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Mosaik

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03.07.18 19:51
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
Robert spazierte durch den Park. Jeden Tag unternahm er diesen Spaziergang durch die Natur, die er so sehr liebte. Jeden Tag, gleiche Zeit, gleicher Ort. Immer um die Nachmittagsstunden herum. Dies tat er, um den Kopf von seinen Sorgen und Problemen freizubekommen, um seine Kreativität anzukurbeln. Robert brauchte die Bewegung als Ausgleich zum stressigen Alltag.
Während er so durch den Park ging und die vielen verschiedenen Eindrücke wie den Gesang der Vögel, der Wärme der Sonne oder dem Anblick der vielen Menschen, auf sich wirken ließ, dachte er über das Leben nach.
Diese ganzen Menschen. Sie bilden eine große Masse und sind dennoch alle von Grund auf verschieden. Niemand gleicht dem anderen. Menschen sind alle Individuen. Jeder von ihnen hat eine andere Geschichte. Jeder von ihnen kommt von woanders und möchte woanders hin. Diese Masse ist wie ein großes Mosaik, das aus ganz vielen und stets unterschiedlichen Steinchen zusammengesetzt ist. Das ganze Leben ist ein einziges Mosaik.
Jedes Mal war Robert aufs Neue von der Natur und den Menschen fasziniert. Nichts beeindruckte ihn mehr, als die Erkenntnisse, die er gewann, wenn er, wie jeden Tag, im Park spazieren ging.
Eine halbe Stunde war er bereits unterwegs und dachte dabei über die Liebe nach.
Ob es für jeden von uns diese eine Person gibt, die für uns bestimmt ist?
Robert sehnte sich nach einer Pause und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. An diesem Tag war besonders viel los. Nirgends war eine freie Sitzbank zu finden. Robert blieb nichts anderes übrig, als noch ein Stück weiterzugehen.
Schließlich kam er an einer weiteren Parkbank vorbei. Robert sah jedoch aus der Ferne, dass auch diese nicht frei war und schon eine Person dort saß. Müde, wie er war, näherte er sich der Bank, denn er brauchte jetzt wirklich eine Pause. Auf der Bank saß nur eine einzige Person, so viel konnte er aus der Ferne erkennen. Also war für ihn noch genug Platz. Er würde sich nur kurz für einige Minuten neben die Person setzen und dann weiter seines Weges gehen, genauso wie auch die andere Person ihres Weges gehen würde.
Vielleicht ist die Person freundlich und ich kann mich ein wenig unterhalten. Ansonsten habe ich nicht viele Menschen, mit denen ich sprechen kann.
Robert bewegte sich schnellen Schrittes auf die Bank zu. So langsam nahm das verschwommene Bild des dort sitzenden Menschen Konturen an und Robert stellte fest, dass es eine Frau war. Je näher er ihr kam, desto besser konnte er sie erkennen. Schließlich hielt Robert inne, ungefähr fünf Meter von der Bank entfernt. Es handelte sich um eine junge Frau von atemberaubender Schönheit. Davon nahezu geblendet, blieb Robert wie angewurzelt stehen. Nie zuvor hatte er eine so schöne Frau gesehen. Sie hatte schneeweiße Haut und schwarzes wallendes Haar. In den Händen hielt sie ein Buch. Aufgrund ihrer leicht über das Buch gebeugten Haltung, konnte Robert ihre Augen nicht erkennen. Sie war so sehr in das Buch vertieft, dass sie Robert zunächst gar nicht bemerkte. Wie er so dastand und die Frau beobachtete, wurde ihm ganz warm ums Herz.
Auf einmal sah die Unbekannte von ihrem Buch auf und blickte Robert genau in die Augen. Ihre mandelförmigen Augen waren ganz dunkel, fast schwarz und strahlten Güte, Freundlichkeit und große Wärme aus. Sie lächelte Robert an und dieser erwiderte das Lächeln augenblicklich. Robert versuchte zur Begrüßung etwas zu sagen, doch alle Worte schienen überflüssig, denn das, was er in diesem Moment fühlte, konnten Worte unmöglich ausdrücken. Mit dem Lächeln war bereits alles gesagt und da auch die junge Frau keine Anstalten machte, an einem Gespräch sonderlich interessiert zu sein, nahm Robert wortlos neben ihr Platz.
Die unbekannte Schönheit war bereits wieder in ihr Buch vertieft. Robert saß steif auf der Bank, unfähig sich zu rühren. Er starrte einfach ins Nichts. Von der Natur um sich herum, nahm er, obwohl er eigentlich ein sehr aufmerksamer Mann war, nichts wahr. Er war abgelenkt, seine Gedanken kreisten nur um die Person, die direkt neben ihm war. Gelegentlich gestattete er sich einen kurzen Blick zu ihr herüber, sah jedoch in seinem Scham und aus Angst die Frau abzuschrecken, schnell wieder weg.
Die Zeit verging und es war für Robert unmöglich zu sagen, wie lange er schon auf der Bank gesessen hatte. Zeit und Natur schienen zu verschwimmen, eins zu werden und für ihn gab es nur sich selbst, die Bank und die unbekannte Frau, die nach wie vor am Lesen war.
Irgendetwas musst du sagen. Du kannst doch nicht einfach nur stumm hier sitzen.
Robert dachte fieberhaft nach, wie er ein sinnvolles Gespräch beginnen könnte. Small-Talk hasste er, denn er war darin sehr ungeübt. Zudem war er es nicht gewohnt, eine Frau anzusprechen. Wie sollte man sich bloß einer so hübschen Frau gegenüber verhalten?  Jahre musste sein letzter Flirt hergewesen sein, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Eine Ewigkeit.
Das einzige, was Robert reizte und ihn letztendlich doch dazu veranlasste, etwas zu sagen, war die Aussicht, die Stimme der Frau zu hören. Ob diese wohl genauso schön wäre, wie ihr Äußeres? Ihm fiel nichts besseres ein und daher fragte er mit etwas zittriger Stimme: "Was lesen Sie da?"
In Wahrheit interessierte ihn das Buch überhaupt nicht, sondern nur die Leserin. Ihm wurde bewusst, wie unhöflich sie das finden müsste, hatte er sich doch noch gar nicht vorgestellt und auch sie nicht nach ihrem Namen gefragt.
Langsam sah sie von ihrem Buch auf. Ihre Blicke kreuzten sich erneut und Robert hielt dem Blick zu seiner Verwunderung stand, denn er schämte sich plötzlich nicht mehr. Sofort verlor er sich in der Unendlichkeit ihrer Augen. Es war, als blickte er in die Tiefen des Universums. In den Augen dieser Frau, oder vielmehr dieses Engels, fand Robert Antworten auf alle Fragen, die er sich jemals gestellt hatte. Sie waren das fehlende Teil, das sein Mosaik komplettierte. Die Frau war das Individuum in der Masse. Sie war das, was er brauchte, um das Leben vollständig zu verstehen.
Robert nahm die Antwort der Frau kaum wahr. Seine Konzentration lag auf ihrer Stimme und einzig und alleine auf dem Klang ihrer Stimme und nicht dem Inhalt der Worte. Worte waren letztendlich ohnehin bedeutungslos. Ihre Stimme dagegen war wie Musik, gespickt mit den vorzüglichsten und vollkommensten Tönen und Melodien. Musik in Reinform.
Die Antwort auf seine Frage, welches Buch sie lese, hatte Robert gar nicht mitbekommen, zu sehr hatten ihre Augen und der Klang ihrer Stimme ihn in ihren Bann gezogen. Robert lächelte nur und nickte. Sie lächelte daraufhin ebenfalls und widmete sich wieder ihrer Lektüre. Robert konnte jetzt den Blick nicht mehr von ihr abwenden.
Nach einer Weile klappte die Frau das Buch zusammen, nahm es unter ihren Arm und stand auf. Zum Abschied drehte sie sich nach Robert um, der sie die ganze Zeit über mit wachen Augen beobachtete und schenkte ihm wieder ein Lächeln. Robert wollte es erwidern, war jedoch wie benommen, weshalb es ihm nicht gelang. Dann war sie auch schon verschwunden. Erst jetzt realisierte Robert, dass es zu dämmern begonnen hatte und die Unbekannte in der Dunkelheit entschwunden war.
Er konnte an nichts anderes mehr denken, als an das Glänzen in ihren Augen, an ihr wunderschönes Lächeln. Langsam erhob sich Robert und trat den Heimweg an, komplett in Gedanken versunken. Jedes einzelne Detail ihres wunderschönes Gesichts hatte er sich eingeprägt, sodass er ein exaktes Bild vorm geistigen Auge hatte. Dieses Bild wollte nicht mehr aus seinem Kopf. Er war verliebt, doch war er dies nicht schon die ganze Zeit?
Robert wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Geliebte wiederzusehen. Auch wenn er sie nicht kannte, war diese Frau die einzige, für die er jemals so starke Gefühle empfunden hatte. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie am nächsten Tag erneut zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein würde. Mit dieser Gewissheit schlief Robert ein. Er träumte vom Universum.
Robert spazierte durch den Park. Jeden Tag unternahm er diesen Spaziergang durch die Natur, die er so sehr liebte. Jeden Tag, gleiche Zeit, gleicher Ort. Immer um die Nachmittagszeit herum. Dies tat er, um Antworten suf seine Fragen zu finden, um das fehlende Teil des Mosaiks zu sehen, um die Frau wiederzusehen.
Sein Gefühl hatte ihn nicht gettäuscht. Genau auf der selben Bank saß die Frau wieder, ganz alleine, mit einem Buch in der Hand.
Robert nahm neben ihr Platz. Sie hatten sich erneut zur Begrüßung ein Lächlen geschenkt. So vertraut, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Ewigkeit.
Diese schlichte Geste übertraf Worte ohnehin um Längen. Zwei Menschen verstanden sich immer erst dann, wenn sie kommunizieren konnten, ohne dabei zu sprechen.
Robert saß nur da und sah sich neugierig um. Konnte er noch am vorherigen Tag in seiner Lähmung nichts wahrnehmen, so nahm er am heutigen Tag dafür alles viel genauer wahr, als sonst. Er spürte wahrlich den Einklang mit sich und der Natur. Ihm war klar, dass dies nur an der Frau an seiner Seite lag. Sie gab ihm Antworten auf seine Fragen, machte, dass er die Welt richtig sehen konnte. Sie komplettierte ihn. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, in ihrer Nähe zu sein. Bei ihr fühlte er sich wohl, verstand die Welt und das Leben. Sein Herz schlug nun nicht mehr wie wild, sondern ganz langsam. Es beruhigte sich, da es wusste, dass alles gut war. Robert hatte die richtige Frau gefunden.
Ich liebe sie und doch kenne ich weder ihren Namen, noch weiß ich sonst etwas über sie.  Mein Herz spürt einfach, dass sie es ist.
Robert sah zu ihr herüber. Sie war tief in ihr Buch versunken.
Ob es ihr genauso geht, wie mir? Wenn ich ihr meine Gefühle nicht offenbare, werde ich es wohl nie herausfinden. Sie soll wissen, was ich für sie empfinde. Sie ist die vollkommenste Frau, die mir je begegnet ist. Und auch spüre ich, dass, obwohl ich sie nicht kenne, sie einen guten Charakter hat. Was füreinander bestimmt ist, wird zusammenfinden.
All diesen Überlegungen zum Trotz, schwieg Robert. Die passenden Worte wollten ihm nicht einfallen. Er wusste, dass es nichts zu sagen gab, was es wert wäre, diese göttliche Stille zu unterbrechen. Ihre beiden Herzen kommunizierten bereits, weshalb es nicht vonnöten war, irgendetwas zu sagen. Worte waren nur für die da, die sich nicht auf einer emotionalen Ebene unterhalten konnten. Wenn das Herz spricht, schweigt der Mund. Also blieb Robert stumm. Er wusste, dass sie ihn auch liebte. Worte wurden nicht länger benötigt.
Sie lächelte Robert zum Abschied an und diesmal gelang es ihm problemlos, das Lächeln zu erwidern. Seine ganze Aufregung vom Vortag war mittlerweile komplett verschwunden, denn sein Körper hatte verstanden, dass es keinen Anlass zur Nervösität gab. Alles war gut. Es war Zeit zu gehen.
Für den kommenden Tag hatte Robert sich viel vorgenommen. Was ihre Herzen sagten, sollte jetzt auch ausgesprochen werden in Form von Worten, denn er konnte nicht länger zurückhalten, was ihm auf der Seele brannte. Er wollte wieder ihre liebliche Stimme vernehmen und diesmal auch auf den Inhalt ihrer Worte achten. Er wollte der unbekannten und doch so vertrauten Frau endlich mitteilen, wie viel sie ihm bedeutete, dass er sie aufrichtig liebte, doch vor allem wollte er ihr von seinem Mosaik erzählen. Jenes Mosaik des Lebens, welches sie vervollständigte. Sie war das einzige fehlende Teil und dies musste sie wissen.
Robert spazierte durch den Park. Jeden Tag unternahm er diesen Spaziergang durch die Natur, die er so sehr liebte. Jeden Tag, gleiche Zeit, gleicher Ort. Immer um die Nachmittagsstunden herum. Dies tat er, um der einzig wahren Liebe seines Lebens endlich seine Gefühle zu offenbaren und um das Universum für sich zu gewinnen.
Robert hatte einen Blumenstrauß dabei.
Wenn man verliebt ist, denkt man immer, es handle sich um die Liebe seines Lebens, doch wenn sie es wirklich ist, weiß man es einfach. Man spürt es in seinem Herzen und das ist viel mehr wert, als ein einfaches Lippenbekenntnis.
An Ort und Stelle angekommen, stellte Robert zu seinem Entsetzen fest, dass die Bank leer war. Sie war nicht dort. Woanders konnte sie jedoch unmöglich sein. Dies war der Ort der Bestimmung, es musste einfach diese Bank sein. Doch niemand war da. Robert nahm Platz und wartete.
Die Stunden verstrichen und sie kam nicht. Robert liefen Tränen die Wange herunter. Als es dunkel wurde, war er sicher, dass sie nicht mehr kommen würde. Da saß er da, alleine, verlassen, traurig. Er legte den Blumenstrauß auf die Bank und ging nach Hause.
Am nächsten Tag suchte Robert erneut den Ort der Bestimmung auf. Erneut saß niemand auf der Bank. Gleiche Zeit, gleicher Ort, doch niemand da. Jedoch war auch der Blumenstrauß weg. Stattdessen lag auf der Bank ein Buch. Robert nahm es in die Hand. Es war George Orwells "1984".
Robert lächelte, denn er wusste Bescheid. Distanz trennte ihre beiden Körper aber nicht ihre beiden Herzen. Nichts vermag dies, denn was füreinander bestimmt ist, wird auch zueinanderfinden. Robert drückte das Buch fest an seine Brust, genau an die Stelle, wo sich sein Herz befand. Er spürte ihre Gegenwart. Nähe auf emotionaler Ebene! Liebe! Und Roberts Mosaik war vollständig und er war frei!

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