Häufig ausgeführte Handgriffe werden oftmals nach einer Weile mechanisch und unachtsam. Dem kann man entgegenwirken, indem man aus ihnen ein Ritual macht, so wie Marit es oft tat. Die eine Tasse Kakao, die sie jeden Nachmittag trank, während sie auf ihrer liebsten Internet-Plattform – zugegebenermaßen auch die einzige, auf der sie einen Account besaß – die neuesten Werke der von ihrer favorisierten Dichter laß und kommentierte, zum Beispiel. Anschließend lud sie täglich ein neues ihrer Gedichte hoch. Den letzten Schluck des bittersüßen Heißgetränks sparte sie sich immer für das Klicken auf den „Geschichte speichern“-Button auf, feierlich wie am ersten Tag. Damals noch war alles so neu für sie gewesen, fast hätte ihre Scheu sie davor abgehalten, ihre Kunst der Anonymität des Internets preiszugeben. Lange hatte sie gezögert, doch dann hatte der Drang überwogen, sich endlich mitzuteilen. Im sogenannten Real Life – ein Ausdruck, den sie ob des Anglizismus verabscheute – hatte sie keine richtigen Freunde. Die meisten hatte sie mit ihrem oftmals arroganten Wettern gegen alles Neumodische (abgesehen vom Internet, selbstverständlich), ihrem Beharren, im falschen Zeitalter geboren zu sein, oder generell, wie ein Klassenkamerad es bezeichnete „der Endzeitstimmung, die sie verbreitete“, verschreckt.
Hier, online und unter Dichtern, hatte sie allerdings endlich Verständnis und Freundschaft gefunden. Einige dieser neuen Bekanntschaften hatten sich vor einem halben Jahr sogar in ihre reale Lebenswelt verlagert. Damals hatte sie eine Nachricht von einem ihr bis dahin unbekannten Benutzer mit dem Nutzernamen Amicus Tenebrae erhalten. Er hatte geschrieben, dass ihm aufgefallen war, dass es doch einige Schreiber gab, die in dieser Stadt wohnten, von denen er einige angefragt habe, ob sie an regelmäßigen Treffen zum Austausch über Kunst und Literatur interessiert seien. Auch sie war eingeladen. Zunächst war sie äußerst skeptisch gewesen, doch die tiefen und gedankenvollen Kommentare, die Amicus Tenebrae dann unter einigen ihrer Texte hinterließ, hatten sie schließlich doch zum Gehen bewogen. Da das Treffen in einem öffentlichen Café stattfand, war sie auch nicht allzu beunruhigt gewesen. Inzwischen waren diese Kaffehaussitzungen ein fester Bestandteil ihres Lebens. In der Runde, die größtenteils aus anderen Schülerinnen bestand, fühlte sie sich wohl – keiner, der Wissen über das aktuelle Fernsehprogramm oder die Hits der Charts voraussetzte. Alles Menschen, die sich irgendwie als in einer vergangenen Zeit stecken geblieben fühlten, zumeist in Zeitaltern vor ihrer Geburt.
Dann war da noch, immer im Zentrum des Geschehens, Amicus Tenebrae, der natürlich nicht in Wirklichkeit so hieß, sondern den Taufnahmen Julius trug. Er war der Älteste im Kreis der Dichtenden, Marit würde ihn auf Mitte 20 schätzen, dennoch hatte sie den Eindruck, mit ihm sei die Kommunikation so viel leichter als mit den meisten Gleichaltrigen.
Auch heute war wieder ein Treffen angesagt und sie konnte es kaum erwarten. Obwohl sie sich erst bei Einbruch der Dämmerung – einer Zeit, deren Stimmung, wie Julius sagte, nur die Dichterseele gänzlich verstand - treffen würden, war Marit schon recht rastlos und ungeduldig. Um sich zu beruhigen, beschloss sie, ein wenig im nahe gelegenen Park spazieren zu gehen. Da sie danach gleich ins Stammcafé weiter gehen würde, kleidete sie sich jetzt schon für den Abend an, und machte sich mehr Gedanken darüber, was Julius wohl gefallen könnte, als sie vor sich selbst zugeben wollte. Ihr blaues Wollkleid betonte ihre Figur, bis es ab der Hüfte nach unten weiter wurde; für die nötige Düsternis sorgten Strumphosen und spitzenbesetzte Handstulpen in Schwarz.
Voll Vorfreude schlenderte sie die Straße entlang, drückte schließlich die Klinke des schmiedeisernen Gatters hinunter, und war dann an dem Ort, der ihr schon oftmals als Inspiration für ihre Werke gedient hatte.
Obwohl es erst Nachmittag war, war der kleine Park von herbstlichem Düster erfüllt. Die dunkelgrauen Wolken schienen so nah über dem Boden zu schweben, dass Marit sich fast instinktiv geduckt hätte, und die schon vom Winter kündende Kälte drang von unten in ihre Schuhe. Sie mochte den Herbst, sehr sogar. Sie genoss die melancholische Stimmung, die morgendlicher Nebel in ihr auslöste, und die Farbenpracht rot-orange glänzenden Laubes erfreute sie mehr, als es knospenden Frühlingsblumen je gelang. Heute jedoch fühlte sich alles irgendwie anders an. Zwar bedeckten bunte Blätter den Boden, hingen auch vereinzelt noch an den im Wind zuckenden Zweigen, doch sämtliche Farben schienen gedämpft und unklar. Es war, als hätte man einen dumpfbraunen Schleier über die Welt gelegt. Auch der Geruch war nicht so erfrischend natürlich wie sonst. Marit schnupperte einige Male ratlos in der Luft herum, bis sie den unangenehmen Duft erkannte und das Gesicht verzog. Es war, als liefe sie durch einen riesigen Kompost, der Geruch des Sterbens und Zerfallens war nicht wegzudenken. Sie erschauerte, doch lief weiter.
Eigentlich mochte sie ja die Motivik des Todes, des Vergehens. In ihren Gedichten sprach sie oft von Vergänglichkeit. Die Stimmung jedoch, die sie hier erfüllte, war fast schon beängstigend, und als endlich der klagende Gesang einer Amsel die drückende Stille durchbrach, wurde sie gewahr, nervös die Luft angehalten zu haben. Ohne wirklichen Grund war sie plötzlich wütend auf sich selbst. Als hätten ihre düsteren Gedichte eine Erwartung aufgebaut, der sie nun nicht standhalten konnte. Wie konnte sie überhaupt noch dunkle Worte zusammenfügen, wenn ihr schon dieser halbfinstere Herbstnachmittag unangenehm gruselig erschien?
Gerade erst beim letzten Dichtertreffen hatte sie aus ihrem bisher schwärzesten Gedicht vorgelesen und war bei Julius' Lob errötet. Sie hatte von Vampiren gesprochen, war vielleicht sogar ins Idealisierende abgerutscht, ohne jedoch kitschig zu werden. Blutengel hatte sie diese Wesen genannt – denn, waren sie auch von einem Durst nach dem Lebenssaft getrieben, hatten sie auch die Züge von Engeln an sich, fast schon von Schutzengeln. Zwar galt ihr Schutz nicht einem Menschen als einzelnen, doch bewahrten sie durch ihre Unsterblichkeit die Kunst und Kultur vergangener Zeitalter. Als sie solche Zeilen schrieb, hatte sie sich fast selbst nicht geglaubt, doch sie wusste, dass Julius es mochte, wenn sie in ihren Worten Kunst über das Leben stellte. Eigenltich dachte sie in letzter Zeit beim Schreiben viel zu oft daran, was Julius wohl gefallen könnte.
Noch war sie nicht in das Innere des Parkes vorgedrungen. Nahezu zögerlich hielt sie sich am Rand auf, nahe des Zaunes, der die Grünflächen umgab. Die nahezu unnatürlich roten Weinblätter, die sich um die Eisenstäbe rankten, ließen sie wieder an Blut denken, an ihr Gedicht.
„Und mag einer Einhalt in deinem blut'gen Treiben erflehen,
dann nur, weil die Größe deines Werkes er nicht kann sehen.“
So hatte sie gedichtet, und als sie schüchtern aufgeschaut hatte, war ihr das Lächeln, das Julius' Mundwinkel umspielte, aufgefallen. Daraufhin war ihr das eben noch bedichtete Blut ins Gesicht gestiegen, errötend hatte sie in ihren Schoß geschaut und das Urteil der Anderen erwartet. Viele waren erstaunlich kritisch gewesen. „Also, auch wenn ich gerne bis in die Ewigkeit weiterdichten würde, ein untoter Blutsauger möchte ich dafür nicht werden!“, hatte ein Mädchen namens Laura spontan ausgerufen. Innerlich hatte Marit zugestimmt, doch sie hatte geschwiegen.
„Die Pflicht eines Jeden sollte es sein, die Kunst über das Leben zu stellen, und es macht mich glücklich, dass Marit das erkannt hat“, war Julius' Urteil gewesen, und das war das Einzige, was wirklich für sie gezählt hatte.
Ganz in Gedanken hatte sie inzwischen doch einen Pfad in Richtung des Parkinneren eingeschlagen. Es war inzwischen schon fast nachtdunkel, doch sie beruhigte ihr schlagendes Herz damit, sich zu versichern, dass sie sich hier ja wirklich gut auskannte, Lichtverhältnisse hin oder her. Wegen der Finsternis erkannte sie auch die Gestalt, die sich an den inzwischen fast gänzlich verwitterten Brunnen, der die Mitte des Parkes markierte, lehnte, zunächst nicht. Sie nahm nur einen ganz in Schwarz gekleideten Menschen war und blieb erschrocken stehen. Als sich der große, schlanke Mann ihr allerdings mit einem schmalen Lächeln zuwandte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Gleichzeitig spürte sie, wie sie wieder rot anlief, und hoffte nur, dass er dies würde im Dunkeln nicht erkennen können.
Da stand er wirklich, Julius, und noch nie hatte Amicus Tenebrae, Freund der Finsternis, besser zu ihm gepasst.
„Sei gegrüßt, Marit“, sagte er, und obwohl sie seine altmodischen Umgangsformen schon gewohnt war, ließ Etwas sie fast unmerklich zusammenzucken. Er klang anders als sonst. Nicht ernster – ernst wirkte er immer, selbst, wenn er lächelte – doch irgendwie...bedeutsamer. „Ha- Hallo! Was machst du denn hier?“ Sie stotterte ein wenig und verfluchte sich dafür.
„Das Gleiche wie du, vermute ich. Vor unserem Treffen noch einmal an einer Stätte der Inspiration auftanken“, war seine Antwort, und sie konnte nur nicken. Was sollte man dazu auch sagen? Glücklicherweise erwartete er gar keine Entgegnung von ihr, sondern sprach gleich weiter: „Du bist wirklich etwas Besonderes, Marit. Das ist mir schon aufgefallen, als ich einzig deine Gedichte kannte, und nicht dich. Wobei – was gibt es schon, was man über einen Menschen wissen muss, das nicht in dessen Gedichten steht?“ Hier lachte er sein seltenes Lachen, das überraschend freudlos klang.
Marit war geschmeichelt, ja, das auch, aber vor allem verängstigt. Das überraschte sie, doch nicht allzu sehr. Schon immer hatte Julius, so faszinierend, charmant und intelligent er auch war, eine Aura der Bedrohung ausgestrahlt. In der sicheren Gemütlichkeit ihres Lieblingscafés hatte sie das angezogen, doch jetzt, wo sie ihm in der einbrechenden Dunkelheit gegenüberstand, merkte sie, dass er ihr eigentlich Angst machte. Sie wünschte nur, sie wäre sich dessen früher bewusst geworden.
Noch mehr wünschte sie, er hätte es nicht bemerkt. Mit seinem starren Lächeln, das vielleicht sogar beruhigend wirken sollte, kam er nun immer näher, und bekräftigte noch ein Mal: „Du bist wirklich etwas Besonderes, das muss dir doch klar sein! Und das braucht dir auch keine Angst zu machen. Du bist wie ich – die Dunkelheit ist dein Freund, dir zu Ehren trägt der Park heute Schwarz.“
Das war so eine typische Julius-Aussage. Schmeichelhaft, aber verwirrend.
Immer näher trat er heran, immer seltsamer wirkte sein Lächeln.
„Du bist erbärmlich, Marit.“
Sie erstarrte. Scham überkam sie, und sie wusste nicht ein mal, wieso. Wie konnte er so etwas sagen?
Hätte sie Worte hervorbringen könne, hätte sie ihn gefragt, doch sie konnte nur die Tränen zurückdrängen und ihn anstarren, erschrocken und zutiefst verletzt.
„Du schreibst sehnsüchtig von Verfall und Endlichkeit, doch hast du, wie alle, Angst vor dem Sterben. Du denkst, du lebst für die Kunst, doch der Gipfel des Tiefsinns ist für dich, dass dir mehr krampfhafte Reime auf Tod einfallen, als irgend jemand je brauchen könnte. Du bedichtest Vampire, doch fürchtest mich.“
Hier entblöste er seine Zähne, und Marit konnte nichts anderes als wimmernd die Augen vor der Fratze zu verschließen, die ihr entgegen starrte.
„Du sagst, du lebst für die Kunst, doch weißt du auch, wie es ist, für die Kunst zu töten? Ich könnte dich zu einem der Meinen machen, doch das werde ich nicht. Stattdessen wirst du in all dem Blut und Schmerz ertrinken, die du je malerisch besungen hast. Ich werde es genießen, wenn es doch heißt, dass nie wieder eines deiner grässlichen Gedichte auf diese Welt losgelassen wird.“
Einerseits war Marit am Rande einer Panik, andererseits, eine Frage musste sie einfach stellen: „Du willst mich töten, weil dir meine Gedichte nicht gefallen?“
Wieder lachte er, doch diesmal klang es wirklich amüsiert. „Nein, Gedichte sind mir schrecklich egal! Ich suchte nur nach einer Methode, mir eine Gruppe williger Menschenmädchen, die mir vertrauen, zusammenzusuchen. Zwar ist töten immer ein Genuss, doch übertrifft nichts das blanke Entsetzen im Blick derer, die sich zu mir hingezogen fühlten, und dafür sterben müssen.“
Am Triumph in seinen Augen erkannte Marit, dass sie ihm dieses Vergnügen wohl in jeder Hinsicht bot.
„Ich habe nicht gelogen, wenn ich sagte, dass ich die Kunst über das Leben stellte, nur ist meine Kunst eben der schmerzhafte Tod. Schmerzhaft in jeder Hinsicht. Nicht nur physisch, nein, ich möchte sehen können, wie meinen Opfern das Herz bricht. Metaphorisch gesprochen, du magst doch Metaphern. Habe ich dir das Herz gebrochen, Marit?“
Lügen hatte sie noch nie gekonnt. Mechanisch nickte sie.
„Gut. Doch, ich verspreche dir, das ist gar nicht zu dem, was du fühlen wirst, wenn ich dir auch sämtliche Knochen breche.“
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