Storys > Kurzgeschichten > Familie > Das Schweigen

Das Schweigen

180
06.03.22 20:31
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Meine Heimatstadt wurde im Krieg stark zerstört, auch die Wohnung meiner Eltern fiel Flammen der Brandbomben zum Opfer. Mein Vater war zu dieser Zeit bereits untergegangen, vermisst bei einem Kaff in Russland, das den Namen Strelizy trägt. Meine Mutter fand schon vor dem Untergang der Wohnung eine Unterkunft auf dem Land im heutigen Rhein-Sieg-Kreis, wo sie hoffte, vor Fliegerangriffen sicher zu sein. Eine Tante von ihr hatte dort ein Haus, in dem eine Wohnung leer stand. Nachdem das Haus, in dem die elterliche Wohnung lag, abgebrannt war, zogen meine Großeltern mütterlicherseits auch in diese Wohnung auf dem Land. Meine Mutter war zeitlebens eine sehr reisefreudige Frau, was sie dazu verführte, mit mir in der Endphase des Krieges nach Thüringen zu reisen. Dort lebten Verwandte aus Düsseldorf, die wohl dahin evakuiert waren, genau weiß ich das nicht. So erlebten wir die Kapitulation und den Beginn der Besatzungszeit in einer Stadt namens Triptis. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, machte sich dann der gesamte Familienverband auf die Rückreise nach Düsseldorf. Die Fahrt war den unsicheren Zeiten entsprechend mühsam und abenteuerlich. Auf jeden Fall war die Reise einprägsam, immerhin kann ich mich noch an einige Details erinnern, obwohl ich damals gerade vier Jahre alt wurde. Niemand in diesem Familienverband verfügte in der Heimat über eine Wohnung, so kamen wir alle notdürftig bei den Eltern meines Vaters unter. Nach und nach verkleinerte sich der Familienverband wieder. Ich wusste damals nicht, wohin die Menschen verschwanden. Was aber eine Tatsache ist, eines Tages blieben meine Mutter und ich als einzige Gäste in der Wohnung der Großeltern übrig. Acht Jahre dauerte es, bis meine Mutter eine eigene Wohnung für uns fand.

Mein Großvater war vor dem Krieg ein erfolgreicher Unternehmer, was eine erstaunliche Leistung war. Als Sohn einer ledigen Tagelöhnerin im oberbayrischen Rohrdorf geboren, erhielt er eine minimale Schulbildung von gerade einmal sechs Jahren. Er erlernte in Bad Aibling das Wagnerhandwerk, über welche Stationen es weiterging, entzieht sich meine Kenntnis. Bekannt ist mir, dass er mit seiner Frau zu Beginn und während des Ersten Weltkriegs in Mannheim wohnte. Über weitere Stationen ging es nach Ende dieses Krieges weiter nach Düsseldorf, wo er gemeinsam mit einem Kompagnon die Firma Karosseriebau Moosecker und Miese gründete. Von der Firma war nach dem Krieg nicht viel übrig geblieben. So richtig erfolgreich wurde das Unternehmen nie mehr, die Massenfertigung von Automobilen setzte dem selbständigen Karosseriebau ein Ende. Es blieb die Reparatur von Unfallschäden.

Meine Großmutter war eine sehr herbe und sparsame Frau. Sie war in Gerhausen (heute ein Stadtteil von Blaubeuren) geboren. Ich weiß wenig über die Zeit, als sie jung war. Sie war die Tochter eines Kleinbauern, war eine recht gebildete Frau und hatte unzählige Geschwister. Wo und wann sie auf meinen Großvater getroffen ist, habe ich nie in Erfahrung bringen können. Wie ihr Mann war auch sie geschäftstüchtig und eröffnete in Düsseldorf Tante-Emma-Laden – einen Kolonialwarenladen, wie sie stets betonte. Sie war sparsam, bis zum Geiz. Es wurde an allem gespart, an Hinwendung zu ihren zahlreichen Kindern und Enkeln, an Worten, an Zeit, an Butter und vor allem, an Geld. Die sparsame Hinwendung zu ihren zahlreichen Nachkommen hatte nichts mit mangelnder Liebe zu tun, nein sie war einfach in allen Dingen sparsam. Was sich mir am tiefsten ins Gedächtnis eingeprägt hat, war der sparsame Umgang mit Worten. Ein Gespräch mit mehr als zehn Worten wurde von ihr als Tratsch abgetan. Zumindest empfand sie Sprechen als vertane Lebenszeit, Worte mussten sparsam eingesetzt werden, um Zeit für wichtige Tätigkeiten zu gewinnen. Das führte am Familientisch zu oft absurden Situationen.

Abends, wenn der Kolonialwarenladen geschlossen war, verbrachten wir die Zeit zu viert am Küchentisch. Die Sitzordnung war immer gleich. Mein Großvater und ich saßen auf dem mit rotem Kunstleder bespannten Sofa, er links am Küchenherd, ich rechts nahe der Tür zum Laden. Meine Mutter saß uns gegenüber. Meine Großmutter saß an der Schmalseite des Tisches, direkt vor dem Herd. Der Abend begann mit einem gemeinsamen Abendessen. Dabei wurde kaum ein Wort gesprochen, sondern konzentriert gegessen. Es folgte der Abwasch, den die beiden Frauen schweigend und akribisch erledigten. Die Frauen widmeten sich anschließend der Strickarbeit. Im Winter wurde es schnell kalt in der Küche, da mit Ende des Abendbrots die Beheizung des Herdes eingestellt wurde, Heizmaterial wurde gespart. Während die beiden Frauen strickten, las mein Großvater die Zeitung. Gesprochen wurde nicht, es gab nichts, das wichtig genug war, das Wortsparen zu unterbrechen. Ich durfte diese Zeit still sitzend frei gestalten. Ich gebe es zu, mir war langweilig. Da meine Mutter mir gegenübersaß, schaute ich ihr beim Stricken zu. Großvaters Lesezeit war auch Verschwendung, ich weiß nicht mehr wovon. So sagte meine Großmutter spätesten nach einer halben Stunde, nun leg doch mal die Zeitung weg. Die Zeitung wurde weggelegt, es wurde weiter geschwiegen. Ab diesem Zeitpunkt langweilten sich mein Großvater und ich gemeinsam. Die nächsten Worte, die gesprochen wurden, war die Aufforderung zu Bett zu gehen.

Diese ganzen Vorgänge sind mir immer noch rätselhaft. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das ausgehalten hat, denn eigentlich ist es für jeden, der Umgang mit meiner Mutter hatte klar, dass es ihr schwerfiel den Mund zu halten. Bei mir hat das Schweigen bewirkt, dass ich meinen Freunden jahrelang nur zugehört habe, mit dem gesprochenen Wort gehe ich sparsam um. Ich fand eine Frau, die ich unbedingt erobern wollte. Sie hat mein Schweigen oft in den Wahnsinn getrieben, wir beide sind trotzdem ein Paar geworden. Das lag wahrscheinlich an meiner Hartnäckigkeit – ich bin ihr wohl gefolgt, wie ein räudiger Hund.

Da meine Großeltern lange gemeinsame Jahre hatten, von denen ich fast achtzehn Jahre miterleben durfte, weiß ich, sie waren unzertrennlich. Sie gluckten in ihrer Freizeit zusammen, sie reisten gemeinsam, sie begegneten sich respekt- und liebevoll. Aber eben Worte sparend und natürlich auch sonst in allem sparsam, außer bei Respekt und Liebe. Bei diesen beiden Dingen wurde nicht gespart. Ich interpretiere das für mich heute so, irgendeine Schwäche muss jeder Mensch haben und so ist auch der sparsamste Mensch irgendwann verschwenderisch.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Sätze: 63
Wörter: 1.056
Zeichen: 6.441

Kurzbeschreibung

Die Kurzgeschichte erzählt, wie mir im Rückblick, das Leben innerhalb meiner Herkunftsfamilie im Gedächtnis geblieben ist.