Der Autoschlüssel wird umgedreht, der Gang eingelegt. Der zugegebenermaßen überaus altersschwache Motor heult kläglich auf, jammert und springt wieder aus.
"Verdammtes Ding", fluche ich. "Es funktioniert aber auch nie irgendwas!"
Verärgert drehe ich den Schlüssel erneut um. Diesmal springt die verdammte Karre an. Endlich!
"Endlich", seufze ich, die Schweißperlen auf der Stirn stehend. "Nichts wie weg hier!"
Mit einem großen, wenngleich höchst unsicherem Schritt nach vorne, wird das Auto aus der Einfahrt hinausmanövriert. Es rappelt und klappert, was das Zeug hält. Es zittert und schwankt wie ein Betrunkener und doch fährt es.
"Wenigstens fährt es", flüstere ich vor mich hin. "Nichts wie weg hier!"
Ich werfe einen letzten Blick in den Rückspiegel und werde gewahr, dass Viola in der Einfahrt steht. Ganz alleine. Offenbar ist sie hinausgeeilt, als ich versucht habe, die alte Karre zu starten. Womöglich will sie sich von mir verabschieden. Sie hatte vorhin geweint, schrecklich geweint, das ist noch deutlich an ihren kleinen, rot angelaufenen Augen zu erkennen.
Wehmütig blickt sie mir hinterher, voller Sehnsucht im verlorenen Blick, voller Schwermut im Herzen. Sie regt sich nicht. Wie am Erdboden festgewachsen, erscheint sie mir. Ich wende den Blick von ihr ab und spiele den Gleichgültigen. Freilich, in Wahrheit kann ich den schmerzhaften Anblick kaum ertragen. Ich widme meine Aufmerksamkeit jedoch der sich vor mir auftuenden Straße und drücke das Gaspedal. Mein Haus und Viola sind schon bald nicht mehr zu sehen.
"Schön wieder hier zu sein", freue ich mich und umklammere das Lenkrad so fest, bis meine Knöchel weiß anlaufen. Als ich die Landstraße erreiche und endlich in den höchsten Gang schalten kann, erfüllt mich ein wohliges Gefühl von Freiheit und der damit einhergehenden Unbeschwertheit. Ich fühle mich frei wie ein Vogel oder eher wie ein Autofahrer, hier in meinem Revier.
Stolz wie ein Adler wirbele ich über die Straße, sodass das am Boden liegende Laub von einem derart heftigen Windstoß ergriffen wird, dass es chaotisch in alle Himmelsrichtungen davonfliegt.
Für einen Augenblick gibt es nichts als mich, mein Auto und die weite, scheinbar ins Unendliche reichende Straße vor mir. Hätte ich nicht ein solch schlechtes Gewissen (zweifellos eine Mischung aus der Erziehung, einer Art angeborenen höheren Instanz und den gesellschaftlich anerkannten Konventionen), so hätte ich laut aufschreien und wie wahnsinnig lachen können. Doch die Sache mit Viola und ihr will mir nicht so recht aus dem Kopf gehen.
Schnell schiebe ich die unliebsamen Gedanken beiseite und konzentriere mich wieder voll auf die Fahrt. Doch so recht will es mir nicht gelingen.
In meinem Innern beginnen sich die schrecklichsten Zweifel zu regen. Was habe ich Viola nur angetan? Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich denke an Theresa, schließlich bin ich auf dem Weg zu ihr. War es ihr in der Sonne schimmerndes goldenes Haar, das mich dazu bewegt hatte, mich auf sie einzulassen oder hatte mich ihr unvergleichbarer Charme verführt? Ich weiß es nicht mehr genau. Was ich dagegen weiß, ist, dass es mir plötzlich verdammt schlecht geht. Bei dem Gedanken, dass es mir schlecht geht, fühle ich mich doch glatt noch schlechter. Dabei hasse ich es, über Gefühle nachzusinnen. Gefühle sind nunmal einfach da, ohne dass ich Einfluss darauf nehmen kann. Und genau das ist es, was mir an ihnen so missfällt. Ich hasse es, sie nicht kontrollieren zu können. Ich hasse es, nicht angemessen über sie sprechen zu können, da sie so unbestimmt, so wenig greifbar sind und mir einfach nie die richtigen Worte einfallen, vorausgesetzt, dass selbige überhaupt existieren, was ich selbst überdies für äußerst zweifelhaft halte. Über Fakten, wissenschaftliche Tatsachen lässt sich prima philosophieren. Sie verleihen einem Halt, sie geben einem Sicherheit und sie lassen sich kontrollieren. Bei Gefühlen ist all dies nicht der Fall.
"Bin ich Schuld?", frage ich mich und bin dabei so in Gedanken versunken, dass ich es kaum wahrnehme, dass ich die Worte laut ausgesprochen habe. Wie zur Antwort quitschen die Reifen meines Autos. Es hat schon vor geraumer Zeit angefangen zu rosten, doch welche Rolle spielt das schon in diesem Moment? Die weite, endlose Straße vor mir, verschwimmt vor meinen Augen. Ich nehme meine Bewegungen kaum noch wahr, fahre wie automatisch der strahlenden Sonne entgegen und vermeine in ihr Theresas Gesicht zu erblicken. Sofort stellen sich die Schuldgefühle ein, die nur auf diesen Moment gelauert zu haben schienen.
Vielleicht ist sie ja Schuld daran. Hätte sie mich doch einfach damals in Ruhe gelassen und nicht verführt und in ihren magischen Bann gezogen. Vielleicht ist aber auch Viola Schuld, da sie auf meine Bedürfnisse nicht ausreichend eingegangen ist. Doch was tue ich nur, wenn die Schuld bei mir, dem Handelnden, dem aktiven Entscheidungsträger, dem unmittelbar Betroffenen liegt? Könnte ich mit der Schuld leben? Könnte ich mich selbst jemals wieder reinen Gewissens im Spiegel betrachten können? Diese bei anderen zu suchen, ist einfach, doch was, wenn ich ganz alleine dafür zu verantworten bin?
"Schuld und Verantwortung ist eine Lüge, so etwas gibt es nicht", tröstet mich eine Stimme in meinem Kopf. Sie fährt fort: "Der Mensch ist nicht frei! Es ist ihm unter keinen Umständen möglich, sich dem Kausalitätsprinzip, welches in der gesamten Natur, dem gesamten uns bekannten Universum vorherrschend ist, zu entziehen. Er ist Spielball des Schicksals, Opfer der Umstände. Ich konnte mich nicht bewusst für diese Handlung entscheiden, die Umstände haben es erfordert, es regelrecht erzwungen und eine andere Entscheidung nicht möglich gemacht. Ich bin Teil eines außer meiner Selbst stehenden, höheren Prinzips, dem ich niemals entfliehen kann. Vor diesem Hintergrund erübrigen sich die Begriffe der Schuld und der Verantwortung und stellen sich als bloße Erfindung des scheinheiligen Menschen heraus. Schuld und Verantwortung setzen voraus, dass ich mich bewusst für eine ganz bestimmte Handlung entschieden habe. Erst dann kann ich für selbige auch die volle Verantwortung übernehmen. Da der Mensch jedoch nicht frei ist, kann er auch niemals für etwas schuldig oder verantwortlich sein. Niemand von uns!"
"Klingt plausibel", antworte ich laut dem Philosophen in mir und gebe mich mit dieser Antwort zufrieden, zumindest vorerst, denn die Landschaft stimmt mich richtig melancholisch. Abgestorbene Blätter, tote Äste bedecken die Straße und ächzen erbärmlich, als die alten Reifen meines Autos über sie hinweg fegen. Die Sonne ist mittlerweile von Wolken bedeckt und ich muss doch tatsächlich den Scheibenwischer betätigen, da es, meinen Erwartungen zum Trotz, leicht zu regnen beginnt.
"Das Leben ist hart", sage ich vor mich hin. Naja, hat schließlich auch niemals jemand etwas anderes behauptet.
"Es ist so ungerecht", lamentiere ich vor mich hin. "Wieso kann ich nicht alles haben?"
Vor meinem inneren Auge sehe ich die weinende Viola, die ich zu Hause alleine zurückgelassen habe und das Herz in meiner Brust zieht sich krampfhaft zusammen. "Ich habe gehandelt, wie nicht rechtens ist", äußert sich der Moralapostel in mir. Doch sofort ergreift der Philosoph wieder das Wort und die beiden Stimmen in meinem Kopf leisten sich einen offenen Schlagabtausch.
"Du trägst keinerlei Verantwortung für deine Taten! Du bist determiniert von Faktoren wie Charaktereigenschaften, Erfahrungen, äußeren Geschehnissen, Schicksalsschlägen und vielem mehr!"
"Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich großen Schaden angerichtet habe. Schmerz und Leid habe ich verursacht. Viola hat das nicht verdient!"
"Deine Handlungsmotive liegen außer dir. Du kannst sie nicht bestimmen. Sie widerfahren dir nur!"
"Meine Handlungsmotive sind Egoismus, Eigensinn, Unvernunft und Triebgesteuertheit!"
"Nun, vielleicht bist du einfach, ohne etwas dafür zu können, ein schlechter Mensch!"
Mir wird ganz schwindelig. Ein schlechter Mensch. Das hallt wider in meinem Kopf, das sticht wie ein Messer ins Herz, belastet die Seele. Es tut einfach nur weh.
Eine dritte Stimme in meinem Kopf meldet sich zu Wort und beteiligt sich ebenfalls an dem inneren Gespräch, das mich nun wirklich zu zerreissen droht. Es ist der gute alte Nihilist, mit dem ich zwar schon lange kein Wort mehr gewechselt habe, aber der doch immer noch oftmals in mir präsent ist.
"Was ist denn überhaupt richtig und falsch? Gut und Böse? Schlecht und Schön? Was, wenn nicht Erfindungen des Menschen, eines bemitleidenswerten Lebewesens, welches verzweifelt versucht, seinen Platz im ewigen Weltgeschehen zu finden, um seinem bedeutungslosen Dasein doch noch einen Sinn abzugewinnen?"
Intensiv denke ich darüber nach. Vielleicht denken wir wirklich nur in den überaus schwammigen Kategorien Gut und Böse, um eine gewisse gesellschaftliche Erwartungshaltung zu bestätigen und selbiger gerecht zu werden. Nun, dieser allgemein anerkannten Norm und Moral habe ich zuwidergehandelt, dem ist nichts entgegenzusetzen. Doch welche Bedeutung ist dem schon beizumessen in Anbetracht der allgemeinen Sinnlosigkeit des Seins? Ist es demgemäß also nicht eigentlich vollkommen egal, wie ich mich entscheide, wie ich handle? Eindeutige Antworten auf diese Fragen zu finden, fällt mir schwer. Da ist der Gedanke an Theresa, die mir mit ihren goldenen Haaren, den rehbraunen Augen, den feinen Gesichtsproportionen und dem knappen Kleid, das sie an warmen Tagen stets zu tragen pflegt, welches ihre gebräunte Haut entblößt, vor dem inneren Auge erscheint, eine willkommene Abwechslung.
"Ich bin des Philosophierens müde", sprechen die Triebe und Gefühle, also alles Unterbewusste zu mir. "Fahr schneller, damit ich sie so bald wie möglich wiedersehe. Ich glühe vor Sehnsucht und halte es kaum noch aus, ohne sie!"
Unwillkürlich drücke ich das Gaspedal komplett durch, wahrlich ohne mein Vorgehen bewusst steuern zu können. Ich betrachte die Anzeige des Tacho, dessen Zeiger kontinuierlich nach oben geht. Mein Auto stößt einen tiefen und klagenden Seufzer aus, der mir die Nackenhaare zu Berge stehen lässt und mir eindeutig signalisiert, dass die Höchstgeschwindigkeit erreicht ist und ich das Durchhaltevermögen der alten Karre nicht noch weiter strapazieren sollte.
Ich erinnere mich daran, wie Viola und ich das Ding damals zusammen gekauft haben. Zweifellos musste es mittlerweile bereits einige Jahre her sein, wenngleich ich nicht imstande bin, es genaustens festzustellen. Erinnerungen verblassen und ich zweifele an ihrer Glaubhaftigkeit. Vergangenheit und Zukunft werden eins und verbinden sich eindrucksvoll im gegenwärtigen, einmaligen Augenblick. Zeit und Raum verschmelzen und was bleibt ist das Sein an sich. Und dieses ist eine vielschichtige und zerrissene Form der Existenz, die sich selbst "Ich" nennt, obwohl sie viele verschiedene, "Ichs" in sich vereint und somit alles andere als einheitlich ist.
Ob es Viola aktuell wohl genauso ergeht wie mir, frage ich mich. Wohl kaum, sie wird meinetwegen zuhause sitzen und sich die Augen ausheulen, während sie sich einen ekelhaft kitschigen Liebesfilm reinzieht.
Ob es Theresa aktuell wohl genauso ergeht wie mir, frage ich mich. Wohl kaum, sie wird meinetwegen zuhause sitzen und mich, in ihr reizendes Kleid gekleidet, sehnsüchtig erwarten, während sie sich schön zurecht macht und schminkt, in freudiger Erwartung, was der Abend wohl noch so bringen mag.
Und doch kann ich es nicht genau wissen. Ich vermag nicht in das Innere eines Menschen zu blicken. Alles, was sich mir offenbart, ist die Fassade, die Maske, die jeder von uns trägt zum Schutze der gesellschaftlichen Stellung, der Persönlichkeit und eigenen Identität.
Was gibt mir die Sicherheit, dass Theresa mich ebenso liebt und sehnsuchtsvoll begehrt, wie ich sie? Was gibt mir die Gewissheit, dass Viola mir und unserer wunderschönen gemeinsamen Zeit ebenso hinterhertrauert und sich voller Reue und Melancholie wünscht, dass alles anders gekommen wäre, so wie ich es jeden Tag aufs Neue tue? Nichts! Und in diesem Moment wird mir die Unvereinbarkeit von Trieben und der Vernunft, von Gefühlen und dem Verstand, von sinnlichem Begehren und wahrer Liebe und von Wünschen und der Realität, schmerzlich bewusst und ich erkenne, dass es kein Vor-und Zurück mehr gibt, für niemanden von uns.
"Alles Sein ist Nichts", flüstert der Nihilist.
"Ich bin unfrei", flüstert der Philosoph.
"Ich bin schuldig", flüstert der Moralapostel.
"Oh Theresa, wie ich dich begehre", flüstern die Triebe.
Währenddessen muss ich eine Vollbremsung hinlegen, da ich erst spät bemerke, dass plötzlich, wie aus dem Nichts, eine Ampel auftaucht, die rot anzeigt.
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