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Der Hochstand

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14.10.19 19:31
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

D e r  H o c h s t a n d

 von

 Marco Theiss

 

In der grauen Suppe des Morgennebels war kaum die Hand vor Augen zu sehen. Die Luft war kalt, doch die Dunstwolke meines warmen Atems wurde sofort vom Nebel um mich herum geschluckt. Er waberte durch das Tal, hatte sich wie eine Decke über die Wiesen gelegt und färbte ihr sonst so saftiges Grün in ein mattes, trostloses Grau.
   Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Das gehärtete Leder meiner Stiefel wurde von der Nässe, die der Nebel über Nacht auf die Gräser gelegt hatte, auf die Probe gestellt. Noch hielten sie stand; Füße und die dicken Wollsocken, die ich gegen die Kälte trug, waren trocken. Hoffentlich würde das auch so bleiben. Vielleicht hätte ich lieber die Gummistiefel anziehen sollen. Andererseits hätte ich mir die 250 Euro für die Lederstiefel auch sparen können, wenn ich nicht wenigstens bereit war, ihnen eine Chance zu geben mich zu überzeugen.
   Der Boden unter meinem linken Fuß gab nach, ich sank gute fünf Zentimeter ein. Mein Knie knickte ein. Reflexartig machte mein rechter Fuß einen Ausfallschritt und ich drehte meinen Oberkörper ein, so dass meine Schultern in einer Linie über meinen Füßen blieben und meinen Körper wieder stabilisierten. Grundwissen aus meinen frühen Tagen als Boxer – das mich nun vor durchnässter Hose und wenige Minuten später vor nasser Haut darunter bewahrte. Ich drehte meinen Fuß vorsichtig aus dem weichen Boden um das Kaninchenloch heraus, in das ich getreten war. Ich hatte ihn beim Einsinken leicht überdehnt. Ein sanfter Schmerz stach in meinem Knöchel. Keine große Sache. Fünf, sechs Schritte und alles würde wieder in Ordnung sein. Den ersten machte ich sofort. Ich wurde noch vorsichtiger. Ich tippte jedes Mal kurz mit der Fußspitze auf den Boden, bevor ich das ganze Gewicht auf den Fuß gab.
   Schon merkwürdig, wie so ein kleiner Fehltritt unser weiteres Verhalten beeinflusste. Aber ich habe in Gegenden in Afrika und Südamerika gejagt, da wäre ein gebrochener Knöchel einem Todesurteil gleich gekommen.
   Hier in den hessischen Wäldern war die Todesgefahr zwar eher gering, aber die Aussicht, die fünf Kilometer über Stock und Stein zurück zum Auto zu humpeln war trotzdem nicht besonders einladend. Man sollte immer mit den aktuellen Sorgen und Gegebenheiten arbeiten. Im Dschungel fing man sich Malaria ein, in Hessen höchstens die Grippe. Aber wo es nichts Schlimmeres gab, sollte man eben versuchen die Grippe zu vermeiden.
   Der Wagen parkte auf einer Lichtung jenseits der Wiesen, eines Waldes und einer Reihe kleiner Hügel. Keine Frage, dass ich die Strecke selbst auf Knien kriechend bewältigen könnte, aber das bräuchte ich hier und heute so wenig wie Malaria an einem anderen Ort der Welt. Zumal ich nicht vorhatte ohne eine kapitale Trophäe zum Wagen zurück zu kehren. Und das Gewehr meines Vaters, das locker am Lederriemen über meiner rechten Schulter hing, und das Zeit Lebens sein Ein und Alles gewesen war, wollte ich auch nicht als Krücke zweckentfremden.
   Inzwischen hatte es zwar sieben Schritte gebraucht, aber den Schmerz beim Auftreten spürte ich nicht mehr.
   Mein Vater hatte mir und meinem Bruder Viktor das Jagen beigebracht. Ich erinnere mich noch gut, wie er mit uns durch eben diese Wälder und Wiesen wanderte. Anfangs war er der einzige von uns gewesen, der ein Gewehr dabei hatte – schon damals das gleiche, das nun über meiner Schulter hing.
   Als Kindern brachte er uns bei, Spuren zu lesen und geeignete Jagdreviere zu erkennen. Später nahm er uns mit auf den Hochstand…

 … und von oben überblickten wir die weitläufigen Wiesen und Felder. Der alte Mann – obwohl er damals noch gar nicht so alt war wie ich ihn in Erinnerung habe – saß auf der unbequemen, harten Holzbank, die in das nüchterne Holz-in-Holz des Hochstands eingepasst war. Er rauchte Pfeife. Ich erinnere mich gut an den süßlichen Geruch des Tabaks. Mit stoischer Ruhe und Gelassenheit schweifte sein Blick über die Wiesen und angrenzenden Waldränder. Er hatte einmal gesagt, die härteste Lektion, die er uns beizubringen hatte, war Geduld. Vor allem Viktor fiel das Stillsitzen schwer.
   „Warum müssen wir hier oben sitzen, Papa?“, wollte er aufgekratzt wissen.
   „Wir warten.“, war die einsilbige Antwort unseres Vaters, die meinem Bruder natürlich nicht ausreichte.
   „Aber warum warten wir?“, hakte er nach. „Können wir nicht runter gehen und die Tiere suchen?“
   Vater lächelte warm. Die Pfeife wippte dabei in seinem Mundwinkel, der sie selbst beim Sprechen noch erfahren balancierte.
   Die naive Frage eines begeisterten Kindes, das schon immer lieber selbst Fußball gespielt hatte, statt von der Tribüne aus zuzusehen.
   „Nein Viktor. Wir gehen nicht da runter“, erklärte Vater mit ruhiger Stimme und Engelsgeduld. „Wir sind die Jäger. Wir sind hier oben. Da unten ist die Beute.“
   „Aber warum?“, war Viktor noch immer nicht zufrieden.
   „Das ist einfach so“, mischte ich mich ein.
   Ich war zwei Jahre älter als Viktor. Und ich hielt mich für so viel klüger als mein kleines Brüderchen. Heute weiß ich, ich gab mich damals nur leichter mit Dingen zufrieden, die man mir sagte. Unser Vater erklärte viele Dinge mit seiner Lieblings-Floskel „Das ist einfach so.“. Und ich glaubte ihm. Ich wollte immer ein guter Sohn sein. Und ein guter Sohn glaubt seinem Vater. Das ist einfach so.
   Für mein Einmischen bedachte der alte Mann mich an diesem Tag mit einem anerkennenden Lächeln und streichelte mir durchs Haar. Dann wanderte sein Blick wieder zu Viktor und er sagte: „Irgendwann wirst du es verstehen. Oder du bist einfach kein Jäger.“
   „Ich bin ein Jäger!“, protestierte Viktor wie erwartet sofort.
   Diesmal streichelte Vater ihm über den Kopf.
   „Dann beobachte den Wald“, sagte er.
   Trotzdem war ich der erste, der am hölzernen Geländer stand und in Richtung Waldrand starrte.
   Der gute Sohn!
   Viktor folgte meinem guten Beispiel. Zu dritt hielten wir Aussieht. Wir waren oben. Wir waren die Jäger. Die Beute war irgendwo da unten.

 Aus Viktor war tatsächlich ein Jäger geworden. Und was für einer! Auf allen fünf Kontinenten hatte er gejagt und dabei kein Tier und kein Tierschutzgesetz gescheut.
   Er machte Jagd auf Tiger und Löwen, auf Krokodile und Elefanten, auf Nashörner und Bären. Und begonnen hatte all das mit einem Hirsch in Deutschland. Vater hatte ihm eigentlich nur das Gewehr erklären wollen. Viktor hatte es zum ersten Mal angelegt, abgestützt auf dem Holzgeländer, und Vater erklärte ihm, wie er es anlegen musste, wie und wo er es halten und an den Körper pressen musste, und wie er Kimme und Korn zusammen brachte.
   Viktor lernte schnell. Und just in dem Moment, in dem er die Theorie begriffen hatte, streckte ein Achtender seinen Kopf zwischen den Büschen am Waldrand hindurch und spähte die Wiese auf der Suche nach frischem Gras aus.
   „Sieh mal da“, machte Vater Viktor auf das wunderschöne Tier aufmerksam.
   Viktor hatte es schon längst selbst erblickt. Er hatte Kimme und Korn aus dem Blick gelassen und beide Augen geöffnet. Aufmerksam folgte er den ersten Schritten des Hirschs aus der Deckung der Bäume heraus. Das Tier schnüffelte die frische Morgenluft und vergrub die Schnauze dann zum ersten Mal im saftigen Gras.
   „Okay. Jetzt nochmal alles ganz in Ruhe“, sagte Vater mit ruhiger Stimme.
   Viktor richtete das Gewehr neu aus. Vater half ihm etwas mit der Waffe. Er wusste, dass sie eigentlich noch zu schwer für den Sechsjährigen war. Dann drückte Viktor den Kolben der Waffe fest gegen seine Schulter und die Backe von der Seite gegen das kühle Holz und fixierte das hintere Ende des Gewehrs so von zwei Seiten.
   Ich beäugte ihn aufmerksam und aufgeregt dabei. Mein kleiner Bruder schloss ein Auge und brachte Kimme, Korn und Ziel in eine Linie zueinander.
   Ich erwischte mich dabei, wie ich heimlich hoffte, er würde einen Fehler machen. Nur einen winzig kleinen. Oder Vater würde ihn noch aufhalten. Es war nur ein Achtender. Ich wusste, Vater würde ihn nicht schießen. Zu jung, zu klein.
   Viktor atmete tief ein.
   „Tu es“, sagte Vater leise.
   Viktor hielt die Luft an. Selbst daran dachte er. Er zögerte. Dann donnerte ein Schuss über die Ebene.
   Ich zuckte zusammen.
   Der Rückschlag des Gewehrs brachte Viktor zum Taumeln. Vater stützte ihn. Viktor ließ das Gewehr los und griff sich an die Schulter. Er hatte den Kolben nicht fest genug dagegen gedrückt. Die Waffe war mit Wucht dagegen gefedert, als er abgedrückt hatte. All das nahm ich nur im Augenwinkel wahr. Mein Blick war starr auf den Hirsch am anderen Ende der Wiese gerichtet. Er blieb reglos stehen. Einen Moment lang dachte ich Viktor hätte das Tier verfehlt. Nur eine Sekunde später wurde ich neidischer Zeuge, wie die Beine des Hirsches wegknickten und er zu Boden sank. Er unternahm einen Versuch, wieder aufzustehen, knickte jedoch sofort wieder ein.
   Mein kleiner Bruder hatte seinen ersten Hirsch geschossen. Und das obwohl er zwei Jahre jünger war als ich. Obwohl ich der gute Sohn war.

 Da war er.
   Unmittelbar vor mir ragten vier massive Holzstämme aus dem Boden in die Höhe. Zwischen zweien davon führten die Sprossen einer Leiter in die Höhe. Mein Blick folgte ihnen nach oben, wo sie im Nebel verblassten. Die überdachte Kanzel des Hochstands konnte ich hinter dem feuchten grauen Vorhang aus Luft nur erahnen.
   So viele Erinnerungen steckten in diesem Holz und schossen mir durch den Kopf, als sich meine Finger um die Sprosse der Leiter schlossen. Wie schwer es als Kind war, Vaters Gewehr diese Leiter hoch zu schleppen – und dennoch war es immer eine besondere Ehre für mich.
   Ich erinnere mich an die riesigen Sohlen seiner Stiefel, wenn er vor mir die Leiter hoch stieg. Sie schienen die Sonne zu verdunkeln. Er hatte Schuhgröße 44, genau wie ich heute. Manchmal bedeckte ich meine Augen oder schüttelte reflexartig ich den Kopf, weil Dreck aus den tiefen Profilrillen auf mich herab rieselte. Selbst den Geruch des Rasierwassers meines Vaters glaubte ich kurz wahr zu nehmen, obwohl er es an Tagen, an denen er auf die Jagd ging, nie auftrug. Von dort oben konnte der Wind Gerüche weit über die Wiesen tragen bis in die Nüstern der ängstlichen Tiere, die aus Skepsis gegenüber dem Unbekannten des scharfen, männlichen Dufts, einen anderen Weg einschlagen würden.
   Ich stieg die Sprossen der Leiter hinauf. Schon beim dritten Schritt rutschte ich mit einem Fuß leicht über das rund geschnittene Holz und musste nachtreten, um wieder einen sicheren Stand zu finden. Der verdammte Nebel war in jede Pore gezogen und machte das Holz rutschig. Trotzdem kletterte ich Sprosse um Sprosse in eben diesen Nebel hinein, der trotzdem einen konstanten Abstand zu mir einzuhalten schien, als würde ich ihn mit jedem Schritt weiter vor mir her treiben. Ich sah nach unten, wo der Nebel den Boden unter mir verschluckte, sah nach oben, wo er alles andere verschluckte. Nur ich und die Leiter. Zwei Sprossen weiter gab er sein Geheimnis zögerlich preis und ich konnte verschwommen und diesig die Kanzel des Hochstands erkennen.
   Sechs vorsichtige Tritte später blickte ich über die Kante, und zog mich hoch auf die Plattform.
   Alles war so, wie ich es in Erinnerung hatte. Ein wenig mehr von Wind und Wetter gezeichnet,  aber der unebene Dielenboden, die hölzerne Sitzbank gegenüber der Leiter und das Geländer, auf dem Viktor – und ich einige Wochen nach ihm – bei seinem ersten Schuss das Gewehr abgestützt hatte, waren unverkennbar.
   Ein melancholisches Lächeln schlich sich in mein Gesicht. Wärme erfüllte für einen Moment meinen Körper, bevor der raue Herbst sie mit aller Macht wieder austrieb.
   Ich lief alle vier Seiten des Hochstands ab.
   Nebel, Nebel, Neben und Nebel.
   Ich streckte die Hand auf Armlänge vom Körper weg und hatte das Gefühl als wolle der Nebel sie sich bereits gierig einverleiben. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Jagd.
   Dann öffnete ich meinen Rucksack. Der Geruch von rohem Fleisch stieg mir in die Nase. Ich packte hinein, zog einen transparenten Plastikbeutel heraus. Zwei Kilo Fleisch vom Metzger. Abfall, nah an der Verfallsgrenze, so dass es ein besonders volles, intensives Aroma entfaltete. Ich öffnete die Tüte und kippte den Inhalt über das Geländer in die Tiefe. Das rote Fleisch mit dem leichten Graustich versank im Nebel und schlug kurz darauf mit einem feuchten Plopp auf dem Boden auf.
   „Wir warten“, hörte ich die Stimme meines Vaters.
   Ich setzte mich auf die Bank, stellte das Gewehr auf dem Kolben zwischen meinen Beinen ab und stützte mich darauf ab.
   Es war früh am Morgen. Das Wetter würde sicher noch aufklaren.

 Nach all seinen erfolgreichen Großwildjagden war Viktor hier her zurück gekommen, als unser Vater im Sterben lag.
   Wir trafen uns an seinem Krankenbett. Er hing an zahlreichen Schläuchen und Geräten. Überall um sein Bett herum piepste und pumpte es. Ich kann mich genau an Viktors schockiertes Gesicht erinnern, als er den alten Herrn so da liegen sah, in all seinen Verbänden und Bandagen. Ich kann nur vermuten, dass es das Spiegelbild meines eigenen Gesichts war, wobei Viktor immer der impulsivere, gefühlsbetontere von uns beiden war. 
   Die Polizei vermutete, dass Vater im Wald von einer Rotte Wildschweine überrascht wurde. Sie hatten ihm die Beine mit ihren scharfen Hauern bis zur Hüfte hoch aufgerissen. Er hatte sehr viel Blut verloren. Im Polizeibericht stand, dass die Blutspuren darauf hinwiesen, dass er nach dem Angriff ein weites Stück durch den Wald gerobbt war, bis zu der Stelle, an der ihn schließlich zwei Wanderer fanden.
   Ein Mann in weißem Kittel erklärte uns, dass er außer den sichtbaren Verletzungen Dutzende gebrochener Knochen sowie starke innere Blutungen habe. Wir sollten uns darauf vorbereiten, uns von ihm zu verabschieden. Das taten wir. Wir saßen draußen auf dem Gang vor seinem Zimmer und bereiteten uns darauf vor, unseren Vater ein letztes Mal zu sehen.
   „Wir sollten diese Viecher töten, Markus“, sagte mein Bruder, den Blick starr geradeaus auf die weiße Wand gerichtet.
   „Was soll das bringen?“, wollte ich von ihm wissen. „Vater war Jäger. Er kannte das Risiko.“
   „Diese Biester haben ihn zerrissen!“
   „Und was willst du jetzt tun?“, fragte ich. „Jedes Wildschwein im verdammten Wald umbringen?“
   „Das war kein Wildschwein. Das war was anderes“, sagte Viktor plötzlich.
   Ich sah ihn fragend an.
   Er atmete einen Moment durch, ordnete seine Gedanken, bevor er sagte: „Ich habe überall auf der Welt gejagt. Alles. Und dieser Mann da drinnen hat es mir beigebracht. Mich hat kein Löwe gefressen, kein Tiger und kein Leopard. Und ihn garantiert kein Wildschwein.“
   Zum Ende seiner Ansprache hin wurde er immer lauter und ungehaltener und so ließ ich ihm eine kleine Pause, bevor ich sagte: „Er war nicht mehr der Jüngste.“
   „Er war der Beste!“, erstickte Viktor meinen Einspruch im Keim.
   Dann stand er auf und ging ins Krankenzimmer um sich von Vater zu verabschieden.

 Ich wusste natürlich, dass unser Vater nicht der beste Jäger war. Er vermied das Rasierwasser auf dem Hochstand, gleichzeitig zündete er sich jedoch alle zwei Stunden seine Pfeife an und blies ihren süßlichen Dunst in die Luft und über die Wiesen.
   Auch Viktor wusste das, konnte es sich aber in seinem damaligen Wahn nicht eingestehen. Vater war Jäger mit Herz und Seele, aber ob er am Ende des Tages mit einer Trophäe nach Hause kam, war ihm egal. Er liebte die Ruhe im Wald genauso sehr wie die Jagd selbst.
   Natürlich hatten wir viel von ihm gelernt, aber mit den Jahren überholten wir ihn. Viktor sogar um Längen. Vater hätte das nie geleugnet. Er war stolz auf seine beiden Söhne.
   All das ging mir durch den Kopf, als ich an seinem Krankenbett stand, und ein letztes Mal seine ledrige Hand hielt.

 Und all das ging mir nun wieder durch den Kopf, während ich hier saß und darauf wartete, dass sich der Nebel verzog. Doch bisher zog er nur tief in meine Kleidung, meine Haut und meine Knochen und ließ mich mit aller Macht seine Anwesenheit spüren.
   Ich formte die Hände zu einem Trichter vor meinem Mund und blies warme Luft hinein. Ein Jahr war es jetzt her seit Vaters Tod. Und ein Jahr seit Viktors Verschwinden.

 Ein schriller, anhaltender Signalton hatte meine Aufmerksamkeit auf einen der zahlreichen Monitore am Bett meines Vaters gelenkt. Die grüne Nulllinie, die er anzeigte, kannte ich aus Filmen und Fernsehserien.
   Gleich würde die Tür des Krankenzimmers auffliegen und Ärzte und Schwestern würden hektisch hinein stürmen und mit Herzmassagen und Mund-zu-Mund Beatmung beginnen.
   Im wahren Leben schien jedoch eine Ewigkeit zu vergehen, bevor die Tür geöffnet wurde und ein Arzt mit eiligen Schritten, aber weit vom Rennen entfernt, ans Bett heran trat. Er überblickte die Monitore und Geräte, sah mich an, wie ich ihn erwartungsvoll ansah.
   „Möchten Sie, dass wir versuchen ihn zurück zu holen?“, frage er mit warmer Stimme, die mich gepaart mit seinen zögerlichen Bewegungen ahnen ließ, dass es ausweglos war.
   Ich schüttelte den Kopf. Er fühlte den Puls und murmelte ein leises: „Tut mir leid.“
   Dann begann er die Geräte abzuschalten und notierte den Zeitpunkt des Todes auf dem Patientenblatt am Fußende des Bettes, bevor er mich alleine ließ.
   Als ich an meinem Elternhaus ankam, stand Viktors SUV in der Auffahrt. Der Kofferraum war geöffnet, die Haustür ebenso. Ich stoppte den Motor meines eigenen Geländewagens, als er mit einer großen Tasche aus dem Haus trat.
   Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde bereits das Haus unseres Vaters ausräumen, sich schnappen was er als Erbe wollte. Dabei wusste er noch nicht einmal, dass Vater eingeschlafen war.
   Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass es sich bei dem Gegenstand, den Viktor in sein Auto packte, um eine Gewehrtasche handelte.
   Ich stieg aus dem Wagen. Er sah fragend zu mir rüber. Ich musste den Blick abwenden, bevor mir die Tränen kamen. Er verstand sofort. Als er an der Karosserie seines Wagens herab sank, war ich froh, es ihm nicht mit Worten sagen zu müssen. Ich ging zu ihm rüber, setzte mich neben ihm in den Kies und legte meinen Arm um ihn.

 Viktor bat mich noch einmal ihn auf die Jagd zu begleiten. Ich sagte nein. Ich wollte es nicht tun. Einen Rachefeldzug gegen Tiere führen, denen er die Schuld am Tod unseres Vaters gab – und das auch noch an dessen Todestag. Aber nachdem er Trauer in Wut umgewandelt hatte, war er nicht mehr zu halten.
   Die durchdrehenden Reifen seines SUV wirbelten kleine Kieselsteinchen in die Luft. Er steuerte den Wagen die Auffahrt runter und bog auf die Landstraße ein. Ich sah ihm nach. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich ihn sehe.

 Ich wünschte ich hätte an jenem Tag mein Gewehr geholt und wäre mit ihm gefahren, statt mich in die Auflösung des Hausstands unseres Vaters und dessen, was ich als unser Vermächtnis wähnte, zu stürzen.
   Ich hatte Viktor am nächsten Morgen zurück erwartet, mit genug Wildschweinblut an seinen Händen, um seinen Rachedurst zu stillen.
   Er kam nicht.
   Ich mistete weiter das Haus aus. Scheinbar hatte er doch noch nicht genug Wildschweinblut vergossen.
   Als er auch am zweiten Tag nicht zurück war, begann ich mir Sorgen zu machen. Am Mittag fuhr ich in den Wald. Ich wusste wo er für gewöhnlich sein Auto parkte, und dort fand ich es auch. Ich fand auch seine Fährte und folgte ihr einige hundert Meter weit, bis der einsetzende Regen sie in ein matschiges Nichts verwandelte. Und Nichts war es auch, was ich fand. Die Suche der Polizei und Feuerwehr blieb ebenfalls ohne Erfolg.
   Viktor war verschwunden – und er blieb es auch.

 Im Gegensatz zu meinem Vater, war Viktor tatsächlich der beste Jäger, den ich kannte. Ihn hatte kein Löwe gefressen, kein Tiger, kein Jaguar. Und ich bin mir sicher, es war auch kein Wildschwein.
   Mehr als je zuvor sind mir heute, ein Jahr später, seine Worte in Erinnerung.
   Das war was anderes.
   Irgendetwas hier draußen macht Jagd auf meine Familie. Ich bin mir sicher, dass niemand es je gesehen hat. Oder besser: Die, die es gesehen haben, haben diese Wälder nie wieder verlassen. Doch heute sitze ich hier oben, auf dem Hochstand. Mit all der Geduld, die mein Vater mich lehrte. Der Jäger. Und irgendwo da unten: Die Beute.
   Ich habe sein Rasierwasser aufgetragen und lasse es vom Wind über die nebelverhangenen Wiesen und Felder zwischen die Bäume tragen. Denn eins ist klar: Was ich jage, ist ein Raubtier. Ich bin mir sicher, dass es nicht vor mir davon laufen wird. Es wird meiner Fährte folgen. Es wird mich holen wollen, so wie es meinen Vater geholt hat, und meinen Bruder.
   Aber ich werde es töten.
   Plötzlich ein Rascheln unter mir. Ich sprang auf, stürzte vor ans Geländer und spähte in … die graue Wand.
   Verdammter Nebel!
   Er hatte sich kein bisschen gelichtet. Ich kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen, versuchte mit aller Gewalt, etwas sichtbar zu machen. Ohne Erfolg. Nur das Rascheln irgendwo geradeaus unter mir, hörte ich laut und deutlich.
   Lauter und deutlich!
   Es kam näher. Ich nahm das Gewehr in Anschlag, lud die erste Kugel durch, hörte das metallische Klicken, als sie vom Magazin hoch in den Lauf gedrückt wurde. Ein Geräusch, das mich beruhigte, mir Sicherheit gab. Klick – ich war offiziell gefährlich.
   Ein dunkler Schatten huschte durch den Nebel.
   Ich schwenkte den Gewehrlauf darauf, verfolgte das grau-schwarze Etwas, das sich schnell wieder in der grau-grauen Suppe auflöste.
   Was war es?
   Es war groß. Größer als ein Wildschwein auf jeden Fall.
   Wieder drangen Geräusche von unten an mein Ohr. Ich ließ den Blick schweifen, knurrte leise: „Komm schon, zeig dich!“
   Wieder sah ich nur den Schatten, der über den Boden huschte. Fließende Formen, die fast in der feuchten Luft zu verwischen schienen. Kein klares Ziel. Jagen unterliegt in Deutschlands Wäldern penibelsten Auflagen und Anforderungen. Um die Unversehrtheit von Mensch und Haustier zu gewährleisten, dürfte ich eigentlich erst schießen, wenn ich ein klares Ziel habe, das es mir erlaubt, Spezies und Geschlecht eindeutig zu identifizieren. Aber heute werde ich mich darüber hinweg setzen.
   Ich würde sowieso nicht in der Lage sein, Spezies oder gar Geschlecht des Wesens zuzuordnen. Niemand hat es je gesehen. Und ich bin kein verdammter Biologe. Keine Ahnung ob sich Männchen und Weibchen durch die Länge ihrer Fangzähne unterscheiden ließen oder die Anzahl der Stacheln auf ihren Rücken, oder die ihrer Köpfe.
   Ein unheilvoller Gedanke schoss mir durch den Kopf.
   Männchen? Weibchen? Paar? Was, wenn es mehrere gab?
   Ich schüttelte die Idee schnell wieder ab. Schlimm genug, dass es eins geben musste.
   Da war das Geräusch wieder. Wie das Wehen einer starken Brise durch hüfthohes Gras. Ich wusste, das hüfthohe Gras lag vor mir im Nebel. Und ich wusste, dass es nicht der Wind war, denn hier oben spürte ich keinen.
   Ich zielte in Richtung des hohen Gras. Plötzlich das gleiche Geräusch aus der entgegengesetzten Richtung. Ich warf einen Blick über die Schulter. Nur Sekundenbruchteile später ging ein heftiger Ruck durch den Hochstand. Ich spürte das Gewehr aus meinen Händen hüpfen, musste die eine benutzen, um mich selbst am Geländer festzuhalten und nicht durch den Ausstieg in die Tiefe zu stürzen. Mit der anderen versuchte ich das Gewehr zu greifen. Eine übereilte Aktion, mit der ich alles noch schlimmer machte. Hätte ich den Arm einfach in die Höhe gerissen, hätte der Schultergurt in meiner Armbeuge den Fall des Gewehrs nach wenigen Zentimetern gestoppt. Doch mit der reflexartigen Griffbewegung nach unten, gab ich den Gurt frei und spielte der Schwerkraft in die Hände. Hilflos musste ich zusehen, wie das Gewehr in die Tiefe segelte, im Nebel verschwand und kurz darauf metallisch knackend auf dem Waldboden aufschlug.
   „Scheiße!“
   Ich fuhr mir mit beiden Händen durch Gesicht und Haar. Mein Stresslevel war gerade noch einmal um ein vielfaches angestiegen. Ich legte mich flach auf den Boden, streckte den Arm nach unten.
   Sechs Meter tief … komm schon, Markus! Als ob du so je eine Chance hättest!
   Ich brach meine Bemühungen ab, blieb aber auf dem feuchten Holz liegen. Aufmerksam betrachtete ich den nebelverhangenen Boden unter mir. Ich beobachtete lange – und konnte keine Bedrohung ausmachen. Vielleicht verfolgte das Ding eine Guerilla-Taktik. Zuschlagen und sich zurückziehen, um einer Gegenreaktion zu entgehen. Vielleicht war es nach dem Angriff auf den riesigen Hochstand zwischen die Bäume geflüchtet. Vielleicht hatte ich Zeit.
   Was blieb mir denn anderes übrig? Ich saß hier oben, harmlos wie ein kleines Kind. Ein toller Jäger…
   Ich versuchte mich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren. Frustration würde mich nicht weiter bringen. Ich rappelte mich auf. Mit jeweils zwei Schritten sprang ich von Seite zu Seite des Hochstands und blickte in alle Richtungen nach unten.
   Nichts zu sehen. Wie den ganzen Tag. Aber auch der schwarze Schatten, den ich immer wieder durch den Nebel huschen gewähnt hatte, war nicht zu erkennen.
   „Okay“, machte ich mir selbst Mut. „Runter, Gewehr schnappen, hoch!“
   Es war gar nicht schwer. Keine Zauberei. Ich war schon Leitern rauf und runter geklettert, und ich hatte auch schon Gewehre aufgehoben.
   Wenn ich mir nur nicht ständig Gedanken machen würde, was da unten auf mich lauerte.
   Ich wünschte ich hätte es wenigstens einmal sehen können. Egal! Es war groß und schnell. Genug Sorgen, die man sich machen konnte.
   Ich trat an den Ausstieg vor und blickte nach unten, wie ein Turmspringer, der sich auf den Flug in die Tiefe vorbereitet.
   Keine Saltos und Schrauben für mich.
   Ich musste lächeln bei dem Gedanken.
   Scheiß drauf! Abwärts!
   Eine schnelle halbe Drehung, dann setzte ich einen Fuß auf die zweite oder dritte Sprosse von oben, zog den zweiten nach und begann einen raschen Abstieg. In der Mitte der Leiter fühlte ich wie mich die Panik erfüllte. Irrational und ohne Grund.
   Ich war zu langsam, schoss es mir durch den Kopf. Das Ding würde mich sehen und zwischen den Bäumen hervorschießen. Und es würde mich verdammt nochmal kriegen, weil ich so elend langsam war.
   Ich begann von einer Sekunde auf die andere heftig zu schwitzen. Dann ein Geistesblitz. Ein Trick, den ich aus Feuerwehrfilmen kannte. Ich nahm die Hände von den Sprossen und griff stattdessen die dickeren Holzbalken, zwischen denen sie befestigt waren. Dann klemmte ich die Füße von außen an die gleichen, als würde ich einem Pferd die Sporen geben. Ich lockerte den Druck an Händen und Füßen und ließ mich herunter gleiten.
   Mir wurde schnell bewusst, dass es eine dumme Idee war.
   Schätze Feuerwehrmänner würden diese Technik nicht bei einer Holzleiter anwenden.
   Schon auf den ersten Zentimetern trieb ich mir unzählige Holzsplitter in beide Handflächen. Ich schrie auf vor Schmerz, bewegte mich unkontrolliert. Hautfetzen wurden von meinen Handflächen abgeschält. Zeitgleich mit meinen Füßen, die den Boden berührten, knallte mein Kinn auf eine der unteren Sprossen. Ich stieß ein trockenes Uff! aus, und kippte nach hinten. Ich landete auf dem Hintern, spürte es aber kaum. Der Treffer gegens Kinn hatte mich beinahe ausgeknockt.
   Die nächsten Sekunden nahm ich nur verschwommen wahr. Ich hatte das Verlangen, mich auf den Rücken zu legen und die Augen zu schließen. Das war es, was mein Körper wollte. Ich hatte Glück, dass der Kopf rechtzeitig wieder ansprang um den K.O. zu verhindern.
   Bei 8 wäre ich wieder auf den Beinen gewesen um den Kampf fortzusetzen. Ein bisschen wacklig zwar, aber klar und bei Bewusstsein.
   Ich sah mich nach dem Gewehr um. Als erstes fiel mein Blick auf rohes, verwesendes Fleisch. Ein Klumpen. Ein Stückchen weiter ein zweiter. Und einen Meter daneben: Das Gewehr!
   Ich stolperte über den unebenen Boden, musste über die Querstreben, die die vier Stelzen stützten, auf denen der Hochstand thronte, hinweg klettern und bekam das Gewehr zu fassen. Die Splitter in meinen Handflächen brannten wie tausend Nadelstiche auf einmal.
   Ohne es zu sehen, spürte ich deutlich eine Bewegung hinter mir. Ich wirbelte herum, sah einen Schatten vorbei huschen, schoss reflexartig aus der Hüfte. Vorbei.
   Erst jetzt sah ich, dass dem Schatten noch etwas folgte. Etwas längliches schnellte durch die Luft; eine Art Schwanz oder Tentakel. Es verschwand erst eine Sekunde nach dem Hauptschatten vollends im Nebel. Ich nahm das Gewehr in Anschlag, zielte diesmal. Ich sah zwar nichts mehr, hatte aber genau den Punkt im Visier, an dem die Spitze des länglichen Auswuchses gerade verschwunden war. Ich drückte ab. Selbst das sonst donnernde Krachen des Schusses schien vom Nebel fast erstickt zu werden, als würde ich mit Platzpatronen schießen.
   Ich hörte die Kugel einschlagen. Kein Splittern von Holz, oder Pfeifen beim Abprallen von Stein. Nein, sie traf Fleisch. Ein feuchter, spritzender Laut, gepaart mit einem Schmerzensschrei, der so schneidend hoch war, dass er mir in den Ohren schmerzte.
   Ich wandte mich der Leiter des Hochstands zu, hatte schon eine Hand an der Sprosse. Dann hielt ich inne. Ich sah über die Schulter in die Richtung, in die das Ding verschwunden war.
   Ich hatte es getroffen. Es war verletzt.
   Ich wusste nicht, ob es ein Volltreffer war, aber es schien keine Anstalten zu machen, mich erneut anzugreifen. Ich musste zumindest Eindruck hinterlassen haben. Selbstbewusst ließ ich von der Leiter ab, nahm das Gewehr wieder in Anschlag und schwenkte den Nebel vor mir ab. Er würde sich nicht verziehen, wie ich gehofft hatte. Er hatte sich festgesetzt. Vom Hochstand aus würde ich vermutlich den ganzen Tag lang nicht feststellen können, ob meine Beute schwer, wenn nicht sogar tödlich getroffen war. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, stets darauf bedacht, auf dem nassen Untergrund nicht zu stolpern und auf allen vieren zu landen. Ich wusste es würde einer Einladung für jedes Raubtier gleich kommen, plötzlich an Größe zu verlieren.
   Ich schritt durch die nicht enden wollende graue Wand. Es kam mir vor als wäre ich schon eine Ewigkeit gegangen, doch noch immer nicht der erhoffte Fund.
   Dann nahm ich ein mattes Glänzen zu meinen Füßen wahr. Was ich rot erwartet hatte, war tatsächlich eher grün. Ich sicherte mich in alle Richtungen ab, dann ging ich in die Knie und fuhr mit einem Finger durch das dickflüssige Sekret. Es zog einen langen Faden, als ich den Finger an mein Gesicht führte. Ich roch an der grünen Pampe. Meine Nase füllte sich sofort mit fauligem Gestank. Um ein Haar hätte ich aufgestoßen und mich übergeben. Ich spürte den süßlichen Geschmack bereits im Mund, konnte das, was kommen sollte, gerade so wieder herunterwürgen. Es ekelte mich weniger, als das grüne Zeug an meinem Finger. Ich streifte ihn erst im Gras ab und rieb ihn dann noch einige Male an meiner Hose auf und ab.
   Ich stand wieder auf. Meine Augen folgten der Blutspur – ich war zumindest fest davon überzeugt, dass es eine solche sein musste – über den Boden. Sie zog eine gerade Linie, bevor sie wie alles andere auch im Nebel verschwand.
   Ich folgte ihr, verschob die Sichtgrenze mehrmals nach hinten. Die Blutspur endete nicht.
   Ich fand zwar kein röchelndes, mit dem Tod kämpfendes Raubtier, aber immerhin verlor es eine große Menge grünen Blutes. Das Jagdfieber packte mich. Ich setzte der Fährte nach, meine Schritte wurden schneller.
   Gleich würde es vor mir auftauchen, sich die Wunde leckend auf dem Boden kauern, nicht damit rechnend, dass es plötzlich vom Jäger zum Gejagten geworden war.
   Wieder blieb es Wunschdenken. Die Blutspur endete nicht mit einem verwundeten Etwas. Sie schien gar nicht zu enden. Ich erreichte die Baumgrenze. Hier verlor sich der Nebel ein wenig. Trotzdem sah ich außer Baumstämmen nichts.
   Ob es sich lohnte, der Spur weiter zu folgen?
   Ich machte einen ersten Schritt, doch dann stoppte ich sofort wieder. Mein Blick ging nach oben, in die Baumkronen.
   Was, wenn es klettern konnte? Wenn es irgendwo da oben war?
   Zu unsicher, entschied ich.
   So unsicher, dass ich es nicht wagte, den Bäumen den Rücken zu kehren. Stattdessen lief ich rückwärts den Weg zurück, den ich gekommen war. Ich versank wieder im Nebel.
   Plötzlich ein Geräusch. Ich wirbelte herum. Die Richtung, aus der es gekommen war, konnte ich nicht wirklich festmachen. Ich schwenkte das Gewehr aufgeregt hin und her. Ich suchte den Boden ab.
   Hatte ich eine zweite Blutspur übersehen? War das Ding möglicherweise im Kreis gelaufen und könnte jetzt irgendwo hinter mir lauern?
   Ich konnte keine Anzeichen dafür entdecken. Aber weit konnte ich ja auch nicht sehen.
   10 Meter? Vielleicht 15? Okay, ruhig bleiben, Markus! Verlier jetzt nicht die Nerven! Ich musste zurück zum Hochstand, mich sammeln, neu orientieren.
   Ich folgte der Blutspur. Der Rückweg schien sogar noch länger zu sein. Schließlich endete das Grün. Ich hatte fast vergessen, dass ich noch nicht am Ziel sein würde, wenn ich das Ende der Blutspur erreichte.
   „Scheiße“, hörte ich mich leise zischen.
   Ich sah mich um, schätzte ungefähr die Richtung, in der der Hochstand lag, und fand tatsächlich Gras, das eindeutig von meinem Fuß platt gedrückt worden war.
   Erleichterung! Ich folgte meinen eigenen Fußspuren und wenige Meter später tauchten die braunen Holzpfähle vor mir auf. Und zwischen zweien davon, die rettende Leiter! Heimlich, still und leise dankte ich Gott, dem ich noch nie für etwas gedankt hatte.
   Ich schmiss mir den Schultergurt des Gewehrs über den Kopf und ließ die Waffe hinter meinem Rücken herab baumeln. Dann warf ich mich wie ein kletterwütiger Affe an die Leiter, übersprang bereits die unteren 3 Stufen sowie den Schmerz der Holzspäne, die wieder tiefer in meine Haut gepresst wurden. Ich zog mich eilig Sprosse für Sprosse nach oben.
   Ein Blick zurück nach unten. Nichts sprang unter mir in die Luft und versuchte mit weit aufgerissenem Maul und scharfen Zähnen nach meinen Füßen zu schnappen.
   Ich hatte es fast geschafft. Die Plattform des Hochstands deutete sich schon über mir im Nebel an. Plötzlich landete etwas mit einem feuchten Platsch auf meiner Stirn. Ich hielt inne, stoppte in der Leitermitte. Mit einer Hand wischte ich mir durchs Gesicht. Mir war etwas ins Gesicht getropft. Etwas grünes, stinkendes. In dem Moment, in dem ich das fremdartige Blut an meiner Hand sah, wurde mir eins schlagartig bewusst.
   „Fuck“, war das Wort, das es passend zum Ausdruck brachte.
   Ein zweiter Tropfen klatschte auf meine Stirn. Ich sah nach oben. Und wieder schossen mir Vaters Worte in den Kopf.
   „Wir sind die Jäger. Wir sind hier oben. Da unten ist die Beute.“
  
Ein langes Etwas schoss über den Rand des Hochstands heraus auf mich zu. Den Sekundenbruchteil, den ich es sah, erinnerte es mich an das überdimensionale Hinterbein eines Insekts, einer Heuschrecke etwa.
   Ich wollte schreien, doch schon im gleichen Moment traf mich das Insektenbein hart im Gesicht und griff mit drei klauenartigen Stacheln zu. Sie bohrten sich tief in mein Gesicht. Ich spürte wie das Blut aus den Wunden und über meine Haut lief. Ich spürte, wie sich einer der Stacheln in mein linkes Auge bohrte, und nichts weiter hinterließ, als eine glibberige Masse.
   Der Schmerz war unvorstellbar. Trotzdem erstickte die Handfläche des Monsters meinen Schrei zu einem Murmeln. Ein kräftiger Ruck ging durch das Insektenbein. Ich versuchte noch, mich mit aller Macht an die Sprosse zu klammern, doch das Ding riss mich mit Leichtigkeit los und pflückte mich von der Leiter. Ich segelte in hohem Bogen durch die Luft. Mit dem verbliebenen, rechten Auge sah ich den Rand des Hochplateaus näher kommen. Ich wurde über die Kante gerissen; sah das Geländer, den Dielenboden, die Sitzbank … und etwas, das noch nie ein Mensch gesehen hatte. Ich sah gierige, schlitzförmige Augen, die rot funkelten, überdeckt von einer entstellten Wulst aus Knochen und Haut. Ich sah wild in der Luft fuchtelnde Tentakel, braune, ledrige Haut, und ein Maul voller spitzer Zähne, auf das ich zugeführt wur...

 E N D E

 (Köln, 03.11.2015)

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OtsLits Profilbild
OtsLit Am 25.11.2019 um 12:30 Uhr
Ich finde die Geschichte sehr interessant und gut geschrieben. Ein stärkerer Held hätte die Geschichte finde ich noch besser gemacht. Ich hätte es gern gesehen, dass der Held zumindest das Quentchen einer Chance bekommt gegen das Monster zu gewinnen und dass er am Ende nicht einfach so sang und klanglos dahinscheidet. Ein offenes Ende, bei dem zumindest kleine Aussichten bestehen der Held könnte es schaffen, hätte ich persönlich ansprechender gefunden.

Ansonsten habe ich die Geschichte gern gelesen. Ich musste mich nicht etwa bis zum Ende durchquälen, ganz im Gegenteil. Ich war gespannt bis zum Schluss dabei. Besonders an der Stelle, als das Monster verwundet wurde hat die Geschichte richtig an Fahrt aufgenommen.

Liebe Grüße
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OtsLits Profilbild
OtsLit Am 27.11.2019 um 9:30 Uhr
@MisterY @Goth
Da habe ich mich vielleicht etwas unklar ausgedrückt.
Diese Vorgehensweise ist mir bekannt. Ich finde nur, dass das bei dieser Geschichte nicht geklappt hat und bin der Meinung, dass der Geschichte ein stärkerer Held gut getan hätte.

Was hätte denn deiner Meinung nach die Geschichte verbessert?
MisterYs Profilbild
MisterY Am 26.11.2019 um 20:15 Uhr
Ehrlich gesagt, wenn dem Helden etwas zustößt dann kommt der Effekt des Horrors. Du hast den Helden durch die Story lange begleitet doch dann schafft er es nicht und Stirbt. Das soll dramatischer wirken.

Autor

MarcoTheisss Profilbild MarcoTheiss

Bewertung

2 Bewertungen

Statistik

Kapitel: 2
Sätze: 530
Wörter: 6.214
Zeichen: 35.897

Kurzbeschreibung

Als ihr Vater sich nach einem Jagdausflug schwer verletzt aus dem Wald schleppt und im Krankenhaus seinen Wunden erliegt, machen sich die beiden Söhne der Jäger-Dynastie auf, um Rache zu nehmen. Doch bald müssen sie sich die Frage stellen, wer hier eigentlich wen jagt ... oder was.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Horror auch im Genre Mystery gelistet.

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