherheit behaupten zu können, dass wir in der Wirklichkeit leben.
Gibt es überhaupt die eine Wirklichkeit oder gibt es mehrere oder sogar gar keine?
Louis´ Leben kam ihm stets surreal vor. Er war davon überzeugt, dass dies alles nicht in Wirklichkeit geschah. Jedenfalls redete er sich dies selber ein, um sich damit aufzumuntern.
Mein Leid ist nicht echt. Mein Leben nur eine Vision, ein Traum.  All dies ist wertlos und hat nichts zu bedeuten.
Louis verließ die Bibliothek und unternahm einen Spaziergang durch den Park. Ihm begegneten einige Jogger, Fahrradfahrer, andere Spaziergänger mit Hunden und spielende Kinder.
Diese Menschen sind vielleicht gar nicht wirklich. Sie entstehen in meinem Kopf. Genauso, wie die Umwelt. Die ganze Schönheit der Natur, alles nur erdacht und nicht wirklich existent. Was, wenn ich eine Figur in einem Roman bin? Dann existiere ich zwar in einer fiktiven Geschichte, bin aber trotzdem nicht wirklich, da die Geschichte erfunden ist.
Diese Gedanken plagten Louis, ließen ihm keine Ruhe. Sein Leben war alles andere, als gut verlaufen. Gut möglich, dass er eine Figur in einem Roman ist, die vom Autor gequält wird. Wenn schon, dann musste es sich aber, seinem Lebenslauf entsprechend, um eine Tragödie handeln.
All die negativen Erfahrungen veranlassten ihn erst dazu, die Welt und das Leben an sich derart zu hinterfragen. Angefangen hatte dieser Verlust zum Bezug zur Realität bereits in seiner Kindheit, als seine Eltern verstarben. Dies war sein Kindheitstrauma. Es hatte Louis schwer zugesetzt, woraufhin er das Leben als eine einzige Strafe betrachtete. Dass er gar nicht wusste, ob dies alles wirklich geschah oder er vielleicht in Wahrheit eine Romanfigur war, tröstete ihn. Seine Unwissenheit schenkte ihm Kraft. Doch mit jedem Tag, der verging, an dem er alleine lebte, ohne Frau und einem Beruf nachging, der ihn keineswegs zufriedenstellte, darüber hinaus vom Kindheitstrauma und seinen negativen Gedanken geplagt, wurde die Last seiner Unwissenheit schwerer und schwerer.
"Passen Sie doch auf, Sie Trottel", fuhr der unbekannte Mann Louis an. Louis war so in Gedanken versunken, dass er einen entgegenkommenden Passanten versehentlich angerempelt hatte. Louis stammelte schnell eine Entschuldigung, doch der Mann war schon weitergegangen.
Waren diese Worte wirklich oder habe ich mir es nur eingebildet?
Louis konnte an nichts anderes mehr denken. Die Frage nach der Wirklichkeit beschäftigte ihn zu sehr. Doch was ihn früher noch aufgebaut und ermutigt hatte, deprimierte ihn mittlerweile. Die Grenzen des menschlichen Verstandes, seines Geistes, machten ihm zu schaffen. Seine Unwissenheit stellte ihn nicht länger zufrieden.
Louis nahm auf einer Bank Platz. Von dort aus hatte er direkten Blick auf den Fluss. Während er das Wasser plätschern hörte, sah er in den, an diesem Tag strahlend blauen Himmel.
Ob im Himmel jemand ist, der die Wahrheit kennt, der mir die Wirklichkeit zeigt?
Louis war nie wirklich religiös gewesen, doch die Vorstellung von der Wirklichkeit jenseits dieser Welt, also im Himmel, reizte ihn dennoch. Just in diesem Moment schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Der Himmel ist die Wirklichkeit! Und jeder weiß, wie man in den Himmel gelangt!
Louis versuchte diesen Gedanken schnell beiseite zu schieben, doch es gelang ihm nicht. Er begriff, dass sterben die einzige Möglichkeit war, die Wahrheit herauszufinden.
Ist die Welt nur eine Scheinwelt?
Er wollte endlich Antworten. Er fand keine Ruhe mehr. Er musste es einfach herausfinden.
Der Tod stellt den Übergang in eine andere Dimension dar. Nach dem Tod werde ich die wahre Welt sehen. Ich werde endlich in die Wirklichkeit einziehen!
Am Abend war Louis zuhause. Sein Entschluss stand fest. Er wollte seinem unerfüllten Leben ein Ende setzen, um durch den Tod von seinem Leid erlöst zu werden. Die Fragen, die er sich stellte, konnte kein irdisches Wesen jemals beantworten.
Bis ich die Wahrheit herausfinde, werde ich keinen Frieden finden.
Aus der Garage hatte Louis einen Strick geholt, welchen er an der Decke befestigte. Langsam stellte er sich auf einen Stuhl und legte seinen Kopf in die Schlinge. Einen Moment zögerte er.
Was, wenn dies doch die Wirklichkeit ist und ich diese freiwillig aufgebe und verlasse? Was, wenn nach dem Tod einfach gar nichts geschieht? Was ist, wenn ich die Wirklichkeit, sollte ich sie überhaupt sehen, nicht ertragen kann?
Louis räumte seine Zweifel schnell beiseite. Er war alleine, von daher würde ihn ohnehin niemand vermissen. Also konnte er es ruhig wagen. Schließlich war es zu versuchen, die einzige Möglichkeit, es herauszufinden. An seinem Leben lag ihm nichts mehr und selbst, wenn er nie die Wahrheit herausfinden sollte, so musste er dann wenigstens nicht mehr die Last seines unerfüllten Lebens tragen. Jedoch war er davon überzeugt, dass alle Zweifel unangebracht waren. Der Tod müsse einfach Antworten liefern, ansonsten hätte er keine Daseinsberechtigung. Und irgendwie müsse doch alles einen Sinn haben!
Die Sehnsucht nach Erfüllung, in Form des Herausfindens, was die Wirklichkeit ist, war bei Louis unerträglich stark. So sah er keinen anderen Weg, als den Freitod zu wählen. Seine Entscheidung war sowohl unumstößlich, als auch alternativlos.
Louis konnte sich nicht erklären, warum er plötzlich an den Mann aus dem Park dachte, den er versehentlich angerempelt hatte.
Ich zeige dir, wer wirklich ein Trottel ist. Nämlich du, da du unwissend bist. Ich werde es schon bald nicht mehr sein. So werde ich zwar tot, doch dafür allwissend sein! Dies ist meine Rache an die grausame Menschheit! Ich werde die Wahrheit herausfinden und in die Wirklichkeit einziehen, und zwar in die absolute Wirklichkeit und nicht in eine Scheinwelt, wie diese hier, diese grausame Scheinwelt! Nichts kann mich daran hindern! Und dann bin ich allen Menschen überlegen! Ich werde Antworten finden!
In seinem Wahn begann Louis teuflisch zu lachen. Er sprang vom Stuhl und dann war es vorbei.
Der Autor ließ seinen gescheiterten Protagonisten sterben und beendete somit die tragische Geschichte. Er klappte das Buch zu...

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