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Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 320 | |
Wörter: | 5.077 | |
Zeichen: | 28.194 |
Die Welt war zu langsam und Möshas Beine waren es ebenfalls. Zwei, manchmal drei Stufen gleichzeitig nehmend rannte sie die schmale Treppe zwischen den Werkstätten hinunter, fiel und rollte sich ab. Rannte weiter, ohne langsamer zu werden.
Es half nichts.
Egal, wie schnell sie rannte.
Das Pochen in ihrer Wange, wo Welling sie erwischt hatte, und seine Zahnabdrücke an ihrem Unterarm verfolgten sie zusammen mit der Hitze, die in ihr tobte. Zu ihren Füßen schmolz die dünne Schicht Schnee, die während der Nacht über Vintarburgs Straßen und Dächer gekommen war. Wie gern hätte Mösha einen Blick für die Stadt gehabt, doch sie musste fürchten, alles um sich herum zu verbrennen, wenn sie nur einen Moment stehen blieb. An der Ecke zum Marktplatz hatte jemand einen Putzeimer ausgekippt. Heute setzte sie über die glänzende Pfütze hinweg, die ihr sonst eine willkommene Rutschbahn gewesen wäre.
Die Plätze und Straßen waren voller Leute und alle schienen sich ihr in den Weg drängen zu wollen. Mösha versuchte, sich klein zu machen, was aber nur dafür sorgte, dass das Feuer umso rasender in ihr wütete. Es wollte ausbrechen und ein Teil von ihr wollte es gewähren lassen. Dieser Teil war es, den sie am meisten fürchtete; mehr als alles, was Kamil oder Jhira mit ihr anstellen konnten und würden.
Nur noch die steinerne Brücke über der Hafeneinfahrt trennte Mösha von ihrem Ziel am Rande der Stadt. In ihrer Mitte hatte sich ein Grüppchen Gelehrter versammelt. Allein der Anblick war ihr beinahe zu viel. Wenn die sich einmal in einer Diskussion verloren, standen sie noch hier, bis die Eiswinde sie am Pflaster festfrieren ließen.
Mösha sprang. Ihr Fuß glitt über die polierte Steinplatte der Brüstung. Für einen endlosen Augenblick sah sie sich ins Hafenwasser stürzen, doch sie fand die Balance wieder und rannte weiter. Aufgescheuchte Möwen schrien ihr ärgerlich hinterher. Über das rauschende Blut in ihren Ohren hinweg war die Verwunderung der Gelehrten nur unverständliches Gemurmel.
Anstatt wie ein anständiger Mensch den Umweg über den Platz und durch Haupteingang zu nehmen, sprang Mösha direkt von der Brücke ab und zog sich an einer gusseisernen Laterne nach oben. Normalerweise war es ein Spaß für sie, den Tempel durch das Fenster zu betreten, wie jemand, der dort zu Hause war und die Regeln aufstellte. Heute musste sie sich mit aller Kraft zwingen, nicht die Laterne aus der Wand zu reißen. Woher kam dieses Verlangen? Warum hielt es so lang an?
Die breite Treppe, die sich an der inneren Wand des Tempels entlang wand, war leer. Mösha ließ sich auf eine Stufe fallen und erlaubte sich, kurz zu verschnaufen, ehe sie weiter nach oben hastete. Es gelang ihr nicht, rechtzeitig die Luft anzuhalten, ehe sie am Altar der Totengöttin vorbeikam. Der Geruch frischen Wildschweinbluts schlug ihr förmlich ins Gesicht. Selbst im Rennen aus dem Augenwinkel betrachtet jagte ihr die magere, graue, in Fetzen gehüllte Statue einen eisigen Schauer über den Rücken, der so lang, wie er anhielt, das Brennen unterdrückte.
Auf den letzten Stufen vor ihrem Ziel verfiel sie in Schritttempo und versuchte wenigstens, ihre Haare und das Gesicht ein bisschen in Ordnung zu bringen. Viel half es nicht. Ihre Finger zitterten und verhedderten sich in ihren Locken.
Die Statue der Kriegsgöttin war grob aus Granit gehauen und fast drei Meter hoch. Um ihre Schultern war das Fell einer schwarzen Wölfin so drapiert worden, dass ihre rechte Brust frei lag. Ihre Hände umfassten den Knauf einer riesigen Doppelaxt, die neben der reißzähnigen Maske das einzig Bunte an ihr darstellte. An ihr linkes Bein schmiegte sich ein Drachenküken von der Größe einer Wildkatze.
Eine absolut statische Szene, aber hier fand sie Geborgenheit wie sonst nirgends.
Und nicht nur sie, wie es schien. Vor dem Altar saß eine Frau mit graumelierten Haaren, die eine Ruhe ausstrahlte, wie Mösha sie sonst nur von Jhira kannte. Aufrichtig und stolz wirkte sie, und hatte den Blick auf zwei kurze Schwerter gerichtet, die auf dem Altar lagen.
Mösha machte es nichts aus, nicht allein zu sein. Sie sank zu Boden, lehnte sich mit der Schulter an den kühlen Stein des Altars und streckte sich, um die zackige Steinhaut des kleinen Drachen streicheln zu können. Wenn er sich nur in ihrem Schoß zusammenrollen und ihr dieses Feuer abnehmen könnte.
Die Vorstellung half ein bisschen dabei, den Atem zu beruhigen, doch als die Gedanken langsamer wurden, wurden sie nur schlimmer. Klarer. Wenn sie nicht weggerannt wäre …
Tränen stachen ihr in die Augen.
«Bitte», flüsterte sie, den Blick nach oben auf die gefährlich aussehende Maske gerichtet. Die Worte schmeckten nach Blut von ihrer Lippe. «Bitte, ich brauche dich.»
Stille.
Natürlich kam sie nicht. Mösha war in diesem Moment sicher eine Enttäuschung für sie. Wäre sie nur bei Welling geblieben, um auszulöffeln, was sie eingebrockt hatte. Logisch, dass ihre Mutter lieber irgendeiner Armee gegenüberstand, die dumm genug war, sich mit ihr anzulegen.
«Weine nicht, mein Kind!», erklang plötzlich die dröhnende Stimme ihrer Mutter. Sie trat hinter ihrer Statue hervor, langsam, der Wirkung wegen. Wo auch immer sie gewesen war, hatte sie anscheinend eine gute Zeit gehabt. Ihre Haare waren strähnig und voller Asche. «Denn du bist auserwählt!» Lässig lehnte sie sich an ihren steinernen Ellenbogen, die Axt über der Schulter.
Mösha schüttelte langsam den Kopf. Normalerweise machte sie gern bei diesem Spaß mit, weil das Gesicht der Reisenden immer wieder unbezahlbar war. Doch heute war kein Moment für so etwas.
Auf das Gesicht ihrer Mutter trat ein seltener Ausdruck der Besorgnis. Sie lehnte die Axt an den Altar und strich im Vorbeigehen mit der Hand durch Möshas Haar. Der vertraute Geruch nach Feuer und Leder hüllte sie ein und ließ ihren Kopf wenigstens für einen kurzen Augenblick vollkommen leer werden. Doch kaum war sie weg, leckten die Flammen schon wieder an ihr.
An der Seite der Kriegerin, die neben ihr wirkte wie eine Heranwachsende und plötzlich gewaltige Anspannung ausstrahlte, blieb sie stehen. «Deine Kameraden kämpfen tapfer», sagte sie. «Sie können sich meiner vollen Unterstützung gewiss sein. Aber wenn du so gut wärst, mich nun mit meiner Kleinen allein zu lassen.» Halb wandte sie sich Mösha zu.
Langsam, als könnte sie nicht ganz begreifen, was hier gerade passierte, und schwankend erhob die Kriegerin sich. Erst am Treppenabsatz war sie in der Lage, den Blick von Möshas Mutter zu nehmen.
Die setzte sich breitbeinig auf den Altar und streckte die blutigen Hände nach Mösha aus. «Raus damit, Kleines. Was ist das Problem?»
«Es brennt», antwortete Mösha im Aufstehen. Sie kletterte auf den Oberschenkel ihrer Mutter und ließ sich von ihr in den Arm nehmen. Das war der einzige Ort, an dem sie das Gefühl hatte, vor der Welt und vor allem sich selbst sicher zu sein. Hier musste sie sich keine Gedanken darum machen, was als nächstes passieren würde.
«Was brennt?», fragte ihre Mutter ruhig.
«Alles.» Sie drückte das Gesicht in den Wolfspelz und schämte sich gleichzeitig dafür, dass sie sich hier am liebsten ewig verkriechen würde.
Ihre Mutter drückte sie an sich. «Das ist, weil du dich wehrst, Kleines. Du musst dich dem Feuer nur hingeben und …»
«Nein!», unterbrach Mösha sie. Genau das war es doch, wovor sie Angst hatte. Es erschien so einfach und verlockend, aber was dann? «Dann hätte ich doch …»
«Ach, Mösha.» Ihre Mutter hob ihr mit dem Daumen das Kinn an und schaute ihr in die Augen. «Was ist passiert?»
Es dauerte, bis sie die richtigen Worte dafür fand, dass diese Prügelei mit Welling nicht die erste gewesen war und wie es immer wieder dazu kam. Ganz geduldig hörte ihre Mutter zu.
«Besseres Training kannst du dir doch gar nicht wünschen«, sagte sie am Ende.
Welche Art von Antwort hatte sie sich erhofft? Welche Art hatte sie erwartet? «Aber ich mag Welling und ich hab Angst, ihm richtig wehzutun. »
Mösha konnte ihrer Mutter förmlich zusehen, wie sie versuchte, zu begreifen. Ob es ihr gelang, war schwer zu sagen. Es lag wahrscheinlich einfach zu weit von allem entfernt, was sie war. Beide seufzten tief.
«Es ist Spaß», versuchte Mösha sich an einer Erklärung. «Aber irgendwann ist es das plötzlich nicht mehr. Plötzlich brennt alles. Und dann … jetzt … ist da nur noch kalte Asche.» Ein Schauder überlief sie.
Noch immer ratlos sah ihre Mutter sie an und streichelte ihr nachdenklich mit ihrem rauen Daumen über die Wange. «Verdammt. Feralin wüsste jetzt genau, was zu tun ist.»
Nur konnte Feralin ihnen nicht helfen. Sie war nicht mehr als ein Name, zu dem Mösha nicht einmal ein Gesicht hatte. Die Erwachsenen wurden leise, wenn sie von ihr sprachen. Dann fühlte Mösha sich schlecht. Wie sollte sie jemanden vermissen, ohne jede Erinnerung an diese Person, die allen so wichtig gewesen zu sein schien?
Einmal hatte Ricke, die Stallmeisterin, ihr ins Gesicht gesagt, dass das alles ihre Schuld gewesen sei. Da war Möshas Mutter aus dem Nichts aufgetaucht, die Arme bis zu den Ellenbogen mit Blut verschmiert. Niemals zuvor und danach hatte das Mädchen sie so rasend erlebt. Ein Pfeil, der unbeachtet im Rücken ihrer Mutter gesteckt hatte, flimmernde Luft und ein Beben, das sie nicht recht zuordnen konnte, waren alles, woran sie sich von diesem Augenblick erinnern konnte, und es wühlte sie immer auf, wenn sie daran dachte. Seitdem trug Ricke immer ein Tuch um den Hals, um die Brandnarben in Form einer großen, breiten Hand zu verdecken, und hatte kein einziges Wort mehr mit Mösha gewechselt. Sie hatten es nicht schwer, einander aus dem Weg zu gehen. Pferde mochten Mösha nicht, entsprechend war sie nur selten bei den Ställen unterwegs.
Wenn es mit Welling – mit irgendwem, aber meistens mit ihm – zu weit ging, dann spürte sie, dass genau das auch in ihr lag. Das machte ihr Angst.
Eng aneinandergeschmiegt schwiegen sie, bis Mösha sich irgendwann nicht mehr fühlte, als wäre auf ewig nichts weiter als Asche in ihr.
Ihre Mutter rutschte vom Altar und setzte Mösha auf ihre Schulter. Nun war sie mit der Statue auf Augenhöhe. Die Augenlöcher der Maske waren genau wie der Mund schwarz ausgemalt. Der Gedanke, dass dahinter nicht das Gesicht ihrer Mutter lag sondern nur Stein, war auf eine Weise furchterregend, die sie nicht verstand. Sie vermied es, hinzusehen, beschäftigte sich lieber mit dem Drachenküken, wenn sie den Altar besuchte. So aus der Nähe war es noch schlimmer.
Mösha wandte den Blick ab und schaute über die Brüstung der Galerie zum Eingang des Tempels. Mit all den Fenstern und der geöffneten Eingangstür gab es genug Licht, um auf den feldsteinumsäumten Beeten, die den Altar der Herrin des Waldes umsäumten, Kräuter und Blumen wachsen zu lassen. Alle pflegten sie und bedienten sich an ihnen.
Am Fuß der Treppe, in einen warmen Mantel gehüllt, stand Jhira. Mit gewohnt strengem Blick schaute herauf zu ihnen. Unmöglich konnte Mösha erkennen, was dahinter lag. Was sie erwartete.
«Du hast niemandem gesagt, dass du herkommst, oder?», fragte ihre Mutter und hielt sie fest, während sie ohne Eile die Treppe hinab schritt.
«Nein.» Der gesamte Sinn des Weglaufens ging verloren, wenn man jemandem davon erzählte. Allerdings war das Ziel kein Geheimnis.
«Hab keine Angst.» Ihre Mutter sah zu ihr hoch und fing ihren Blick auf. Ob sie sie damit von Jhira ablenken wollte oder vom Altar der Totengöttin, an dem sie vorbeiging, wusste Mösha nicht. Beides machte ihr normalerweise keine wirkliche Angst. Gerade war sie aber froh, gehalten zu werden und sich geborgen fühlen zu können.
Wieder blieb der Blutgeruch an ihr haften.
«Hab ich nicht», versicherte Mösha ihr und sich selbst.
«Sehr gut.» Ihre Mutter lächelte zufrieden. «Es gibst nichts in der Welt, wovor du dich fürchten musst. Und irgendwann wirst du das Feuer genauso genießen wie ich.»
Mösha war sich unsicher, ob sie das wollen sollte.
Jhira, die nun in Hörweite war, schien nicht begeistert von der Vorstellung, genauso wenig wie davon, Möshas Mutter persönlich zu begegnen. So dumm, das offen anzusprechen, war sie nicht, doch Mösha wusste, dass ihre Schwertkampflehrerin zu denen gehörte, die ihrer Mutter die Schuld an Feralins Schicksal gaben. Vielleicht lag sie damit auch gar nicht falsch. Wer außer den beiden Frauen selbst sollte verantwortlich sein für das, was vor neun Jahren geschehen war?
«Bis dahin …» Ihre Mutter stellte Mösha auf den Boden und legte die Arme um sie. Auch mit gegen den harten Bauch gedrücktem Kopf spürte Mösha die Blick, die die beiden Frauen sich zuwarfen. Jhira gehörte zu den wenigen Leuten, die standhalten konnten, obwohl sie wussten, wie bedeutungslos selbst der Orden der Bärenklauen, der sich ihr verschrieben hatte, eigentlich für sie war.
«Komm zu mir, wenn es wieder anfängt, zu brennen. Ruf mich. Ich werde da sein.»
Was sie dann tun wollte, verriet sie nicht.
Heute ist kein Tag zum Rennen. Das Misstrauen der Möwen wandelt sich zu Enttäuschung, als sie mit leeren Händen an ihnen vorbeigeht. Sie weichen keinen Schritt mehr, als sie müssen. Manchmal spielt Mösha mit ihnen, aber auch das ist an diesem Tag undenkbar. Sie lässt sich einfach von ihren Füßen zum Tempel tragen.
Weil es so früh am Morgen ist, ist die hohe, schwere Eingangstür mit den geschnitzten Bildnissen der Göttinnen noch geschlossen. Niemals hat sie dieses Tor selbst durchschritten, und auch heute geht sie daran vorbei und klettert stattdessen an der Seitenwand hoch. Das Fenster über ihr schaut ihr einladend entgegen.
Mit der Sonne im Rücken hockt Mösha auf dem rauen Stein und schaut nach drinnen. Ihr Schatten fällt auf ihre Mutter, die ausgestreckt zwischen den feldsteinumsäumten Hochbeeten liegt. Sie ist dreckig, aber unversehrt, ein seltener Anblick. Und sie lächelt. Dieses freie Lächeln, unberührt von allem Schlechten auf der Welt, ist genau, was Mösha heute braucht.
Vorsichtig lässt sie sich auf den Rand des steinernen Beckens fallen. Sie streichelt im Aufstehen den Hirsch aus Marmor, der sich zur Wasseroberfläche hinunterbeugt und aussieht, als würde er vom klaren Quellwasser trinken. Einmal wollte sie sich über das Becken beugen, um ihn zu erreichen, und ist hineingefallen. Ein Tempelmädchen hat sie herausgefischt, während ihre Mutter nur von der Treppe aus zugesehen und so laut gelacht hat, dass es durch den ganzen Tempel gehallt ist. Seitdem glaubt Mösha, dass die Herrin des Waldes, die neben dem Hirsch liegt, sie hinter ihre Maske mit dem Rehgesicht tadelnd ansieht. Natürlich ist da nichts weiter als Stein, auch wenn die feinen Details und die Falten ihres weißen Gewands anderes vermuten lassen.
Irgendwann wird sie groß genug sein, um den Hirsch ganz ohne Anstrengung und Kletterei streicheln zu können. Dann wird sie auch den Kopf des Jägers kraulen können, der an die Herrin des Waldes geschmiegt dasitzt und alles aufmerksam beobachtet, was im Tempel vor sich geht. Er ist nicht immer da gewesen, hat Möshas Mutter ihr erklärt. Erst, als die Leute vom Kontinent nach Thesserien gekommen sind und angefangen haben, mit den einheimischen Nomaden zu handeln, hat die Herrin des Waldes sich mit dieser auf den ersten Blick furchterregenden Bestie angefreundet. Sein Kiefer ist riesig und kein Mensch kann sagen, ob er eher eine Katze, ein Hund oder ein Bär ist, oder alles davon. Mösha mag ihn sehr und stellt sich immer vor, er würde mit ihr rennen, wenn sie zusammen mit Kamil oder Jhira außerhalb der Stadt unterwegs ist.
Heute streift sie ihn nur mit einem Blick, bevor sie auf dem Rand des Beckens entlang balanciert und sich nicht einfach wie sonst auf ihre Mutter wirft. Stattdessen rutscht sie zu Boden und kuschelt sich ganz eng an ihre Seite. Ihre Mutter riecht immer nach Feuer und Staub, und heute hat sich nicht Blut sondern Moos hineingemischt.
Mösha schmiegt sich an den Wolfspelz, der für sie immer der ideale Ort war, um sich vor der Welt zu verkriechen, und eine ganze Weile herrscht einfach Ruhe. Zwischendurch taucht ein Tempelmädchen auf, um nach den Pflanzen zu sehen und sie zu gießen. Es ignoriert Mösha und ihre Mutter vollkommen und verschwindet wieder. Fremde erschrecken sich oft vor ihr, die Leute aus Vintarburg sind ihre Anwesenheit gewohnt.
„Kannst du mir von Feraline erzählen?“, fragt Mösha irgendwann. Diese Frage kann sie niemandem in der Veste erzählen. Die Erwachsenen wollen nicht über sie sprechen, sie werden dann immer traurig. Und sie wollen schon gar nicht mit Mösha darüber sprechen, erst recht nicht heute. An diesem Tag haben sie für Mösha nichts als traurige Blicke übrig. Dabei ist es für sie nur ein Tag wie jeder andere. Das sollte so bestimmt nicht sein, darum kommt sie sich schlecht vor. Schließlich geben sie sich immer so viel Mühe mit ihr.
Ihre Mutter hat sie bisher auch noch nicht darauf angesprochen, weil sie nicht weiß, ob es ihr genauso nahe geht. Aber jetzt muss sie. Sie will die anderen doch gern verstehen, und dafür muss sie wissen, wer Feraline eigentlich war.
Möshas Mutter setzt sich auf, lehnt sich an die aufgeschichteten Feldsteine und zieht Mösha auf ihren Schoß. „Feraline war ein unheimlicher Dickkopf“, ist das Erste, was sie sagt. „Wenn sie sich einmal an einer Idee festgebissen hatte, konnte nichts in der Welt sie mehr davon abbringen. Das Schlimme war, dass sie die dümmsten Ideen so gut klingen lassen konnte, dass man ihren Wunsch liebend gern erfüllte.“ Sie sah über Möshas Kopf hinweg nach oben. Zum Schrein der Totengöttin, das wusste Mösha, ohne sich umzudrehen. Sie wollte nicht hinsehen, weil es ihr immer einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
„Sie hatte ihre Prinzipien und von denen ist sie erst recht nicht abgerückt“, fährt ihre Mutter fort. „Damit hat sie sich nicht nur Freunde gemacht, aber es war ihr immer wichtiger, am Ende des Tages noch in den Spiegel schauen zu können, als sich irgendjemandem anzubiedern.“
Mösha hält für sich fest, dass man sein Spiegelbild verliert, wenn man sich nicht selbst treu bleibt, und nimmt sich vor, das niemals geschehen zu lassen. Was auch immer sie dafür tun muss.
„Wir haben uns kennen gelernt, als sie einem Hilferuf gefolgt ist. Hagen würde dir erzählen, dass er den jungen Leuten was beibringen wollte, aber eigentlich hatte er sich etwas überschätzt und Verstärkung angefordert. Feraline war in jedem Augenblick umwerfend, aber mit dem Schwert in der Hand war sie komplett. Ihre Entschlossenheit hat mich angelockt, dann sah ich sie kämpfen und bin ihr auf der Stelle vollkommen verfallen.“
Mösha weiß genau, was sie meint. Jhira gibt ihnen nur Holzschwerter zum Üben, aber selbst mit denen fühlt Mösha sich, als hätte sie niemals etwas anderes gemacht. Immer, wenn Petz und Jhira irgendetwas vorführen, ist sie absolut beeindruckt. Irgendwann will sie das alles auch können und genauso sein. Das ist auch genau, was alle von ihr erwarten.
Ihre Mutter streichelt ihr lächelnd durch die Haare. Natürlich weiß sie genau, was Mösha gerade denkt. „Aber sie konnte auch sanft sein. Die Kinder haben sie geliebt, auch wenn manche noch zu klein waren, um sich an sie zu erinnern.“ Ihr Lächeln wird traurig und sie hält Möshas Gesicht in ihren großen, schwieligen Händen. Selbst sie kann sanft sein. Ganz, ganz selten. „Dich hätte sie am allermeisten geliebt“, sagt sie leise. „Das hat sie auch. Schon, als du noch in ihrem Bauch warst. Leider konnte sie dich nie im Arm halten.“ Sie holt Luft, atmet aber einfach aus, anstatt den nächsten Satz zu sagen. „Sie wird nie erfahren, was für ein süßes Kind du geworden bist.“
An jedem anderen Tag hätte sie jetzt aufgezählt, wer sie alles nicht süß findet. Sie hätte gesagt, wie komisch es klingt, wenn ihre Mutter so etwas sagt. „Kannst du es ihr nicht erzählen?“, fragt sie heute.
Möshas Mutter drückt sie so fest an sich, dass der Wolfspelz ihr in der Nase kitzelt. Wieder schaut sie nach oben. „Ich fürchte, sie ist so weit fort, dass selbst ich sie nicht erreichen kann. Sie wird nie erfahren, wohin dein erster Schritt dich führte, und was dein erstes Wort war. Sie wird nicht hinter dir stehen, wenn du zum ersten Mal einen Gegner in Grund und Boden stampfst …“ Ihre Stimme zittert. Mösha hat ihre Mutter schon oft verärgert erlebt, aber diesmal ist da noch etwas anderes.
Jetzt versteht Mösha das Problem. Zumindest glaubt sie das. Feraline fehlt allen und sie finden auch dass sie Mösha fehlt. Dabei vermisst Mösha nichts. „Aber du bist doch bei mir“, erwidert sie. „Und Hagen, Petz, Kamil, Jhira und alle anderen. Ich hab so eine große Familie, dass sie eine ganze Festung bewohnt.“
Darauf sagt ihre Mutter nichts, sie hält sie nur weiter ganz fest. Langsam beruhigt ihr Herzschlag sich.
„Aber wenn du sagst, dass Feraline so eine große Ritterin war, sollte sie dann nicht am großen Festmahl im Palast der Totengöttin teilnehmen?“
„Was für ein Händchen für Pferde sie hatte“, sagt Möshas Mutter, ihre Frage vollkommen ignorierend. „Sie hat im Stall geschlafen, wann immer ein Fohlen unterwegs war, um bei der Geburt zur Stelle zu sein, falls nötig. Später hat sie die Kleinen zugeritten und ausgebildet. Die Bärenklauen sind so stolz auf ihre Pferde und deine Mutter hatte einen großen Anteil daran.“
Die Pferde. Mösha geht nicht in den Stall, wenn sie nicht muss, und sie muss eigentlich nie. Eigentlich helfen alle aus, weil sie schließlich auch lernen müssen, die Tiere zu versorgen und mit ihnen umzugehen. Wenn Mösha da ist, sind sie aber so nervös, dass Ricke, die Stallmeisterin, sie selbst von dieser Pflicht entbunden hat. Es tut Mösha leid, weil sie die großen, edlen Tiere eigentlich sehr gern hat. Vielleicht kann sie irgendetwas dafür tun, dass sie sich an sie gewöhnen. Vielleicht kann sie dann irgendwann werden wie Feraline und die anderen müssen sie nicht mehr vermissen.
Vom Zaun der Koppel aus schaut sie einer Fuchsstute und ihrem Fohlen beim Grasen zu. Ihr Plan ist, so lang hier stehen zu bleiben, dass die Tiere merken, dass sie keine Bedrohung ist. Vielleicht hätte es geholfen, Karotten oder einen Apfel aus dem Stall mitzubringen, aber dort hätte Ricke sie bemerkt und dann hätte sie sich erklären müssen. Ausgerechnet Ricke, die Mösha nicht leiden kann, wegen der Pferde.
Wahrscheinlich hätte es aber auch überhaupt nicht geholfen. Denn kaum hat die Stute Möshas Witterung aufgenommen, tänzelt sie nervös auf der Stelle und flieht mit dem Kind zu einer Baumgruppe auf der anderen Seite der Koppel. Und dabei ist sie nicht leise.
„Was ist denn hier los?“, tönt Rickes Stimmung schon aus Richtung des Stalls. Ihre schweren Schritte nähern sich auf dem von zahllosen Stiefeln und Hufen aufgewühlten Boden.
Mösha fühlt sich ertappt, obwohl sie ja gar nichts Verbotenes getan hat, und kommt nicht vom Fleck.
„Natürlich du!“, fährt Ricke sie an, als sie Mösha erkennt. „Wenigstens sind sie klug genug, um zu spüren, dass du nur Ärger bringst!“
„Ich wollte doch nur …“, setzt Mösha an, aber die Worte bleiben ihr im Halse stecken, als Ricke sie von oben herab anfunkelt. Wie können die Pferde sich vor Mösha fürchten und vor ihr überhaupt keine Angst haben?
„Was du wolltest ist mir vollkommen egal. Du sollst dich fernhalten, bevor du sie noch zu Tode erschreckst und noch jemanden auf dem Gewissen hast. Weil sogar ihnen klar ist, dass wir Feraline nur durch deine Schuld verloren haben.“
Die Luft brennt. Zwischen ihr und Ricke steht plötzlich ihre Mutter und Mösha sieht nichts mehr außer ihrem Rücken, in dem ein Pfeil steckt. Ihre wallenden roten Locken sind mit Asche und Blut verklebt. Sie ist aus dem Nichts aufgetaucht, wie es ihre Art ist, aber diesmal hat sie einen Sturm mitgebracht.
„So sprichst du nicht mit meiner Tochter.“ Das ist nicht die raue, dunkle Stimme, die Mösha von ihrer Mutter kennt und die ihr die Angst vor so vielem nimmt. Diese Stimme hier schneidet tief und brennt auch dann noch, wenn sie schon verklungen ist. Sie ist das Donnergrollen, das die wahre Katastrophe gerade erst ankündigt.
Der stechende Geruch brennenden Fleischs treibt Mösha die Tränen in die Augen. Sie hat ihre Mutter schon sehr oft wütend erlebt, aber nicht so sehr. Am liebsten möchte sie wegrennen, aber sie kommt nicht von der Stelle. Sie versteht nicht, was gerade passiert. Ricke gibt ein seltsames Geräusch von sich und ihre strampelnden Füße treffen die Beine von Möshas Mutter, ohne etwas auszurichten.
Schritte nähern sich, aber Mösha kann den Blick nicht von dem Pfeil abwenden, der tief im Fleisch ihrer Mutter steckt und ihr nichts auszumachen scheint. Erst, als sich ein dicker, kräftiger Arm um sie legt, wird sie förmlich von der Szene losgerissen. Ihr Kopf wird sanft aber bestimmt an eine Schulter gedrückt und sie verliert den Boden unter den Füßen.
„Es ist nicht wahr“, flüstert Petz und tätschelt ihr den Rücken, als sie sich hastig von der Koppel entfernt. „Es tut mir so leid, dass ich zu langsam war. Es ist nicht deine Schuld.“ Sie öffnet eine Tür und Mösha weiß sofort, dass sie in der Küche sind, auch wenn der Geruch einfach nicht aus ihrer Nase verschwinden will.
Endlich kann sie den Tränen nachgeben. Ricke hat doch vollkommen recht. Gäbe es Mösha nicht, wäre Feraline noch am Leben. Und niemand hätte Mösha vermisst, weil es sie ja nie gegeben hätte.
„Verschwindet“, befiehlt Petz und sofort werden Werkzeuge fallen gelassen. Nur die Köchin bleibt und protestiert. Mösha muss sich nicht von Petz lösen, um den Blick vor sich zu sehen, der sie schließlich doch in die Flucht schlägt.
„Mösha, Kleines …“ Petz scheint nicht genau zu wissen, was sie sagen soll. Darum lässt sie sich einfach auf die Ofenbank sinken und drückt Mösha an sich. Auf ihrem Schoß lässt es sich nicht ganz so gut verkriechen, aber momentan ist es der beste Platz, den sie hat.
Petz lässt sie eine Weile weinen, bevor sie Mösha mit den Daumen die Tränen von den Wangen wischt. „Du bist nicht schuld daran, dass Feraline gestorben ist“, sagt sie schließlich und sieht ihr fest in die Augen. „Sie wusste genau, mit wem sie sich anlegt, als sie sich mit Morregg eingelassen hat. Dass es so weit kommen würde, haben wir alle nicht geahnt, aber es hätte sie nicht davon abgehalten. Sie hat sich dich so sehr gewünscht. Und sie wäre so stolz auf dich, wenn sie hier wäre.“
„Aber sie ist nicht hier und ihr seid alle traurig darüber, dass nur ich hier bin. Ich wollte mich doch nur mit den Pferden anfreunden, damit ich sein kann wie sie und ihr sie nicht mehr vermissen müsst …“
Petz sieht sie an und wirkt, als würde sie gleich anfangen, zu weinen. Dabei weinen Erwachsene nicht. „Das darfst du niemals denken, Mösha-Kind. Du kannst sie nicht ersetzen, aber das musst du auch überhaupt nicht. Du bist ganz einfach du und wir haben dich sehr, sehr lieb. Und wir wissen, dass aus dir etwas Großes wird. Es tut mir so leid, dass ich nicht schnell genug zur Stelle war. Und es tut mir so leid, dass Ricke so etwas Furchtbares zu dir gesagt hat.“
„Ihr tut es auch leid“, knurrt die Stimme von Möshas Mutter. Der Geruch kalter Asche folgt ihr in die Küche. „Das würde sie dir auch sagen, wenn sie könnte. Vielleicht ist es aber besser für sie, wenn sie erstmal gar nichts mehr sagt.“ Sie klingt nicht mehr ganz so furchterregend wie zuvor, aber ganz ist ihre Wut noch nicht verraucht. Aber ganz passiert das auch nie.
„Warst du nicht zu hart zu ihr?“, fragt Petz und schaut über Mösha hinweg ins Gesicht ihrer Mutter. Nicht viele, auch unter den tapferen Rittersleuten hier im Orden, trauen sich nicht, so offen mit ihr zu sprechen.
„Es geht hier um mein Kind“, antwortet Möshas Mutter. „Da vergesse ich mich leicht. Aber sie wird wieder. In Zukunft wird sie aber wohl zweimal überlegen, ob sie den Mund aufmacht.“
Mösha wird schlecht, wenn sie an das Geräusch denkt, das Ricke gemacht hat, und der Geruch ist noch immer nicht ganz weg.
Petz sackt ein bisschen in sich zusammen und streichelt Möshas Rücken. „Es wird nicht wieder vorkommen, das kann ich dir versichern.“
„Das solltest du auch hoffen. Ich habe sie euch überlassen, weil ihr geschworen habt, gut auf sie achtzugeben, aber wenn ihr dabei versagt …“
„Nein!“ Mösha löst sich von Petz, damit sie ihre Mutter ansehen kann. Es ist, als würde sie den gesamten Raum einnehmen und als reiche ihr Kopf beinahe bis zur Decke. Sie hat ihre Mutter wirklich lieb, aber sie kann sich nicht vorstellen, immer bei ihr zu bleiben. Schließlich ist sie nicht einmal sicher, ob sie ihr überall hin folgen kann, wohin sie verschwindet, wenn sie geht. Und sie hat Petz und die anderen ja auch lieb. „Das hier ist doch mein Zuhause.“
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