Storys > Kurzgeschichten > Familie > Wie alles begann

Wie alles begann

89
21.04.22 22:35
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Dies ist eigentlich eine lange Geschichte, aber ich versuche mich auf das Wesentliche zu beschränken und eine Kurzgeschichte zu schreiben. Alles begann damit, dass meine Mutter und ich 1952 in einen der damals noch ländlichen Vororte unserer Heimatstadt zogen. Es war zu dieser Zeit wirklich sehr ländlich in diesem Vorort. Die einzigen lauten Geräusche erzeugten die Autos auf dem südlichen Autobahnzubringer, aber es waren zu dieser Zeit noch nicht allzu viele Autos unterwegs, das kam erst später und so hielt sich damals der Lärm in Grenzen. Für empfindliche Kinderohren gab noch es ein weiteres Geräusch, eher ein ganz leises Summen und Brummen, das ich nicht zuordnen konnte. Viel später fand ich heraus, es waren die Geräusche des nicht weit entfernten Chemiewerks, das wie ein Riegel zwischen dem ländlichen Vorort und der Stadt lag. Die Straße vor dem Haus war ungepflastert, staubig bei Trockenheit und schlammig in den Regenperioden. Der gravierendste Unterschied zu meiner bisherigen Heimat war die Abwesenheit, der herrlich zum Spielen geeigneten Trümmerwüste mit den unheimlich wirkenden Ruinen, hinter deren leeren Fensterhöhlen sich der Wind fing. Ungewohnt war der weite Weg zur Schule. Bevor wir in diese Umgebung zogen, hatte ich eigentlich gar keinen Schulweg – die Schule lag gleich nebenan. Jetzt bestand der Weg zur Schule aus einem einen gut halbstündigen Fußmarsch, dessen erste Hälfte über einen einsamen Feldweg führte, erst danach erreichte ich eine befestigte Straße. Dort ging es dann auch nicht gerade städtisch zu, die Häuser dieser Straße waren ein sonderbares Gemisch aus Mietskasernen, die aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg oder aus der Zeit zwischen den Kriegen stammten, alten, zum Teil schon aufgegebenen Katen und einigen noch bewirtschafteten Kleinbauernhöfen.

Im Laufe der Zeit freundete ich mich mit einem Schulkameraden an, der wohnte in direkter Nachbarschaft, heißt in diesem Fall, nur einige Äcker lagen zwischen dem alten Gutshaus, in dem wir untergekommen waren und dem Behelfsheim, das sein Zuhause war. Wir verbrachten in den nächsten Jahren viel Zeit miteinander und je älter wir wurden, umso mehr Zeit verbrachten wir damit, stundenlang durch die Gegend zu wandern. Ich glaube das mit dem Wandern fing so kurz vor der Pubertät an und solange wir zusammen waren haben wir nie ganz damit aufgehört. Ich war allgemein für meine Schweigsamkeit bekannt, was in diesem Fall aber nicht weiter auffiel, da mein Freund mir ständig seine Pläne und Visionen darlegte. So reichte es, dass ich diese ab und zu einmal kommentierte. Wir wurden aus der Schule entlassen und kamen beide in die Lehre. Die Wanderungen wurden auf die Abendstunden verlegt, nur samstags und sonntags, blieb alles beim Alten. Die Lehre ging vorüber, die Wanderungen blieben. Nur die Themen unserer Gespräche hatten sich allmählich geändert.

Nach Lehre und überstandener Pubertät, waren die Gespräche auch nicht mehr so einseitig, obwohl sich an meiner Schweigsamkeit kaum etwas geändert hatte. Alles drehte sich zu dieser Zeit darum, eine Frau zu erobern. Viel Auswahl gab es nicht, denn die Gegend war immer noch dünn besiedelt. Auf meiner Straße, die inzwischen immerhin schon asphaltiert war, wohnten einige Mädchen im passenden Alter. Eins davon, wir kannten sie bereits von der Schule her und wir hatten sie dort für unscheinbar gehalten, hatte sich in ein wahrhaft schönes Mädchen verwandelt. Sonderbarerweise, bei mir löste gerade diese Schönheit keinerlei Begehren aus. Mein Freund dagegen war hin und weg, wenn er sie auch nur von Ferne sah. Es hat auch nach einiger Zeit zwischen ihnen gefunkt, doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis die beiden sich richtig nahe kamen, die abendlichen Wanderungen wurden derweil fortgesetzt. Er schwärmte mir jetzt von dem Objekt seiner Begierde vor, das ließ mich aber kalt, da sein heimlicher Schwarm bei mir nun einmal gar keinen Funken von Verlangen hervorrief. Ich verliebte mich dann auch in ein Mädchen, das im gleichen Haus wie ich wohnte. Es wurde eine einseitige Liebe, sie hatte einfach kein großes Interesse an mir. Außer dem einen oder anderen Kinobesuch (vielleicht waren wir auch gemeinsam auf der Kirmes) ist nichts Erwähnenswertes in meinem Gedächtnis haften geblieben. So wanderten wir nicht mehr so häufig, denn ab und an kümmerte sich mein Freund bereits um seine Schönheit und ich versuchte meiner einseitigen Liebe Leben einzuhauchen, aber immer noch liefen wir in jeder Woche viele Kilometer planlos durch die Gegend. Meist weiter hinaus in einen der nahen Wälder, oft aber auch in Richtung Innenstadt, was wir da wollten, ist mir inzwischen entfallen. Alle Versuche meiner Jugendliebe Leben einzuhauchen misslangen, vielleicht war ich wirklich zu schweigsam. Mein Freund und sein Schwarm fanden zueinander und somit endeten unsere Wanderungen ziemlich abrupt. Nur manchmal noch gingen wir abends nach der Arbeit los, wohl immer dann, wenn die junge Liebe in eine Krise geraten war. Die beiden fanden aber immer schnell wieder zueinander und so endeten die Wanderungen genauso schnell wieder, wie sie begonnen hatten.

Mein Freund musste zur Bundeswehr, die räumliche Trennung stellte die junge Liebe auf eine harte Probe. Seine Freundin, inzwischen zu einer atemberaubend schönen Frau herangereift, schloss sich mir an, wenn sie abends nach Einbruch der Dunkelheit im Viertel unterwegs sein musste. Ich glaube, sie wartete einfach darauf, dass sie mich sah und ich ihren ritterlichen Begleiter spielte. Mir machte das nichts aus, sie war wirklich auffallend schön und die bewundernden Blicke anderer hoben mein Selbstwertgefühl. Andere Gefühle, als Freundschaft zueinander, haben wir nie entwickelt. Ab und an beklagte sie sich darüber, dass ich zu wenig sprach; ich konnte es nicht ändern. Ich war durch den Krieg Halbwaise und somit nicht wehrpflichtig. Meinen Freund freute das, konnte ich doch so seine Liebe beschützen, ohne dass die Gefahr bestand, dass auch ich einberufen wurde. Ich tat das gerne für ihn, die Nähe der jungen Frau tat mir gut, auch wenn ich nichts weiter als Freundschaft für sie empfand. Ob es bei ihr anders war, weiß ich nicht, aber wir mochten uns sehr.

Irgendwann im jungen Erwachsenenalter zog ich in die Innenstadt. Das war kurz nachdem mein Freund seinen Wehrdienst beendete. Meine Aufgabe als Beschützer war entfallen und ab und zu wanderten wir wieder. Da es Herbst war, als er zurückkam, wanderten wir meist durch dunkle Wälder. Das endete dann mit meinem Umzug. Mein Freund heiratete seine Schönheit, ich war weiter auf der Suche. Ohne die Wanderungen war ich auf die Dauer desorientiert, die einzige Abwechslung war, dass ich ab und zu das junge Paar besuchte. Nicht allzu oft – junge Paare soll man schließlich nicht stören. Eines Tages platze bei mir der Knoten, ich traf auf eine Frau, die mich umgehend in ihren Bann zog. Auch sie beklagte sich recht häufig über meine Schweigsamkeit, aber irgendwie wirkte ein Zauber bei uns und als wir uns leidenschaftlich näher kamen, waren weitere Worte vorerst einmal überflüssig. Trotz der Klagen über meine Schweigsamkeit kamen wir uns schnell dauerhaft näher. Auch wir heirateten, meinen Freund verlor ich für einige Jahre aus den Augen. Nur noch einmal trafen wir aufeinander, da waren wir beide junge Väter, unsere Kinder waren fast gleichaltrig und gerade des Laufens fähig, aber wieder verloren wir aus den Augen. Dieses Mal für sehr lange Zeit – für fast ein halbes Jahrhundert. Unserer Freundschaft hat das keinen Abbruch getan, wir machten nach dem halben Jahrhundert da weiter, wo wir aufgehört hatten, jetzt eben in Anwesenheit unserer Frauen. Nur ich habe mich ein wenig geändert, ich bin nicht mehr ganz so schweigsam, dafür aber stark gealtert. Das mit dem Altern fällt natürlich nicht weiter auf, die anderen sind schließlich im gleichen Maße gealtert.

Die Frau, für die mein Herz damals so leidenschaftlich entbrannte, die hätte ich leicht früher kennenlernen können. Vielleicht hätte ich einfach nur genauer hinsehen müssen. Denn so lange ich in der ländlichen Umgebung gelebt hatte, waren wir eigentlich Nachbarn. Sobald ich den, zugegebener Maßen Fußballplatz großen Obstgarten des Hauses, in dem wir lebten, hinter mir ließ, konnte ich hinter den Äckern, an die der Obstgarten grenzte, das Elternhaus meiner Liebe erkennen. Ich hätte mich also nur zu einem kurzen Spaziergang, auf dem zu dieser Siedlung führenden Feldweg aufmachen müssen und die Chance sie zu treffen, wäre relativ groß gewesen – ich bin diesen Weg nie gegangen. Im Nachhinein gesehen ist das alles unerheblich, es ist gut, so wie es gekommen ist.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Sätze: 68
Wörter: 1.452
Zeichen: 8.597

Kurzbeschreibung

Alles ist so gekommen, wie es kommen musste. Niemand kann sein Schicksal bestimmen. Zurückblicken und mit dem Schicksal im Reinen sein, das wollte ich mit dieser Geschichte ausdrücken. Auch nach dem Tod meiner großen Liebe blicke ich immer noch voll Freude auf mein Leben zurück. Die gemeinsamen Jahrzehnte erfüllen mich mit Dank.

Zugehörige Readlist

Spaghettifresser (3 von 78)
StorysKurzgeschichtenMehrere Genres
Von BerndMoosecker

369 12
Panik (5 von 78)
StorysKurzgeschichtenMehrere Genres
Von BerndMoosecker

109 16