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Wörter: | 641 | |
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Die Vögel zwitschern. Der Bach plätschert vor sich hin. Ich spüre die Kälte, die von ihm ausgeht und rieche ihn. Seinen natürlichen, frischen Duft. Beinahe schmecke ich das Wasser auf meiner Zunge. Eine erfrischende, süßliche Substanz, die sich wie weiche Watte an meinen Mundinnenraum schmiegt. Sonnenstrahlen tasten sich ganz langsam, Stück für Stück an meinem Gesicht entlang. Warm, angenehm, schützend.
Ich spüre und höre. Aber ich sehe nicht. Ich will nichts sehen. Dieser Moment gehört alleine meinen Ohren und meiner Haut. Wenn wir sehen, dann urteilen wir. Wir beschweren uns über den ungepflegt aussehenden Stadtbrunnen, die Hässlichkeit der Mauer am Spielplatz, die Länge des Grases auf der Spielwiese. Wir lästern über das Aussehen des neues Mädchens unseres Jahrganges und lachen über die großen Ohren unseres Mitschülers. Und das alles bevor wir überhaupt irgendwas sagen können.
Deshalb nehme ich mir diesen einen Moment und atme tief ein und aus. Ich genieße einmal. Denn es ist Frühling. Erwachen.
Ich habe jemanden kennengelernt. Er ist süß, attraktiv, freundlich, liebenswürdig. Wenn er da ist, tastet er ganz langsam über meine Haut, sodass ich eine Gänsehaut bekomme. Dann spüre ich etwas. Ich sehe es nicht nur. Ich spüre, was ich für ihn empfinde. Er bringt erwachen in mich. Erwachen in einen monotonen Alltag voller Stress. Er bringt Frühling in mein Leben. Die Blüten scheinen dann in mir aufzugehen und in ihren schönsten Farben zu strahlen. Schmetterlinge tanzen durch meine Magengrube. Meine Augen leuchten wie die Sonne um die Mittagsstunde. Vogelgesang hallt in meinen Ohren wieder. Ich rieche die bunte Blumenvielfalt und schmecke den süßen Honig. Frühling.
Meine Hand fährt langsam durch das hohe Gras. Ich spüre jeden einzelnen Grashalm, die sich langsam an meine Finger schmiegen und dann nehme ich eine andere Hand wahr. Rau und groß, fast schon klobig aber wunderschön. Ich rücke ein Stück nach rechts und spüre dann den warmen Körper. Direkt neben mir und ganz dicht an mich gekuschelt.
Ich weiß: Mir wird niemals etwas zustoßen. Ich weiß: Ich bin in Sicherheit. Ich weiß: Es ist Frühling.
Und das alles, ohne zu sehen.
„Und?“
Eine tiefe Stimme ertönt rechts neben mir.
„Wunderschön“, entgegne ich.
„Du.“
„Ich?“
„Du bist wunderschön.“
„Nein.“
„Doch.“
„Wie kannst du das sagen?“
„Du findest Gefallen daran, meine Welt kennenzulernen.“
Ich antworte nicht. Ich öffne die Augen. Ich stecke wieder mitten in meiner Welt. Laut, bunt, schrill, unangenehm, vorurteilend.
Mein Blick wandert zu ihm neben mir. Seine Augen sind geschlossen.
„Lass sie zu."
Er gehorcht. So lange er sie geschlossen hält, sieht er normal aus. Wie ein ganz normaler Junge. Ein Junge, der jeden Tag zur Schule geht, Klausuren schreibt, Freunde trifft, einem Hobby nachgeht und Musik macht. Er sieht wie jemand aus, der ein ganz normales Leben führt.
Ich sehe zu dem langen, weißen Stock, der im Gras liegt. Dieses Weiß ist beängstigend. So grell und lieblos. Ich bin froh, dass er es nicht sieht. Dass er diese Welt nicht betrachten muss. Die vorurteilende, hässliche Welt. Die Welt, in der er von jedem angestarrt wird, dem er begegnet. Ich bin froh, dass er nicht das blöde Kichern oder die von Mitleid verzerrten Visagen sieht, wenn er einen Raum betritt. Für ihn ist vielleicht immer Frühling. Aber das kann ich so genau nicht sagen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nur schwarz. Was sieht er? Auch schwarz? Oder weiß?
„Ich kann deine Welt niemals richtig kennenlernen.“
Er nickt. „Ich weiß.“
Er weiß, dass für ihn immer schwarzer Frühling bleiben wird. Denn ein bunter Frühling existiert in seiner Welt nicht oder vielleicht doch?
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Klatschkopie • Am 03.10.2022 um 19:53 Uhr | |||
Hi Mira, das ist wunderschön, kraftvoll, poetisch. Ja, die Frage, wie sich ein von Geburt an blinder Mensch die Welt denkt und vorstellt, weiß ich auch nicht zu sagen. Wie anders muss seine Wahrnehmung sein? Es gibt blinde Schriftsteller, vielleicht sollte ich mich da mal umsehen - oder mit Blinden über ihre Eindrücke sprechen. Allerdings: wenn ein Sinn ausfällt, schärfen sich dafür die anderen. In Farben kann einer Blinder wohl nicht denken, aber vielleicht in Dürften, Berührungen und Tönen? Was sind dann ihre Vergleiche und Metaphern? Ich weiß, das blinde Menschen ein sehr feines Gespür dafür besitzen, ob sie beim Sprechen angesehen werden oder nicht. Viele Menschen neigen dazu, blinden Augen, ja jeglicher Behinderung auszuweichen, weil sie damit nicht umgegen können, oder auch aus Scham, denn ihnen wurde beigebracht, solch einen Menschen nicht anzustarren. Das sagte mir einmal ein im Jugendalter erblindeter Pfarrer. Ihn mache es sehr traurig, dass er nicht angesehen werde, aber er wolle auch nicht in seine Gesprächspartner dringen, denn dann würden sie vielleicht verunsichert reagieren. Ich kann deinen beiden Figuren nur wünschen, dass sie lange zusammenbleiben und jeder von der Welt(-sicht) des anderen erfahren können. Herzlich KK Mehr anzeigen |
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