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Sätze: | 107 | |
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Möge Frieden
Durch den endlosen Schleier der Dunkelheit taumelte ich, die steifen Eisblöcke meiner Beine verwehrten mir jede flüssige Bewegung. Unablässig ergoss sich der Regen vom Himmel.
Der Hunger, überwältigend und alles verzehrend, beherrschte meine Gedanken und trieb mich voran. In meinem Kopf klang ein sonderbarer Ausspruch wider: Möge Frieden.
Die Straßen waren still, der Morgen noch nicht angebrochen. Meine Hände, schmutzig und geschunden, erzählten eine Geschichte, deren Ursprung mir entfallen war. Mein blaues Hemd war vollkommen verdreckt, doch nichts davon schien wichtig zu sein.
Einzig der Hunger, dieser lähmende, unstillbare Hunger, hatte Einfluss auf meine Sinne.
Ich näherte mich mühsam der Hauptstraße und erblickte in der Ferne einen Mann, der Zeitungen austrug. Seine gelbe Jacke leuchtete schwach im Dunkeln, als er von Haus zu Haus ging.
Möge Frieden.
Ein vergeblicher Versuch, ihn zu rufen, entwich meiner Kehle, die keinen Ton hervorbrachte.
Wann hatte ich zuletzt gesprochen?
Beschwerlich schleppte ich mich weiter, verfolgte das Leuchten seiner Jacke. Vor einem großen Backsteinhaus hielt er inne, um die Namen am Briefkasten zu überprüfen, und da erreichte ich ihn. Seltsame Laute sprudelten aus meinem Mund. Hilferufe, die ich nicht artikulieren konnte.
Hilfe, wollte ich schreien; hilf mir bitte. Möge Frieden! Möge Frieden!
Der Mann drehte sich um und sah mich entsetzt an. Noch ehe er einen Schrei ausstoßen konnte, packte ich ihn fest. Dann brach sein Schrei hervor, vermute ich, da die Lichter der umliegenden Häuser plötzlich aufblitzten.
Blut und Regen ergossen sich durch den Rinnstein. Der Hunger war ein wenig gestillt, doch er verlangte nach mehr. Ein Akt purer Sucht. Möge Frieden.
Was war mit meinen Händen? Überall Blut und ich konnte mich nicht daran erinnern, zwei Finger verloren zu haben. Ich konnte mich an überhaupt nichts erinnern.
Der Hunger ließ nicht nach; er war unerträglich.
„Hör auf! Hör auf!“
„Oh Gott. Oh mein Gott.“
„Ruft die Polizei. Schnell, ruft die Polizei.“
„Warum ruft niemand die verfickte Polizei!“
„Max! Ach du Scheiße. Max komm runter!“
Wo kamen all diese furchtbaren Geräusche her? Quälend schmerzhaft in den Ohren; weckten sie unergründliche Verzweiflung in mir und ließen den Hunger gefrieren.
Schemenhaft sah ich weitere Menschen, die auf mich zustürmten.
„Du kranker Hurensohn, geh weg von ihm. Geh weg!“
Ein älterer kräftiger Herr war vorausgeilt, wild gestikulierend kam er näher.
Sein Geschrei wurde mit jedem Schritt lauter: „Weg! Weg! Geh…“
Dann stand er direkt vor mir. Vor uns. Doch er sagte nichts mehr, war verstummt.
Der dicke Herr wich langsam zurück. Stopp, wollte ich sagen, bitte hilf mir. Aber es ging einfach nicht. Oh Jesus, was passiert hier.
„Hau ab, Christian!“, rief jemand. Schreie erfüllten den Morgengrauen, der im sanft abklingenden Regen anbrach.
Mühsam stand ich auf und schnappte Christian. Reine Intuition kontrollierte mein Handeln. Er war vollkommen reglos; erstarrt wie ein steinernes Denkmal. Ich versuchte mit aller Kraft um Hilfe zu bitten. Unmöglich. Warum klappte es nicht? Christian erwachte und schlug nach meiner Hand, er versuchte sich loszureißen, aber ich ließ nicht locker.
„Hilfe!“ schrie er nun plötzlich. „Bitte, Hilfe!“
Worte, die ich selbst aussprechen wollte. Christian war massig und der Hunger noch immer nicht gestillt, aber ich wollte ihm nichts Böses; wollte nur Hilfe, wollte nur verstehen, was geschah.
„Christian! Christian!“
„Fuck! Fuck, was ist das!“
Verzweifelt klammerte ich mich an Christian und kämpfte darum, die Worte zu formen.
Hilfe, wollte ich sagen. Hilf mir, bitte. Doch aus meinem Mund drang erneut bloß ein merkwürdiges Gurgeln.
Hände zerrten an mir, rissen das schmutzige blaue Hemd in Fetzen.
Ich fühlte einen dumpfen Stoß, spürte jedoch keinen Schmerz. Jemand hatte mir etwas gegen den Kopf geschlagen.
„Er lässt nicht los. Gott, er lässt einfach nicht los!“
Nein, ich würde nicht loslassen. Nicht, bevor ich endlich um Hilfe gebeten hatte.
Wieder ein Schlag, und wieder. Christian wurde weggerissen, stolperte und fiel zu Boden.
Eine Flüssigkeit wurde über mir ausgeschüttet. Die blauen Hemdfetzen waren durchnässt von Blut, Dreck und der Flüssigkeit, die ich nicht riechen konnte.
„Möge…“, hauchte ich und auf einmal verstummten die panischen Schreie.
Hilfe, sag, dass du Hilfe brauchst!
„Möge…“, sagte ich erneut.
„Möge Frieden. Möge… Frieden. Möge Frieden.“
Sirenen heulten auf. Quietschende Reifen schossen auf die Hauptstraße - und mit ihnen kam weiteres qualvolles Gebrüll.
Plötzlich sah ich Feuer auflodern.
Es schien mich zu umgeben, durchtrennte schleichend die verbliebenen Sinne.
Ich stand in Flammen.
„Haut ab, Leute, er brennt! Er brennt!“
Langsam schwankte ich rückwärts und spürte wie mein Fleisch verbrannte. Sanft und ohne Schmerz zerfloss meine Existenz.
Warum taten sie das?
Ich wich zurück, wollte dorthin wo ich herkam, aber es war zu spät.
Vor mir eine Fülle unsichtbarer Schatten ohne Gesicht.
Panik erfüllte die Luft.
Es war vorbei, die Dunkelheit würde mich jeden Moment ergreifen.
Möge Frieden.
Zurück am Ausgangspunkt, stützte ich mich an einem Auto ab, und das flackernde Spiegelbild im Fenster erinnerte mich flüchtig an die Wahrheit.
Und dann durchzuckten mich die Qualen. Nicht die Schmerzen des Feuers, sondern die unendlich viel schlimmere Tortur der Erinnerung. Ihre Gesichter erschienen vor meinen Augen, und ich versuchte, die nahende Erlösung herbeizuschreien.
Das Geschöpf fiel brennend zu Boden, während die Welt in chaotischem Lärm versank.
Polizisten, Sirenen, Schreie. Ein Gemälde des Chaos.
„Zurückbleiben! Zurück, verdammt!“
Polizisten kamen vorsichtig näher.
„Der lebt noch. Was zur.…“
„Möge… Frieden.“
Ein einziger Schuss fiel, und das Geschöpf wurde von der Welt ausradiert.
„Löscht die Flammen! Löscht das Feuer, er ist tot.“
„Er? Das ist kein Mensch, man.“
Aber das stimmte nicht. Am Boden lagen die verkohlten Überreste eines Mannes, wahrscheinlich im mittleren Alter oder etwas darüber. Die Flammen hatten sämtliche äußerlichen Merkmale vernichtet.
Sie folgten der Dreckspur, die er hinterlassen hatte. Es war eindeutig, wohin sie führte.
Zwei Polizisten gingen durch das offene Tor auf der anderen Straßenseite. Die anderen Beamten blieben zurück.
Überall lag Erde verstreut.
Einer von beiden murmelte unentwegt das Vaterunser. Wie in Trance sprach er die immergleichen Worte, die ihm als Kind eingebläut wurden.
„Vaterunser im Himmel.“
„Lass es. Hör auf mit dem Scheiß.“
„…Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe.“
Am Ende der Dreckspur entdeckten sie einen weißen Samtstein, umhüllt von einer Madonna-Skulptur, die sich liebevoll an ihn schmiegte.
Wir werden dich nie vergessen, prangte auf dem Stein.
Mögest Du in Frieden ruhen.
Zwischen den Zeilen verblieben schmutzige Fingerabdrücke.
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sale2602 • Am 14.02.2024 um 17:58 Uhr | |||
Einer meiner Lieblingsautoren hier auf Storyhub. Freue mich schon auf die nächste Geschichte ♥️ | ||||
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