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Sätze: | 167 | |
Wörter: | 1.432 | |
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Diese vielen bunten Steine! Sie sind wunderschön. Verträumt nimmt das Mädchen einen funkelnden Stein in die Hand. Er glitzert in den Sonnenstrahlen, die sich im Wasser brechen. Aber selbst dieses Schauspiel kann ihre Einsamkeit nicht vertreiben.
Sie hebt den Kopf, durchbricht die Wasseroberfläche und sieht sich um. Wo sind sie denn, diese Menschen? Heute ist ein herrlicher Tag, aber keiner da? Das Mädchen hebt beide Hände, schlägt mit der Flosse, um etwas besser sehen zu können. Der Strand, er ist menschenleer.
„Wieso bist du schon wieder hier?“, fragt ihre Mutter ärgerlich. „Du weißt doch, du darfst dich den Landmenschen nicht nähern. Sie würden es nicht verstehen, dass ...“
„Ich weiß, Mama. Aber sieh mal, was für schöne Steine hier im Sonnenlicht liegen.“
„Kind, wenn du dich dem Ufer näherst, kann es sein, dass du entdeckt wirst.“
„Ja, Mama, das sagst du immer.“
„Schlimmer noch“, ruft eine tiefe Stimme, „Im seichten Wasser kannst du nicht schwimmen, nicht fliehen, bist nicht beweglich. Du hast keine Beine, mein Kind, wie die Menschen am Land. Wann begreifst du es endlich?“
„Ja, Papa“, erwidert das Mädchen. Sie schwimmt mit wenigen Schlägen ihrer Schwanzflosse zu ihren Eltern. Noch einmal wendet sie sich um, schaut zum Ufer mit den bunten Steinen. Wehmütig lässt sie den Blick schweifen. Kleine Häuschen in der Ferne, Felder, Berge. Das Dunkelgrün der Wälder spiegelt sich in der spiegelglatten Wasseroberfläche. Am Himmel über ihr stehen kleine weiße Wolken. Es weht kein Lüftchen. Es ist ruhig. Vögel zwitschern, singen ihr Morgenlied. Die Luft, wie schön es doch ist, sie auf der Haut zu spüren.
„Yara, komm doch endlich!“, ruft ihre Mutter. Sie ist nochmal aufgetaucht, um nachzusehen, wo ihrer Tochter bleibt.
Yara taucht ab, flink, wie ein Delphin. Das tiefe Blau des Wassers, was ist es schon im Vergleich zu der bunten Welt dort oben? Hier ist sie einsam und ihre Eltern sehen es nicht. Das Wasservolk möchte unter sich bleiben, ungestört. Die Landmenschen schätzen sie nicht, weil sie sie nicht kennen. Das ist zumindest Yaras Meinung. Ja, natürlich weiß Yara über die schreckliche Geschichte Bescheid, ihre Großmutter hat sie ihr mehrmals erzählt: Einer der Wassermenschen wurde vor Jahrzehnten gefangen, er war unachtsam und hat sich den Landmenschen genähert. Nun, er wurde zu einer Zirkusattraktion und ist an Traurigkeit gestorben. Wassermenschen brauchen ihre Freiheit, können nicht in Gefangenschaft leben.
Für Yara ist die Geschichte ein schockierender Einzelfall. Die Menschen dort oben sind nicht anders, empfinden mit Sicherheit gleich. Sie haben Gefühle, eine wunderbare Sprache, können Freude und Leid empfinden. Yara hat sie beobachtet. Aber das darf niemand wissen. Landmenschen haben Kinder, die sie über alles lieben. Ist das nicht das Wichtigste? Nur die Sache mit den Beinen ... Der größte und gravierendste Unterschied.
Yara fährt sich mit den Fingern durch ihr dunkelviolettes langes Haar, betrachtet ihre blasse Hand mit den dunklen Fingernägeln. Würde sie auffallen, wenn sie Beine hätte?
Sie sitzt auf ihrem Lieblingsfelsen in vollkommener Finsternis. Ja, sie kann im Dunkeln sehen, Farben erkennen. Eine ihrer vielen besonderen Eigenschaften. Landmenschen sind in der Dunkelheit blind, aber sie brauchen auch nicht sehen zu können. Sie haben sich zu helfen gewusst und diese tollen Dinge gebaut. Sie können die Nacht erleuchten, fantastisch. Und diese seltsamen Fortbewegungsmittel zu Land, zu Wasser und in der Luft. Oh, Yara möchte viel mehr kennenlernen, erfahren, erforschen.
„Träumst du schon wieder?“, fragt ihre ältere Schwester Toja.
„Vielleicht“, erwidert Yara. Toja ist ein Stück größer als sie selbst und hat smaragdgrünes Haar. Sie ist wunderschön. Aber sie hat keine Zeit für Yara. Das schmerzt das Mädchen ungemein. Ununterbrochen flirtet Toja mit diesem Typen. Man muss sich vorstellen, er hat einen ultramarinblauen Teint und ockerfarbenes wuscheliges Haar. Was findet sie an ihm? Yara ist hie und da so wütend und so einsam. Schwimmt im See, trifft kaum Kinder gleichen Alters zum Plaudern, zum fröhlich sein. Aber danach sehnt sich Yara so sehr. Hier in diesem See im Herzen Europas gibt es nicht viele Wassermenschen. Der Stamm ist klein und übersichtlich. Das Leben langsam und schwerfällig, oder eben gemütlich. Jeder hat seine Arbeit, seine kleine feine Familie, sein Zuhause. Es gibt nichts Aufregendes, nichts, was lebendig macht.
Tage später trifft Yara eine Entscheidung. Sie möchte nicht auf ihre Familie hören, nicht das Gleiche tun, was sie von Generation zu Generation übermittelt bekommen haben. Sie möchte neue Weg beschreiten, raus aus dieser Ödnis, rein ins Leben! Sie ist zwar erst dreizehn Menschenjahre alt, aber egal!
Yara nimmt ihren ganzen Mut zusammen und schwimmt zum Ufer mit den bunten Steinen. Es ist Mittagszeit und obendrein ein herrlicher Badetag. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel. Menschen tummeln sich am Ufer. Glück und Freude scheinen Wellen im See zu schlagen.
Yara hat ein gutes Gefühl. Sie taucht zu einer Gruppe von Kindern, die bunten Steine sammeln.
„Hey!“, sagt sie. „Was macht ihr da?“Yara liegt im Wasser, verbirgt gekonnt ihre Flosse. Sie kann die Sprache der Menschen, hat sie gelernt, im Geheimen versteht sich.
„Wer bist du denn?“, fragt ein Mädchen. „Was sind das für Haare?“
„Ich bin Yara.“Oh Gott, ist sie aufgeregt. Sie zittert leicht.
„Wo kommst du her? Ich habe dich gar nicht am Ufer gesehen?“, wird sie von einem anderen Kind gefragt.
„Ich war nur schwimmen und bin wieder zurückgekehrt“, erklärt Yara selbstbewusst.
„So? Vom anderen Ufer?“
„Oh ja“, meint Yara freudestrahlend für den Einfall.
„Na, da bist du echt gut. Das sind ja Kilometer.“
„Bist du auch auf Urlaub hier?“, lautet die Frage eines jüngeren Mädchens.
„Ja, sicher“, murmelt Yara und deutet auf den Stein in der Hand des Kindes. „Dieser hier ist am schönsten, findest du nicht auch?“
„Oh ja. Er funkelt.“Es sieht Yara ins Gesicht „Irgendwie siehst du seltsam aus. Deine Augen, sie sehen aus wie der See selbst.“
„Einwenig gruselig. Es scheint, als würde sich da etwas bewegen in deinen Pupillen“, stellt ein älteres Mädchen überrascht fest. „Wieso liegst du im Wasser und stehst nicht auf?“, fragt es und weicht einen Schritt zurück.
„Weil es für mich angenehmer ist“, stottert Yara.
„Du bist komisch“, bemerkt ein kleines rothaariges Kind. Blicke mustert sie neugierig und auch einwenig ängstlich. Eine Mutter kommt herbei, zieht ihr Kind von Yara weg.
Yara fühlt sich in ihrer Haut nicht mehr wohl. Eine Unruhe steigt in ihr auf. Sie sieht in die Runde. Die Kinder haben einen Kreis um sie gebildet, starren sie an.
„Zieh endlich diese Flosse aus!“, ruft ein Mädchen ihr zu. „Du musst hier nicht auf Meerjungfrau machen!“
Erst jetzt bemerkt Yara, dass sie ins seichte Wasser geraten ist und man ihren Fischkörper sehen kann.
„Wow, das ist cool. Superkostüm, Yara“, bemerkt jemand. „Kann ich es auch mal probieren?“
Yara schüttelt den Kopf. Sie stemmt sich auf die Arme und schiebt sich rückwärts, zurück in die Tiefen des Sees.
„Die ist echt!“, ruft ein Kind aufgeregt. „Sie ist eine Meerjungfrau!“
„In einem See?“, meint ein Mädchen skeptisch. „Es heißt doch Meerjungfrau und nicht Seejungfrau.“
Die Mutter, die zuvor ihr Kind von Yara weggezogen hat, kommt in Begleitung von Eltern, möchte ihnen die vermeintliche Meerjungfrau zeigen.
„Wo ist sie?“, fragt sie verdutzt.
„Weiß nicht, plötzlich war sie weg“, erklärt ein Kind verwirrt.
Yara ist zu ihrer Familie zurückgekehrt. Ihr Traum von den Landmenschen ist einwenig getrübt, aber irgendwann wird sie es erneut probieren und mit ihnen Freundschaft schließen. Vielleicht an einer anderen Stelle des Sees ...
„Oh, Mama, das war eine komische Geschichte“, murmelt Sophie und schüttelt den Kopf.
"Wieso denn?", fragt ihre Mutter.
„Kein Happy End, Mama? Wird Yara es wieder probieren?“
„Sicher, Yara gibt niemals auf. Und wer weiß, vielleicht trifft sie ja auf ein Mädchen mit dem Namen Sophie und freundet sich mit ihr an.“
„Ja“, strahlt die Kleine. „Weißt du, Mama, ich möchte keine Meerjungfrau sein.“
„Ach so, seit wann?“
„Yara ist so einsam unter Wasser und ich habe viele Freundinnen und das Licht und die Luft.“
„Und die Farben“, meint ihre Mutter. Sie küsst Sophie auf die Stirn und wünscht ihr eine gute Nacht.
„Mama, ich bin froh, dass ich da bin, so wie ich bin.“
„Also keine Meerjungfrau mehr?“
„Nein!“ Sophie umarmt ihre Mutter.
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