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Schachspiel

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02.06.20 13:10
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Das nächste Mal würde er nicht gleich schießen. Wütend starrte er auf die unschönen Wände seiner Gefängniszelle. So lange ließen sie ihn hier jetzt schon schmoren. Diese endlos erscheinenden Verhöre brachten doch alle nichts. Wann würde der Herr Kommissar das endlich begreifen? Sein eigener Vorteil war, dass er die Methoden und Verfahren einigermaßen kannte. Würde es ihm gelingen, dessen Taktik zu durchschauen und den anderen an der Nase herumzuführen? Immerhin hatte er ein edles Motiv gehabt. Dass ihm dann diese junge Frau dazwischen kommen würde, wie hätte er das ahnen können! Einmal mehr hatte er erfahren müssen, dass der Zufall den besten Plan zunichtemachen kann. Und dass er wie ein erfolgreicher Schachspieler noch viel mehr Alternativen hätte einplanen sollen.

Ach ja, das Schachspiel; sein Vater hatte es ihm beigebracht. Stunden hatten sie zusammengesessen, viele lange Partien gemeinsam erlebt, manche berühmte nachgespielt. Sie waren ein Herz und eine Seele, durch diese Leidenschaft, aber auch darüber hinaus. Er hatte es bis heute nicht verwunden, dass sein Vater eines Tages das Opfer eines halbwüchsigen Straßenräubers werden sollte. Eines heruntergekommenen Junkies, der für seinen nächsten Trip nicht vor dem rücksichtslosen Gebrauch eines Messers zurückschrecken würde. Es war die erste harte Lektion seines Lebens gewesen: möglichst immer vor dem anderen handeln, nicht lange ankündigen, sondern beherzt zupacken und entschlossen seinen Willen durchsetzen. Vielleicht würde sein Vater noch leben, hätte er sich damals nicht durch Angstgefühle und moralische Skrupel von der einzig aussichtsreichen Maßnahme abhalten lassen. Nämlich, dem Täter sofort die Initiative zu nehmen, ihn durch einen blitzschnellen Schlag zu überraschen und ihm die Waffe zu entwenden. Die tiefe Schuld, die er seither empfand, der nagende Groll, versagt und dadurch seinen geliebten Vater verloren zu haben, hatten ihn schließlich zu seiner Berufswahl geführt. Diese Entscheidung, die er eigentlich nie bereuen musste, hatte ihm viele Vorteile in seinem von kritischen Situationen reichen Leben und dabei stets ein Gefühl der Überlegenheit verschafft. Und letztendlich wollte er nie wieder eine solche Situation wie damals erleben, nie wieder eine solche Schmach empfinden, nie wieder eine solche Niederlage einstecken müssen. Er, der sein Leben zu beherrschen schien, saß nun in dieser Zelle und harrte der Dinge, die er bei allem Scharfsinn und aller Schacherfahrung ja doch nur bedingt beeinflussen konnte. Vielleicht kam ihm der Vorteil seiner Berufswahl nochmals zu Pass, vielleicht konnte er alle übertölpeln.

Das fade Licht eines bewölkten Tages, welches durch das mit Glasbausteinen zusätzlich gesicherte Oberlicht seiner Zelle fiel, vermochte seine Gedanken kaum aufzuhellen. Das Mittagessen hatte er auch dieses Mal unangerührt stehen lassen. Lass doch dieses Selbstmitleid, hörte er eine innere Stimme rufen, dadurch wird nichts besser. Du machst dich nur angreifbar, wirst im nächsten Verhör keinen klaren Gedanken fassen, dich schon gar nicht mit Geschick einer drohenden Verurteilung entwinden können. Mitleid sollte er eigentlich nur mit der Frau haben, die durch sein entschlossenes, aber im Ergebnis unglückliches Handeln zu Tode gekommen war. Das lähmende Entsetzen, welches seiner durch Adrenalin zusätzlich stimulierten schnellen Reaktion gefolgt war, hatte die Tatortszene scheinbar im Bruchteil einer Sekunde vom Zeitraffer in die Zeitlupe fallen lassen. Den Todesschrei nahm er wie durch eine Nebelwand wahr, während sich ein einziger, gellender Vorwurf wie Eiswasser über ihn ergoss. Seine ohnehin angespannte Gestalt war völlig erstarrt, der Herausforderer entkommen. Der Schock hatte ihn die nachfolgenden Minuten völlig vergessen lassen, eine Erfahrung, die er trotz seiner Ausbildung bis dahin als für ihn völlig abwegig bewertet hatte. Grimmig kam ihm der oft wiederholte Leitgedanke seines Vaters in den Sinn, wonach man im Leben nie auslerne, sich immer wieder auf Neues einstellen müsse. Wie viele Menschen mochte es geben, die sich den Rest ihres Lebens nichts sehnlicher wünschten, als dass sie diesen einen kleinen Augenblick wieder ungeschehen machen könnten. Einen Augenblick nur, der ihre weitere Existenz so nachhaltig verändert, ja, in vielen Fällen gebrochen hatte.

Unwirsch horchte er auf den Gang hinaus, bald würden sie ihn schon wieder zur nächsten Gesprächsrunde abholen. Natürlich hatte er nicht nur die berühmte Unschuldsvermutung der Juristen, sondern auch das ihm entgegengebrachte Wohlwollen des Kommissars auf seiner Seite. Gleichwohl machte sein Fall wegen der Brisanz und Öffentlichkeitswirksamkeit besondere Genauigkeit im Vorgehen erforderlich.

Ein Straßenräuber hatte ähnlich wie damals einfach nur Geld von der Frau verlangt. Der konnte ja nicht ahnen, dass er trotz sorgfältiger Auswahl des Tatorts in einer wenig frequentierten Gegend mit dem Erscheinen eines missliebigen Zeugens rechnen musste. Einfache Straßenräuber spielen in der Regel ja auch nicht Schach. Sie durchdenken ihr Handeln und ihre Züge nicht, handeln mehr oder weniger impulsiv. Sie legen es auf den schnellen Erfolg und ihr ebenso schnelles Verschwinden an. Na ja, und die heutige durch sozialpädagogische Gefühlsduselei geprägte Rechtsprechung haben sie ohnehin auf ihrer Seite, sollte es zu einer Festnahme kommen. Die schlechte Kindheit und Jugend im vom Alkoholmissbrauch dominierten Elternhaus haben im Zweifel mehr Gewicht als die durchdachten Argumente des Staatsanwalts.

Und überhaupt, immer dieses Argument der Verhältnismäßigkeit! Auf einen groben Klotz gehört bekanntlich ein grober Keil, der Schwächere zieht ehrfahrungsgemäß den Kürzeren! Sicher, viele seiner Lehrer hatten mit allen möglichen Denkansätzen und Rechtsformeln eine derartige Einstellung zu verhindern versucht. Aber konnte man es einem von einer Bluttat gezeichneten Menschen verdenken, dass er immer wieder auch seinen Emotionen unterlag? Psychologen haben den Auftrag, den Verstand und das Gefühl gegeneinander abzuwägen. Diese feinsinnigen Menschen würden wie in allen vergleichbaren Fällen auch seine Persönlichkeit beleuchten und dann optimaler Weise Entlastungsgründe zum Vorschein bringen.

Zugegeben, das im Laternenlicht aufblitzende Messer hatte seinen Verstand aussetzen lassen, nein, hatte oft geübte unbewusste Routineabläufe ausgelöst. Der vorgeschriebene Warnschrei war dem Schuss definitiv vorausgegangen. Dass sich die Frau, offensichtlich durch sein Erscheinen zusätzlich schockiert, mit einem ungeschickten Versuch, der Situation zu entkommen, durch eine Halbdrehung ungewollt in Richtung des Täters bewegt hatte, nahm er nur noch durch das aufblitzende Mündungsfeuer seiner Waffe wahr. Zu spät, um irgendetwas am schicksalhaften Verlauf dieses oft verfluchten Tages ändern zu können.

Seine Gedanken wurden durch Schritte auf dem Flur unterbrochen. Die Zellentür öffnete sich, der Kommissar holte ihn persönlich ab:
„Na los, Kollege, heute bringen wir es hinter uns!“

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Reeney Am 03.06.2020 um 13:07 Uhr
Ein wirklich schöner Schreibstil!
Es liest sich meiner Meinung nach sehr angenehm und mir gefällt auch der Aufbau der Kurzgeschichte.
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Wortschriftner (Autor)Am 03.06.2020 um 21:32 Uhr
Vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine Bewertung, Reeney. Beides motiviert mich.

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Sätze: 51
Wörter: 1.091
Zeichen: 6.989

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Diese Story wird neben Philosophie auch in den Genres Krimi, Nachdenkliches gelistet.