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Unterhaltung über wahre Liebe

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06.08.18 20:21
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
An einem kühlen Tag im Oktober saßen Jim und M. auf einer Bank unter einem Baum, der bereits all seine Blätter verloren hatte und genossen die Ruhe. Ungestört waren sie unter sich und beobachteten das Treiben der Natur. Die kalte Herbstluft strich ihnen sanft durch das Gesicht, der Wind trug die bunten Blätter davon, der Himmel war wolkenlos und klar. Keiner der beiden hatte bisher auch nur ein einziges Wort gesagt. Dies war bei Liebenden ohnehin nicht notwendig, da die beiden Herzen auf einer nicht mit den Sinnen wahrnehmbaren Ebene kommunizierten. Diese Art von Kommunikation erforderte keine Worte, keine grammatikalischen Gesetzmäßigkeiten oder eine bestimmte Aussprache. Dies war eine Sprache, die der jeweils andere intuitiv verstand, und nur dieser jemand, niemand anderes. Nur zwei Herzen, die füreinander bestimmt waren konnten sich derart gut verstehen. Zudem war es kein Wort der Welt würdig, die vorherrschende tiefgehend erfüllende Stille zu unterbrechen.
Nach einer langen Zeit der Ruhe wurde diese jäh durch den schlagartig eintretenden Wetterumschwung beendet. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel, die Kälte nahm zu.
"Ich sitze schon viel zu lange hier", dachte Jim. "Ich sollte nach Hause, zu meiner Familie. Etwas mehr Zeit mit den Kindern verbringen."
M. dachte: "Du solltest nach Hause. Verbringst ohnehin viel zu viel Zeit mit mir. Hast doch schließlich eine Familie, die deiner Fürsorge bedarf. Kein Platz für mich."
Jim blickte gen Himmel. "Nicht mehr lange, dann beginnt es auch noch zu regnen. Bis es stark wird, sollte ich wirklich zuhause sein, bei Frau und Kind."
Doch es gelang ihm nicht, aufzustehen. Die Schwere seines trauernden Herzens machte dies unmöglich. Also blieb er noch eine Weile sitzend an dem Ort, an dem er sich wohl fühlte, weil M. bei ihm war.
"Es schmerzt, wenn ich gehen muss. Die Traumwelt zu verlassen, die wir beide uns aufgebaut haben. Zurück in die Realität geworfen zu werden."
"Jede Sekunde genieße ich mit dir."
Jim wusste, was M. gesagt hatte. Sein Herz hatte es verstanden. Jeder kannte die Gedanken des jeweils anderen. Und alle Worte wurden überflüssig, wenn das Herz sprach.
"Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mein Leben mit dir zu verbringen. Alles aufgeben, meine Familie verlassen, nur um dich immer in meiner Nähe zu haben", sagte Jims Herz.
"Du weißt, dass das unmöglich ist. Lange wollte ich es mir nicht eingestehen, doch unsere Liebe ist nur in unserer Traumwelt möglich, nicht in der realen Welt. Du hast eine Familie. Du bist ein angesehener Mann, würdest deinen Ruf aufs Spiel setzen, würdest du mit mir eine Bindung eingehen."
Betrübt blickte Jim zu Boden. M. hatte leider immer viel zu rational überzeugende Argumente, war stets realistisch und der harten Wahrheit ins Auge zu blicken, war etwas, was Jim sich nicht getraute.
"Mein Ruf interessiert mich nicht", antwortete sein Herz schließlich. "Gesellschaftliche Anerkennung würde ich zweifellos einbüßen, doch du bist dies alles wert. Nur die Liebe interessiert mich. Mein Herz sagt mir, dass es richtig ist und darauf ist Verlass. Was habe ich davon ein angesehener Mann zu sein, wenn doch mein Innerstes auf ewig unglücklich ist, bedingt duch eine schmerzhafte unerfüllte Liebe, eines gebrochenen Herzens. Fast jeden Tag sehen wir uns und doch bist du so weit von mir entfernt. Körperliche Nähe, doch emotionale Distanz. Warum nur bin ich dir nicht so wichtig wie du mir? Sag, was muss ich tun, um dich doch noch für mich zu gewinnen? Ohne zu zögern würde ich alles, mein ganzes Leben diesem Traum unterordnen. Durch die Hölle würde ich für dich gehen!"
In Jims Augen bildeten sich Tränen und auch M. kämpfte mit den Tränen, nachdem Jims Herz diese Worte gesprochen hatte. Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel herab, ein Sturm bahnte sich an. Der Wind peitschte ihnen mit seiner eiskalten Wucht schonungslos ins Gesicht. Schließlich antwortete M. mithilfe des Herzens, ohne auch nur die Lippen zu bewegen: "Deine Liebe ist nicht unerwidert. Auch ich empfinde so."
"Warum willst du dann nicht mit mir zusammen sein?"
"Weil du schon eine Familie gegründet hast."
"Nur, weil ich dich zu dem Zeitpunkt noch nicht kannte. Meine Frau kenne ich seit zwölf Jahren, meine Kinder sind acht und vier. Dich habe ich erst vor zwei Jahren getroffen und sofort erkannt, dass wir füreinander bestimmt sind, weil wir beide die gleiche Sprache sprechen. Ich bin der einzige, der die unausgesprochenen Worte deines Herzens zu verstehen und zu deuten in der Lage ist und andersherum verhält es sich genauso."
"Du darfst dein Leben inmitten der gehobenen Gesellschaft nicht aufgeben. Die Familie bedarf deiner. Du würdest alles zerstören und ich wäre der Auslöser dafür und somit für das daraus resultierende Chaos und Leid zu verantworten. Und ich will nicht Schuld am Untergang deines Lebens tragen. Unsere Liebe muss geheim bleiben. Wir beide wissen davon, niemand anderes. Was willst du noch mehr, Jim?"
Jim konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und begann hemmungslos seiner Trauer freien Lauf zu lassen, was er sich in der Gegenwart von M. auch getraute, schließlich war ihre Beziehung von grenzenlosem Vertrauen geprägt. M. weinte ebenfalls, das wusste er intuitiv. Die beiden saßen zwar direkt nebeneinander, doch sahen sie sich nicht an, sondern blickten in Richtung des fernen Horizonts. Die Liebenden bedurften nicht der sinnlichen Wahrnehmung des jeweils anderen. Ihre Liebe ging darüber hinaus, war stärker, inniger, von unschätzbarem Wert. Im Herzen hatten sie ein Bild voneinander, das die Vollkommenheit des anderen viel besser darstellte als es die Augen vermochten, weshalb es nicht vonnöten war, sich anzusehen.
Der Regen wurde stärker, die Tropfen prasselten nur so herab, fast schon wie kleine Geschosse. Jim und M. reagierten nicht auf die äußeren Umstände, sondern regten sich nicht in ihrer Apathie.
Jims Herz nahm die kurzzeitig unterbrochene Kommunikation erneut auf: "Ja, wir beide wissen um unsere Liebe, doch reicht mir das nicht. Ich will keine geheime Liebe. Alle sollen davon wissen! Du zerstörst mein Leben nur, wenn du mir nicht eben jene Liebe zurückgibst, die ich dir hingebungsvoll entgegenbringe."
"Sei doch vernünftig!"
"Wie soll ich vernünftig sein, wenn die Gefühle mich übermannen? Kein irdisches Wesen hat der Macht der Liebe etwas entgegenzusetzen. Begreifst du denn nicht, dass es so enorm selten ist, wenn zwei Menschen sich nur mit dem Herzen gemeinsam unterhalten und einander verstehen, ohne auch nur den Mund zu öffnen? Für jeden Menschen gibt es diese eine Person, mit der eine solche Konversation möglich ist. Und das ist das Zeichen, das man denjenigen gefunden hat, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen muss. So verlangt es das Schicksal. So will auch ich es und dabei spielt es keine Rolle auf welche Person das Herz diese grenzenlose Liebe projiziert. Es spielt keine Rolle, wer du bist. Nur das, was du für mich darstellst. Du bist mein Leben!"
Auch M. machte sich nicht mehr die Mühe, die Tränen zurückzuhalten, zu berührend waren die Worte des Herzens des Geliebten.
"Du bist verloren, Jim. Du ertrinkst in deiner Liebe. Einst brachtest du diese Liebe deiner Frau entgegen. Bitte schenke ihr die Aufmerksamkeit, die du mir widmest. Es gibt keinen anderen Ausweg. Noch ist es nicht zu spät. Du kannst dich noch retten. Du musst handeln. Sofort!"
"Nein. Erwiderst du nicht meine Liebe, so will ich nicht länger leben. So verliert mein Dasein jeglichen Sinn. Ich kann die Liebe zu meiner Frau einfach nicht mehr entfachen. Diese Zeit ist vorbei und wird nie wiederkehren. Es lässt sich nichts erzwingen. Ich kann auch dich zu nichts zwingen, doch bedenke, dass du mich durch deine Ablehnung ins tiefste Unglück stürzt."
M. antwortete: "Ich liebe dich über alles auf der Welt. Und genau aus diesem Grund muss ich dich beschützen, aus diesem Grund will ich das Beste für dich und das werde ich dir niemals bieten können. Würde ich meiner Vernunft keine Beachtung schenken, würde ich meinen eigenen Bedürfnissen folgen und wäre nichts anderes als ein Egoist. Doch du hast etwas besseres verdient. Um die Wahrheit zu sagen vermisse ich dich mehr als ich es ertragen kann. Mein Herz findet erst Ruhe, wenn es mit deinem in Kontakt treten kann, so wie gerade. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht in unendlicher Sehnsucht an dich denke. Und doch können wir niemals zusammen sein. Auch wenn wir die gleiche Sprache sprechen. Ich nehme nur Abstand von dir, weil ich weiß, dass es das Beste für dich ist. Dir ist ein anderer Weg vorherbestimmt als mir."
"Woher willst du das wissen?"
"Weil mein Herz es mir zuflüstert. Und es irrt sich nie, wie du selber gesagt hast. Es weiß, was richtig und was falsch ist. Genaugenommen ist es die einzig notwendige moralische Instanz."
"Wahre Liebe wie die unsrige, sollte niemals unterdrückt werden", sagte Jims Herz.
"Das wird sie auch nicht. Im Herzen werden wir einander bis ans Ende unserer Tage lieben. Wahre Liebe wird im Inneren ausgetragen und bedarf keiner räumlichen Nähe. Sie stellt keine Bedingungen, doch genau  das tust du. Du willst mit mir zusammen sein, doch ist dies gar nicht notwendig. In unserer eigenen Welt, unserer Realität sind wir es doch längst. Verbunden durch das untrennbare Band der Liebe."
"Wenn das so ist, sollten wir uns nicht mehr sehen."
"Es schmerzt mich allein der Gedanke von dir getrennt zu sein, doch beruhigt es mich zu wissen, dass unsere Liebe füreinander bestehen bleibt und diese durch nichts zerstört werden kann. Es bedeutet, dass ich leiden werde, an der Trauer fast ersticke, doch es bedeutet auch, dein Leben zu retten und das ist weitaus wichtiger."
"Ich werde dich niemals vergessen!"
"Im Herzen sind wir für immer zusammen!"
"Wenn ich doch nur wüsste, wie es mir gelänge, dich zu vergessen. Ich kann diesen Schmerz nicht länger ertragen..."
"Vergessen ist Leugnen der Realität. Doch ich bin real und unsere Liebe ist es auch. Würdest du mich vergessen, würdest du damit unsere Liebe verraten. Dies darf jedoch nicht geschehen!"
"Wir sollten uns nicht mehr sehen."
"Ja, wir sollten uns nicht mehr sehen. Getrennte Wege gehen, doch im Geiste bis in alle Ewigkeit vereint bleiben. Denn nur dort gibt es für unsere Liebe eine Chance, eine Möglichkeit zu überleben. Und um nichts anderes geht es. Diese Trennung geht über persönliche Bedürfnisse hinaus. Sie ist eine Trennung der Liebe an sich willen und muss daher um jeden Preis durchgeführt werden, auch wenn es uns leidend zurücklässt. So verlangt es das Leben, das Schicksal! Und dies steht nunmal weit über uns."
In diesem Augenblick sahen sich Jim und M. zum ersten Mal an diesem Tag ins Gesicht, verloren sich in den endlosen Tiefen der Augen des jeweils anderen. Sie umarmten und küssten sich anschließend leidenschaftlich. Dann begann wieder eines der Herzen zu sprechen: "Versprich mir, dass du das Beste aus deinem Leben machst. Versprich mir, dass du meinetwegen keinerlei Trauer mehr, sondern nur noch Freude empfinden wirst. Versprich mir, dass du dich um deine Familie kümmerst, deine Karriere weiterverfolgst und glücklich bist. Versprich mir das, Jim!"
"Ich verspreche es."
Beide setzten zeitgleich ein Lächeln auf, kein erzwungenes, sondern ein aufrichtiges. Der Regen hielt nach wie vor an, die Tränen flossen. Langsam erhob sich Jim und trocknete seine Augen mit dem Ärmel seiner Jacke.
"Leb wohl, Jim", sagte M.
Bevor er von dannen schritt, antwortete er: "Leb wohl...Martin!"

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