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Wenn die Sonne untergeht...

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03.07.18 19:53
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Was bin ich ein armer Mann! Geplagt vom Leid, verfolgt vom Pech, gefangen. Den ganzen Tag sitze ich hier. In diesem Sessel. In der dunklen Kammer. Den ganzen Tage sitze ich hier, trauernd. Den ganzen Tag sitze ich hier, weinend. Den ganzen Tag sitze ich hier abgeschottet vom Rest der Welt, keinen Ausweg aus meinem Leid findend. Verzweifelt, deprimiert, geschlagen und besiegt. Mein Wille ist gebrochen, genauso wie mein Herz. Im Leben habe ich oft verloren. Verachtet von den ignoranten Eltern. Daran gehindert, meiner großen Leidenschaft nachzugehen. Dabei habe ich doch immer geträumt, so wie er zu werden. Doch ein zweiter Ludwig van Beethoven ist aus mir nicht geworden. Finanziell vor dem Ruin stehend, war sie der einzige Grund, am Leben zu bleiben.
All dies hätte ich willig in Kauf genommen, hätte ich sie dafür behalten dürfen. Nicht einmal das war mir vergönnt! Ich bin oft gedemütigt worden, doch keine Demütigung war so schmerzhaft, wie die des dunklen Mannes, der sie mir weggenommen hat. Aus diesem Grund sitze ich hier, abgeschottet vom Rest der Welt. Will alleine sein, mich nicht mit anderen Menschen umgeben. Ohnehin kann niemand mein Leid nachvollziehen. Keiner versteht, was ich durchmache, wie ich mich fühle. Weil niemand weiß, was in meinem Inneren vor sich geht. Gefangen in der endlosen Tiefe meiner Gedanken. Weil nur ich aufrichtig liebe. Die anderen begehren nur das Fleisch. Ich dagegen verschmelze mit der Seele. Sie machte mich komplett. Sie war meine Welt.  Selbst ein gebrochener Mann, dem seit seiner Geburt ein elendes Leben vorherbestimmt war, erfährt durch wahre Liebe tiefe Erfüllung. Doch selbst die Erfüllung durch meine grenzenlose Liebe, war mir nicht vergönnt. Stattdessen stürzte mich die Liebe in den dunklen Abgrund.
Der dunkle Mann höchstselbst hat die Verbindung unserer Seelen getrennt. Er hat sie an sich gerissen, mit seinen kalten Händen begrapscht, dabei teuflisch gelacht und mich damit noch mehr gedemütigt. Warum tritt Gott auf jemanden, der ihm zu Füßen liegt? Warum wird ein armer Mann, dessen elendes Leben vorherbestimmt war, noch weiter erniedrigt? In diesen schweren Momenten wünsche ich mir, dass ich sie niemals kennengelernt hätte. Doch auch das war Teil des teuflischen, göttlichen Plans. Er wollte seinen ergebenen Diener von Anfang an scheitern sehen. Daher entfachte er zunächst das unlöschbare Feuer der Liebe in mir, nur um einige Zeit später, als ich sie in den Mittelpunkt meines Lebens stellte und gerade anfing, die Liebe als göttliches Geschenk zu betrachten, den dunklen Mann zu schicken und mir meine Welt, einfach alles, zu nehmen. Jetzt weiß ich, dass Liebe kein Geschenk, sondern eine Strafe ist. Doch was habe ich in meinem elenden Leben verbrochen, was Gottes Zorn und dessen unendliche Grausamkeit rechtfertigt? Ich habe stets gehandelt, wie mir befohlen, doch nun irre ich umher, einsam und verlassen in einer gottlosen Welt. Gefühle machen schwach. Ich kann sie nicht abschalten. Sie sind ebenfalls eine Strafe. In meinem elenden Leben wurde ich nur gestraft.
Langsam erhebe ich mich von meinem Sessel und bewege mich in Richtung des CD-Players. In meiner tiefen Trauer gibt es nur noch eines, das in der Lage ist, mich zu trösten. Wenigstens die Musik hat mich nicht verlassen, denke ich, als ich die CD einlege. Doch Gott führt nichts Gutes im Schilde. Es ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwann wird er mir auch die Musik nehmen und dann stehe ich endgültig alleine da, alleine vor ihm, schutzlos und nackt. Leichte Beute für den dunklen Mann.
Aus den Lautsprechern tönt die göttliche Fünfte des Meisters höchstselbst. Ich schließe kurz die Augen und genieße die ersten Takte des Meisterwerks, bevor ich in die Flammen blicke, die im Kamin lodern. Ich stelle mir mein Herz vor, wie es wie Schnee im Feuer schmilzt, zunächst im Feuer der Liebe, dann im Feuer der Verzweiflung und am Ende, was mir noch bevorsteht, im Fegefeuer.
Ich sehe mich in der dunklen Kammer um. Über dem Sessel hängt ein großes Bild von ihr und direkt darüber ein kleines Kreuz. Warum nur hängt dort dieses Kreuz? Gott hat nichts für mich getan, niemals. Warum soll ich also noch etwas für ihn tun? Mich, seinen ergebenen Diener, ließ er, tatenlos zusehend, foltern und leiden. Ich bin fertig mit Gott.
Ich nehme das Kreuz von der Wand und betrachte es, wie es, so schwach und hilflos ausgeliefert, in meinen großen, mächtigen Händen liegt. Jetzt ist es an mir, zu richten und ein angemessenes Urteil zu fällen. Still und leise genieße ich diesen Moment der Überlegenheit.
"Das ist die Rache für mein elendes Leben, das ich ohne deine Zuneigung und Hilfe bestreiten musste", sage ich leise aber hasserfüllt und zugleich bedauernd.
"So weit hätte es nicht kommen müssen. Doch es ist alles deine Schuld!"
Was tue ich also, um es Gott heimzuzahlen? Ich werfe das Kreuz in den Kamin. Sofort geht es in Flammen auf, so wie auch ich in Flammen aufgehen musste, weil es so vorherbestimmt war. Gott hatte niemals etwas für seine Diener übrig und ich habe nichts mehr für ihn übrig. Zu viel Leid musste ich ertragen, zu starke Schmerzen hat er mir zugeführt. Genüsslich beobachte ich, wie das Kreuz verbrennt. Im Hintergrund läuft Musik, das einzige, was mir von Gott noch nicht genommen wurde.
"Es ist vorbei mit uns", sage ich zu dem mittlerweile fast vollständig abgebrannten Kreuz im Kamin. Doch Gott gönnt mir auch diesen Sieg nicht! Nichts ist mir in meinen elenden Leben vergönnt. Die Musik hört plötzlich auf. Der CD-Player gibt auf, just in dem Moment, als von dem Kreuz nur noch Asche übrig war. Genauso, wie auch ich aufgegeben habe. Habe ich nicht die ganze Zeit über mit einer erneuten Strafe gerechnet? Das Zeichen, das Gott mir soeben gab, ist eindeutig. Weil ich versuchte, mich gegen ihn aufzulehnen, nahm er mir das letzte, was noch geblieben war, die Musik. Es ist vorbei! Ich bin fertig mit allem. Der Zeitpunkt ist gekommen. Hier und jetzt soll es geschehen, sollte es immer schon geschehen. Das war zu viel. Die göttliche Demütigung hat ihren Höhepunkt erreicht. Wenn der dunkle Mann nicht freiwillig kommt, um mich zu holen, werde ich ihn eben dazu zwingen. Wenigstens darüber möchte ich frei bestimmen, um meine Ehre zu bewahren. Auf die Art kann ich Gott doch noch trotzen!
Aus der Schublade nehme ich ein langes Messer hervor. Ich umklammere den Griff fest in meiner endgültigen Entschlossenheit. Wenn Gott mich nicht erlösen will, so tue ich dies selbst.
"Nein, Geliebter".
Es erklingt eine mir sehr vertraute Stimme. Eine liebliche Stimme, so schön wie das Zwitschern der Vögel, eine Stimme wie Musik, das Aufgehen der Sonne. Sofort weiß ich, wer zu mir spricht. Ich drehe mich um, betrachte das große, an der Wand hängende Bild von ihr und es gelingt mir doch tatsächlich, ein schwaches Lächeln aufzusetzen. Wie lange hatte ich nicht mehr gelacht?
Viel zu jung war sie, um von dem dunklen Mann heimgesucht zu werden. Auf dem Bild sieht sie wunderschön aus. Ihre helle Haut, ihre strahlend hellen, langen Haare, ihr kleines, ründliches Gesicht, ihre grünen, großen Augen, doch besonders ihr herzerwärmendes Lächeln, erinnern mich immer wieder an die Sonne. Sie war meine Welt. Doch wenn die Sonne untergeht, hinterlässt sie eine düstere, kalte Welt. Ohne Hoffnung, ohne Freude. Und sie wird nie wieder aufgehen. Nie wieder.
"Ich bin ein gebrochener Mann", gebe ich dem Bild zur Antwort. Ihre vollkommene Schönheit zieht mich in ihren Bann. Ich blicke in ihre Augen. Was würde ich geben, könnte ich dieses Strahlen in ihren Augen noch einmal in Wirklichkeit sehen. Doch was war schon die Wirklichkeit? Das entscheidet Gott und er steht nicht auf meiner Seite.
"Du musstest so viel leiden, mein Geliebter. Doch füge dir nicht noch mehr Leid zu. Was immer du vorhast, tue es nicht!"
Jetzt wird mir klar, dass sie versucht, mich von meinem Entschluss, die Ankunft des dunklen Mannes zu erzwingen, abzubringen. Doch mein Entschluss steht fest! Mein Schicksal ist besiegelt! Vermissen wird mich ohnehin niemand. Mein Leben ist bedeutungslos.
"Ich vermisse dich, meine Geliebte", seufze ich und die sich in meinen Augen bildenen Tränen, trüben meine Sicht, sodass ich ihr Bild nur noch verschwommen wahrnehme.
"Ich weiß", antwortet sie, antwortet Gott durch das Bild. Vielleicht bereut Gott alles, was er mir angetan hat, wer weiß das schon. Vielleicht will er es wieder gut machen und schickt daher den dunklen Mann nicht zu mir. Er will mir eine zweite Chance geben. Doch für mich gibt es keine Hoffnung mehr. Zu tief sitzt der Schmerz. Zu unverzeihlich das, was Gott mir angetan.
"Ich liebe dich", sage ich mit schwacher Stimme und wische mir mit den Ärmeln meines schwarzen Pullovers die Tränen aus den Augen, um zu wieder klar sehen zu können. Das ist alles, was ich noch will. Ihr Bild sehen. Dabei halte ich das Messer weiterhin fest umklammert.
"Ich weiß", antwortet Gott erneut.
"Denkst du, ich weiß nicht, wer durch das Bild zu mir spricht? Wie kannst du es wagen, sie zu benutzen, um mich aufzuhalten? Hast du mich nicht schon genug gedemütigt? Warum ergötzt du dich so an meinem Leid, du grausamer Gott?"
Ich blicke in ihre Augen, in Gottes Augen. Von Angesicht zu Angesicht stehe ich ihm gegenüber, ebenbürtig, genauso wie vorhin, als ich sein Kreuz in den Händen hielt, nur diesmal kann er mir nichts mehr nehmen, denn ich bin bereits vollständig zerstört.
Das Bild schweigt.
"Alles was ich verlange, ist eine Entschuldigung. Sag, dass es dir leidtut. Dein böses Spiel ist beendet, ich habe dich durchschaut und bevor ich diese grausame Welt verlasse, will ich, dass du dich bei mir entschuldigst, dafür, dass ich so ein unerfülltes Leben führen musste!"
Und dann geschieht etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte. Es ist unfassbar, aber Gott wirft sich vor mir auf die Knie, vor seinem kleinen Diener. Er entschuldigt sich! Ich verspüre daraufhin die größte menschenmögliche Genugtuung. Jetzt habe ich doch noch am Ende meines elenden Lebens einen Sieg errungen! Ich habe Gott besiegt!
Das Bild schweigt. Gott hat nichts mehr zu sagen. Seine Niederlage ist unausweichlich.
Ich beginne zu lachen. Ich kann nicht anders. Ich muss mich einfach über Gott lustig machen, so wie er es unzählige Male bei mir getan hat. Ich tanze in der Dunkelheit, lache in der endlosen Finsternis, denn ich habe gesiegt.
Ich beruhige mich wieder und betrachte ein letztes mal ihr Bild, das dort an meiner Wand hängt. Ihr wunderschönes Gesicht soll das letzte sein, was ich in meinem elenden Leben sehe.
"Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen, meine Geliebte", sage ich zu dem Bild.
"Gott ist geschlagen. Er wird es nicht wagen, sich erneut zwischen uns zu stellen", füge ich hinzu.
"Bald werden unsere Seelen wieder vereint sein, so wie es immer vorherbestimmt war."
Das Bild schweigt.
Jetzt schweige auch ich, denn es gibt nichts mehr zu sagen. Unendliche Sehnsucht durchfährt mich und ich hebe das Messer. Dies ist die letzte Tat meines elenden Lebens und zugleich die erste, die ich aus freiem Willen treffe, denn Gott hat nicht länger die Macht über mich.
Was bin ich ein erfolgreicher Mann!

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