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Die Gerechte

201
08.10.17 19:29
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
DIE GERECHTE


Der Pfad der Gerechten ist wie das Licht am Morgen.
Altes Testament


Eine fremde Männerstimme drang in mein Ohr. Sie murmelte und gurgelte durch meine Gehörgänge, dumpf prallte sie gegen das Trommelfell, hüpfte, einmal, zweimal, schlug eine Rolle und landete endlich, sich die Hosenbeine abklopfend, in meinem Hirn, wo sie zwischen den müden Wolken der Tiefschlafphase einige Mühe hatte zum Kern des Ganzen vorzudringen. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern konnte ich wohl noch für ein, zwei Momente den Tag und seine kommenden Strapazen aussperren und nur mit mir selber sein, dort, zwischen Wachen und Schlafen, wo man durch Zwang und Wunsch immer ganz alleine und auf sich gestellt ist, in den eigenen Gedanken gefangen und gleichzeitig frei – ist das überhaupt möglich? Über die Frage musste ich die Stirn runzeln und öffnete im Affekt unüberlegterweise die Augen.

Ich blinzelte, einmal, zweimal. Versuchte die Augen wieder zu schließen; vielleicht würde ich ja spontan wieder einschlafen. Ich blieb hellwach. Die Stimme lachte jetzt, laut und dröhnend, nicht höhnisch, viel mehr ganz und gar durchdringend ehrlich, als wäre es des Lachens Absicht mich mit aller Kraft in einen freudigen Tag zu locken. Ich wollte nein sagen, aber als ich den Mund öffnete, musste ich gähnen. Lange und ausgiebig. Dann richtete ich mich auf.

Durch die halb geöffneten Vorhänge schickte die Morgensonne einen Streifen Licht ins Zimmer, der über das Fußende des Bettes fiel, hinüber zur Tür, die offenstand. Ich schloss diese Tür – immer. Keine Ausnahme. Ich musste die Nase rümpfen. Es roch komisch. Aber ich konnte nicht identifizieren wonach. Sonst war noch nicht viel wahrzunehmen. Die Stimme war wieder verstummt. Es war still im Zimmer. Ich spielte mit dem Gedanken mich wieder fallen zu lassen, doch –

„Gut geschlafen?“

Ja, dachte ich. Ich habe gut geschlafen. Aber jetzt bin ich wach. Leider.

Neben meinem Bett stand der Mann zu der Stimme. Groß, breit, dunkelhaarig. Ein irritierend massiver Eindringling in die ruhige Vertrautheit meines Schlafzimmers. In Lederjacke. In der Wohnung, in der es angenehm warm war. Langsam dämmerte mir, dass es mich wohl aufregen oder zumindest erschrecken sollte, mit einem Fremden in Lederjacke neben meinem Bett aufzuwachen.

„Wer sind Sie?“, fragte ich und kratzte mich am Kopf, was meiner Frage vielleicht nicht unbedingt den Nachdruck und die Dringlichkeit verlieh, den ich ihr gerne verliehen hätte, wäre mein Verstand nicht noch dabei gewesen den Nebel aus seinen Windungen zu wedeln. In meinen Ohren gurgelte es noch immer leise. Ferne Traumklänge. Ich musste noch einmal gähnen.

„Ich bin hier, um Sie abzuholen.“



Tropf, tropf. Tropf, tropf. Ich strecke die Hand aus. Tropf, tropf. Ich schmecke metallisch das Blut in meinem Mund. Ich habe mir auf die Zunge gebissen, als ich gefallen bin. Wie ärgerlich. Jetzt tropft es von meinem Kinn auf meinen Pullover.

Du stehst vor mir. Groß und starr, wie eine Säule ragst du in den Abendhimmel. Ich denke, du könntest mir aufhelfen, aber du drehst dich um und siehst zur Stadt hinunter. Ich sehe nicht hin, ich will nicht mehr hinsehen, will dich nicht mehr sehen. Dein Gesicht ist so hässlich, wenn du wütend bist.

Ich begutachte meine Hände. Nicht, dass etwas Besonderes an meinen Händen wäre, ich weiß nur nicht, wo ich hinsehen sollte. Sie liegen zu Fäusten geballt in meinem Schoß. Bin ich wütend? Ich bin mir nicht ganz sicher. Der Stein in meinem Magen ist sich noch nicht ganz sicher. Vielleicht muss ich kotzen. Von dem ganzen Blut. Widerlich.

Ich kann dich nicht mehr ansehen, dabei kennen wir uns schon so lange. Und lange habe ich zu dir gehalten. Zu der überzeugenden Illusion, die ich von dir hatte.

Vielleicht – und das denke ich erst jetzt? – hätte ich dich ganz am Anfang fragen, ja vor die Wahl stellen sollen, ich hätte dich zwingen müssen mir die Wahrheit zu sagen. Was du willst und was du von mir willst und warum ich dich am Wochenende nie anrufen durfte. Aber ich konnte ja nicht ahnen, was wahr und was Lüge war. Behaupte ich heute. Ich weiß nicht, ob sie mir das abnehmen werden. Es klingt nicht besonders glaubwürdig.


Haben Sie sich denn nie gewundert? Ihnen muss doch etwas aufgefallen sein, Sie können doch nicht Jahre lang nichts geahnt haben. Sie haben doch mit diesem Mann zusammengelebt.

Ich glaube, ich würde gerne die Wahrheit sagen, wenn ich wüsste, was die Wahrheit ist. Aber ich bin mir da nicht mehr so sicher. Du hast mir nichts erzählt. Trotzdem kriege ich alles durcheinander, als hätte ich dir jahrelang zugehört. Aber ich habe nichts gehört. Auch nichts gesehen, eigentlich. Vielleicht etwas gerochen. Jetzt ist es zu spät darüber nachzudenken. Damit hätte ich früher anfangen sollen. Hinterher ist man immer schlauer.

Ich sehe wieder hoch. Du hast heute auch nicht nachgedacht – sonst wärst du doch nicht hier. Du bist ja eigentlich nicht blöd. Im Gegenteil. Vielleicht hast du wirklich etwas für mich übrig. Vielleicht glaubst du noch an mich.

Ich weiß noch, wie ich das erste Mal gesehen hab – dass ich da jetzt dran denken muss. Du auf der Bühne, ich davor, irgendwo im mittleren Parkett. Ich konnte dich sehen, aber du mich nicht. Nicht in einem Meer von hunderten von Zuschauern. Du hast natürlich behauptet, dass ich dir aufgefallen wäre. Aber das habe ich dir damals schon nicht geglaubt. Von der Bühne kann man überhaupt niemanden erkennen. Trotzdem warst du irgendwie charmant. So schrecklich intellektuell. Mit einer Antwort auf jede Frage, die ich mir ausdenken konnte. Außerdem hast du gut gerochen. Also haben wir uns öfter gesehen.


Die Beweise. Denken Sie nicht auch, dass die gegen Sie sprechen? Und die Zeugen? Die haben Sie nie gesehen? Sie waren nie dabei? Ihre Geschichte ist unglaubwürdig. Ein Mann der Öffentlichkeit. Dem will man vielleicht was anhängen. Wir können Ihnen das nicht glauben.

Nein, niemand wird mir glauben, wenn es soweit ist. Du bist nicht blöd. Warum sollten die dich kriegen. Nach all den Jahren. Da denkst du gar nicht mehr daran.

Tropf, tropf. Ich wische mir das Blut vom Kinn, lasch, mit den Fingern. Dein Rücken scheint mich höhnisch anzugrinsen. Eine große, grinsende Säule. Wer hat die nur hier aufgestellt, an so einem unpassend trostlosen Platz. Du siehst auf die Stadt hinunter und ich frage mich nicht mehr, was du denkst. Damit habe ich schon zu viel Zeit verloren. So oft habe ich dich angesehen und versucht hinter diese schönen Augen zu blicken, durch diesen dicken Schädel, um zu erkennen wer du wirklich bist.

Vielleicht, denke ich jetzt, hätte ich es lieber nicht sehen sollen. Aber das ist natürlich nur mein pathetischer Wunsch nach Liebe. Ich weiß, dass das falsch ist.

Meine Fingernägel bohren sich in das Fleisch meiner Handflächen und ich glaube, dass meine Augen tränen. Aber warum? Ich hätte dich doch gleich danach fragen müssen. Dann hättest du mich rausgeworfen. Nichts wäre je passiert. Mir jedenfalls nicht.

„Pathetisch“, sage ich, aber du reagierst nicht. In meinem Mund noch immer das Blut, ein unschönes Gefühl. Ich denke, dass ich das vielleicht verdient habe.  

Ich hatte erwartet, dass du mich was fragen würdest. Dass es dich interessieren würde. Du dich wundern würdest. Über mich und meinen Sinneswandel. Ich habe überraschenderweise keine Angst gehabt. Für ein Tier ist das tödlich. Wenn es sich fälschlich in Sicherheit wiegt. Man sollte seinen Feind nie unterschätzen. Und einem Verbrecher nie glauben. Aber du wolltest gar nicht wissen, warum. Bist du überhaupt mein Feind?

In meinem Leben habe ich vielen Regeln gehorcht. Wahrscheinlich war das falsch. Aber wahrscheinlich benutze ich dieses Wort auch zu häufig. Ich sollte mir meiner Sache lieber sicher sein. Einer Sache bin ich mir heute sicher.

Ich erinnere mich jetzt an viele Dinge. An Abende, an denen du mich in teure Restaurants geführt und dann zwischendurch eine halbe Stunde lang telefoniert hast. Wenn du zurückkamst, dann hattest du diesen komischen Ausdruck im Gesicht. Entrückt und befriedigt. Wie nach einem guten Orgasmus. Oder an den Tag, als ich bei deiner angeblichen Schwester auf dem Sofa saß, während du im Nebenzimmer rungeschrien hast wie ein Verrückter. Oder an deine wochenlangen Arbeitsreisen.

Es stimmt schon, wenn sie Beweise hätten, dann sicher auch gegen mich. Aber ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass sie Beweise haben. Ich könnte nur sagen: Ich habe es aber gesehen. Das tote Mädchen in dem Kofferraum. Das werden sie vermutlich nie finden.

Also muss ich selber ins Reine bringen, was ich verbrochen und geschehen lassen habe. Ich habe das nicht lange geplant. Eigentlich war es eher eine spontane Entscheidung. Lange weiß ich es noch nicht.Und jetzt bin ich hier. Bereit, glaube ich.

Ich spucke endlich das Blut aus. Man schlägt doch keine Mädchen. Hat dir das niemand beigebracht?

Oh, die Ironie dieser Frage. Fast lache ich laut. Aber stattdessen helfe ich mir selber hoch und stelle mich dicht hinter dich, bis ich dein Aftershave riechen kann. Inzwischen finde ich es widerlich. Alles an dir ist widerlich, was ich früher geliebt habe. Seit ich weiß, was deine Augen gesehen, was deine Hände getan haben. Ich schaudere bei dem Gedanken, du könntest mich anfassen. Aber ich stehe ganz nah bei dir und zittere nicht. Ich bin mir meiner Sache sicher. Ich habe alles, was ich brauche, in meiner Jackentasche.

Es dauert nicht lange. Du regst dich nicht. Ich dachte, ich müsste mich vielleicht erst überwinden, aber das stimmt nicht. Und ich fühle nichts. Ich bin völlig starr. Ich stehe da, wie eine Säule und sehe zur Stadt hinunter, über dich hinweg, wie du den Abhang runterrutschst. Ich habe es getan.

Du bist tot.




„Sie wissen doch warum ich hier bin, Frau B. Bitte ziehen Sie sich etwas an. Ich werde vor der Tür warten.“

Er schloss die Tür. Über die Sonne schien sich eine Wolke geschoben zu haben, der Lichtstreifen war verschwunden. Oder stand dort jemand vor dem Fenster? Über mir schien die Welt einzubrechen. Was man erwartete, konnte einen doch überraschen. Es lag am Tageslicht. Verzweifelt versuchte ich die Augen erneut zu schließen und mich wieder in ein Gestern zu befördern, doch die Realität blieb die Realität und ich konnte sie nicht mehr verändern.

Autorennotiz

Entstanden im Rahmen eines fanfiktion.de Wichtelns.

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Autor

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Kurzbeschreibung

Als sie aufwacht, steht ein Mann in ihrem Zimmer und zwingt sie sich der Wahrheit zu stellen. Was ist Gerechtigkeit? Wann handelt man gerecht? Was ist eine gerechte Strafe?

Kategorisierung

Diese Story wird neben Philosophie auch im Genre Drama gelistet.